Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Sechster Nachmittag

Vater: Robinson betrachtete auf der Suche nach Nahrung zunächst die schönen, prächtigen Bäume, die rings umher standen. Aber nirgends sah er an ihnen Früchte hängen, die zum Essen verlockten. Da wölbten riesige Palmen ihre mächtigen Kronen über einem kahlen Stamm, Korkeichen von ungeheurer Größe trugen dichtes Laubwerk, Myrtenstämme leuchteten in tiefem Grün, der Eukalyptus blühte, und hohe Farnkräuter wucherten in üppigem Wuchs. Dieser tropische Wald sah wunderschön aus, aber Robinson hatte keine Muße, sich daran zu ergötzen, denn immer lebhafter meldete sich der leere Magen. Er wußte nicht, was er nun beginnen sollte, und schon wollte die Verzweiflung in ihm wieder aufkommen. Aber da überlegte er sich, daß an Waldrändern oft der Baumwuchs ein anderer ist als im Innern, und so sehr er sich auch fürchtete, in den düsteren Wald einzudringen, blieb ihm doch nichts anderes zu tun übrig.

Und kaum hatte er eine kurze Strecke zwischen den herrlich ragenden, aber ihm nicht nützlichen Bäumen zurückgelegt, da sah er eine Pflanze stehen, deren Früchte er als gute Bekannte jubelnd begrüßte. In ganzen Scharen wuchs dort der Pisang, dessen wundervolle Frucht wir die Banane nennen. In ungeheuren Dolden hingen die Früchte von dem niedrigen Stamm herunter; Robinson brauchte nur zuzugreifen und zu essen. Es war eine etwas andere Bananenart, als sie bei uns so viel auf den Markt kommt, etwas weniger süß, dafür aber um so nahrhafter, die sogenannte Mehlbanane, die für viele tropische Völker das Hauptnahrungsmittel ist. Und nicht genug damit, fand Robinson auch in der Nähe schöne große Melonen.

79 Ursula: Oh, wie müssen ihm die geschmeckt haben!

Johannes: Ich weiß nicht, ob er sie wohl gleich essen konnte, denn die dicke Melonenschale läßt sich ja nicht so leicht abziehen, wie man es bei den Bananen tun kann.

Dietrich: Ja, da fehlte ihm wohl zum erstenmal das Werkzeug.

Vater: Wirklich mußte sich Robinson vorläufig nur an die Bananen halten und den Genuß der Melonen noch aufschieben.

Peter: Kamen denn keine wilden Tiere, die ihn fressen wollten?

Vater: Davor fürchtete Robinson sich sehr und ebenso vor wilden Menschen. Während seines Schmauses blickte er sich immer scheu um und erschrak bei jedem Geräusch. Als der erste wildeste Hunger gestillt war, nahm er denn auch einen Haufen Bananen nebst einigen Melonen und lief aus dem Wald heraus an den offenen Strand, wo ihn wilde Menschen oder Tiere, wenn sie kommen sollten, nicht ungesehen beschleichen konnten. Da er bei seinem Schmaus gern eine Abwechselung haben wollte, versuchte er, eine Melone mit den Händen aufzubrechen. Aber das gelang ihm nicht. Da ließ er seine Augen umherschweifen, und bald sah er etwas am Strand, womit er sich helfen konnte. Es lagen nämlich viele Muschelschalen dort, und er wählte sich eine recht scharfe aus, mit der er die Melone ganz leicht durchschneiden und die Schale entfernen konnte.

Johannes: Das war tüchtig von Robinson. Ich glaube, der wird sich schon weiter durchhelfen.

Vater: Nachdem er noch einmal aus der Quelle getrunken hatte, fühlte unser Freund sich vollkommen erquickt und neu gestärkt. Aber bald quälte ihn eine andere Sorge, die gleichfalls eine Notwendigkeit des Daseins betraf. Was brauchen wir denn außer dem Essen, Trinken und Atmen unbedingt, um unser Leben zu erhalten?

Peter: Eigentlich doch nichts weiter, Vater. Wenn man gegessen hat und auch nicht durstig ist, so kann man doch immer weiter leben.

Dietrich: Ich denke, Vater meint wohl den Schlaf.

Vater: Das ist auch eine Art Nahrungsmittel. Wie Essen und Trinken den übrigen Körper, so stärkt, erfrischt 80 und erneut der Schlaf das Gehirn. Er macht es wieder fähig zum Denken und Arbeiten, wenn es vorher kaum noch dazu imstande war. Wenn dem Menschen der Schlaf lange Zeit fehlt, so kann er ebensowenig leben, wie wenn er keine Möglichkeit hat, Nahrung aufzunehmen. Länger als dreimal vierundzwanzig Stunden vermag wohl niemand ununterbrochen zu wachen. Es wird aus früheren grausamen Zeiten erzählt, daß man Menschen, die zum Tode verurteilt waren, dadurch umbrachte, daß man sie durch ständige, leichte Quälereien am Schlafen verhinderte.

Johannes: Nun, Robinson hatte ja Ruhe genug zum Schlafen. Ihn störte doch niemand.

Vater: Niemand, der wirklich in seiner Nähe vorhanden war. Aber das Bewußtsein, daß wilde Menschen oder Tiere ihn während des Schlafs überfallen könnten, verhinderte ihn zunächst, als die Sonne sich schon stark zum Niedergehen anschickte, am Schlafen.

Ratlos und mit schwerbekümmertem Herzen sah er sich um. Wo sollte er die Nacht über bleiben? Da war kein Schutz, kein Raum, in dem er sich hätte sicher fühlen können. Wenn er sich einfach auf die Erde streckte, würde er die ganze Nacht hindurch kein Auge schließen; das wußte er. Denn die Angst vor einem Überfall aus dem Wald würde ihn wachhalten. Er versprach sich auch wenig davon, wenn er auf einen Baum kletterte und sich dort oben niedersetzte. Denn so dick die Äste einzelner großer Bäume auch waren, nirgends konnte man doch sicher sitzen, ohne sich anzuklammern. Und in solcher Stellung vermag der Mensch nicht zu schlafen, weil er die Muskeln ständig angespannt halten muß, was ein Ausschalten der Sinnestätigkeit verhindert.

Peter: Aber die Vögel schlafen doch, indem sie sich auf Äste setzen.

Vater: Die Natur hat ihre Klammerwerkzeuge, nämlich die Zehen, hierfür besonders eingerichtet. Wenn ein Vogel sich auf einen Ast setzt und den Körper etwas niedersinken läßt, dann bleiben seine Zehen von selbst in der Umklammerungsstellung stehen. Zwei Plättchen, die in dem Vogelbein enthalten sind, legen sich dann scharf gegeneinander, und ihre 81 gegenseitige Reibung verhindert, daß die Zehen von selbst wieder aufgehen können. So sitzt der Vogel ganz fest auf dem Baum, ohne daß seine Muskeln hierbei Arbeit zu leisten brauchen. Der Mensch aber ist nicht dazu geschaffen, auf Bäumen zu schlafen, und so mußte sich Robinson um ein anderes Nachtlager bemühen. Das tat er auch und blieb nicht etwa verzweifelt am Strand stehen, nachdem an diesem schon von so vielen Sorgen erfüllten Tag nun noch eine neue Not über ihn gekommen war. Statt nutzlos die Hände zu ringen, wie es wohl viele andere an seiner Stelle getan, eilte er am Saum des Waldes entlang, in der Hoffnung, daß die vielfältige Natur ihm doch noch etwas darbieten würde, wohin er seine müden Glieder in Sicherheit zu betten vermöchte.

Und siehe da, er sollte nicht vergeblich suchen!

Mitten zwischen jüngeren, dünnen Bäumchen stand eine Korkeiche von so ungeheurer Mächtigkeit, wie Robinson noch niemals einen Baum gesehen hatte. Sie mochte wohl viele hundert Jahre alt sein. Ihr Stamm war ganz zerfurcht und zerrissen wie das Antlitz eines hochbetagten Menschen. Die Krone ragte so hoch empor, daß Robinson die einzelnen Zweige bei dem bereits fast ganz geschwundenen Sonnenlicht nicht zu erkennen vermochte, sondern nur ein ungeheures, schwarzes Dach dort oben wahrnahm. Etwa in Mannshöhe über den nach allen Seiten weit ausgreifenden Wurzeln des mächtigen Baums klaffte in dem Stamm eine Öffnung, groß genug, um einen Menschen hindurchkriechen zu lassen. Robinson zog sich zu dieser Öffnung empor und fand sie tief genug, um sich hineinlegen zu können. Er vermochte sich freilich nicht ganz auszustrecken, sah aber sofort, daß er hier bei fast vollkommener Sicherheit in halb liegender und halb sitzender Stellung die Nacht zudringen könnte. Hocherfreut sprang er sogleich wieder hinab, raffte dürres Laub vom Boden auf und schichtete es hoch in der Baumhöhlung auf, um sich so eine weiche Naturmatratze zu schaffen. Dann benutzte er den letzten Schimmer der von der untergegangenen Sonne noch beleuchteten Wolken dazu, aus dünnen Ästen rasch ein einfaches Geflecht herzustellen. Er kroch in den Baum, setzte dieses Geflecht vor die Öffnung, stemmte die Füße dagegen und fühlte sich nun leidlich geborgen.

82 Ein Gefühl der Dankbarkeit quoll in seinem Herzen empor. Er faltete die Hände und betete so innig, wie er es vielleicht noch nie getan. Er fühlte sein Herz in Dankbarkeit gegen Gott schlagen, weil dieser ihn, da er doch nun einmal einsam und verlassen sein sollte, in ein Land gebracht, wo er jeden Tag seinen Tisch gedeckt finden würde und nicht in Kälte zu erstarren brauchte. Wie wäre es wohl gewesen, wenn die Wellen ihn auf ein kahles Felsstück geworfen oder wenn das Schiff im hohen Norden gescheitert wäre, wo die Natur monatelang unter Schnee und Eis begraben liegt?! Nochmals faßte er den festen Entschluß, diese hohe Gunst des Schicksals dadurch zu vergelten, daß er alles daran setzte, weiter zu leben, zu arbeiten und zu streben, bis ihm dereinst die Rückkehr in sein Vaterland und zu seinen Eltern beschieden sein würde. Dann schlief er ruhig und heiteren Gemüts ein.

Johannes: Wie alt war Robinson wohl damals, Vater, als er von den Wellen ans Land geworfen wurde?

Vater: Ich denke, daß er fast achtzehn Jahre gewesen sein wird.

Johannes: Oh, dann war er ja schon ein recht großer Mensch, und ich wundere mich, daß er da ganz in den Baum hineinkriechen konnte. Dietrich ist ja noch nicht einmal so alt, aber ich habe noch niemals einen Baum mit einem so dicken Stamm gesehen, daß sich Dietrich in ein Loch darin hätte setzen gekonnt.

Vater: Du mußt nicht vergessen, daß Robinson sich in einem südlichen Land befand, wo der Pflanzenwuchs so sehr viel üppiger, kräftiger und herrlicher ist als bei uns. Pflänzchen, die hier schwach und kümmerlich sind, werden dort, wenn der Boden genügend feucht ist, unter den Strahlen der glühenden Sonne zu großen Büschen und Sträuchern. So können sich denn auch die Bäume ganz anders entwickeln. Der Brotbaum oder Baobab soll sechstausend Jahre alt werden und dann einen Stamm besitzen, dessen Durchmesser gerade so groß ist wie der der Reitmanege in dem Hamburger Zirkus. In einer Höhlung dieses ungeheuren Baums könnten also mehrere Robinsons und Dietriche längelang sich hintereinander ausstrecken. Auch in Amerika gibt es einige Baumungeheuer. So besitzt Kalifornien einen heute noch lebenden uralten Baum, in dessen 83 Stamm eine türähnliche Öffnung geschnitten ist, groß genug, daß ein geräumiger Reisewagen hindurchfahren kann.

Dietrich: Das sind allerdings unerhörte Bäume. Bei uns werden sie wohl nicht so alt?

Vater: Auch in unserem kargen Klima gibt es viele hochbetagte Naturdenkmäler dieser Art. Die berühmte riesige Linde im Park zu Pyrmont ist sicher weit über tausend Jahre alt. Zu gleich langer Lebenszeit bringt es hier und da die Fichte. Die Silberpappel wird öfter fünfhundert, die Buche und Esche an dreihundert Jahre alt.

Peter: Woran kann man denn das Alter der Bäume erkennen? Man weiß doch sicher nicht immer, wann sie gepflanzt worden sind.

Vater: Wo dies nicht der Fall ist, kann man bei lebenden Bäumen das Alter nur aus der Erfahrung schätzen, und diese hat man durch Beobachtungen an gefällten Bäumen gewonnen.

Johannes: Ach richtig, da sieht man ja die Jahresringe!

Vater: Wohl! Kannst du mir auch erklären, wie diese entstehen?

Johannes: Ja. In jedem Jahr wächst ein neuer Ring, und so kann man sie zählen.

Vater: Dies ist keine genügende Erklärung. Denn da die Ringe sich alle am gleichen Stamm befinden, so müßten sie, wenn nicht noch etwas hinzukäme, eine gleichmäßige, zusammenhängende Masse bilden, die alsdann nach dem Durchsägen des Stamms gar keinen Anhalt liefern könnte. Man muß noch hinzusetzen, daß die Bäume in jedem Frühjahr weitporige, im Herbst dagegen engporige Zellen bilden. Jeder Herbstzuwachs sieht daher dunkel gefärbt aus und gestattet so, den Zuwachs des einen Jahres von dem des nächsten durch das Auge zu unterscheiden. Auf diese Weise erst kann man, wie du richtig sagtest, die Lebensjahre eines Baums an seinen Stammesringen abzählen.

Ursula: Nun bin ich aber neugierig, was Robinson tat, als er am nächsten Morgen erwachte.

Vater: Er nahm das Weidengeflecht vom Eingang der Baumhöhlung fort, kroch hinaus, wusch sich im Meer, verrichtete sein Morgengebet und kräftigte sich dann wieder durch 84 eine tüchtige Mahlzeit von Bananen und Melonen. Die Festigkeit und Ruhe, die jetzt bereits in sein Gemüt eingekehrt waren, ließen ihm Muße, über seine Lage nachzudenken. Da hielt er es für das richtigste, zunächst einmal festzustellen, ob er sich auf dem Festland oder auf einer Insel befände. Im ersten Fall hätte er ja wohl versuchen können, fortzuwandern, um menschliche Ansiedelungen zu finden, wenngleich die Gefahr hierbei wohl nicht gering gewesen wäre.

Schon gestern hatte er die Spitze eines Bergs bemerkt, die sich in nicht allzu großer Entfernung ziemlich hoch über die Wipfel der stolzesten Bäume erhob. Dorthin beschloß er zu gehen, um einen möglichst weiten Fernblick zu haben. Bei jedem Schritt ängstlich um sich schauend, weil er die ja in einem so dichten Wald ganz berechtigte Furcht vor wilden Tieren nicht bannen konnte, schritt er darauflos.

Als er kurze Zeit nach Beginn seines Marschs in eine kleine Waldlichtung trat, erschrak er recht heftig. Denn ein fürchterliches, ohrenbetäubendes Geschrei empfing ihn. Wie eine dichte Wolke stoben Hunderte von Vögeln empor, die an dieser Stelle ihre Nist- und Brutplätze hatten. Seit undenklichen Zeiten mochten ihre Geschlechter hier ungestört in ihren Nestern gesessen haben, vielleicht hatte noch nie der Fuß eines Menschen diese Gegend betreten. Als Robinson sich von seinem Schreck erholt hatte, trat er, während die Vögel immer noch kreischend über ihm kreisten, zu den Nestern und sah dort etwas ihm sehr Willkommenes. Da lagen Eier der verschiedensten Größen in gar nicht zu überzählender Menge. Robinson stieß einen Jubelschrei aus. Da hatte er ja Nahrung die Fülle. Aus Früchten und Eiern konnte er sich nun schon einen abwechslungsreichen Speisenzettel zusammenstellen und sich mit höchst gesunder Kost ernähren. Er nahm einige Eier, drückte mit einem Zweiglein ein Loch in die Schale und trank die Flüssigkeit, die, wie ihr ja wißt, dem Menschen so gut schmeckt.

Ursula: Ach ja, besonders mit Zucker.

Vater: Den hatte Robinson freilich nicht, aber es kam ihm wohl gar nicht der Gedanke an diesen Mangel. Er brach sich noch rasch einen kräftigen Stecken von einem Baum und ging mit kräftigen Schritten fürbaß dem Berg zu, an dessen 85 Abhang er sich bald befand. Seid ihr Kinder jemals über ungebahntes Land gegangen?

Peter: Ja, Vater, wenn wir in Braunschweig einen weiteren Spaziergang machten, bin ich oft auf die Feldwege gelaufen.

Vater: Da befandest du dich also immer noch auf einem Weg, wenn er auch bescheiden genug angelegt war.

Johannes: Wir sind oft über Stoppelfelder gegangen.

Vater: Das läßt sich schon eher hören. Doch auch da habt ihr nur Landstücke betreten, von denen ihr wußtet, daß schon vorher Menschen darauf gegangen waren, nämlich als sie den Pflug führten, und in kurzer Entfernung saht ihr die großen Landstraßen und die kleineren Feldwege. Nun stellt euch aber einmal vor, daß ihr eine Gegend durchschreiten sollt, die gänzlich unangebaut ist, wo ihr also nicht wissen könnt, auf was für einen Boden der nächste Schritt euch führt. Da kann plötzlich undurchdringliches Dickicht sich euch entgegenstellen; ihr könnt in einen Sumpf geraten, den ihr vorher gar nicht bemerkt habt, weil seine Oberfläche vollständig bewachsen ist; eine tiefe Spalte kann sich jäh vor euren Füßen auftun. Tausend Gefahren lagern überall.

Dietrich: Wie schön ist es da doch, daß bei uns zu Hause überall Wege vorhanden sind!

Vater: Darauf wollte ich hinaus! Das solltet ihr einmal erkennen! Wir gehen auf unseren Straßen, die so glatt sind, daß der Fuß sich nicht einmal an einem Steinchen stoßen kann, auf den prachtvollen Chausseen und selbst auf den Feldwegen in dem sicheren Bewußtsein, daß auf ihnen alle Gefahren ausgeschlossen sind. Sogar Wagen können überall glatt und ungehindert fahren. Dieses Wegenetz ist ein herrliches Werk, welches die Gesamtheit der Menschen für jeden einzelnen geschaffen hat. Die Oberfläche unserer Erde ist rauh, uneben und unzuverlässig. In Jahrhunderten haben wir sie durch großartige Kunstbauten gangbar gemacht. Die gebahnten Wege sind für uns Kulturmenschen etwas Selbstverständliches geworden, und niemand denkt wohl je darüber nach, wie bequem ihm das Vorwärtskommen hierdurch gemacht wird. Man sollte aber eigentlich solche Dinge nicht gedankenlos 86 benutzen. Sie erscheinen in richtigem Licht, wenn man sich einmal ganz wildes Gelände vorstellt, wie es jetzt von Robinson durchschritten wurde.

Mühsam genug kam er denn auch vorwärts. Bald stolperte er über Baumwurzeln, bald schlug ihm hohes Gesträuch ins Gesicht, wenn er sich hindurchzwängte. Aber er drang weiter, und nach einer tüchtigen Wanderung stand er schließlich auf der Kuppe des Bergs. Sie war nackt und mit Geröll bedeckt. Statt der Spitze hatte sie eine eigentümliche, tief eingedrückte Mulde.

Ein einziger Blick von der Höhe zeigte Robinson, daß er sich auf einer Insel befand. Das Eiland war an keiner Stelle größer, als seine Blicke reichten, aber auch nicht allzu klein, ungefähr halb so ausgedehnt wie unsere Insel Rügen. Ringsumher lag nichts als das unendliche Meer. Es zog sich um Robinsons Aufenthaltsort nicht anders als die Mauern eines Gefängnisses. Denn es war für ihn undurchdringlich wie diese. Nur in weiter Ferne sah er drei andere Eilande liegen und ganz hinten eine größere Landfläche, die gleichfalls eine Insel, vielleicht aber auch das Festland sein konnte.

Ich möchte hier einfügen, daß dies in Wirklichkeit die Küste der großen Insel Sumatra war, einer der Sunda-Inseln, die eine, wenn auch oft unterbrochene Landbrücke zwischen Asien und Australien bilden. Die Insel gehört den Niederländern; sie wird vom Äquator durchschnitten. Robinsons Insel lag vor der Südspitze von Sumatra; er befand sich also in der heißen Zone, freilich schon fünfhundert bis sechshundert Kilometer vom Äquator entfernt. Er selbst wußte natürlich durchaus nicht, welchem Land die nur ganz schwach sichtbare Küste zugehörte.

Die Tränen überströmten sein Antlitz, als er sich auf einer Insel eingeschlossen sah. Vor Gram und Kummer wollte das Herz ihm beinahe brechen, denn er sah klar voraus, daß bei dieser Lage der Dinge nur ein Zufall es ihm ermöglichen könnte, jemals wieder ins Vaterland zurückzukehren. Vermutlich war doch die Meeresgegend, in die er verschlagen worden, ganz abgelegen. Es konnte Jahre dauern, bis zufällig ein Schiff sich hierher verlöre, vielleicht geschah das niemals, und 87 seine Eltern würden sterben, ohne je erfahren zu haben, wohin ihr Sohn geraten sei. Doch da half nun kein Wehklagen, und von neuem hielt sich Robinson durch den Gedanken aufrecht, wie viel schlimmer es gewesen wäre, wenn die Insel in einem der nördlichen Meere unter einem kalten Himmelsstrich gelegen hätte.

Er aß von den mitgebrachten Vorräten und saß dann sinnend auf der Bergkuppe. Seine Entschlossenheit, das Leben weiter zu führen, bis einst ein Schiff ihn abholte, war stärker in ihm als je. Er überlegte, was er nun zunächst zu tun hätte. Da erschien ihm als das wichtigste, eine Stätte herzustellen, in der er gesichert vor den Angriffen wilder Tiere und möglicherweise auch vor räuberischen Menschen, die gleichfalls auf der Insel hausen konnten, zu wohnen und zu schlafen vermöchte. Denn auf die Dauer konnte er seine Lagerstatt in dem hohlen Baum nicht aufschlagen; dazu war sie denn doch zu klein und zu unbequem. Gedankenvoll stieg er vom Berg hinunter. 88


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