Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfundzwanzigster Nachmittag

Johannes: Wir sind sehr neugierig Vater, was Robinson jetzt vorhat. Hoffentlich macht er nicht wieder etwas, wobei er in Todesgefahr gerät. Man kommt ja bei ihm aus der Angst wirklich nicht heraus.

Vater: Nein, diesmal handelt es sich um eine ganz beschauliche und friedliche Sache. »Sage, Freitag,« so begann Robinson eines Tages, »was hältst du von folgendem: ich hätte wohl Lust, einen ganz kleinen Teil dieses Meers vor uns mit Tieren darin auf die Insel zu verlegen. Ich glaube, daß wir dadurch Unterhaltung und Belehrung gewinnen könnten.«

Dietrich: Das ist wirklich eine nette Idee von dem Robinson: er will sich ein Aquarium bauen.

Vater: Ehe er aber diesen Ausdruck anwandte, wollte er seinem Genossen die Sache selbst erläutern. Dieser wiederum hielt es zwar für möglich, etliche kleine Meerbewohner in einem Gefäß auf dem Land schwimmen zu lassen, er vermochte nur nicht einzusehen, was das für einen Zweck haben sollte. Das begriff er trotz aller Erläuterungen erst erheblich später, als sich das Aquarium schon in gutem Betrieb befand und ihm mancherlei Staunenswertes vors Auge führte. Bis dahin war er eher geneigt, die Sache als eine Küchenangelegenheit aufzufassen: man könnte dann immer, wenn man Appetit auf einen gekochten Fisch hätte, sich einen ganz nahe hervorlangen und hätte nicht nötig, sich deswegen auf den Fischfang zu begeben.

Nun war das, was Robinson anlegen wollte, in Wirklichkeit kein Gefäß, sondern eben ein richtiges Aquarium, das die volle Seitenansicht freigibt, etwa wie eine Theaterbühne, deren Schauöffnung durch helles Glas abgeschlossen wäre. Denn 273 nur bei solcher Anlage kann man das Treiben und die Entwicklung der Tiere ordentlich beobachten, während dem Blick von oben in ein dunkles Gefäß doch allzuviel entgeht.

Johannes: Ja, aber er hatte doch keine Glasscheibe?

Vater: Ehe er sich mit dieser Schwierigkeit abfand, mußte er über den Hohlraum selbst zur Unterbringung der Wassertiere ins klare kommen. Er fand ihn in einer benachbarten Felswand, die ihm eine in Blickhöhe liegende, muldenartige Vertiefung darbot. Geräumig genug war sie, etwa drei Schritt breit, halb so hoch und so tief, daß sie eine ansehnliche Wassermenge zu fassen vermochte, falls es nur gelang, nach der offenen Seite einen Verschluß, und zwar, dem Zweck entsprechend, einen durchsichtigen Verschluß anzubringen. Hierfür fand sich Rat. Auf der Insel kam nämlich der indische Glimmer vor, der sich unschwer abspalten läßt und natürliche Tafeln von mehreren Quadratfuß Oberfläche liefert. Er ist ziemlich widerstandsfähig und so durchsichtig, daß man aus ihm Fensterscheiben und Schutzbrillen fertigen kann. Freilich genügte die Breite einer einzigen Tafel nicht, um ein Aquarium von solcher Größe abzuschließen. Aber Robinson hatte seit einiger Zeit auch einen vorzüglich haltbaren, wasserbeständigen Kitt, den er aus einer boraxhaltigen Lehmerde herzustellen verstand. Und nach mehrfachen mißglückten Versuchen gelangte er zu einem ganz befriedigenden Ergebnis. Er besaß ja jetzt Werkzeuge genug, um die lichte Öffnung der Felsmulde zur Aufnahme der Glimmertafeln sehr genau zu bearbeiten, und nachdem diese untereinander fest verkittet waren, zeigte sich die Örtlichkeit so weit hergerichtet, daß zur Einfüllung des Meerwassers geschritten werden konnte.

Dietrich: Ich hätte aber vorher noch den steinigen Untergrund überdeckt, mit Erde, Sand oder so was, damit es den Tieren wohnlicher vorkäme.

Vater: Ich vergaß, das zu erwähnen. Aber Robinson hatte nicht vergessen, hierfür Vorsorge zu treffen. Bald befand sich das Meerwasser darin und manches lebend eingefangene Stück schwimmendes Kleinvieh dazu. Lustig tummelte sich das Fisch- und Krabbenzeug im Wasser und war sehr gut zu beobachten, denn das Aquarium lag nach Norden, was, wie ihr schon wißt, dort die Sonnenseite bedeutet.

274 Für Beleuchtung war also ausreichend gesorgt, freier Luftzutritt war ebenfalls vorhanden, da die Glimmertafeln nicht bis ganz oben, sondern nur etwa ein halbes Meter über den Wasserspiegel reichten, und Robinson war sogar darauf bedacht, in kurzen Abständen Wasser abzuschöpfen und durch frisches zu ergänzen, um etwaiges Abstehen mit Übergang zur Fäulnis zu verhüten. Allein trotzdem schien an der Sache noch etwas zu fehlen. Das wimmelnde Kleinzeug hielt sich nicht, die Fische und Krebstiere starben schnell dahin, und Robinson sah diese rasche Vergänglichkeit mit lebhaftem Bedauern. Nicht als ob er jedem einzelnen Fischchen nachgetrauert hätte. Aber er hatte die Empfindung, daß sein Werk verunglückt sei: infolge irgendwelcher Ungeschicklichkeit, für die er sich verantwortlich machte.

Peter: Vielleicht hatten die Tierchen nicht genug zu essen?

Vater: So etwas ähnliches wird's wohl gewesen sein; aber du hast es nur beinahe getroffen, nicht ganz. Etwas näher kam schon Freitag, der an der Sache Gefallen gefunden hatte und mit dem Instinkt des Naturkinds den Vorschlag machte, man sollte doch auch einige Gewächse hineintun. Und in der Tat, kein Aquarium kann ohne Pflanzen bestehen; nicht so aufzufassen, daß die Tiere nun die Pflanzen abfressen sollen, sondern aus einem Grund, der nur mittelbar mit der Nahrung zusammenhängt. Es handelt sich um das Atmen, also um eine Zufuhr ins Innere der Lebewesen, die für sie ebenso wichtig ist wie das Essen. Die Pflanzen entwickeln ja eine Gasart, den Sauerstoff, ohne den ein atmendes Tier nicht leben kann, während die Tiere im Austausch Kohlenstoff ausatmen, der wiederum für die Pflanzen eine Lebensnotwendigkeit ist.

Johannes: Ach ja! Diesen wunderbaren Vorgang hast du bereits einmal erwähnt.

Vater: Richtig, es war im Zusammenhang mit dem Kreislauf des Wassers. Den beiden auf der Insel aber war diese Wechselwirkung nicht bekannt, und so war es mehr ein Ahnen der Zweckdienlichkeit als eine Gewißheit, die sie veranlaßte, alsbald auf dem Grund der großen Mulde einen hübschen Pflanzenteppich auszubreiten. Zur Ergänzung kamen an die Seiten zackige Steinbrocken, die ebenfalls einigen Gewächsen zum Anhalt dienten, und so sah jedenfalls das Ganze weit 275 naturbildlicher aus als zuvor. Auch das Getier schien sich anfänglich wohler zu fühlen, und dennoch merkte Robinson bald: es war immer noch nicht das Richtige. Die Geschöpfe lebten nunmehr zwar etwas länger, aber sie hasteten doch fortwährend nach der Oberfläche des Wasserspiegels, erschöpften ihre schwachen Kräfte, und es war deutlich zu spüren, daß sie nicht dazu gelangten, ihr natürliches Leben zu entfalten.

Robinson begann darüber recht verstimmt und ärgerlich zu werden. Vergebens sagte er sich, daß das ganze Aquarium für ihn doch nicht so ungeheuerlich wichtig wäre, und daß er doch schließlich lange genug ohne Aquarium gelebt hätte. Der Verdruß wollte nicht von ihm weichen, und je mehr er sich anstrengte, von der ganzen Sache loszukommen, desto tiefer geriet er in den Vorsatz, alles aufzubieten, um die Anlage zu vervollkommnen. Freitag bemerkte das mit Bekümmernis. »Herr,« sagte er, »es wäre schon besser, wir machten ein Ende damit. Wir wollen diese Fische und Krebse, so viele ihrer noch leben, morgen kochen und aufessen und uns nicht weiter um das Gewimmel bekümmern.«

Robinson gab keine Antwort; sondern hantierte mit allerhand Schnitzwerkzeug an einem Ding herum, das ungefähr wie eine Mühle aussah.

Ursula: Ach, wie komisch! Jetzt will er den Tierchen etwas zum Spielen geben!

Vater: Es sah ja freilich aus wie eine Spielerei; bedeutete doch aber etwas anderes. Unser Freund hatte sich nämlich in seinem Gedankenwinkel recht lebhaft vorgestellt, wie denn so eins der großen Aquarien aussähe, die er früher in Hamburg betrachtet hatte. Und da kam er dahinter: es wurde dort beständig eine Unmenge von Luftbläschen erzeugt, die durch das Wasser fuhren und es in Bewegung erhielten. Bewegung! Ja, das war's. Die in freiem Meer schwimmenden Wesen werden ja auch nicht von ruhendem, sondern von beständig bewegtem Wasser umspült, und so wollten sie es gewiß auch in der Gefangenschaft haben. Das mußte also geschafft werden. Eigentlich waren es zwei Mühlen, die hier als zusammenwirkend gedacht waren: die eine mit aufgestellten Flächen im Wasser, die andere draußen als Windrad. Und so viel Werkübung hatte sich Robinson 276 schon angeeignet, daß es ihm gelang, den Windmotor mit dem Innenrad in Verbindung zu setzen. Blies nun der Wind – und der fehlte eigentlich selten – so erzeugte er im Innern eine merkbare Wasserbewegung und bewirkte zudem bei jedem Schlag der kleinen Maschine eine weit lebhaftere Berührung von Luft und Flüssigkeit, als bei vollkommener Ruhe stattfinden konnte.

Die Aufgabe war gelöst, und der Erfolg übertraf alle Erwartungen. Es war, als wenn sich erst jetzt in dem Behälter das wirkliche Leben eingestellt hätte, um sich in ganz neuen, überraschenden Formen zu offenbaren. Bewegungen wurden sichtbar, flimmernde Organe begannen zu spielen, die man zuvor gar nicht bemerkt hatte. Das Aquarium ließ sich nunmehr wirklich mit einem Theater vergleichen, in welchem Schauspiele aufgeführt werden, Schauspiele mit höchst spannendem Fortgang, mit Verwandlungen bei offener Szene und mit Ereignissen, die kein Mensch voraussehen konnte.

Johannes: Ei, das ist schön! Jetzt hat der Robinson ein Theater! Aber nun mußt du uns auch erzählen, Vater, was für Stücke die Fische aufgeführt haben!

Vater: Die Fische spielten vorerst nicht die Hauptrolle. Diese wurde vielmehr von einer Qualle übernommen, die Robinson hineingesetzt hatte, um zu erproben, wie dieses Geschöpf sich benehmen würde. Solche Quallen habt ihr ja wohl schon am Strand nach stürmischem Wetter liegen gesehen, von der Flut ausgespien, als hilflose Klumpen von gallertartiger Masse, eher geeignet, Ekel einzuflößen als Bewunderung. Nun aber hier, in Robinsons Wassertheater, änderte sich das Bild, und aus der formlosen Qualle wurde eine feingefärbte, frei dahinflutende Glocke – man nennt sie auch Meduse – von geradezu bezauberndem Aussehen. Vom Rand hingen wallende Fäden hinab wie die kostbaren Stickereibehänge eines Schirms aus dem Hausrat einer Märchenprinzessin, und das ganze zeigte eine pulsierende Bewegung in regelmäßigen Takten der Zusammenziehung und der Ausweitung.

Robinson wurde nicht müde, dieses Schauspiel zu betrachten, und er bemerkte auch an der schimmernden Glocke gewisse Veränderungen und Erscheinungen, die einem anderen Zweck zu dienen schienen als der bloßen Fortbewegung. Eines Tags 277 aber entdeckte er am Boden des Aquariums ein neues Geschöpf, dessen Anwesenheit ihm ein Rätsel aufgab. Es machte den Eindruck eines mit Fangarmen versehenen Blümchens oder Pilzchens, und wenn Robinson ihm sofort den richtigen Namen »Polyp« gab, so geschah es, weil er sich des Geschöpfs von Abbildungen her entsann. Aber er wußte doch genau, daß er keinen Polypen in sein Aquarium gebracht hatte. Und auch Freitag schwor auf scharfes Befragen hoch und teuer, es wäre ihm gar nicht eingefallen, solch ein Ding – er nannte es Fangwurm – etwa heimlich hineinzusetzen.

Das war nun ganz erstaunlich. Wie in aller Welt war das Kerlchen da in Robinsons Privatgewässer gekommen? Polypen können doch nicht durch die Luft fliegen!

Dietrich: Aber vielleicht war der Polyp aus einem Ei ausgekrochen.

Vater: Das läßt sich hören. Doch diese Erklärung reicht nicht aus. Stellt euch einmal vor, wir besäßen ein großes Vogelhaus mit Möwen. Dann ließe sich wohl denken, daß sie Eier legen, und daß daraus junge Möwchen ausschlüpfen. Nun aber entdeckt ihr plötzlich: das Vogelhaus hat einen Zuwachs erhalten in Form einer lebenden Schildkröte! Es wird mit Sicherheit festgestellt, daß kein Mensch eine Schildkröte hineingetragen hat, und daß auch bestimmt kein Schildkrötenei vorhanden war.

Johannes: Aber das ist doch ganz unmöglich! Wenn bloß Möwen vorhanden waren, kann doch keine Schildkröte hinzuwachsen.

Vater: Und ebensowenig – so sollte man meinen – ein Polyp, wo vorher nur Fische, Krebse, Seesterne und eine Qualle vorhanden waren. Das gab also reichliches Kopfzerbrechen. Inzwischen war aber auch mit dem Polypen etwas vorgegangen. Er fing an sich zu spalten, und Teile wie gewölbte Schalen mit aufwärts stehendem Rand lösten sich von ihm ab. Und siehe da, so eine Schale schwimmt davon, dreht sich um, bläht sich auf, schwimmt nach oben, ist kein Polyp mehr, sondern ganz etwas anderes – nämlich eine Qualle, eine Meduse!

Peter: Ist das denn aber auch wirklich wahr, Vater?

Vater: Unwahrscheinlich genug klingt es ja, und ich habe euch ja auch auf so etwas vorbereitet, als ich euch eine Art 278 von Zaubertheater bei Robinson versprach. Aber diese Wasserpantomime enthielt trotzdem die reine Wahrheit, und es geht bei diesen seltsamen Geschöpfen wirklich genau so zu, wie ich es euch beschrieb. Als wenn die Natur es darauf angelegt hätte, uns ein Verkleidungsschauspiel zu bieten. Der Polyp ist doch ein fertig ausgebildetes Lebewesen und unterscheidet sich von der Qualle ebenso gründlich, wie eine Schildkröte von einer Möwe. Niemand würde auf den Gedanken kommen, zwischen zwei solchen Verschiedenheiten ein Verhältnis wie zwischen Mutter und Kind anzunehmen. Und dennoch! Die Nachkommenschaft einer Qualle besteht aus Polypen und die Nachkommenschaft dieser Polypen aus Quallen.

Dietrich: Weißt du, Vater, ich sollte meinen, solche Sachen hätten wir doch schon oft genug gesehen; zum Beispiel beim Schmetterling, wenn er sich in die Raupe und dann wieder in den Schmetterling zurückverwandelt.

Vater: Das Beispiel ist gut, trifft aber doch den Vorgang nicht ganz richtig. Der Schmetterling nämlich ist keineswegs das Kind der Raupe, sondern ersichtlich das Kind des Schmetterlings. Hier aber wird ein Polyp gleichsam der Vater der Meduse und diese die richtige Mutter des Polypen. Man nennt diesen weit schwerer zu ergründenden Vorgang »Generationswechsel«, und ich erwähnte bereits, daß er nicht von einem bestallten Naturforscher entdeckt worden ist, sondern von einem Meister der Poesie, dem Dichter Adelbert von Chamisso.

Peter: Hatte denn der Robinson wohl noch mehr solche Tiere, die sich verwandeln konnten?

Vater: Meines Wissens nicht. Aber in seinem lebenden Museum tummelten sich einige Geschöpfe, die sich noch weit erstaunlicher benahmen. Er beobachtete nämlich, daß gewisse Tiere Wohnungen abvermieteten, Freundschaft schlossen, ja auf Grund von Schutz- und Trutzverträgen miteinander verkehrten!

Johannes: Aber Vater! Du willst uns doch eine wirkliche Geschichte erzählen und keine Märchen oder Äsopischen Fabeln.

Vater: Da kann ich nur sagen, der gute alte Äsop hätte wohl manches anders erzählt, wenn er geahnt hätte, wieviel Fabelhaftes uns schon die lebendige Natur darbietet. So hört 279 denn zu: ich will euch die Geschichte zweier kleiner Meerestiere erzählen, eines Krebses und einer Seerose, und ich verspreche euch, mich in keinem Punkt von ihren wirklichen Erlebnissen zu entfernen. Und ihr sollt mir alsdann sagen, ob ich in meiner merkwürdigen Kunde von der Wohnung, der Freundschaft und den Schutzverträgen auch nur im geringsten übertrieben habe. Versetzt euch also in Gedanken an Robinsons Stelle, der eben dabei ist, einen sogenannten Einsiedlerkrebs in seiner Wohnung zu betrachten.

Dietrich: Ach, soweit wissen wir schon Bescheid: der Einsiedlerkrebs hat ein ganz weiches Hinterteil, und weil er immer in Angst ist, daß ihm ein gefräßiger Fisch dahinein beißt, kriecht er in ein leeres Schneckengehäuse und setzt sich darin fest.

Vater: Auch dem Robinson war dies Benehmen bekannt, und er fand nichts sonderlich Auffälliges daran, wie man sich eben mit so vielen Dingen abfindet, die man schon lange kennt und darum als erklärt ansieht. Sein Erstaunen begann erst, als er eines Tages gewahrte, daß solch ein Einsiedlerkrebs, der das Muschelhaus offenbar als sein rechtmäßiges Eigentum betrachtete, einen Mitbewohner aufgenommen hatte. Aber nicht etwa einen zweiten Krebs, sondern eine Seerose, eine Anemone oder sogenannte Aktinie. Das ist ein lebender Seekörper von Gestalt eines kurzen Sacks, an dessen oberem Ende zahlreiche herrlich gefärbte Fäden ins Wasser züngeln. Diese Seerose saß nunmehr auf dem Muschelhaus als Dachbewohnerin, und es zeigte sich bald, daß diese Hausnachbarschaft nicht zufällig zustandegekommen war, sondern auf Grund einer Übereinkunft, die beiden Teilen bestimmte Rechte und Pflichten zuwies.

Also erstens: die Seerose verteidigt den Krebs. Ihre Fäden sind mit zahllosen giftigen Nesselkapseln ausgerüstet, die sie augenblicklich zur Offensive verwendet, sobald dem Krebs von irgendeinem gefräßigen Aquariumgenossen eine Gefahr droht. Siehe, da kommt so ein frecher Bösewicht angeschossen, ein Tintenfisch, Oktopus, unter den Krebstieren berüchtigt als geschworener Verfolger ihres Geschlechts. Er hat nichts Geringeres vor als den ganzen Einsiedel zu fassen, aus der Schale herauszuziehen und aus ihm eine leckere Mahlzeit zu bereiten. In wenigen Sekunden wäre der Krebs verloren. 280 Allein hier ist der Bündnisfall gegeben, die Gefährtin im Zweibund, die schöne Aktinie, geht blitzschnell zum Giftangriff über, und betäubt von dem Trommelfeuer der Giftatome wendet sich der Räuber zur Flucht. Der Hausbesitzer Krebs ist gerettet.

Womit vergilt nun der Krebs seiner Freundin diese wirksame Waffenhilfe? Nun, mit etwas ebenso Wichtigem, nämlich durch Nahrungsversorgung. Denn die Aktinie, die sonst auf einem Steingrund festsitzt, wird als Mietspartei des fahrenden Hauses vom Krebs überallhin mitgenommen und findet in beständiger Ortsveränderung weit reichlichere Freßgelegenheit als in ihrer ursprünglichen festen Standlage. Damit noch nicht genug: der Krebs läßt ihr auch von seinen eigenen Mahlzeiten die Abfälle zukommen, erfüllt mithin getreulich die Bedingungen des ungeschriebenen und vielleicht gerade deshalb so wirksamen Vertrags.

Es begab sich aber, daß dem wachsenden Krebs seine Schale zu eng wurde, so daß er gezwungen war, die Muschel zu verlassen, um eine neue, größere zu beziehen. Verfiel nun das Bündnis dadurch der Auflösung? Keineswegs. Der Krebs dachte gar nicht daran, das Wohnungsverhältnis zu kündigen, er ergriff vielmehr seine bunte Freundin, löste sie mit sorgsamen Bewegungen vom alten Gehäuse und verpflanzte sie liebevoll auf das neue. Und als Robinson mittels eines langen Metallstiels die Seerose künstlich ablöste, wurde der Krebs ersichtlich unruhig und gab sich nicht eher zufrieden, bis er sie wieder aufgefunden und abermals auf seinem Hausdach befestigt hatte.

Peter: Das war doch aber nicht hübsch von Robinson, in so eine Freundschaft mit einem langen Stock hineinzustökern und dem guten Krebs so viel Verdruß zu bereiten.

Vater: Aber er wollte doch gerade bloß die Festigkeit dieser Freundschaft ausprobieren. Und als so herzensgut konnte er den Krebs eigentlich nicht betrachten, denn er hatte kurz zuvor gesehen, daß dieser, um sich sein neues Haus frei zu machen, gar nicht sehr sanft vorgegangen war. Denn in der neuen Meeresvilla saß noch jemand drin, die Baumeisterin und rechtmäßige Besitzerin, nämlich eine ahnungslose Schnecke, die von dem wohnungsuchenden Krebs ganz einfach und glatt herausgefressen wurde. Der Krebs war also eigentlich, wie so viele 281 seiner Wassergenossen, ein ganz rücksichtsloser Räuber und Mörder, nur im Verkehr mit der Seerose kam das bei ihm zum Vorschein, was man ins Menschliche übersetzt als Freundschaft, Treue und Pflichteifer bezeichnen könnte. Und vielleicht werden die Forscher künftiger Zeiten einmal dahin gelangen, in solchen Lebenszeichen der niederen Tierwelt die Anfänge einer Moral zu erkennen, der Umbildung des Bösen und Gewalttätigen zum Guten und Freundlichen. Die Forscher der Gegenwart begnügen sich damit, die Erscheinung zu studieren und zu beschreiben; sie haben ihr auch eine schöne Bezeichnung verliehen: die »Symbiose«, ein griechisches Wort, das in genauer Übersetzung soviel besagt wie »Mitleben« oder »Zusammenleben«. Und diese Symbiose spielt in der ganzen Schöpfungswelt eine große Rolle, vielleicht die entscheidende. Erinnern wir uns der Notwendigkeit der Pflanzen im Aquarium. Sie sind im Austausch der Atmung auf die Tiere angewiesen, die Tiere auf die Pflanzen, beide Parteien leben also in Symbiose . . .

Dietrich: Ach, dann leben auch unsere Freunde Robinson und Freitag in Symbiose!

Vater: Zweifellos. Robinsons Kräfte, bei denen die des Verstands überwiegen, ergänzen sich mit den roheren Kräften Freitags. Was der eine leistet, kommt dem anderen zugute, erhöht und befestigt dadurch wiederum die eigene Leistung, und in diesem Wechselspiel gestaltet sich eine höhere Form des Lebens. Zwei Wesen, vereinigt, verdoppeln nicht nur ihre Kraft, sie verhundertfachen sie. Und so beruht schließlich alles Zusammenleben der Menschen in Stadt und Land, in Staat und Reich auf Symbiose, die ihre Ursprungsquelle in der Nützlichkeit hat, ihre Mündung aber in der Sittlichkeit, der Tugend, im Eintreten aller für einen und eines für alle. Und eine leise Vorahnung dieses geselligen, auf das höchste Gemeinwohl gerichteten Zusammenlebens kann man schon gewinnen, wenn man wie Robinson ein Aquarium betrachtet und darin nicht bloß Raub und Gefräßigkeit erblickt, sondern auch deutliche Spuren von Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Treue. 282


 << zurück weiter >>