Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Einundzwanzigster Nachmittag

Am nächsten Nachmittag machte Peter ein etwas bekümmertes Gesicht. Es währte eine ganze Weile, ehe man aus ihm herausbekam, was ihn bedrückte. Endlich gestand er: Ich habe nämlich ein Experiment machen wollen.

Vater: Nun, das wäre ja eher zu loben. Was wolltest du denn versuchen?

Peter: Ja, Vater, du hast doch neulich erzählt, daß die Luft hoch oben immer kälter wird; da hab' ich meinen Papierdrachen steigen lassen und dein kleines Thermometer an den Schwanz angebunden.

Vater: Gar nicht übel für eine erste Beobachtung, du kleiner Physiker. Nur konnte dir ein gewöhnliches Thermometer für diese Wärmemessung gar nicht dienen, denn wenn das Thermometer auch in gewisser Drachenhöhe tiefer stand, so stieg es doch wieder, wenn es herunterkam und dir zur Ablesung sichtbar wurde.

Peter: Ach, Vater, das schlimmste war ja, daß das Thermometer beim Runterkommen fiel! Es ist vom Drachenschwanz abgefallen und auf dem Gartenkies kaputtgebrochen.

Vater: Nun, Peter, das wird sich verschmerzen lassen! Wir besorgen uns dann eben ein neues und sind beim nächsten Mal vorsichtiger. Und wenn wir recht schlau sein wollen, so kaufen wir uns ein Thermometer mit Anzeigevorrichtung; die zeigt uns dann, wenn es herunterkommt, ganz genau den niedrigsten Wärmegrad an, den es oben vorgefunden hat. Doch davon ein andermal. Für heute trifft es sich ganz gut, daß Peter mit einem Drachen gewirtschaftet hat, insofern als Robinson auch gerade so etwas vorhatte. Nur wollte er dabei nicht 218 Wärme oder Kälte messen, sondern etwas ganz Absonderliches versuchen. Seine Absicht ging dahin, mittels eines Drachens dicht über dem Erdboden, sozusagen im Bereich seiner Hände, ein künstliches Gewitter zu erzeugen.

Ursula: Aber das ist doch sehr gefährlich!

Vater: Wirklich nicht ganz ungefährlich! Aber damit muß man sich ein für allemal abfinden, wenn man überhaupt über das Alltägliche hinaus will. Auch auf den Wegen der Erforschung liegen die Heldengräber. Keine Angst, liebes Kind, unser Robinson wird mit heilen Gliedern aus der Sache herausgehen.

Peter: Ja, was wollte er denn eigentlich anfangen? So ein Drachen kann ihm doch kein Gewitter aus den Wolken herunterbringen?

Vater: Nicht so zu verstehen, daß der Drachen oben den Blitz und Donner abholt und sie abgibt, wenn man ihn heruntergezogen. Nein, der Drache bleibt recht lange oben in der gewitterhaltigen, das heißt mit Elektrizität gesättigten Luft; und nun erhält die Drachenschnur die Aufgabe, die Elektrizität herabzuleiten und unten zur Erscheinung zu bringen.

Robinson hatte hierbei nicht allein die Absicht, auf Grund seiner durch das eifrige Studium der Bücher erworbenen Naturerkenntnis ein Experiment zu machen, er verband mit seinem Vorhaben vielmehr eine sehr praktische Absicht. In recht großer Aufregung erwartete er, ob sein Vorhaben ihm gelingen würde.

Peter: Wollte er wohl gar einen Blitz runterholen, um wieder Feuer damit anzuzünden?

Vater: Wirklich, dies hatte er vor. Er dachte, daß der Himmel ihm schon einmal freiwillig das Feuer geschenkt hatte, nun würde er es vielleicht auch tun, wenn er ihn so eifrig darum anging. Er hatte deshalb eine Menge trockenen Laubs und dünner, dürrer Zweige, also eine Art Zunderhaufen, auf der Erde an jener Stelle zusammengescharrt, über der das Ende seiner Drachenschnur nach dem Aufstieg schweben würde.

Peter: War denn das eine gewöhnliche Schnur? Aber die hat mir noch nie Elektrizität heruntergezogen. Ich habe noch nie das geringste davon bemerkt.

Vater: Du wirst es bemerken, sobald wir nur mal den Versuch ganz richtig anstellen, so wie Robinson es tat, nachdem er sich 219 aus seinen Druckschriften die nötige Anweisung geholt hatte. Zuerst muß der Drache eine ansehnliche Größe haben, mehr als mannshoch sein, so daß er dem Wind eine Angriffsfläche von etwa zwei Quadratmetern gewährt. Einen solchen herzustellen war für Robinson nicht schwer. Das Gerüst aus Holzleisten sägte er aus einem Kistendeckel, und auch für die Bespannung fand sich Rat.

Johannes: Ja, natürlich, Papier hatte er doch jetzt eine ganze Menge.

Vater: Nur daß er sich nicht zu entschließen vermochte, dem Drachen auch nur ein Stück zu opfern. Eher hätte er auf das ganze Vorhaben verzichtet, als irgendeine Druckschrift anzureißen. Dafür lag aber auch keine Nötigung vor, denn er hatte von seiner Schneiderei noch genügend Taftreste übrig behalten, und Taft eignet sich vortrefflich zur Bespannung eines Fluggeräts. Die Befestigung ging mit kleinen harten Stiften gut vonstatten, und nur die Herstellung eines geeigneten Haltefadens beanspruchte noch einiges Kopfzerbrechen.

Peter: Ich denke, es geht mit einer gewöhnlichen Schnur?

Vater: So sagte ich schon, ich muß aber hinzufügen, daß die Wirkung ausbleibt, wenn der Faden nicht angefeuchtet wird. Mit einer ganz trockenen Schnur mißglückt das Experiment; wir werden gleich erfahren, weshalb. Dagegen steigert sich die Wirkung bis ins Unglaubliche, wenn es gelingt, dem Faden einen metallischen Zusatz zu geben. Daß Robinson es gelernt hatte, dünne zähe Lianenstengel wie Bindfäden zu verwenden, ist euch ja bereits bekannt. Nun war ihm aber auch aus dem Inhalt der Kiste eine Menge ganz feinen Kupferdrahts zugefallen, und nach mehrfachen Anstrengungen gelang es ihm tatsächlich, das gewünschte Gespinst zu fertigen, nämlich eine von dünnem Metall durchzogene Schnur. Eine feste Handhabe von Eisen am Ende der Schnur dicht über dem Zunderhaufen vervollständigte die Einrichtung, und nun brauchte er nur noch einen gewitterschwülen Tag abzupassen, um das erwartete Schauspiel in Szene zu setzen.

Dietrich: Na, wenn das nur so glatt abläuft! Die Handhabe von Eisen will mir gar nicht gefallen; da mußte er ja die Schläge direkt in den Arm kriegen, gerade, als wenn er einen Blitzableiter angefaßt hätte.

220 Vater: Sehr wahr, Dietrich, und es wird dich beruhigen, daß Robinson hiergegen Vorsorge getroffen hatte. Was er wirklich in die Hand nahm, war nicht die Metallklammer, sondern ein Holzkloben, der mit jener Klammer durch ein tüchtiges Stück Trockenschnur verbunden war. So glaubte er genügend geschützt zu sein, und er war es wohl auch an jenem gewitterschwülen Tag, da der Drache prächtig in die Höhe schwebte, den drohenden Wolken entgegen.

Zuerst hatte Robinson eine Empfindung, als ob Spinnweben über sein Gesicht gezogen würden, und ein eigentümlicher Phosphor- und Schwefelgeruch stieg ihm dabei in die Nase. Alsdann begann sich ein Teil von dem, was sich in weitem Umkreis locker auf dem Erdboden befand, Halme, Pflanzenreste, Holzteile, aufzurichten und im Kreis um ihn herumzutanzen wie Automatenpuppen. Viele Halme flogen sogar hoch empor, immer der Schnur entgegen, luden sich an ihr, wurden wieder abgestoßen, wieder aufwärts gerissen, und bei diesem Hin und Her entwickelte sich ein Flammenspiel mit Explosionen, stärker und eindrucksvoller, als irgendein Feuerwerk der Erde es hervorbringen könnte. Aus der Metallklammer, die man in diesem Zusammenhang am besten als Konduktor bezeichnet, fuhr ein Flammenstrahl nach dem anderen, mindestens dreißig in einer Stunde, die drei Meter in die Länge maßen, an drei bis vier Zentimeter in der Dicke, während Hunderte von kürzeren Strahlen das Schauspiel vervollständigten. Ein ohrenbetäubendes Geprassel und Geknalle begleitete diese Vorgänge, und die Schnur selbst leuchtete in ganzer Ausdehnung trotz des Tageslichts bis hinauf zu den Wolken als ein glühendes Wahrzeichen der elektrischen Verbindung zwischen Himmel und Erde.

Peter: Und bekam Robinson denn nun den Haufen in Brand?

Vater: Ganz gewiß. Das ging, wie du dir denken kannst, bei solchem Feuerwerk leicht von statten. Mit Entzücken sah Robinson alsbald eine Flamme emporschlagen, und seine Freude darüber war doppelt groß, weil er die Wiedererwerbung des köstlichsten Besitzes seinen wissenschaftlichen Studien verdankte.

Er kam aber im Augenblick noch nicht dazu, an all das Behagen zu denken, das er sich durch das Feuer nun wieder 221 verschaffen konnte, denn die Erscheinung, die er hervorgerufen, fesselte ihn vollständig. Das, was Robinson in seiner allernächsten Nähe erlebte, war in der Tat nichts anderes als ein verkleinertes Gewitter dicht am Erdboden, das alle Erscheinungen, Blitz, Donner und Wirbelsturm, getreulich wiederholte. Und dies war dadurch gelungen, daß er die Schnur »leitend« gemacht hatte, so wie wir ja auch zu anderem Zweck Metall als Leiter verwenden, nämlich wenn wir telegraphieren, telephonieren oder elektrische Kraft übertragen, irgendwohin leiten wollen. Da gibt es aber auch noch erhebliche Unterschiede in der Fähigkeit, die Elektrizität aufzunehmen und fortzuführen. Unter den Metallen sind Kupfer und Silber die allerbesten, Quecksilber der schlechteste Leiter. Quecksilber wiederum leitet immer noch millionenfach besser als Wasser oder, um in unserem Bild zu bleiben, als eine nasse Schnur; der nasse Faden wieder ist in dieser Hinsicht unvergleichlich brauchbarer als der trockene. Das alles mußte erst mühsam durchprobiert werden, und Benjamin Franklin, der den ersten elektrischen Drachen steigen ließ, war darüber noch in so vielen Irrtümern befangen, daß wir das schließliche Gelingen seines Versuchs als ein halbes Wunder betrachten müssen.

Dietrich: Also Franklin war der erste Mensch, der begriffen hat, daß ein Gewitter von der Elektrizität herkommt?

Vater: So sagt man gewöhnlich, und so spricht man auch bei uns, da wir Deutschen in vielen Dingen ein schlechtes Gedächtnis für unsere eigenen Verdienste haben. Tatsache ist, daß ein Deutscher, Professor Winkler in Leipzig, denselben Gedanken schon im Jahre 1746, also sechs Jahre vor dem Drachenversuch des Amerikaners, ganz klar ausgesprochen und in einer Abhandlung niedergelegt hatte. Freilich, wenn man ganz gerecht sein will, so muß man vielleicht noch sehr, sehr viel weiter zurückgehen. Als die Stadt Rom noch ganz jung war, regierten dort Könige, deren dritter . . .

Dietrich: Oh, ich weiß, Tullus Hostilius, 672 Jahre vor Christi Geburt!

Vater: Vortrefflich! Also von diesem Tullus wird berichtet, daß er ein Mittel gefunden habe, um den Donnergott zur Erde herabzurufen; und weil dies Menschen nicht zukomme, sei er vom Gott mit dem Blitz erschlagen worden. Hieraus 222 nun wollen einige Gelehrte entnehmen, daß König Tullus mit solch einem elektrischen Drachen, vor mehr als dritthalbtausend Jahren, unvorsichtig experimentiert habe.

Johannes: Ach, mit so einem alten römischen König hab' ich gar kein Mitleid, mir ist die Hauptsache, daß dem Robinson dabei kein Unglück passiert ist.

Peter: Und mir wäre die Hauptsache, daß wir nun selber mal so einen Drachen bauen, aber noch dreimal so groß wie der vom Robinson; und dann machen wir einen Schwanz dran, so lang wie der Alsterdamm . . .

Dietrich: . . . und an den Schwanz binden wir den Peter, damit er uns erzählen kann, wie's ganz hoch oben mitten in einem Gewitter aussieht!

Peter: Das werde ich mir gerade gefallen lassen! Laß doch solch Gerede! Wir wollen lieber hören, was Robinson weiter machte.

Vater: Nachdem er den Drachen eingezogen hatte, sorgte er rasch dafür, daß das Feuer auf seinem Herd von neuem prasselte. Endlich nach so langer Entbehrung konnte er sich wieder einen saftigen Braten verschaffen, nachdem er ein Gemsböcklein erlegt hatte. Auch Schildkrötensuppe gab es und gekochte Eier, Magenergötzungen unerhörter Art. Seine Schießwaffen benutzte Robinson allerdings nicht für die Jagd, denn er hatte ja nur ganz wenig Patronen in der Kiste gefunden und war darauf bedacht, sie für Notfälle aufzubewahren.

Es gefiel Robinson nun schon recht gut auf seinem Eiland, nachdem er mit manchen Annehmlichkeiten des Lebens reichlich versehen war, und in seinen Büchern sowie in den Gedanken, die sein Studium in ihm anregte, auch Gesellschafter gefunden hatte. Aber die Erinnerung an die Heimat erstarb doch niemals ganz. Für den Alltag fühlte er sich ganz glücklich, feiertägliche Vorstellungen führten ihn jedoch immer wieder in die Gesellschaft anderer Menschen zurück. In all den Jahren hatte sich noch niemals eine Mastspitze irgendwo über dem kreisrunden, glatten Horizont um seine Insel erhoben, kein Schiff war auch nur in die Nähe gekommen. Dennoch verzweifelte Robinson nicht vollständig. Irgendein Umstand könnte doch immerhin einmal einen Seefahrer in diese offenbar vom Verkehr völlig 223 abliegende Gegend bringen, so hoffte er. Und im Zusammenhang damit plagte ihn der Gedanke, daß ein Schiff in der Nähe des Eilands vorbeifahren könnte, ohne daß er es merkte, und ohne daß die Seeleute ahnen konnten, daß hier ein Einsamer sehnsüchtig auf sie wartete. Seine Wohnung lag vollständig eingeschlossen, so daß man sie nur aus nächster Nähe, nicht aber von der See erblicken konnte. Es kam ihm schließlich der Gedanke, für alle Fälle doch ein weithin sichtbares Signal auszuhängen.

Einen letzten langen Streifen des Tafts besaß er noch. Er befestigte diesen an einer kräftigen Stange, kletterte damit auf einen hohen Baum und band die Fahne dort an. Als er sie von unten her lustig im Wind flattern sah, fühlte er sich freudig bewegt. Es war ihm, als spräche er durch das Signal wieder zu kultivierten Menschen. Im Augenblick hörte und verstand ihn zwar niemand, aber wer konnte wissen, ob das nicht dereinst der Fall sein würde.

Ursula: Hatte auch jemand die Fahne entdeckt?

Vater: Oh du kleine Neugierde! Das kann ich dir jetzt noch nicht verraten. Du mußt schon warten, bis wir in unserer Erzählung so weit gelangt sein werden, daß Robinsons letztes Schicksal sich enthüllt. – Es kam für unseren Freund jetzt wieder eine Zeit ruhigen Dahinlebens, die wir zu einer kleinen Betrachtung über ihn benutzen wollen. Unser Robinson ist im Verlauf der Jahre auf verschiedenste Weise tätig gewesen. Wir haben ihn als Korbflechter, Maurer, Baumeister, Bootsbauer, Zimmermann, Schneider beobachtet, er hat sich, von der Not der Einsamkeit gedrängt und ganz auf sich angewiesen, in manchem Handwerk versucht und war obendrein eine Art von Naturforscher geworden. Da möchte ich denn gern einmal von euch hören, wie ihr über solche Vielfältigkeit im Beruf denkt. Was meinst du wohl, Peter, tut es gut, wenn ein Mensch sich mit so vielen und verschiedenen Dingen beschäftigt, oder wäre es besser, wenn er fleißig bei einer einzigen Sache bliebe?

Peter: Na, der Robinson konnte doch nicht anders. Er war doch von aller Welt verlassen und mußte zusehen, wie er mit allem allein zurechtkam.

Johannes: Das ist auch meine Meinung.

224 Dietrich: Na, ich weiß doch nicht. Was Richtiges kann einer doch nur werden, wenn er bei der Stange bleibt und nicht fortwährend was anderes anfängt. Wir haben erst kurz vor den Ferien in der Schule einen Aufsatz geschrieben über das Thema von Schiller: »Wer etwas Treffliches leisten will, hätte gern was Großes geboren, der sammle still und unerschlafft im kleinsten Punkte die höchste Kraft.« Das soll doch heißen, daß bei einer Zersplitterung nichts Rechtes herauskommen kann.

Vater: Im allgemeinen wird dies wohl auch Geltung behalten. Allein der Menschheit wäre es doch nicht gut bekommen, wenn alle klugen Köpfe sich danach gerichtet hätten. Im Gegenteil verdankt sie eine Menge der allerbesten Leistungen gerade denjenigen, die durchaus nicht bei der Stange bleiben wollten, also Männern, die darauf ausgingen, ihre Kraft in möglichst vielen Punkten zu erproben.

Dietrich: Oh, Vater, das mußt du uns aber an Beispielen erklären.

Vater: Beispiele soviel ihr wollt. Wir sprachen erst kürzlich vom Perpetuum mobile, und ich füge hinzu, daß der Beweis von der Unmöglichkeit eines solchen der Ausgangspunkt einer der größten Wissenschaften geworden ist. Wer mag nun wohl der erste gewesen sein, der dies gefunden, ausgedacht und klar ausgesprochen hat?

Dietrich: Na, gewiß ein großer Naturforscher von Fach.

Vater: Nein, es war ein Maler und Bildhauer, einer der größten Künstler aller Zeiten: Lionardo da Vinci. Und derselbe Lionardo hatte auch die ersten Ideen, die später zu unseren Luftfahrzeugen, zu unseren Unterwasserbooten und Maschinengewehren geführt haben. Und derselbe Maler Lionardo hat in der Physik mehr geleistet als sonst Dutzende von Professoren der Physik zusammengenommen. Welches war also eigentlich sein Fach, und was war bei ihm Nebenberuf? Auch bei Goethe könnte man ähnlich fragen. Der hat in vielen Zweigen der Naturkunde, zumal in der Entwicklungslehre und in der Optik, Ausgezeichnetes vollbracht. Staatsminister und Theaterdirektor ist er außerdem gewesen. War er nun etwa Dichter im Nebenberuf? Hatte er überhaupt ein Fach? Und soll man ihm nachträglich einen Verweis erteilen, weil er nicht bei der Stange blieb?

225 Dietrich: Nun, diese beiden mögen eben Universalgenies gewesen sein.

Vater: Das Wort ist treffend. Nur daß es doch erheblich mehr Universalgenies gibt, als man gemeiniglich annimmt. Wir sprachen ja auch vorhin von Benjamin Franklin. Der war eigentlich Seifensieder, hätte also nach der allgemeinen Regel Seifensieder bleiben sollen. Er wurde aber Schriftsteller, Staatsmann, Generalpostmeister, Kolonialsekretär, Volksbefreier, Elektriker und Erfinder des Blitzableiters.

Die neuere Geschichte der Naturforschung nennt unter ihren größten Namen Michael Faraday und Joule. Der erste war von gelerntem Fach Buchbinder, der zweite Bierbrauer. Unter den berühmten Weltweisen kamen Jakob Böhme vom Pechdraht und Schusterpfriem, Bacon von der Advokatenkanzlei, Herbert Spencer von der Hobelmaschine. Daß der Dichter Hans Sachs abwechselnd Verse und Stiefel machte, weiß jedes Kind. Eine der wichtigsten Entdeckungen im Feld der Tier- und Pflanzenkunde war der sogenannte »Generationswechsel«, von dem ich euch noch später ein Beispiel erzählen werde. Wer hat diese Entdeckung gemacht? Ein Professor der Zoologie, der Botanik? Keineswegs, sie rührt von Adelbert von Chamisso her, dessen schöne Gedichte ihr auf der Schule auswendig lernt.

Ja, Kinder, ich wußte wohl, wo ich anfing, aber ich weiß wahrhaftig nicht, wo ich da aufhören soll. Weshalb ich euch aber diese Beispiele erzähle? Das geschieht, um euch zu zeigen, daß in sehr vielen tüchtigen Menschen etwas von der Natur eines Robinson lebt. Nicht ihn allein hat die Not zum Erfinder und Entdecker gemacht. Die Not ist überhaupt die Mutter aller Erfindungen und der meisten Entdeckungen. Man muß sich nur darüber verständigen, was man als Not auffassen will. Bei Robinson und vielen anderen war es zuerst die Sorge des Tags, und wiederum bei anderen ist es heißes Verlangen, das unstillbare Drängen des Geistes zu beschwichtigen. Daraus eine einfache Lebensregel abzuleiten, wäre freilich unzulässig. Allenfalls könnte man sagen: was dem Menschen durchweg zugesprochen werden muß, ist die Freiheit der Berufswahl.

Hat er gewählt, so soll er sich vor allen Dingen in seinem Fach als Fachmann möglichst vervollkommnen, dabei aber die 226 Freiheit bewahren, seinen Sonderberuf zu durchbrechen, wenn er ihm zu eng wird, auf die Gefahr hin, daß die bestallten Wächter des Fachs darüber die Nase rümpfen und ihm Laientum oder, wie sie es nennen, »Dilettantismus« vorwerfen. Dann sollen die Gescholtenen eben darauf hinweisen, daß auch Goethe, Lionardo da Vinci, Franklin und so viele Große als Dilettanten Bedeutendes geschaffen haben. Wir aber in unserer Erzählung wollen uns darüber freuen, daß Robinson nach soviel Nöten um Leib und Leben auch die Not des Geistes empfand und alle Mittel in Bewegung setzte, um sie zu befriedigen. Und was meinst du nun, Dietrich, bist du noch immer der Ansicht, daß Robinson seine Beschäftigungen allzusehr zerteilte?

Dietrich (schweigt).

Vater: Wer schweigt, der stimmt zu. Und in dieser Zustimmung liegt zugleich das Anerkennen des Satzes, auf den es mir zumeist ankommt: daß die Bestrebungen Robinsons in kümmerlichsten Verhältnissen, auf knappstem Raum das wiederholen, was uns alle bewegt, wenn wir im Kampf mit den Widrigkeiten des Daseins die Vermehrung unseres Wissens als eine Lebensnotwendigkeit empfinden; und daß der ganze Robinson, so aufgefaßt, uns ein verkleinertes Abbild der großen denkenden Menschheit bietet.

Johannes: War er denn nun auch mit sich selbst zufrieden?

Vater: Ach ja! Er prüfte in manch nachdenksamer Stunde, wie er sich durch die absonderlichen Schwierigkeiten seiner Lage hindurchgefunden und es durch Gescheitheit und Tatkraft von dem hilflosen Zustand bei seiner Landung bis zu der recht achtbaren Höhe seines jetzigen Lebens gebracht hatte. Freilich war er sich bis zu dem Augenblick, wo er die wissenschaftlichen Bücher zu lesen begonnen, tüchtiger erschienen als nachher, denn in jenen Werken fand er Berichte über so viele große Taten des menschlichen Geistes, daß er die Empfindung hatte, sein Schaffen müsse daneben verblassen. In der Tat ist das Ringen der Menschen nach Erkenntnis der mächtigste Kampf, den unser Geschlecht bestehen kann und die Sieger hierin Helden, die über Achilles, Cäsar und Napoleon weit hinausragen. Kopernikus und Galilei, Newton, Faraday und Helmholtz, um nur ein paar Namen zu nennen, sie standen 227 den geheimnisvollen Naturkräften, denen sie ihren innersten Gehalt abringen wollten, genau so hilflos gegenüber wie Robinson einst den Gefahren des fremden Eilands. Auch sie mußten sich erst ganz neue Waffen zum gewollten Kampf erdenken und nie vordem angewendete Kriegsmethoden ersinnen. Der Sieg aber, den sie schließlich errangen, nützte nicht ihnen allein, ja bei weitem nicht ihnen am meisten, sondern kam der ganzen Menschheit zugute. Das empfand jetzt auch Robinson und überdachte seine eigenen Leistungen nur noch mit bescheidener Zufriedenheit.

Dietrich: Ich finde am wunderbarsten, was die Menschen im Himmelsraum an den Sternen entdeckt haben.

Vater: Diese Meinung ist berechtigt, wobei man sich freilich nicht durch die Größe der Gegenstände, um die es sich hier handelt, und die Unendlichkeit des Raums, in der die zu erforschenden Ereignisse vor sich gehen, allzusehr beeinflussen lassen darf. Im Kleinsten gibt es ebenso Großartiges. Die Entdeckung der Tatsachen, daß Kraft sich in Wärme verwandelt, daß Elektrizität und Licht Schwingungen gleicher Art sind, die Auffindung des Zusammenhangs zwischen Magnetismus und Elektrizität, die Erkenntnis des Aufbaus aller Körper aus den gleichen kleinsten Teilchen, den Atomen, sind mindestens so großartige Leistungen wie die Herbeiführung der Möglichkeit, die Bewegung jedes Sterns zu berechnen, seine Größe festzustellen und künftige Sonnenfinsternisse vorauszusagen.

Robinson dachte freilich ähnlich wie du. Was ihm von allen Leistungen, über die er in seinen Büchern las, den stärksten Eindruck machte, was ihn veranlaßte, geradezu demütig über sich selbst zu denken, war eine Tat auf astronomischem Gebiet.

Johannes: Das muß ja gewiß etwas ganz Besonderes gewesen sein! Willst du es uns erzählen, Vater?

Vater: Das tue ich gern, denn auch mir erfüllt die Erinnerung daran jedesmal die Seele mit Freude. Man fühlt sich stolz, ein Mensch sein zu dürfen, wenn man weiß, daß ein Mensch solcher Taten fähig ist. Blickt auf zum Gewimmel des Sternenhimmels, das über unseren Häuptern gerade wieder hervorzutreten beginnt. Denkt, daß in diesem Gewirr ein an sich zwar sehr großer, von der Erde aus aber selbst durch starke 228 Fernrohre kaum noch erkennbarer Weltenkörper umherwandelt, von dessen Vorhandensein niemand etwas ahnt. Aber eines Tages beweist ein Mensch haarscharf sein Vorhandensein durch bloße Zahlenreihen, die er an seinem Schreibtisch aufstellt, ohne auch nur aus dem Fenster zu blicken.

Johannes: Wie großartig! Wie herrlich!

Dietrich: Das ist allerdings das Wunderbarste, von dem ich je gehört habe! Wer war der Mann, der das schaffen konnte? Und wie heißt der entdeckte Stern?

Vater: Ihr kennt doch die Planeten unseres Sonnensystems?

Johannes: Ja. Sie heißen: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun.

Vater: Bis zum Saturn einschließlich waren diese Kinder unserer Sonne, die Wandelsterne, wie wir sie im Gegensatz zu den scheinbar stillstehenden Sonnen anderer Welten, den Fixsternen, nennen, bereits im Altertum bekannt, weil man sie bei genügender Aufmerksamkeit auch mit bloßem Auge ihre Bahn wandern sehen kann. Aber den schon sehr fernen Uranus fand erst Herschel im Jahre 1781. Nach den von Newton aufgestellten Gesetzen ging man gleich daran, zu berechnen, welche Bahn der neu entdeckte Planet um die Sonne zurücklegen müsse. Aber als man ihn dann auf seinem Weg beobachtete, sah man, daß er in Wirklichkeit nicht so lief, wie er nach den Rechnungen laufen sollte.

Johannes: Das ist doch eigentlich gar nicht so wunderbar! Der Uranus braucht sich doch nicht darum zu kümmern, was wir Menschen ihm vorschreiben wollen!

Vater: So darf man es natürlich nicht auffassen. Newton hat gelehrt, daß alle Körper, also auch die Weltenkörper, einander anziehen. Und nur durch diese Anziehungskräfte, die Gravitation, werden die Sterne auf ihren Bahnen gelenkt. Jeder übt einen Einfluß entsprechend seiner Masse. Man wollte den Uranus nicht steuern, sondern fühlte sich stark genug, um vorauszuwissen, wie er sich bewegen mußte.

Johannes: Und man täuschte sich doch?

Vater: Die tatsächliche Uranusbahn wich, wie gesagt, von der errechneten ab. Aber die von Newton aufgestellten 229 und von anderen weiter vervollkommneten Himmelsgesetze hatten sich durch unzählige Beobachtungen bereits als so unerschütterlich richtig erwiesen, daß man an die Durchbrechung ihrer Vorschriften durch den Uranus nicht glauben wollte. Die Abweichung in seiner Bahn mußte eine andere Ursache haben. Aber freilich, mehr als sechzig Jahre lang fand man den Grund der Störung nicht heraus.

Da setzte sich, angeregt durch ein Preisausschreiben der Göttinger Akademie der Wissenschaften, im Jahre 1846 der französische Mathematiker Leverrier nieder und rechnete und rechnete. Er kam zu dem Ergebnis, daß die Abweichung der Uranusbahn nur dadurch hervorgerufen werden könne, daß es noch einen Planeten gäbe, der sich in weiterem Abstand um die Sonne bewegte als der Uranus. Durch äußerst scharfsinnige Überlegungen stellte er den genauen Standort dieses bisher unentdeckten Sterns für die Zeit unmittelbar nach Beendigung seiner Rechnung fest. Aus bestimmten Gründen, die uns hier gleichgültig sein können, benachrichtigte er den Berliner Astronomen Galle von seiner Vermutung. Dieser erhielt Leverriers Schreiben am 23. September 1846. Und noch am Abend desselben Tags fand er mit Hilfe des großen Fernrohrs der Sternwarte auf dem Berliner Enkeplatz ein unbekanntes Sternchen fast genau an der von Leverrier bezeichneten Stelle. Es war, wie sich bald zeigte, wirklich ein Wandelstern. Er erhielt den Namen Neptun. Unvergänglich wie dieser Himmelskörper wird der Name des Manns bleiben, der mit der Spitze seiner Feder ihn am Himmelsdom aufgesucht hat.

Dietrich: Nun kann ich freilich Robinsons Bewunderung erst ganz verstehen! Wenn man so etwas hört, möchte man selbst stark sein, Ähnliches zu vollbringen.

Vater: Ich freue mich dieser Regung in dir. So sollen die Erzählungen von den Taten großer Männer auf junge Seelen wirken. Nichts vermag mehr anzufeuern und die Gedanken auf Großes hinzulenken. 230


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