Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Achtundzwanzigster Nachmittag

Vater: Die aufregenden Begebnisse, welche ich euch gestern geschildert habe, klangen noch lange in Robinsons und seines Gefährten Seelen nach. Immer von neuem unterhielten sie sich über die glücklich bestandene Gefahr, und Freitag hatte tausend Fragen zu stellen, weil ja eine ganze Reihe von Boten aus jener fernen Welt zu ihnen gedrungen waren, die der Malaie nicht kannte: die Flaschenpost, der Ballon und der Tiger. An Gesehenes und Durchlebtes anknüpfend, konnte Robinson dem eifrigst zuhörenden Freitag über vieles, vieles berichten, das diesem ohne die greifbare Anschauung sonst vielleicht ganz märchenhaft erschienen wäre.

Heute aber war ein Tag besonderer Art, an dem kein Unterricht stattfand. Unser Freund empfand das dringende Bedürfnis, allein zu sein, und hatte den Gefährten daher schon gleich am frühen Morgen zu einer längeren Arbeit in den nahen Wald geschickt. Er selbst tat heute im Gegensatz zu seiner sonstigen ständigen Geschäftigkeit nichts, sondern hatte sich in seinem Gedankenwinkel niedergesetzt. Er wollte Rückschau und Einkehr in sich selbst halten. Es war nämlich heute Robinsons Geburtstag.

Peter: Wie alt wurde er denn?

Vater: Achtundzwanzig Jahre. Und zugleich war der Tag in die Nähe gerückt, an dem er die zehnte Jahreskerbe in seinen Kalenderbaum würde schneiden müssen. Aus dem achtzehnjährigen Jüngling, der von Hamburg ausgefahren, war nun ein Mann geworden. Und wenn sonst das Sprichwort seine volle Gültigkeit hat: »Das Kind oder auch der Jüngling ist des Mannes Vater«, so konnte Robinson an sich wohl eine Ausnahme feststellen. Seine Knaben- und Jünglingszeit hatte 306 so gar nichts vorgebaut für das, was er nun als Mann geworden war. Mit Trauer und fast mit Schaudern erinnerte er sich der Dumpfheit und Unverständigkeit des Lebens, das er in der Heimat geführt. Inmitten aller Schätze der Kultur war er arm im Geist geblieben. Der Kreis gesitteter Menschen, in dem er aufgewachsen, hatte nicht vermocht, seine Gesinnung zu veredeln. Sein Herz war kalt geblieben, während die Sonne der Elternliebe es beschien. Erst dem Feuer der Läuterung durch Not und Trübsal war es gelungen, die Eiskruste wegzuschmelzen. Robinson blickte um sich.

»Was ist nun meine wirkliche Heimat,« dachte er, »jene ferne Stadt an der Elbe, die nur noch schattenhaft in meinem Gedächtnis lebt, und in der ich nichts getan und geschafft habe, was des Gedenkens wert wäre, oder dieses Eiland hier, wo alles, was mich umgibt, was ich brauche, was die Erhaltung meines Lebens erfordert, von meiner Hand hervorgerufen worden ist? Nein, Hamburg, Deutschland und Europa, sie sind hinter mir versunken! Hier bin ich zu Hause, mit diesem Boden allein bin ich durch tausend Wurzelfäden des Schaffens und Werdens verbunden.«

Und seine Gedanken schweiften zurück zu dem Tag, an dem er die Insel zum erstenmal betrat. »Wer konnte ahnen,« sprach er weiter vor sich hin, »daß jener entsetzliche Sturm, der Tod und Verderben allem Lebenden kündete, der Anfang eines neuen, ja erst meines wirklichen Daseins werden sollte! Nackt und bloß kam ich an, aber eine Kraft, die, mir selbst unbewußt, in mir geschlummert hatte, trug mich hinaus aus den engen Grenzen meines bisherigen Lebens zu schöpferischen Taten. Und dann ging das göttliche Licht der Wissenschaft vor mir auf. Das Meer, das mich so arg mißhandelt hatte, legte den Schatz der Bücher in meinen Schoß, in ihnen blätternd wurde ich erst gewahr, daß ich bisher mit sehenden Augen blind gewesen. Und aus dem, was ich gelernt, fließt mir Glück und Jammer zugleich. Froh ist mein Herz, daß der Same der Wissenschaft in meiner Seele aufgegangen, und ich so viel Herrliches, das die Menschen der Natur abgelauscht, kennengelernt habe; traurig, zum Herzbrechen betrübt bin ich darüber, daß ich nicht mehr erfahren soll, als eben in meinen Büchern steht. Wenn es mir bestimmt ist, 307 auf dieser lieben, schönen Insel zu sterben, so wird meine Todesstunde nicht voller Verzweiflung sein, aber schwere Wolken des Grams werden meine letzten Minuten umdüstern, weil ich im Palast der Wissenschaft nur den Eingang kennengelernt habe, aber nicht das Heiligtum selbst betreten durfte.« Er stützte das Haupt in die Hände und saß lange, lange still da. Dann richtete er sich wieder auf.

»Was ich entbehren muß,« so gingen seine Gedanken weiter, »ist die gerechte Strafe für die Vergeudung, die ich mit meinen Jugendjahren getrieben. Ich muß sie hinnehmen und meine Gedanken aufrichten an dem, was ich gewonnen. Und das ist wahrlich nicht wenig! Robinson ist ein ganz anderer, als Robinson gewesen.«

Sein Sinnen kehrte nun wieder in die Gegenwart zurück.

»Ich will«, so nahm er sich vor, »meinem lieben Freitag eine Freude an meinem Geburtstag machen . . .«

Ursula: Hatte der Freitag dem Robinson denn auch gratuliert und ihm einen Blumenstrauß gebracht?

Vater: Nein, das war nicht geschehen, obwohl der Malaie wußte, daß heute Robinsons Geburtstag sei. Es war unserem Freund jedoch nicht möglich gewesen, ihm die Bedeutung dieses Tags klarzumachen. Freitag wußte durchaus nicht, wann er selbst geboren, und wie alt er sei, er konnte sich nicht vorstellen, daß man den Tag der Geburt in irgendeiner Weise auszeichnen und festlich begehen könne. Das aber war für Robinson kein Grund, seine eigene Festtagsstimmung nicht auch auf den Gefährten auszudehnen. In all den Erlebnissen, die sie nun bereits zusammen gehabt hatten, bei denen Freitag sich so trefflich bewährt und stets, mit jener einen kleinen Ausnahme, die ihr kennt, als treuer, zuverlässiger Diener sich erwiesen hatte, war es Robinson doch nicht entgangen, daß die Sehnsucht nach seinen Eltern weiter am Herzen seines Gefährten zehrte. Es war ein trauriger Zwiespalt, in dem der junge Malaie sich befand. Seinen Herrn wollte er nicht verlassen, und dennoch zog es ihn nach der Heimatinsel.

Viele Monate lang war hierüber kein Wort mehr zwischen ihnen gesprochen worden, und nun war Robinson entschlossen, dem Schwebezustand energisch dadurch ein Ende zu machen, 308 daß er Freitag einfach befehlen würde, noch am heutigen Tag die Überfahrt anzutreten.

Als Freitag um die Mittagsstunde aus dem Wald zurückgekommen war, und sie beim Essen zusammensaßen, gab er ihm seinen Willen kund. Freitag sträubte sich erst noch ein wenig, aber er konnte den Zug seines Herzens doch nicht ganz verhüllen, und es war nicht schwer zu erkennen, daß er schließlich keinen Befehl seines Herrn so gern befolgte wie diesen. Gleich nach der Mahlzeit lief er hinunter durch den Wald zum Nordstrand, um das Boot zu rüsten. Robinson, allein geblieben, sah keinen allzu heiteren Geburtstagsnachmittag vor sich. Es war doch immerhin ein nicht ungefährliches Unternehmen, in das er den treuen Gefährten hineinsandte. Wer konnte wissen, ob er wirklich wieder zurückkommen würde. An seiner Treue und Anhänglichkeit zweifelte unser Freund keinesfalls, aber über den Empfang Freitags in seinem Heimatdorf und die Einflüsse, die dort auf ihn eindringen würden, konnte er sich keine Vorstellung machen.

Früher als Robinson es erwartet hatte, hörte er Freitag von der Zurüstung zurückkehren, und mit einem tiefen Seufzer bereitete sich unser Freund auf das Abschiednehmen vor. Mit feuchten Augen lauschte er dem schnellen, leichten Schritt des sich nähernden Gefährten und schaute nicht ohne Neugier empor, um den Ausdruck wahrzunehmen, den dessen Gesicht beim Auftauchen über der Hecke in diesem feierlichen Augenblick zeigen würde.

Doch es geschah etwas ganz anderes als Robinson erwartet hatte. Bevor Freitag noch zu der Strickleiter draußen gelangt war, hörte er ihn schon rufen: »Herr, Herr!« und weitere eilige, abgerissene Worte sprechen, die er nicht verstand. Als Freitag emporgeklettert war, sah unser Freund, daß der Malaie sich in größter Aufregung befand. »Was ist dir denn geschehen?« fragte er, »hast du wieder einen Tiger gesehen?« »Nein, Herr, ein Boot, ein Boot!« Robinson sprang auf: »Ein Boot? Die Wilden kommen wieder? Um Gottes willen, wie wird es uns jetzt ergehen, wo wir keine Gewehre mehr abschießen können!« »Nein, Herr, nicht die Wilden, ein anderes Boot mit Bäumen darauf und einem dicken Rohr.«

309 Jetzt war es eine ganz andere Art von Schreck, die Robinson erschütterte. Ein großes Boot mit Bäumen und einem Rohr . . .? Eine Ahnung durchzuckte ihn.

»Meinst du vielleicht ein Schiff mit Masten und einem Schornstein?« fragte er dann geschwind. »Ja, ja, das ist es!« sagte Freitag, »das rechte Wort fiel mir nicht ein. Ein Schiff mit zwei Masten und einem Schornstein, so wie du es mir immer beschrieben hast, Herr. Es ist so groß, so groß, so schrecklich groß, daß man's gar nicht glauben soll!« Robinson wankte. Aus seinem Gesicht war jeder Blutstropfen entwichen. »Freitag, was sagst du da? Hast du auch recht gesehen? Das kann doch nur ein Schiff aus kultivierten Ländern sein, ein Dampfer mit vielen weißen Menschen darauf. Wo ist es, wo liegt es, wo kann ich es finden?« »Steig' schnell über die Hecke, Herr, und komm mit mir. Ich kehrte zurück, um dich zu holen. Das furchtbar große Boot liegt draußen im Meer, du kannst es sehen, wenn es inzwischen nicht wieder fortgefahren ist.«

Diese Möglichkeit ließ Robinsons Kräfte, die zu entfliehen drohten, sogleich wieder zurückkehren. Er stürzte in die Höhle, ergriff das Fernglas, und in einer Minute stand er draußen vor der Hecke und lief so geschwind hinter Freitag her, wie seine Füße ihn nur irgend zu tragen vermochten. Mit keuchender Brust trat er aus dem Wald.

Es war Wirklichkeit! Dort draußen auf dem Meer, nicht weiter als zwei Gewehrschüsse entfernt, lag ein Dampfer, aus dessen Schornstein Rauch emporquoll.

»Freitag, oh Freitag!« konnte Robinson nur noch stammeln. Dann mußte er sich einen Augenblick auf den Sand des Strandes niederlegen. Doch sogleich sprang er wieder auf. »Wir müssen ihnen ein Zeichen geben, geschwind, sonst fahren sie wieder davon, ohne zu wissen, daß wir hier sind. Aber wodurch sollen wir sie benachrichtigen? Ich habe nichts zum Winken bei der Hand, und ein Feuer würden sie jetzt am hellen Tag nicht sehen. Das Boot von der Landzunge zu holen dauert auch vielleicht zu lange.«

»Ich will hinüberschwimmen, Herr,« sprach Freitag, »es ist nicht zu weit, ich kann das Schiff erreichen.« Und schon streifte er seinen Schurz ab und warf sich ins Meer. Robinson 310 folgte dem Schwimmenden mit den Blicken. Er hatte gar nicht Zeit gehabt, an die Gefährlichkeit dieses Unternehmens zu denken, denn der Meeresraum zwischen der Insel und dem Schiff war doch immerhin recht bedeutend. Schon sah er Freitags Kopf in der Ferne rasch über das glücklicherweise ganz ruhige Wasser dahingleiten. Nun nahm er das Fernglas vors Auge und spähte zum Schiff hinüber. Er sah ganz deutlich das Deck, konnte einzelne Gegenstände unterscheiden. Auf der Kommandobrücke saß ein einzelner Mann, der erste Weiße, den Robinson seit einem Jahrzehnt wieder erblickte. Sonst war alles still. Man hielt wohl Nachmittagsruhe. Freitag schwamm weiter und weiter, und Robinson hatte jetzt seine Besonnenheit genügend wiedergewonnen, um darüber nachzudenken, was es wohl für ein Schiff sei, das sich hier in die Öde begeben hatte. Zehn Jahre lang war nichts dergleichen auf dem Meer sichtbar gewesen. Ein gewöhnlicher Frachtdampfer konnte es unmöglich sein, der wäre hier doch keineswegs vor Anker gegangen.

Jetzt sah er den Posten auf der Kommandobrücke aufspringen. Er mußte wohl Freitags Ruf aus dem Wasser gehört haben. Der Matrose streckte die Hand aus, wohl um einen Alarmapparat in Tätigkeit zu setzen. Denn bald danach tauchten mehrere Gestalten auf dem Deck auf. Freitag war jetzt ganz dicht bei dem Schiff, man sprach mit ihm. Immer mehr Männer kamen heraus, man drängte sich am Geländer des Decks. Nun wurde ein Tau hinuntergelassen, und Freitag kletterte gewandt an Bord.

Robinsons Atem ging noch immer keuchend, obgleich er sich von dem raschen Lauf doch nun bereits erholt hatte. Es war eine leicht begreifliche, ungeheure Aufregung, die seinen ganzen Körper in Fieber versetzte. Nun nahm er wahr, daß vom Schiff aus gewinkt wurde, offenbar zu ihm hinüber. Und jetzt, wahrhaftig, jetzt wurde ein Boot niedergelassen! Robinson sank die Hand, die das Glas so lange gehalten, hinunter. Er fiel zur Erde, und ein Tränenstrom brach aus seinen Augen. Das lang Erhoffte, nicht mehr Erwartete, es war da! Die Heimat streckte ihm wieder die Hand entgegen, er sah eine leuchtende Brücke über das Meer geschlagen.

311 Als unser Freund sich wieder aufrichtete, war das Boot schon ganz nahe. Freitag saß darin, ferner gewahrte er vier junge Matrosen und einen älteren Mann mit blondem Vollbart, der einen weißen Anzug trug. Noch ein paar Minuten, und der Kiel des Boots knirschte auf dem Sand. Freitag und jener bärtige Mann sprangen heraus und kamen auf Robinson zu. Dieser lief ihnen entgegen, und in seiner Aufregung gewahrte er nicht das Lächeln, das unwillkürlich im Gesicht des Fremden erschien, als er unseres Freundes seltsames Aussehen gewahrte. Doch rasch unterdrückte jener diese Regung und streckte die Hand aus.

»Ich höre,« so sagte er in deutscher Sprache, »daß Sie als Schiffbrüchiger auf diese Insel geraten sind. Wenn Sie mit uns in die Heimat fahren wollen, steht Ihnen unser Schiff natürlich zur Verfügung.«

Oh, wie köstlich klangen unserem Robinson die Töne seiner Muttersprache in die Ohren! Sie dröhnten wie Posaunen, und sie tönten sanft wie Engelstimmen. Freitag stand wie eine Bildsäule hinter dem Fremden, und sein Gesicht zeigte, daß sein Gefühl zwischen höchster Freude und tiefstem Schmerz fortwährend hin und her schwankte, da er keine Vorstellung davon hatte, was das Ende dieses außerordentlichen Ereignisses sein würde.

»Sie kommen wie ein Bote des Himmels zu mir, mein Herr,« sagte Robinson endlich, »ein Jahrzehnt ist vergangen, seit ich keinen Europäer gesehen habe. Zehn lauge Jahre wartete ich auf ein Schiff, nun stehen Sie vor mir und überbringen mir die wunderbarste Einladung.«

»Sie können alles in Ruhe überdenken,« erwiderte der Fremde. »Wir bleiben ohnedies noch drei Tage hier vor Anker liegen. Ich brauche daher nicht sogleich Ihre endgültige Antwort.«

»Oh, wie können Sie zweifeln, daß diese bejahend ausfallen wird!« sprach Robinson. »Das plötzliche Erscheinen Ihres Schiffs hat mich nur so sehr in Aufregung versetzt, daß ich nicht die rechten Worte finde. Zwar fühle ich mich hier bereits seit langem zu Hause, aber jetzt sind meine Gedanken völlig verändert.«

312 Er mußte nun dem Fremden erzählen, wie es ihm ergangen, wie er auf der Insel gelebt, und wie es ihm gelungen war, die Einsamkeit zu besiegen. Denn Freitag hatte bereits auf dem Schiff mitgeteilt, daß er noch nicht sehr lange bei Robinson sei. Während der Schilderung unseres Freundes, die natürlich nur das Wichtigste in kurzem Abriß gab, war das Staunen nun auf seiten des Fremden. Er ließ sich zu Robinsons Wohnung führen, besah die Höhle, die Herde und all die Dinge, die Robinson geschaffen hatte. Er nahm auch einen Imbiß ein und stellte fest, daß in dieser Beziehung Robinson sicher keinen Mangel gelitten hatte. Endlich kam unser Freund dazu, seinerseits eine Frage an seinen Gast zu richten, die ihm von Beginn an auf der Zunge gelegen hatte.

»Wie kommt es,« sprach er, »daß Ihr Schiff hierher gefahren und vor dieser entlegenen Insel zu Anker gegangen ist?«

»Ihre Verwunderung über den vom üblichen weit abweichenden Kurs unseres Dampfers wird sich alsbald legen, wenn Sie hören, daß wir eine eigentümliche Aufgabe zu lösen haben. Wir wollen weder Personen noch Güter irgendwohin befördern, sondern dienen der Wissenschaft. Was Sie dort drüben vor sich gesehen haben, ist ein Forschungsschiff. Ich selbst bin der Leiter der wissenschaftlichen Expedition, der es dient. Wir fahren schon seit zwei Jahren in allen Meeresteilen umher. Was unsere Arbeit ist, werde ich Ihnen später erzählen, da wir ja, wie ich hoffe, lange Zeit zusammenbleiben werden. Es trifft sich gut, daß wir hier in diesem fernen Teil des indischen Ozeans gerade unsere letzte Station erreicht haben. Nun soll es in ziemlich gerader Fahrt wieder in die Heimat zurückgehen.«

Bald darauf verabschiedete sich der Forscher vorläufig von Robinson, um zum Schiff zurückzukehren und dem Kapitän zu berichten. Dieser kam noch am Abend desselben Tags mit einigen Offizieren an Land, um Robinsons Wohnung und die übrigen Einrichtungen auf der Insel zu besichtigen. Auf einmal war das Eiland von hallendem Leben erfüllt. Robinson war Wirt für europäische Gäste. Ich glaube, daß er nicht alle Regeln genau einhielt, die für solche Fälle vorgeschrieben sind. Dazu war er der Kultur schon zu lange fern und viel zu erregt 313 über all das Neue, das auf ihn einstürmte. Gewiß ist aber, daß niemand ihm sein Verhalten übelnahm. Er wurde bestaunt und bewundert, nicht nur wegen seiner seltsamen Kleidung, sondern weit mehr ob all der Dinge, die man um ihn sah und von denen er erzählte. Alle Schiffsleute, die auf die Insel kamen, die wissenschaftlichen Teilnehmer der Fahrt und die Mitglieder der Besatzung, sie alle konnten sich eines Gefühls größter Hochachtung vor Robinsons Energie und Tatkraft nicht erwehren.

Nach Einbruch der Nacht erst waren unser Freund und Freitag wieder allein. Der Malaie hatte den ganzen Tag über abseits gestanden, soweit ihn Robinson nicht ins Gespräch gezogen hatte. Die deutsche Sprache war ihm zwar schon sehr vertraut, aber die Menschen, die er sah, wirkten denn doch zu eigenartig, ihr Verhalten, ihre Kleidung und alles, was um sie war, gar zu verblüffend auf den armen Burschen. Außerdem nagte ein tiefer Schmerz an seiner Seele. »Oh Herr,« sagte er jetzt, »nun wirst du mich also verlassen, und ich werde dich niemals wiedersehen!«

»Das hängt von dir ab, Freitag,« sagte Robinson. »Willst du nicht mitkommen nach Europa, um alle die Dinge, von denen ich dir erzählt habe, wirklich zu sehen?«

Der Malaie machte einen Freudensprung. »Du willst mich mitnehmen, Herr? Oh, das habe ich nicht erwartet! Wie glücklich machst du mich! Wenn du es erlaubst, folge ich dir, wohin du willst.«

Robinson dachte nach, dann sagte er: »Damit du mit freiem Gemüt mit mir fahren kannst, Freitag, heische ich von dir, daß du morgen früh sofort in dein Heimatdorf fährst. Du hast ja gehört, daß das Schiff noch drei volle Tage hier liegenbleibt. Bis dahin kannst du zurück sein.« Unser Freund dachte dabei, daß diese Heimreise zugleich ein Prüfstein dafür sein würde, ob Freitag wirklich lieber mit ihm gehen, als bei seinen Stammesgenossen bleiben wollte. Der Malaie küßte ihm mit tränenden Augen die Hand, und sie verbrachten beide eine unruhige Nacht in starker seelischer Erregung.

Johannes: Das war aber ein wunderbares Geburtstagsgeschenk für Robinson, diese Ankunft des Schiffs,

314 Vater: Gewiß, das herrlichste Geschenk, das er sich hätte denken können.

Am nächsten Morgen fuhr Freitag ab, und Robinson begann, sich zum Abschied von der Insel zu rüsten. Vom Schiff her bekam er Kisten, so viel er wollte, um das einzupacken, was er mitzunehmen gedachte. Es war nicht allzuviel, kaum mehr, als er in der Kiste des Ingenieurs gefunden hatte. Die Ballonhülle freilich wurde auch mitgenommen und von den Schiffsleuten nicht wenig bestaunt. Noch einmal besuchte Robinson alle Plätze, die ihm teuer geworden waren, dann öffnete er den Pferch, in dem seine Herde sich befand, ließ die Tiere frei, und als der Morgen des dritten Tages dämmerte, stieg er in das Schiffsboot, das ihn abzuholen gekommen war, um die Insel für immer zu verlassen.

Zu seinem Empfang waren die Matrosen auf Deck in Parade aufgestellt. Ein donnerndes dreimaliges Hurra begrüßte ihn. Der Kapitän hielt eine kleine Ansprache, in der er ausdrückte, daß alle auf dem Schiff sich geehrt fühlten, einen Mann, der so Bewundernswertes geleistet habe wie Robinson, als Fahrtgenossen zu besitzen. Man gab unserem Freund europäische Kleider, der Barbier stutzte ihm Bart und Haupthaar, die arg verwildert waren. Man sollte erwarten, daß Robinson nun nichts Eiligeres zu tun hatte, als in allen Räumen des Schiffs umherzugehen, die unzähligen Gegenstände zu bewundern, die der Kulturmensch als selbstverständlich stets bei sich führt, sich in Räumen, die mit richtigen Möbeln ausgestattet waren, wieder zurechtzufinden. Aber er tat das nicht, sondern stand, nachdem er sich noch rasch neu angekleidet hatte, an Deck und wartete.

Johannes: Er schaute gewiß nach Freitag aus!

Peter: Na, der wird schon wiederkommen, das glaube ich sicher!

Vater: Wirklich sah Robinson um die Mittagszeit, als man auf dem Schiff schon die letzten Vorbereitungen für die Abfahrt traf, sein Boot auftauchen. Der Malaie stieg an Bord, begrüßte seinen Herrn und sagte, daß er nun für immer ihm allein gehöre. Die Schiffsleute nahmen auch den einstigen Wilden, der so viel Gesittung zeigte, gern auf, und es machte 315 ihnen einen großen Spaß, ihn ebenfalls europäisch einzukleiden. Freitag fühlte sich zuerst recht unglücklich in der ungewohnten Kleidung, aber es dauerte nicht lange, bis er sie richtig zu tragen verstand und durch seine schöne Gestalt auch darin eine gute Figur machte.

Gegen Abend lichtete man die Anker, die Maschine begann zu arbeiten, das Schiff setzte sich in Bewegung. Robinson stand allein am Heck. Er hatte gebeten, ihn ungestört zu lassen, sogar Freitag davongeschickt. Die Schraube arbeitete bereits heftig, der Dampfer strebte westwärts dem offenen Meer zu. Noch sah Robinson die Insel deutlich vor sich. Er konnte noch die Wipfel der Bäume unterscheiden, die vertraute Form der Bergkuppe genau erkennen. Aber langsam schob sich ein Dunst zwischen ihn und das Eiland. Jetzt sah er nur noch einen grauen Streifen, nun einen Punkt, dann war die Insel im Meer versunken, als sei sie niemals Wirklichkeit gewesen. Eine Träne aus Robinsons Auge fiel auf die gefalteten Hände; er wußte nicht, ob der Schmerz über das Scheiden oder die Freude über die Rückkehr sie hervorgerufen hatte. 316


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