Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Neunundzwanzigster Nachmittag

Als der Vater heute in den Garten hinauskam, saß die kleine Gesellschaft recht still und niedergeschlagen beieinander. Es flogen keine Scherzworte hin und her, wie es bisher meist der Fall gewesen war, bevor die Erzählung begonnen hatte.

Dietrich gab, nachdem der Vater sich niedergesetzt hatte, der allgemeinen Empfindung Ausdruck, indem er sagte:

Wir gönnen es dem Robinson alle herzlich, daß er von seiner Insel erlöst worden ist. Aber traurig sind wir, weil nun die schöne Erzählung ein Ende hat.

Peter: Ich habe mich viel mehr gefreut, als die Wilden kamen. Den Forscher mit seinem Schiff kann ich gar nicht leiden.

Johannes: Robinson fühlte sich ja jetzt schon so wohl auf der Insel, da würde es ihm wirklich nichts geschadet haben, wenn er noch ein Jahr länger dageblieben wäre und noch vieles erlebt hätte.

Ursula: Ich hätte auch schrecklich gern noch mehr von ihm gehört, aber gut ist es doch, daß er jetzt bald wieder zu seinen Eltern kommt.

Vater: Ich halte es mit dir, mein Töchterchen. Wir wollen nicht eigensüchtig sein und uns alle über den glücklichen Umstand freuen, daß das Forscherschiff gerade die Gegend von Robinsons Insel aufsuchte. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte er vielleicht wirklich auf der Insel sterben müssen. Denn weder vorher noch nachher ist jemals ein Fahrzeug in die Nähe gekommen. Und ihr Jungens braucht euch um so weniger zu betrüben, als unser Freund auch auf der Heimreise noch dies und jenes erlebte.

317 Peter: So? Dann bin ich froh! Das erzählst du uns gewiß auch, Vater!

Vater (nickt).

Johannes: Oh, fein! Dann hören wir also noch mehr von Robinson.

Ursula: Na, seht ihr, der Robinson macht uns immer bloß Freude!

Dietrich: Bitte, lieber Vater, laß sie schweigen, damit wir hören können, was sich auf dem Schiff begab.

Vater: Unser Freund sah sich von dem stillen Dasein auf der Insel zwar nicht gleich in strudelndes Leben versetzt, aber dennoch fiel es ihm schwer genug, sich auch nur in das Treiben auf dem Schiff einzugewöhnen. Außer dem leitenden Forscher, den ihn begleitenden Gelehrten und den wissenschaftlichen Gehilfen, zwölf an der Zahl, befanden sich darauf noch dreißig Männer, die der Mannschaft angehörten, so daß es bei der Enge des Raums schon recht lebhaft auf dem Fahrzeug herging.

Als Robinson zum erstenmal wieder an einem in europäischer Weise gedeckten Tisch saß und mit Messer und Gabel speiste, hätte er fast geweint. Als ihm ein richtiges Bett als Lagerstatt angewiesen wurde, wagte er kaum, sich hineinzulegen. Das erste Glas Wein, die vom Koch sorgsam zubereiteten Speisen erschienen ihm wie etwas ganz Neues, nie Genossenes.

Das Schiff trug den Namen »Helmholtz« nach dem großen deutschen Gelehrten, dem die Wissenschaft so viele bedeutende Erkenntnisse verdankt. Sein Heimathafen war Emden, den es vor etwas mehr als anderthalb Jahren verlassen hatte. Der Leiter der wissenschaftlichen Arbeiten, jener Forscher, den wir bereits kennengelernt haben, erzählte dem Robinson, daß es die Aufgabe der Expedition gewesen und noch sei, in verschiedenen Gegenden des Weltmeers Tiefenmessungen auszuführen sowie möglichst viele Tiere in großen Tiefen zu fangen und heimzuführen.

Johannes: Was für einen Zweck hat denn so etwas?

Vater: Die reine Wissenschaft fragt nicht nach einem Zweck, wenn du, wie ich glaube, mit diesem Wort den praktischen Nutzen meinst. Den Schiffen ist es natürlich 318 gleichgültig, ob sie eine Tiefe von tausend oder zweitausend Metern unter ihrem Kiel haben. Und die Fischer lassen ihre Netze auf der Hochsee nicht bis zum Grund nieder. Aber in die Brust des Menschen ist der Drang nach Erkenntnis eingesenkt. Was ich euch an Hand von Robinsons Erlebnissen über unser Wissen von den Sternen erzählte, hat euch ja, wie ich bemerken konnte, lebhaft gepackt. Um so weniger kann man sich wundern, wenn wir uns neben diesem Schweifen in die unendlichen Fernen des Himmelsraums auch bemühen, unsere Erde möglichst genau kennenzulernen. Wenn man in ein neues Haus einzieht, wird man gewiß versuchen, möglichst jeden Winkel darin zu durchforschen, weil man sich nur nach Kenntnis aller Räume wirklich darin heimisch fühlen kann. Das Haus nun, in dem die Menschheit wohnt, ist die Erde. Wir begnügen uns nicht damit, von ihrem Bau nur das zu erfahren, was sich dem Blick unmittelbar erschließt, es drängt uns vielmehr, alle Höhen und Tiefen kennenzulernen, so weit irgend der Mensch zu bringen vermag. Erkenntnis ist der Zweck der wissenschaftlichen Forschung. Ob ein praktischer Nutzen aus der Erkenntnis erwächst, bleibt ihr gleichgültig, obwohl sich nicht verkennen läßt, daß fast alles, was bisher erforscht worden ist, schließlich auch praktischen Nutzen gebracht hat.

Dietrich: Mir war es keinen Augenblick zweifelhaft, daß die Durchforschung der Meerestiefen etwas sehr Schönes und Großes ist. Machte denn der »Helmholtz« auch Messungen, als Robinson schon an Bord war?

Vater: Ja, dies geschah öfter, und ihr könnt euch denken, daß unser Freund den Vorgängen mit großer Aufmerksamkeit folgte. Sah er doch nach seinen vielfachen Bemühungen auf wissenschaftlichem Gebiet mit Hilfe weniger, bescheidener Instrumente hier zum erstenmal das Arbeiten mit dem ganzen modernen Rüstzeug der Wissenschaft. Das wunderbarste Ergebnis hatte eine Messung im Wasser des Atlantischen Ozeans, die vorgenommen wurde, als die Reise schon mehrere Wochen dauerte und sie fast wieder den Äquator erreicht hatten.

Peter: Ach, der Taucher! Sie schickten doch einen Taucher runter? Von diesen Leuten wollte ich schon immer gern etwas hören!

319 Vater: Dazu wirst du jetzt keine Gelegenheit finden, denn in die Abgründe, um die es sich hier handelt, ist bisher noch kein Mensch gedrungen und wird vielleicht auch niemals einer gelangen. Auf der Tiefe ruht ja der ganze Druck des darüber liegenden Wassers. Schon hundert Meter unter dem Wasserspiegel würde ein Mensch zusammengedrückt werden, als wenn man ihn unter eine Presse gelegt hätte. Die Taucher können nur zwanzig bis dreißig Meter tief hinabgehen.

Peter: Ja, aber wie macht man's denn?

Dietrich: Nun, es gibt doch Instrumente, von denen uns Vater gewiß gleich erzählen wird.

Vater: Ja, das Werkzeug, das man für die Ausmessung großer Tiefen benutzt, ist das Lot. Ein schweres Gewicht wird hinabgelassen, und man ist imstande, festzustellen, wie tief es untergesunken ist, wenn es den Boden erreicht. An Bord des »Helmholtz« befand sich eine große Winde, auf der mehrere tausend Meter dünnen Stahldrahts aufgewickelt waren. Als die Messung, von der wir hier sprechen, begann, wurde ein sehr schweres Gewicht an einer eigentümlichen Vorrichtung darangehängt und hinabgelassen. Der Stahldraht begann sich abzuwickeln. Ein Zeiger gab an, wie viele Meter Draht abgelaufen waren. Wie lange glaubt ihr wohl, dauerte es, bis das Lot den Meeresboden erreichte?

Peter: Zehn Minuten!

Johannes: Ach, so lange? Da muß es aber ganz furchtbar tief gefallen sein!

Vater: Ja, es war wirklich schrecklich tief, denn es währte nicht zehn Minuten, sondern länger als acht Stunden, bis der Zeiger stillstand.

Johannes: Entsetzlich! Wie tief war das Lot da wohl untergesunken?

Vater: Der Anzeiger gab mehr als siebentausend Meter an.

Johannes: Ach, das war wohl die tiefste Stelle, die man je gefunden hat!

Vater: Nein, doch nicht! Im Atlantischen Ozean gibt es keine größeren Abgründe, aber im südlichen Teil des Stillen Ozeans hat man schon neuntausend Meter Tiefe gefunden. Der höchste Berg auf der Erde, der Gaurisankar, ist fast eben so hoch, 320 so daß die Ansicht mancher Gelehrten vielleicht richtig ist, daß die Tiefen im Meer den Erhebungen auf der Erde ungefähr entsprechen.

Dietrich: Gibt es denn da unten auch Fische?

Vater: Früher glaubte man, daß sich in solcher Tiefe ein großes Reich des Todes ausbreite. In den letzten Jahrzehnten aber haben viele Expeditionen nach der Art des »Helmholtz« gezeigt, daß es auch dort drunten Lebewesen gibt, die also imstande sind, den furchtbaren auf ihnen lastenden Druck auszuhalten. Der Forscher führte Robinson in einen unteren Raum des Schiffs hinab, wo die Ergebnisse von Fischzügen in großen Tiefen aufbewahrt waren. Da sah unser Freund schreckliche Gebilde, die zu ihrer Erhaltung in besondere Flüssigkeiten eingesetzt waren. Die Seelilien und Schlangensterne nahmen sich noch recht freundlich aus, aber farblose Gebilde, die wie geschwollene Raupen mit tausend Fangarmen oder wie wahnwitzig mißgestaltete Krebse aussahen, und Fische mit furchtbar drohenden Köpfen, wie man sie wohl den Drachen der Sage zuschreibt, erschreckten ihn. Es war eine ganz andere Tierwelt, als sie uns sonst bekannt ist. Die Natur hat sie nicht bestimmt, von menschlichem Auge erschaut zu werden. Aber man findet sie jetzt überall in naturwissenschaftlichen Museen, und wir können auch einmal ein solches aufsuchen, um uns die Tierwelt der Tiefe anzuschauen.

Johannes: Ja bitte, Vater, das wollen wir bald tun. Aber wie ging es denn dem Freitag auf dem Schiff?

Vater: In der ersten Zeit war er sehr bedrückt gewesen, denn alles, was er sah, erschien ihm ja so fremd, wie wir die Umgebung empfinden würden, wenn man uns plötzlich auf den Planeten Jupiter versetzte. Aber da er als des hochgeachteten Robinson Gefährte und durch die Schilderungen, welche jener von seinem Charakter gegeben hatte, bei allen gut eingeführt war, nahm sich jeder seiner an, führte ihn und belehrte ihn, so daß er langsam begreifen lernte und sich schließlich eingewöhnte. Sein bester Freund aber blieb nach wie vor Robinson, an den er sich stets wandte, wenn die anderen ihn nicht verstanden, und der ihm stets zu helfen wußte.

Die heiße Zone lag nun bereits hinter ihnen, und sie näherten sich den Gewässern, welche die europäischen Küsten 321 bespülen. Hier und da während der weiten Reise hatte die See den »Helmholtz« recht hart hin und her geworfen, im allgemeinen jedoch war gutes Wetter gewesen. Jetzt im rauheren Norden aber blies der Wind besonders scharf, und an dem Tag, von dessen Geschehnissen ich nun berichten will, ging die See sehr hoch.

Robinson stand gerade mit dem Kapitän auf der Kommandobrücke, als ein Schiffsjunge herbeigelaufen kam, der einen Zettel überbrachte. Der Kapitän las vor: »Meldung: Habe Notzeichen erhalten. Ein Schiff in Gefahr! Näheres fehlt noch.«

Das schlug gleich einem Blitz ein. Der Kapitän beschloß sofort die beschauliche Unterhaltung mit Robinson. Kameraden waren in Gefahr! Das ließ sogleich sein Seemannsherz rascher schlagen. Schleunigst mußte alles getan werden, um das Schiff zur Hilfeleistung bereitzumachen.

Sogleich ließ der Kapitän sämtliche Offiziere auf die Kommandobrücke entbieten. Indessen wurde bereits ein zweiter Meldezettel herbeigebracht. Auf diesem stand: »Schiff brennt! Ersucht um schleunige Hilfe. Viele Menschenleben in dringendster Gefahr!« Die Offiziere waren in Hast herbeigeeilt, und es erging Alarm durch alle Schiffsräume. Man machte sich bereit, schnellstens zuzufahren, sobald der Standort des brennenden Schiffs bekannt sein würde. Jeder von der Mannschaft befand sich an dem für besondere Fälle vorher vereinbarten Posten. Der Ausguck auf der Höhe des Vordermasts, in dem sogenannten Krähennest, war verdoppelt. Schon wurden alle Vorbereitungen getroffen, um die Rettungsboote schnell zu Wasser bringen zu können. Ungeduldig erwartete man auf der Kommandobrücke weitere Meldung. Sie traf nach wenigen Minuten ein: »Dampfer ›Lisboa‹ von Lissabon nach Madeira mit Passagieren. Hat Feuer im Vorderteil. Standort 40 Grad 16 Minuten 4 Sekunden nördlicher Breite, 20 Grad 32 Minuten 19 Sekunden westlicher Länge.« Kurze Zeit verging darauf, während der Kapitän und der Erste Offizier im Kartenhaus Messungen vornahmen. Dann trat der Schiffskommandant wieder heraus auf die Brücke und gab dem Steuermatrosen Weisung, neuen Kurs zu nehmen. Der Maschinentelegraph klingelte und befahl: »Volle Fahrt voraus.« Das Steuerruder wurde umgelegt, das Schiff fiel aus seinem Kurs, in 322 großem Bogen wandte es sich westwärts. Dicke, schwarze Wolken entquollen dem Schornstein. Der »Helmholtz« beeilte sich mit allen Kräften, der brennenden »Lisboa« zu Hilfe zu eilen.

Ich brauche euch Kindern nicht zu sagen, wer es war, der dem Kapitän die Meldezettel schickte.

Johannes: Nein, gewiß nicht! Sie kamen natürlich vom Funkentelegraphisten.

Vater: Euch kommt das ganz natürlich vor, aber Robinson stand beinahe fassungslos, im höchsten Grad ergriffen da. Von allen Einrichtungen, die sich auf dem Schiff befanden, war ihm die Apparatur für Funkentelegraphie die überraschendste gewesen, ja ihre Funktion ging fast über sein Begreifen hinaus.

Johannes: Aber warum denn nur? Er hatte doch gewiß noch sehr viel anderes ebenso Großartiges auf dem Dampfer gesehen!

Vater: Das schon. Aber alles andere knüpfte an Dinge an, die ihm von Jugend auf vertraut gewesen, oder auf die er durch seine Bücher vorbereitet war. Die drahtlose Telegraphie aber offenbarte ihm etwas ganz Neues, Beispielloses und Unerhörtes. Auf diese Errungenschaft menschlichen Geistes war er in keiner Weise vorbereitet, denn als er Europa verlassen hatte, dachte noch niemand an diese Erfindung, und in seinen Büchern waren wohl die grundlegenden Versuche von Heinrich Hertz über elektrische Wellen beschrieben, aber nichts deutete auf ihren praktischen Gebrauch. Der Begriff Telegraphie war in Robinsons Denken verbunden mit unabsehbar langen Reihen hölzerner Stangen, an denen auf weißen Isolatorknöpfen Leitungen entlang laufen. Daß Elektrizität in Drähten mit unvorstellbarer Geschwindigkeit von Ort zu Ort zu fließen vermag, erschien ihm begreiflich, nicht aber, daß der Raum selbst die Vermittlerrolle übernimmt. Und nun hatte er gleich Gelegenheit, das praktische Arbeiten dieser wunderbarsten Erfindung der letzten Jahrzehnte in tief erschütterndem Zusammenhang zu beobachten.

Ein Schiff, das sich inmitten der Wasserwüste des Weltmeers befand, war für Robinson bis dahin ein Gegenstand gewesen, der von jeglicher Verbindung mit den Menschen, die sich nicht an Bord befanden, abgeschnitten war. Nur 323 auf sich selbst gestellt, schwamm es dahin, und wenn es in Not geriet, mußte es sich selbst helfen oder untergehen. Er dachte an den Dampfer »Rangoon«, von dem erst lange nach seinem Versinken klägliche Nachricht durch die Flaschenpost zu ihm gekommen war. Schmerz ergriff ihn jetzt von neuem um den Tod all der Männer, deren Namen auf dem der Flasche entnommenen Zettel standen; Robinson hatte ihn von der Insel mitgenommen, und er lag jetzt sorgsam aufbewahrt in seiner Kajüte. Jene Menschen hatten elend umkommen müssen, weil sie nicht imstande gewesen waren, Hilfe von weither in gleicher Weise herbeizurufen wie die mit den neuen funkentelegraphischen Apparaten ausgestattete »Lisboa«. Der brennende Dampfer, den er noch nicht sehen konnte, erschien ihm mit göttergleichen Kräften ausgerüstet. Das Märchen von Aladdin und seiner Wunderlampe fiel ihm ein. Es war Wirklichkeit geworden. Wie Aladdin an seiner Lampe rieb, um den hilfreichen Geist herbeizurufen, so brauchte der Funkentelegraphist auf der »Lisboa« nur eine kleine Taste in Bewegung zu setzen, um Rettung heranzuzaubern.

Indessen kam Meldung auf Meldung aus der Telegraphenstube zur Brücke. Jetzt stand darauf: »›Lisboa‹ meldet, daß Feuer sich ausbreitet. Hundertsiebenundzwanzig Personen sind an Bord. Aussetzen von Rettungsbooten wegen hoher See unmöglich.« Zehn Minuten später hieß es: »Dampfer ›Lisboa‹ hat unsere Mitteilung empfangen, daß wir zu Hilfe kommen, ersucht um größte Beschleunigung.« Der Kapitän befahl zu melden, daß sie in einer Stunde dort sein würden. Man sollte versuchen auszuharren. Ein Offizier begab sich in den Kesselraum, um den Heizern rascheste Arbeit anzubefehlen. Alles an Bord befand sich in höchster Aufregung, besonders auch unser Robinson, der sich die erwartungsvollen Qualen der Menschen auf der brennenden »Lisboa« in lebhaftesten Farben ausmalte Es kann ja auch kaum etwas Schrecklicheres geben, so dachte er, als auf dem Meer dem unerbittlichsten Feind des Menschengeschlechts, dem Feuer, ausgesetzt zu sein. Zwischen Scylla und Charybdis, dem Brand und dem Wasser, ist man unentrinnbar eingekeilt. Wie furchtbar mußte jetzt die Angst der armen Menschen auf jenem Dampfer sein! Die Maschinen des 324 »Helmholtz« arbeiteten mit aller Kraft, aber würde das Schiff noch zur Zeit kommen?

Nach einer langen, bangen Stunde endlich meldete der Ausguck im Krähennest: »Rauch voraus sichtbar.« Über das Gesicht des Kapitäns, der die ganze Zeit über unruhevoll zwischen dem Kartenhaus und der Brücke hin und her gegangen war, lief ein freudiges Leuchten. Seine Navigation war also richtig gewesen. Der Kurs stand sicher auf die »Lisboa« zu. Dies war eine tüchtige Leistung, wenn man bedenkt, daß solch ein Schiff auf dem ungeheuren Ozean ja doch nicht mehr ist als ein Sandkörnchen am meilenlangen Strand. Man muß schon ein trefflicher Seemann sein, um den einen kleinen Punkt sicher anzusteuern. Nun sah man auch von unten den Rauch, und zehn Minuten später erblickte man die Feuersäule. Dann waren sie so dicht heran, daß die Lage auf dem in Not befindlichen Schiff deutlich erkennbar wurde. Robinson hatte eins der trefflichen Ferngläser erhalten, die auf jedem Schiff in reicher Zahl zur Verfügung sind, und er sah nun einen schwarzen Knäuel von Menschen am Heck der »Lisboa« zusammengedrängt. Das Vorderschiff brannte lichterloh, und schwere, schwarze Wolken flogen unablässig über die Köpfe hin. Alle die Schiffbrüchigen hatten jetzt die Gesichter dem »Helmholtz« zugewendet, winkten und schrien Worte verzweiflungsvoller Freude, die man zwar nicht hörte, aber von den Gesichtern ablesen konnte. Der »Helmholtz« stoppte. Robinson war äußerst begierig zu sehen, wie der Kapitän nun die Hilfsaktion einleiten würde. Aber da ward seine Aufmerksamkeit von etwas anderem abgezogen.

Einer der Offiziere, der den Horizont mit dem Fernglas abgesucht hatte, rief: »Da kommen noch andere Helfer!« Und siehe, welch ein Wunder! Nacheinander wurden auf dem Meer drei, vier, fünf dunkle Pünktchen sichtbar. Es war noch nicht eine Stunde nach der Ankunft des »Helmholtz« vergangen, da stand ein ganzer Kranz von Schiffen, acht an der Zahl, um die »Lisboa«. Es waren in buntester Mischung kleine Frachtschiffe, gewaltige, hochbordige Passagierdampfer und einer mit besonders eigentümlicher Form des Rumpfs. Sie alle hatte der Hilferuf der »Lisboa«, der ringsum in den Raum hinausgestrahlt 325 war, erreicht. Alle waren sie sofort ihrer Pflicht nachgekommen, den Notleidenden zu helfen. Aber leider schien es ganz nutzlos, daß sie herbeigeeilt waren. Denn der Sturm war gewachsen, die See schlug wütende Wellen. Überall auf den Schiffen waren die Rettungsboote ausgeschwenkt, aber es war nicht möglich, auch nur eins von ihnen zu Wasser zu lassen. Denn sicher wäre es durch die Wellen sofort an der Wand des Mutterschiffs zerschmettert worden. So sah Robinson jetzt der Menschen ganze Macht und Ohnmacht in einem Sammelbild vereint vor sich. Hilfe war in bewundernswertester Weise herbeigerufen worden, aber nun, da sich die Helfer am Ort versammelt hatten, waren ihre Kräfte gelähmt.

Der Funkentelegraphist auf dem brennenden Schiff arbeitete indessen weiter. Man konnte ja nicht ganz dicht heranfahren, da sonst bei der schwer bewegten See die Gefahr eines Zusammenstoßes drohend gewesen wäre, und war darum weiter auf seine Meldungen angewiesen. Er teilte mit, daß jetzt bereits der ganze Laderaum, in dem das Feuer ausgekommen war, in Brand stünde. Die Gefahr war aufs höchste gestiegen. Jeden Augenblick konnten die Flammen auch das Deck des Hinterteils ergreifen, wo die bedrängten Menschen vereint auf die Rettung warteten. In dem Kranz der Hilfsschiffe wurden unausgesetzt Flaggensignale gewechselt. Die Kapitäne berieten miteinander, was sie tun könnten. Aber jede Hilfshandlung schien unmöglich. Da setzte jener eigentümlich geformte Dampfer ein langes Signal, auf das sich die Aufmerksamkeit aller richtete. Durch Flaggen, von denen jede einzelne nach dem Signalbuch einen Buchstaben des Alphabets darstellte, meldete er: »Gebt acht, ich werde Öl aufs Wasser lassen.«

Peter: Ach, wie merkwürdig!

Vater: Es war ein Tankdampfer, der amerikanisches Steinöl nach Europa überbringen sollte. Der ganze Rumpf solcher Schiffe ist ein einziges, allseitig geschlossenes Gefäß, in das die Ladung eingefüllt ist. Der Kapitän hatte sich infolge der argen Not, die er vor sich sah, entschlossen, einen Teil des kostbaren Stoffs zu opfern, weil dieses Verfahren die einzige Rettungsmöglichkeit bot. Sobald Öl auf Wasser fließt, beruhigen sich die Wellen, da sie jetzt beim Emporwallen den dickflüssigen 326 Stoff zerreißen müssen, wodurch ihre Kraft gelähmt wird. Schon bedeckte sich das Meer mit einem bläulichen Schimmer. Darunter glätteten sich die Wogen. Wenige Minuten später waren bereits fünf Boote im Wasser. Von der »Lisboa« hörte man deutlich Jubelrufe erschallen. Die Matrosen in den Booten arbeiteten kräftig mit den Rudern, und bald waren sie längsseits des brennenden Schiffs. Die Rettungshandlung begann. Es verging kaum eine Dreiviertelstunde, da war die »Lisboa« geräumt, die Mannschaften und Fahrgäste auf den verschiedenen Schiffen geborgen. Auch der »Helmholtz« hatte fünf Gäste erhalten, deren man sich sofort mit liebevollster Pflege annahm. Die Geretteten waren aufs tiefste erschöpft, sie wurden gebettet und gepflegt, und es geschah alles, um sie zu beruhigen und wieder zu Kräften zu bringen.

Während die »Lisboa« weiter brannte und nach kurzer Zeit versank, löste sich der Kreis der Hilfsschiffe geschwind auf. Jeder suchte so schnell wie möglich in der Richtung davonzugehen, aus der er gekommen, um die vorgeschriebene Fahrt wieder aufzunehmen. Leider aber ging es hierbei nicht ohne weiteren Unfall ab. Einer der Frachtdampfer machte eine falsche Wendung, seine Spitze stieß heftig gegen die Seite des deutschen Lloyddampfers »Weichsel« und riß ihm ein Loch unter der Wasserlinie.

Johannes: O weh! Welch ein neues Unglück! Nun geht der auch noch unter!

Vater: Nein, er ging nicht unter. Der Dampfer blieb weiter schwimmfähig.

Johannes: Ja, aber wie konnte denn das sein? Wenn das Schiff ein Loch unter der Wasserlinie hatte, mußte es doch vollaufen und versinken, gerade wie Robinsons Schiff damals, als es auf den Klippen aufgerannt war.

Vater: Unser Freund fürchtete, als die »Weichsel« funkentelegraphische Meldung über die Wirkung des Zusammenstoßes ausgesendet hatte, das gleiche in Erinnerung an jenes schreckliche Unheil, das er vor einem Jahrzehnt durchlebt hatte. Der Lloyddampfer war ein sehr großes Schiff mit mehr als tausend Menschen an Bord, und Robinson erblaßte in dem Gedanken, daß man nicht schnell genug imstande sein würde, alle diese von dort zu 327 überführen. Doch der Kapitän belehrte ihn, daß das nicht notwendig sei. Die »Weichsel« sei zwar schwerverwundet, aber keineswegs tödlich getroffen. Sofort, nachdem das Unglück geschehen war, hätte der Kommandant drüben einen Hebel auf der Brücke in eine Stellung gebracht, die mit der Angabe: »Schotten dicht!« bezeichnet war. Im gleichen Augenblick wären überall in den tief liegenden Räumen des Schiffs schwere, eiserne Tore geschwind nach unten gegangen und zugeschlagen. Dadurch sei das Schiff jetzt in allen Rumpfteilen, die unter der Wasserlinie liegen, in eine große Zahl einzelner Räume geteilt, die vollständig wasserdicht gegeneinander abgeschlossen seien. Das Meer könnte also nur einen einzigen dieser Räume anfüllen, und die dort hineindringenden Wassermassen waren nicht schwer genug, um dem Schiff die Schwimmfähigkeit zu nehmen.

Johannes: Das ist ja wieder etwas ganz Wunderbares, was die Menschen da erdacht haben!

Vater: Ja. Fast jedes Schiff für Personenbeförderung, das heute auf dem Ozean fährt, besitzt diese Einteilung in Schotten, wie man die wasserdichten Räume nennt. Viele, viele Menschenleben sind auf diese Weise bereits bewahrt worden. Es ist eine der trefflichsten Sicherheitsvorkehrungen auf See, gerade wie der doppelte Boden, den alle diese Schiffe gleichfalls haben.

Peter: Aber warum mußten denn erst Türen geschlossen werden, wieso ist nicht alles immer gleich ganz wasserdicht?

Vater: Das läßt sich aus technischen Gründen nicht durchführen. Im Unterteil befinden sich ja die wichtigsten Arbeitsräume des Schiffs. Die Kessel liegen in einem Schott, die Kohlenbunker in einem anderen. Der Hauptmaschinenraum ist von jenem, der die zahlreichen Hilfsmaschinen, wie Kesselspeisepumpen und Lichtdynamos, enthält, gleichfalls durch eine Schottenwand getrennt. Unausgesetzt muß zwischen diesen Räumen hin und her gegangen werden. Eine Durchbrechung der von Längswand zu Längswand quer durch das Schiff gehenden Schottenwände ist also erforderlich. Damit jedoch eindringendes Wasser diese schmalen Durchschlupfe nicht gleichfalls benutzen kann, sind Türen über den Öffnungen vorgesehen, die sich, wie wir schon gehört haben, im Notfall durch Umlegen 328 eines einzigen Hebels auf der Kommandobrücke unter elektrischem Einfluß sofort selbsttätig schließen.

Peter: Wie schade, daß Robinsons Schiff nicht auch diese Einrichtung gehabt hat. Dann hätten all die vielen Menschen damals nicht zu ertrinken gebraucht!

Vater: Jenes Fahrzeug wäre für die Anbringung der Schotteneinteilung nicht geeignet gewesen, da es aus Holz gebaut war. Nur Schiffe, die ganz aus Eisen bestehen, besitzen genügend starke Verbände, um den Druck auszuhalten, den das Wasser in einem vollgelaufenen Schott gegenüber den angrenzenden leeren ausübt.

Ursula: Es gibt Schiffe aus Eisen, Vater? Wie kann das sein? Eisen schwimmt doch nicht!

Dietrich (lachend): Das ist wirklich eine gescheite Frage, Schwesterchen! Du hast ganz recht, Eisen schwimmt wirklich nicht auf dem Wasser. Aber die Schiffe sind doch aus Eisen!

Ursula: Ach du machst Ulk, Dietrich! Das geht doch gar nicht!

Peter: Ich verstehe es eigentlich auch nicht.

Dietrich: Nun, dann müssen wir es euch wohl erklären. Paßt mal auf! Wenn man einen Schlüssel ins Wasser legt, geht er wirklich unter. Aber, Ursula, nimm nachher mal Mutters Fingerhut – ob der aus Messing oder Eisen ist, spielt keine Rolle – und setze ihn mit der Öffnung nach oben in die Badewanne. Dann wirst du sehen, daß er schwimmt.

Ursula: Ach, wirklich? Warum tut er das bloß?

Dietrich: Der Unterschied ist der, daß der Schlüssel ein volles Metallstück, der Fingerhut aber hohl ist. Wenn ein Körper ins Wasser taucht, dann schiebt er einen Teil davon fort, weil er sich selbst an dessen Stelle setzt. Sobald nun das Wasser, das er verdrängt hat, ebensoviel wiegt wie der Körper selbst, dann bleibt dieser stehen und kann nicht mehr tiefer tauchen. Der volle Schlüssel, dessen ganze Gestalt mit Eisen ausgefüllt ist, vermag nicht so viel Wasser zu verdrängen, wie er selbst wiegt, und deshalb sinkt er bis auf den Grund. Der Fingerhut aber nimmt für sein Gewicht unverhältnismäßig viel mehr Platz ein, verdrängt also bald sein ganzes Gewicht an Wasser und schwimmt ruhig oben.

329 Vater: Sehr schön erklärt, Dietrich! So hängt's wirklich zusammen. Ein eiserner Schiffsrumpf ist nun ein ganz kolossal großer Fingerhut. Die verhältnismäßig dünnen Blechplatten, aus denen er zusammengenietet ist, umschließen einen gewaltigen Hohlraum, verdrängen also beim Eintauchen eine riesige Wassermenge. Man kann all die schweren Maschinen und sonstigen Ausrüstungsteile, die Kohle, die Ladung, den Proviant und Hunderte von Menschen hinein- und hinaufstellen, er bleibt trotzdem schwimmfähig, weil das Archimedische Gesetz dies gebietet.

Peter: Was für ein Gesetz?

Vater: Das Archimedische, so genannt, weil der griechische Mathematiker und Physiker Archimedes es gefunden hat. Man pflegt es so auszudrücken: Jeder Körper, der ins Wasser gelegt wird, verliert so viel an Gewicht, wie das von ihm verdrängte Wasser wiegt. Der Archimedes lebte vor mehr als zweitausend Jahren in der Stadt Syrakus auf Sizilien, und er muß ein sehr, sehr kluger Mann gewesen sein, daß er schon in jenen an physikalischer Bildung armen Zeiten imstande war, diesen wichtigen Zusammenhang aufzufinden. Man erzählt, daß ihm der Gedanke gekommen sei, als er in eine Badewanne stieg und das Wasser infolge der durch seinen Körper hervorgerufenen Verdrängung sich erheben sah. Er geriet in so starke freudige Erregung über diese Erkenntnis, daß er aus der Wanne sprang und nackt, wie er war, durch die Straßen lief mit dem Ruf: »Heureka! Heureka!«, zu deutsch: »Ich hab's gefunden!« Noch heute ruft mancher dieses Heureka, wenn er glaubt, daß ihm etwas besonders Gescheites eingefallen sei.

Dietrich: Nun habe ich aber noch eine Frage, Vater. Die »Titanic«, das große englische Schiff, auf dem so viele hundert Menschen umgekommen sind, hat doch sicherlich auch Schotteneinteilung gehabt und ist trotzdem untergegangen. Wie war das möglich?

Vater: Ja, mein lieber Sohn, hier haben wir wieder einen Fall, der die Grenzen des menschlichen Könnens scharf beleuchtet. Es ist eben doch alles Stückwerk, was wir schaffen, und niemals vollkommen zuverlässig. Die »Titanic hatte beste und sorgsamste Schotteneinteilung, und auch die 330 Verschlüsse werden zur Zeit der Gefahr sicher vorschriftsmäßig gearbeitet haben. Aber der große Dampfer hatte nicht einen Zusammenstoß mit einem anderen Schiff, sondern streifte die scharfe Kante eines mächtigen Eisbergs. Der riß einen so langen Spalt in die eine Längswand, daß sogleich drei oder vier Schotten volliefen. Das war nun zu viel. Damit verlor das Schiff die Schwimmfähigkeit und mußte untergehen. Es war eine schreckliche Katastrophe. Nur bei den furchtbarsten Vulkanausbrüchen ist eine so große Zahl von Menschen zu gleicher Zeit ums Leben gekommen.

Peter: Fuhr der Dampfer »Weichsel« mit dem Loch in der Wand nun ruhig weiter?

Vater: Nein, das tat er nicht! Der Kapitän konnte nicht daran denken, mit dem verwundeten Schiff den Ozean zu durchqueren, da die Widerstandsfähigkeit des Fahrzeugs doch immerhin geschwächt war. Er verabredete mit zwei anderen Schiffen, daß sie seine Fahrt begleiten sollten, um für alle Fälle stets sogleich zur Hand zu sein, und fuhr mit ihnen langsam zum nächsten Hafen, nämlich nach Lissabon, wo die Ausbesserung stattfand.

Der »Helmholtz« aber setzte seine Reise fort. Robinson war aufs froheste gestimmt, denn er dachte, daß er nun bald ohne weiteren Zwischenfall in den Hafen von Emden einlaufen und die deutsche Erde wieder betreten würde. Allein wie schon so oft, sollte auch jetzt seine Hoffnung nicht so glatt in Erfüllung gehen. Was ihm jetzt geschah, werde ich euch morgen erzählen. 331


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