Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Sechzehnter Nachmittag

Vater: Robinson lebte nun länger als ein Jahr in geschäftigem Einerlei auf der Insel. Eines Morgens stand er am Strand, um sich zum Baden auszukleiden. Ach, da waren nicht mehr viele Kleider abzulegen. Im Lauf der Zeit waren alle seine Sachen schrecklich abgenutzt und zerschlissen geworden. Das Hemd bestand eigentlich nur noch aus ein paar Fetzen, die zu waschen kaum noch lohnte. Die Hosenbeine waren zu Streifen zergangen, welche um die Schenkel flatterten, die einzelnen Teile der Jacke hielten nur noch dadurch zusammen, daß feste, dünne Halme durch seine Löcher hindurchgezogen waren, die unser Freund mittels starker, spitzer Fischgräten hergestellt hatte. Die Schuhe, die er einst getragen, waren durch die Wanderungen auf dem rauhen Boden der Insel längst völlig vernichtet. Glücklicherweise konnte Robinson sich ausreichende Fußbekleidung immer wieder neu aus den Fellen der erlegten Gemsbüffelchen herstellen. Er schnitt Stücke davon ab und band sie sich mittels Pflanzenstricken um die Füße. Gern hätte er sich auch andere Kleider gemacht, aber da fand sich nichts Passendes.

Peter: Konnte er denn hierzu nicht auch die Felle gebrauchen?

Vater: Die wären viel zu dick und unbequem gewesen. Auf der Insel war es ja sehr heiß und dort in Fellkleidung umherzugehen nicht gut möglich. Außerdem ist ungegerbtes Leder steif und unbequem, und das schwierige Gerberhandwerk verstand unser Freund natürlich nicht. Er hielt jetzt seine Kleider in der Hand und dachte mit Bedauern, daß die Zeit nicht mehr fern wäre, wo sie vollkommen vernichtet sein würden.

178 Plötzlich sprang er vom Küstensaum zurück. Denn eine hohe Welle, die sich jäh im Meer erhoben, hatte ihn so heftig getroffen, daß er fast umgestürzt wäre. Zugleich vernahm er einen furchtbaren Donnerschlag. Er blickte zum Himmel auf, sah ihn aber wolkenlos und heiter. Und doch – da rollte schon wieder ein Donner, schwerer und dumpfer, als er ihn je gehört. Unwillkürlich wendete Robinson seinen Blick vom Meer ab der Insel zu und blieb wie versteinert stehen.

Über der Kuppe des Bergs, auf dem er so oft gesessen, stand eine dicke Rauchsäule. Sie ähnelte einem schlanken Baum von riesiger Größe. Und um diese Rauchsäule sowie an ihr empor zuckte ein Blitz nach dem anderen. Das schreckliche Rollen, das immer stärker wurde, kam aus dem Innern des Bergs. Dieser mußte sich an der Spitze geöffnet haben. Robinson erinnerte sich in all dem Schrecken, den dieses unerhörte Schauspiel in ihm hervorrief, der eigenartigen, von Geröll umgebenen Mulde, die er an Stelle der Spitze dort oben gefunden. Das mußte ein alter Krater gewesen sein. Kein Zweifel, der Berg hatte sich geöffnet, er war zu einem Vulkan geworden.

In rasender Hast zog Robinson seine Kleider an und lief – er wußte nicht, wohin. Es war auch die höchste Zeit, daß er seinen Platz verließ, denn eine zweite Welle, mehr als doppelt so hoch denn ihre Vorgängerin, rollte über den Strand. Zugleich fühlte er, wie der Boden unter ihm, wohin er auch lief, zu wanken begann. Die Erde schwankte wie ein Schiff im Sturm auf und nieder. Ganz von Sinnen jagte Robinson über die Insel. Ein furchtbares Erdbeben erschütterte diese und den benachbarten Meeresboden. So viel Besinnung hatte unser Freund noch, daß er sich bestrebte, einen von Bäumen möglichst freien Platz zu erreichen, damit keiner der vielleicht umstürzenden Riesen des Waldes ihn erschlagen könne. In einer weiten Lichtung blieb er stehen und schaute von Entsetzen geschüttelt nach dem Berg. Dort spielten sich weiter Ereignisse ab, deren Schönheit Robinson in seiner berechtigten Angst verloren ging, von denen er nur die Furchtbarkeit empfand.

Die Rauchsäule schwankte jetzt und erhob sich zu unglaublicher Höhe, wie wenn sie von unten angeblasen würde. Dann krachte es, wie wenn zehntausend Kanonen zu gleicher 179 Zeit abgeschossen würden, und der Berg warf einen Regen glühender Steine, ja feuerroter Blöcke, größer wohl als Mühlsteine, empor. Darauf tat sich ein Spalt in seiner Seite auf, und eine glutflüssige Masse brach heraus. Sie wälzte sich den Abhang hinunter, ließ alle Bäume, alle Pflanzen, die sie traf, in ihrem feurig wallenden Brei vergehen und glitt schließlich mit mächtigen Wellen ins Meer. Oh, wie zischte dieses auf! Es erhob sich ein krachendes Brausen im Wasser, wie wenn Dampfkessel reihenweise explodierten. Wolken stiegen auf, die fast den Himmel verfinsterten. Und droben flogen nach wie vor die glühenden Steine hinaus, dann fiel ein Regen von Asche rieselnd nieder.

Die ganze Insel schwankte währenddessen weiter, so daß Robinson schon fürchtete, sie würde im Meer versinken. Eine Viertelstunde dauerte bereits dieser schreckliche Vorgang, und Robinson dachte, daß Fürchterlicheres sich nicht mehr ereignen könne. Da sah er etwa hundert Schritte von sich entfernt mehr als ein Dutzend der riesigen Palmen schwanken. In einem Augenblick lagen sie am Boden. Eine breite Spalte von vielleicht fünfzig Metern Länge hatte sich im Boden geöffnet. Die Stämme rollten hinein, aber im nächsten Augenblick schloß sich die Spalte wieder mit einem gräßlich knirschenden Geräusch, als habe ein ungeheures Tier seine gierig geöffneten Kinnbacken mit ersehntem Fraß zwischen den Zähnen zugeschmettert.

Dann war auf einmal alles wieder vorbei; der Boden stand still. Zwar floß noch Lava aus dem Seitenspalt aus, aber der Erguß wurde langsamer und langsamer. Der Aschen- und Steinregen hörte auf, nur die Rauchsäule zeugte noch von den Vorgängen im Innern der Erde. Sie verschwand erst nach langer Zeit vollständig.

Robinson warf sich jetzt ins Gras und lag dort wie starr und tot. Er wartete, ob der Berg nicht von neuem zu speien beginnen würde. Aber Stunde um Stunde verrann, und nichts geschah. Da fing er an, allmählich wieder Mut zu fassen und sich ins Leben zurückzufinden. Das erste, woran er dachte, war seine Wohnung. In welchem Zustand würde er die Höhle wohl wiederfinden? Vielleicht war alles vernichtet, der Felsen ganz zusammengestürzt, seine sämtlichen Besitztümer begraben. 180 In Hast und Angst lief er pfeilgeschwind zu seiner Siedlungsstätte.

Gott sei Dank! Der Felsen stand noch! Aber seine Form war nicht mehr ganz die alte. Offensichtlich hatte der ganze Bau sich verschoben. Ob dabei die Höhlung erhalten geblieben war, konnte er von draußen nicht sehen. Um das Feuer aber, seinen kostbarsten Schatz, mochte es wohl recht schlecht bestellt sein, denn er sah keine Rauchsäule aus dem Schornsteinloch aufsteigen wie sonst immer.

Als Robinson geschwind über die Umzäunung geklettert war, erblickte er denn auch eine schwere Zerstörung. Der Eingang zur Höhle war verschlossen. Ein großer Felsblock hatte sich losgelöst, war hinuntergefallen und versperrte die Höhle. Das war ein schwerer Schlag für unseren Freund. Denn fast alles, was er besaß, lag dort drinnen. Vielleicht konnte er sich aber durch die Schornsteinöffnung hindurchzwängen?! Er kletterte geschwind auf den Rücken des Felsens. Aber da war keine Öffnung mehr zu sehen. Sie war zugeschlagen, zackige Ränder hatten sich fest aufeinandergelegt.

Was nun tun? Robinson stieg wieder hinab und begann, an dem hinuntergefallenen Felsblock zu rütteln. Aber ebensogut hätte er versuchen können, einen starken Baum mit den Armen auszureißen. Der Stein war zu groß, er bewegte sich nicht. Robinson sah, daß er die Kräfte von drei Männern hätte haben müssen, um ihn beiseite zu schieben. »Aber kann man seine Kraft nicht vergrößern?« dachte er sogleich weiter. Er entsann sich, wie Arbeiter im Hamburger Hafen oft Kisten bewegt hatten, deren Gewicht weit über ihre Kräfte ging. Sie benutzten hierbei eine ganz einfache Maschine, nämlich den Hebel. Robinson lief in den Wald, holte sich einen niedergefallenen Stamm, so dick und so lang wie er ihn irgend fortzuschaffen vermochte. Um ihn zu dem Felsblock zu bringen, mußte er ein Loch in seine Umzäunungshecke machen. Dort steckte er den Stamm hindurch und stieg dann selbst über die Strickleiter ein. Darauf zwängte er den Baumstamm mit einem Ende unter den Block und legte einen Stein so unter das Holz, daß ein zweiarmiger Hebel entstand. Das Stück vom Drehpunkt des Hebels auf dem untergelegten Stein bis 181 zu Robinsons Händen war etwa dreimal so lang wie das andere. So konnte er jetzt mit dreifacher Kraft an dem Stein rücken. Und siehe da! Nach mehreren gewaltigen Kraftanstrengungen fing dieser an, sich zu bewegen, zu weichen. Am späten Nachmittag war Robinson durch unablässiges Arbeiten mit dem Hebel so weit gekommen, daß er den Eingang zur Höhle wieder geöffnet, den Felsblock zur Seite geschoben hatte.

Er konnte nun wieder eintreten und fand im großen und ganzen drinnen alles unversehrt vor. Es waren zwar viele Gesteinsbrocken niedergefallen, und der ganze Boden war mit feinem Staub überschüttet. Aber die Wölbung, die eine glückliche Festigkeitslinie gehabt haben mußte, hatte doch gehalten. Das Feuer freilich war erloschen, da der Luftzugang zu lange abgesperrt gewesen war.

Ursula: Da war Robinson nun wohl sehr unglücklich?

Johannes: Das will ich glauben! Jetzt war es vorbei mit dem Braten und der Schildkrötensuppe.

Vater: Robinson stand wirklich niedergeschmettert vor seinem erkalteten Herd. Aber rasch blitzte wieder ein Hoffnungsstrahl in ihm auf. Woran dachte er wohl?

Ursula: Er meinte, es würde vielleicht wieder eine Sternschnuppe kommen.

Dietrich: Nun, darauf war doch wohl nicht zu rechnen, daß sich ein solcher Zufall noch einmal ereignete.

Peter: Ich weiß es! Draußen war ja die glühende Lava.

Vater: Du hast es getroffen! Robinson meinte, wenn die Lava am Berg noch nicht ganz erloschen wäre, müßte es wohl möglich sein, daran einen neuen Brand zu entzünden.

Peter: Da lief er also geschwind hin.

Vater: So rasch ihn seine Füße trotz der großen Ermüdung, die er fühlte, tragen konnten. Doch während er sich dem Berg näherte, vergaß er beinahe, daß er wegen seines wichtigsten Besitzes unterwegs war. Denn die Veränderungen, die er im Wald erblickte, waren gar zu erstaunlich und schrecklich.

Zu Hunderten fand er die mächtigen Bäume verkohlt. Wo die Lava geflossen, war der mit üppigem Pflanzenwuchs bedeckte Boden verschwunden und an seiner Stelle ein hartes, glattes, äußerlich wie Asphalt aussehendes Pflaster 182 entstanden. Die Erde war überglast, die Fruchtbarkeit auf großen Flächen vielleicht für ewig vernichtet. Weit über den Bezirk des Lavaergusses hinaus sah Robinson die Wipfel der Bäume versengt. Blätter und Äste waren grau durch die Asche, die darauf niedergegangen, überall im Wald verstreut lagen die gewaltigen, vom Vulkan ausgeworfenen Blöcke. Jetzt war wieder Ruhe eingetreten, es floß auch keine neue Lava mehr nach. Robinson lief auf die schwarzbraune Fläche hinauf, obgleich sie ihm fast die Sohlen verbrannte. Aber nirgend fand er mehr richtiges Feuer. Er lief und lief, zerschnitt sich die Füße an den scharfen, in die Lava eingestreuten Blöcken, er kletterte trotz seiner Furcht vor dem Vulkan ein Stück des versteinerten Abhangs empor. Doch da war kein Feuer mehr.

Robinson geriet in einen tollen Zorn. Er rannte planlos im Wald herum und schlug mit den Fäusten gegen die Bäume. Welch ein Unglück! Welch ein Ränkespiel des Schicksals! Der furchtbare Ausbruch des Bergs hatte ihn selbst unverletzt gelassen, obgleich Zentnergewichte zu Hunderten durch die Luft geflogen waren, gerade als wenn seine Insel von feindlicher Artillerie beschossen worden wäre. Die Erde hatte ihm das großartigste Feuerschauspiel vorgeführt, das ein Menschenauge zu erblicken vermag, und am Ende sah er sich seines eigenen Feuers beraubt. Schmerzerfüllt und niedergebeugt wie nie schlich er endlich nach Hause, setzte sich an den erloschenen Herd, und wäre nur eine Spur dichterischer Kraft in ihm gewesen, so hätte er nun sicher ein Trauergedicht auf den Verlust seines teuersten Schatzes verfaßt. Er sah sich wieder zurückgeworfen in einen früheren, niedrigeren Abschnitt seines Lebens auf der Insel.

Bald darauf begann eine neue Regenzeit. Wochen und Wochen strömte das Wasser unaufhörlich vom Himmel, die Sonne war niemals zu sehen, und es ereignete sich tatsächlich hier und da, daß Robinson in seiner Höhle fror. In seinen jammervoll zerschlissenen Kleidern konnte er sich nicht hinauswagen, denn manche Erkältung, die er sich zugezogen, hatte ihm bereits gezeigt, daß die Tropenregen dem menschlichen Organismus nicht zuträglich sind. Nach dem Verlust des Feuers waren viele Arbeiten, die er zu machen gewohnt war, teils zwecklos, 183 teils unmöglich geworden, so daß er manchen Tag fast tatenlos zubringen mußte. Zu seiner Zerstreuung hatte er nichts als die Wartung seiner Herde und das Zuschlagen von Feuersteinen, die ihm aber doch jetzt kaum einen Nutzen bringen konnten, wo es gar keinen Sinn hatte, jagdbares Wild zu erlegen.

Endlich aber zogen die Regenwolken davon, das Land trocknete auf, und Robinson vermochte wieder häufiger auf der Insel herumzustreifen. Hierbei kam er eines Tages beim Klettern über Klippen an einen Punkt der Küste, den er noch nie besucht hatte. Zwischen den Felstrümmern fiel ihm ein umfangreiches Etwas auf, dessen Natur ihm nicht gleich einleuchtete. Die See ging ziemlich rauh und überspülte den Gegenstand, der sich dort eingeklemmt hatte, teilweise mit ihren Wellen; zudem hatte sich ein Geflecht von Algen und Tang darüber gelagert, kurzum, es war nicht leicht zu erkennen, was das eigentlich vorstellen sollte.

Robinson stieg den kurzen felsigen Abhang hinunter bis in die schmale Klippenbuchtung, entfernte den Bezug der Seegewächse und begann, den unbekannten Gegenstand zu untersuchen. Schnell genug gewann er Klarheit über ihn. Es war eine große, ganz mit Eisen beschlagene Kiste, die sich dort verfangen, und an der Wetter und Wind und rollendes Gewässer offenbar schon seit langer Zeit herumgearbeitet hatten.

Peter: Wie war denn die dahin gekommen?

Vater: Das werden wird bald erfahren. Einstweilen galt es, den Inhalt der arg zerstörten Kiste festzustellen. Der Eisenbeschlag war zum Teil vollkommen durchgerostet, Holzteile hatten sich abgelöst, Splitter hingen umher, Wasser war hineingedrungen, und es stand zu befürchten, daß alles darin, was es auch gewesen sein möge, rettungslos vernichtet wäre.

Der Entdecker staunte über seinen Fund und betrachtete ihn von allen Seiten. Ein Gruß der so lange und schmerzlich entbehrten Kultur war auf einmal zu ihm gelangt. Aber wie kam es nur, daß die offenbar doch sehr schwere Kiste schwamm, sich trotz der Zerstörungen an ihr über Wasser hielt? Und da durchzuckte unseren Freund, als er in die See gesprungen und die Kiste von allen Seiten untersucht hatte, ein Strahl schmerzvoller Freude. Die Kiste hatte unten die Form eines richtigen 184 Boots! Kein Zweifel: sie war das Eigentum des klugen Ingenieurs, der mit ihm vor Jahren die verhängnisvolle Ausreise auf dem Segelschiff angetreten hatte. Niemals hatte er bisher irgendeine Spur von dem untergegangenen Schiff oder dessen Inhalt entdeckt, wie aus einer anderen Welt trat ihm dieser Fund nun entgegen. Sein Besitzer, das ließ sich mit Sicherheit annehmen, war bei jener Schiffskatastrophe mit den anderen Gefährten zugrundegegangen und längst auf dem Meeresgrund eine Beute des Seegewürms geworden. Diese Kiste war somit herrenloses Gut und kraft des allgemeinen Rechts in den Besitz des Finders übergegangen.

Mit Wehmut gedachte Robinson des mitteilsamen Reisegefährten, dessen Erbe er nun geworden war. Allein bald verließ ihn diese trübe Erinnerung, um anderen Empfindungen Platz zu machen. Ein Gefühl der Spannung ergriff ihn. Was würde er wohl in der Kiste finden? Er stieß das Gehäuse durch das Wasser bis an eine sandige, flache Uferstelle und schob und schleppte es alsdann so weit den Strand hinauf, wie seine Kräfte es vermochten. Vielleicht ist der ganze Inhalt längst zerstört, so dachte Robinson mit Angst. Allein als er mit seinem Beil mühevoll die obere Decke völlig abgesprengt hatte, stellte es sich heraus, daß es den Elementen doch nicht gelungen war, alles zu verwüsten. Die Kiste zeigte nämlich in ihrem Bauch einige Abteilungen und Fächer, die noch einmal besonders durch Blechstreifen und andere wasserdichte Umhüllungen leidlich gesichert waren und den darin enthaltenen Gegenständen zu einem gewissen Widerstand verholfen hatten.

Da trat denn allerhand zutage, was den Finder mit höchster Freude erfüllte, vor allen Dingen eine Reihe von Werkzeugen, die wir Verwöhnten als selbstverständlichen und unentbehrlichen Hausrat betrachten, die aber dem Robinson eine ganz ungeahnte, höchst kostbare Bereicherung des Daseins versprachen. Manches freilich war verrostet, verschlammt, gelockert, verkrümmt, anscheinend unbrauchbar geworden, aber trotzdem: das waren doch Hämmer, Zangen, eine Säge, Nägel, Feilen, Drähte, Metallspitzen und Schrauben, und es bestand kein Zweifel darüber, daß die Härte und Schärfe des einen den Rost und die Verbiegung des anderen überwinden, daß jedes halbwegs 185 brauchbare Stück das vorläufig verdorbene wieder in gebrauchsfähigen Stand versetzen würde.

In einer besonderen Abteilung der Kiste lag etwas, das Robinson, wenn er nicht das Feuer verloren, sicher mit größter Freude begrüßt hätte, nämlich sechs Gewehre und drei Dutzend Patronen. Wie sehr würde ihm die Jagd erleichtert worden sein, wenn das Erlegen von Tieren jetzt noch einen Zweck für ihn gehabt hätte. So legte er die Flinten mit einem kühlen Blick rasch beiseite.

Er fand ferner etliche Werkzeuge, Instrumente, Apparate, die nicht dem niederen Handwerk angehörten, sondern die, wie er vermutete, dem Bedarf der Feldmesser, wohl gar der Naturforscher dienten; so unter anderem eigentümlich geformte Messingröhren, Metallkreisbogen mit eingeritzten Teilstrichen, Glaslinsen von verschiedenem Schliff, dreikantige Glaskörper, sogenannte Prismen. Alles war sorgfältig in breite Streifen Stoff gepackt. Er fand Glasröhren, Quecksilber und zudem noch mancherlei, das einem höheren Zweck zu dienen schien, ohne daß er gewußt hätte, was man eigentlich damit anfangen sollte. Und er dachte sich dabei mit wehleidigem Kopfschütteln: »Ach, wenn ich doch in früher Jugend mehr gelernt hätte! Wieviel Anregung, Belehrung, wieviel Einsicht in das Walten der Natur, in die Rätsel und Geheimnisse der Schöpfung könnte ich durch klugen Gebrauch solcher Gegenstände gewinnen!« Aber da war nun nicht viel zu erhoffen. Höchstens vielleicht, wenn man sich in den »Gedankenwinkel« setzte und stundenlang nachdachte über dies und das, oder wenn . . .

Ja, was war denn das? Robinsons Hände begannen vor Erregung zu zittern, als er von einem starken Packen die lange, vielfach darumgewickelte Taftumhüllung abstreifte; das waren ja Bücher! Richtige Bücher! Und wie sich schnell genug ergab, Bücher mit schwarzen und farbigen Abbildungen, mit Zeichnungen, von denen einige solch seltsame Werkzeuge darstellten, wie er sie eben in der Hand gehalten, also offenbar Lehrbücher der Naturkunde!

Im Augenblick war unser Freund sich dessen bewußt, daß nunmehr ein neues Leben für ihn beginnen würde, ein gesteigertes Menschendasein, weit hinausreichend über die 186 gemeine Notdurft des Tags. Ein Buch, so war es ihm, ist Nähe des Besten, das den Einsamen erreichen kann, ist Berührung mit Forschung, mit Wissen, mit Begreifen! Jetzt konnte, was ehedem so sträflich verabsäumt worden war, nachgeholt werden, die ganze Schule, ja mehr noch, die ganze Universität womöglich! Hei, wie wollte er jetzt studieren und experimentieren!

Ursula: Was wollte er?

Vater: Experimente anstellen. Darunter versteht man die in Büchern beschriebene Art, mit Hilfe geeigneter Werkzeuge die Naturerscheinungen künstlich hervorzurufen und sie so zu beobachten, daß daraus eine Vermehrung des Wissens entsteht. Ich will dir das an einem Beispiel erklären. Du hast doch an der Alster die hohen und sehr hellen Laternen gesehen. Das Licht, das da brennt, ist eine sogenannte Bogenflamme, die nicht nur stark leuchtet, sondern auch außerordentlich heiß ist. Wenn ich mir nun in meiner Stube eine solche Bogenlampe aufstelle und in ihre Glut den Diamanten aus meinem Fingerring bringe, so mache ich ein Experiment. Ich will erfahren: was geschieht mit einem Diamanten, wenn er stark erhitzt wird? Und wenn ich dann bemerke, daß der Diamant spurlos verschwindet, ohne Asche verbrennt, so habe ich dadurch etwas erfahren, was ich vorher noch nicht wußte, ich habe Aufschluß erhalten über die Beschaffenheit des Diamantsteins. Ich weiß nunmehr: der Diamant sieht zwar ganz anders aus als ein Stück Kohle, aber er verhält sich in der Flamme genau wie eine Kohle; und ich kann durch weitere Beobachtung dahin gelangen: ein Diamant ist überhaupt gar nichts anderes als Kohle. Das wäre nun ein einzelnes Experiment; aber solcher Experimente – man kann auch Versuche sagen – gibt es unzählige, und aus allen zusammen ergibt sich der Schatz des Wissens, der die gesamte Naturkunde darstellt.

Johannes: Nun bin ich aber neugierig, wie der Robinson experimentieren wird.

Vater: Er stieß zunächst leider an ein gewaltiges Hindernis.

Peter: Das ist aber auch zu garstig! Immer, wenn er was neues anfangen will, kommt ihm erst etwas in die Quere!

187 Vater: Die erste Schwierigkeit lag darin, daß in den Packen mit den Büchern trotz seiner ziemlich festen Umschnürung doch etwas Seewasser eingedrungen war und einen Teil der Buchseiten ziemlich unkenntlich gemacht hatte. Viele Zeilen boten den unschönen Anblick der Verkleckstheit wie Tintenschrift, wenn man über die nassen Buchstaben mit dem Rockärmel fährt. Darüber wäre vielleicht noch hinwegzukommen gewesen, wie wir alle ja auch eine schlecht gedruckte und halbverschmierte Zeitung zu lesen verstehen, indem wir die halbwegs deutlichen Buchstaben so im Augenbild vereinigen, daß wir uns die unleserlichen Lücken in Gedanken ergänzen. Aber dabei wird doch vorausgesetzt, daß wir die Sprache verstehen, in der das Blatt gedruckt ist. Und hier erhob sich für Robinson die zweite, weitaus größere Schwierigkeit: denn jene Bücher aus dem Besitz des westschweizerischen Ingenieurs waren in französischer Sprache abgefaßt, und zu den vielen Fächern, die Robinson nicht beherrschte, gehörte natürlich auch das Französische. Er befand sich also in der Lage eines armen Manns, dem plötzlich ein ansehnlicher Reichtum überliefert wird, aber in einem Schrank, zu dem ihm der Schlüssel fehlt. Da war nun guter Rat nicht nur teuer, sondern vorerst ganz unerschwinglich.

Mit schwerem Herzen wickelte Robinson die Bücher wieder ein – da fiel sein Blick auf ein anderes, kleineres Paket, das er noch gar nicht bemerkt hatte, da es sich am Boden der Kiste zwischen allerhand Geräten verborgen hatte. Und als er es öffnete, erblickte er wiederum Bücher, zwei Stück, deren erstes ein Wörterbuch war, aber keins, das ihm sonderlich helfen konnte, denn es war ein englisch-deutsches Nachschlagewerk. »Schade, schade!« rief er, »wenn da schon ein Wörterbuch steckt, warum nicht eins, das mir dient, warum ein zweibändiges, für mich ganz wertloses?« Trotzdem machte er noch den anderen Band auf, und siehe da – hier zeigte sich ein Lichtblick: er hielt ein französisch-englisches Wörterbuch in der Hand.

Ihm schoß es durch den Kopf, daß diese zwei Hilfsmittel sich zusammenschließen müßten, um die Brücke zum Verständnis zu bilden; und diese Brücke führte zuerst vom Französisch zum Englisch, dann vom Englisch zum Deutsch. Ja, so mußte es 188 gehen! Freilich, das war ein mühseliger Weg, aber er war der einzig mögliche.

Dietrich: Na, ich danke schön! Ich hab' schon immer gerade genug, wenn ich mich fürs Lateinische mit einem Lexikon herumschlagen muß; und nun noch gar zwei! Das wird eine schöne Strapaze werden!

Vater: Eine größere, als ihr euch vorstellen könnt. Da sind erstlich die Hunderte von Wörtern mit verschiedener Bedeutung, bei denen man so leicht in die Irre gehen kann. In dem Reich der Naturkunde, auf das Robinson so große Hoffnungen setzte, behandelt zum Beispiel ein Abschnitt den Vogelflug. Da das Buch ein französisches war, so kommt natürlich das Wort voler darin vor, denn voler heißt bekanntlich »fliegen« voler heißt aber im Französischen auch »stehlen«.

Besäße Robinson ein französisch-deutsches Wörterbuch, so würde er gewiß schnell begreifen, welche Bedeutung gemeint ist. Aber er muß ja erst im französisch-englischen Hilfsbuch nachschlagen, und da findet er unter anderem: voler heißt im Englischen rob. Leider besitzt nun das englische Wort rob wiederum einen Doppelsinn, denn es bedeutet nicht nur stehlen, rauben, wie voler, sondern außerdem noch »Sirup«. Schlägt er also nunmehr im englisch-deutschen Buch das zuerst gefundene Wort rob nach, so stößt er auf diese Übersetzung, und wie in aller Welt soll er sich nun aus dem Sirup zum Vogelflug zurückhelfen?

Ferner wißt ihr ja, daß fast alle Worte Beugungsformen aufzeigen, in Deklination und Konjugation, oft sehr unregelmäßige, während die Wörterbücher fast immer nur die Grundform der Worte bieten. Und schließlich läßt ja ein Wörterbuch den Nachschlagenden über den Satzbau, über die Grammatik im Dunkeln, also gerade über das, worin sich die Sprachen am gründlichsten unterscheiden.

Dietrich: Da soll's mich gar nicht wundern, wenn der Robinson die ganzen Bücher kreuz und quer entzweireißt und die Fetzen vor Ärger ins Wasser wirft!

Vater: Das würde sich wohl schlecht mit seinem glühenden Verlangen vertragen haben, den Inhalt der Naturbücher kennenzulernen. Nein, aller Schwierigkeit zum Trotz befestigte sich 189 in ihm der Vorsatz, jede Anstrengung aufzubieten, um den Sinn der Druckwerke zu erfassen.

Johannes: Aber das war doch schlechterdings unmöglich!

Vater: Ein großer Mann hat einmal gesagt: das Wort »Unmöglich« kommt in meiner Sprache nicht vor. Und ganz besonders gibt es kein Unmöglich bei der Entzifferung unverständlicher Schriften. Denke daran, daß es gelungen ist, die altägyptischen Bildschriften, die sogenannten Hieroglyphen, und die altasiatischen Keilschriften lesbar und verständlich zu machen. Das waren zuerst unbekannte Zeichen, in einer unbekannten Sprache, über unbekannte Begebenheiten! Da gab es nicht ein Blatt, nicht eine Zeile eines Hilfsbuchs, das irgendwie auf eine richtige Spur hätte leiten können. Stellt euch vor, welche Ausdauer, welcher Scharfsinn erforderlich waren, um solches Werk zu vollbringen! Dagegen war nun wiederum Robinsons Aufgabe ein Kinderspiel.

Also er begann nunmehr damit, den ganzen Inhalt der Kiste, Geräte und Bücher, in seine Behausung zu schaffen; hier breitete er die Druckschriften aus, setzte sich davor und fing an, Wort für Wort, Zeile für Zeile zu übersetzen, über alle Mißverständnisse hinweg, allen Unklarheiten zum Trotz, immer in der Hoffnung, daß jede glücklich erhaschte Spur eines Sinns auch über das Dunkel der Nebenworte allmählich ein Licht verbreiten würde. Am ersten Tag kam er gerade sieben Zeilen weit, am zweiten schon zwanzig, am dritten glückte ihm eine ganze Seite; immer häufiger schien ihm der Zufall zu Hilfe zu kommen, was jedoch nur ein Anzeichen dafür war, daß sich sein natürlicher Scharfsinn immer mehr schärfte. Und nach etlichen Wochen war er so weit, daß er, wiewohl nicht ohne Anstrengung, aber doch ohne allzu große Stockung zu lesen vermochte, wirklich zu lesen und zu verstehen in den Büchern der Naturkunde, die ihm so viel Neues und Ungeahntes erschließen sollten.

Ja, es ereignete sich bald gar nicht selten, daß er seitenweis vorwärts kam, ohne überhaupt in seinen beiden Wörterbüchern nachzuschlagen. Er hatte nicht nur den Kreis seiner Naturkenntnis erweitert, sondern auch eine ihm neue Sprache gelernt, Und wenn es wahr ist, was ein deutscher Kaiser gesagt hat, 190 daß der Mensch so viele Sinne besitzt, wie er Sprachen beherrscht, so war dem Robinson durch seine Anstrengungen jedenfalls ein Sinn hinzugewachsen, den er zuvor noch nicht besessen hatte.

Zwischendurch bemühte er sich, die in der angeschwemmten Kiste gefundenen Werkzeuge und Apparate zu säubern, zu richten und so weit instandzusetzen, daß sie wieder gebrauchsfähig wurden. Und auch dies gelang ihm im ganzen so vortrefflich, daß er einige der in seinen Büchern beschriebenen Versuche und Beobachtungen mit diesen Instrumenten selbständig anzustellen vermochte. Er war nunmehr auf dem besten Weg, ein Naturforscher zu werden.

Dietrich: Na, na!

Vater: Das Wort selbstverständlich in seinem bescheidensten Sinn genommen. Es ist nicht jedem gegeben, in solch einem Fach zu wirklichen und erheblichen Leistungen vorzudringen. Aber wer auch nur einmal im Bereich der unendlichen Natur aufmerksam beobachtet, ein Instrument befragt, um einen Zusammenhang zu ergründen, wer auch nur einmal die Frage »Warum?« mit der Antwort »Weil!« sinnvoll verknüpft hat, der verdient schon den Namen eines Naturforschers.

Johannes: Willst du uns denn nicht auch etwas von den Experimenten des Robinson erzählen?

Vater: Dazu wird sich wohl auch Veranlassung finden. Einstweilen wollen wir ihn seiner Bücherleserei überlassen, bei der er sich, wie ich erwähnen möchte, auch noch nebenher eine besondere Annehmlichkeit vorbehalten hatte. Nennen wir es eine Art von Selbstbelohnung bei der fortgesetzten geistigen Anstrengung.

Peter: Was mag das wohl gewesen sein?

Vater: Etwas ganz Gewöhnliches, ganz und gar nicht Geistiges, aber doch Erfreuliches. Er hatte nämlich, was ich zu erzählen vergaß, in der Kiste auch ein luftdicht verschlossenes, rundes Gefäß vorgefunden und darin zu seiner Überraschung – nun, was meint ihr wohl?

Johannes: Ja, was soll man da raten?

Dietrich: Am Ende war's Tabak!

Peter: Oder Likör!

Ursula: Ach, ich weiß! Konfekt!

191 Vater: Wahrhaftig, das Kind hat's getroffen! Es war wirklich feinstes Konfekt aus der berühmtesten Näschereifabrik der Schweiz; kleine Leckerbissen mit Schokoladen-, Mandel-, Nuß- und Pistaziengeschmack. Er zählte die Stückchen: es waren neunzig. Und da seine Naturbücher zusammen neunhundert Seiten umfaßten, so fand er sofort die richtige Einteilung: jeder Fortschritt um je zehn volle Seiten sollte immer mit je einem Stück Pralinee belohnt werden.

Peter: Ja, so möchte ich auch einmal studieren! Aber mir wär's schon lieber, ich bekäme jedesmal für eine Seite im Buch zehn Stücke Konfekt.

Vater: Dann würdest du aber auch erheblich langsamer vorwärts kommen als Robinson. Der befolgte, ohne ihn zu kennen, den Satz eines römischen Dichters:

Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci!

zu deutsch: Größten Beifall verdient, wer das Nützliche mischt mit dem Süßen. Und wie in diesem Vers blieb auch bei ihm das Nützliche vorangestellt. Um die Wahrheit zu sagen: oft genug war ihm das Wonnegefühl, alle Schwierigkeiten im Buch zu besiegen, süßer als die kleine Süßigkeit, die er sich bisweilen gestatten durfte. 192


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