Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Siebenundzwanzigster Nachmittag

Vater: Ein Gegenstand aus Robinsons Besitz, mit dem Freitag sich besonders gern beschäftigte, war das Fernglas. Er wurde nicht müde, alle erdenklichen Dinge aus allen möglichen Entfernungen zu betrachten, und besonders eifrig äugte er oft auf der Meeresfläche umher, um da irgend etwas zu entdecken, was ihm sonst unsichtbar geblieben wäre.

Und richtig, eines Tages bemerkte er wirklich etwas Auffälliges. »Dort schwimmt etwas Dunkles,« rief er, »es treibt hierher, was mag es sein?« Robinson konnte mit freiem Auge nichts dergleichen entdecken. »Wird wohl ein Fisch sein oder eine Qualle,« sagte er. Aber Freitag beruhigte sich nicht damit, und als Robinson ihm endlich das Fernglas aus der Hand nahm und selbst hindurch sah, erklärte er: »Du hast recht, Freitag, das ist allerdings etwas Seltsames, nämlich allem Anschein nach eine Flasche.«

Ursula: Aber warum wundern die sich denn über eine Flasche? Was ist denn da Merkwürdiges dran?

Dietrich: Ja, für uns freilich nicht; aber wenn man auf einer wüsten Insel sitzt, wo soll denn da eine Flasche herkommen?

Vater: Das werden wir nun bald erfahren. Freitag watete ins Meer und brachte die Flasche ans Land, die oben mit Lack verklebt war. Nach Entfernung dieses wasserdichten Verschlusses entdeckte Robinson, daß sie in ihrem Bauch ein zusammengewickeltes Papier enthielt. Darauf stand in Bleistiftzügen eine in englischer Sprache abgefaßte Botschaft, die Robinson mit einiger Anstrengung zu lesen vermochte. Es war die letzte Botschaft einer sterbenden Schiffsbesatzung, welche diese Niederschrift einer »Flaschenpost« anvertraut hatte, um die Kunde ihres Schicksals irgendwohin an ein Ufer zu lebenden Menschen zu tragen.

Aus dem Schriftstück der Flaschenpost gingen folgende Nachrichten hervor. Der Dampfer »Rangoon«, von 2700 Tonnen Laderaum, Kapitän Carter, war vor Wochen aus einem ostindischen Hafen abgegangen, um Kaufmannsgüter nach Europa zu bringen, dazu auch eine Ladung wilder Tiere aus Bengalen für einen Tierhändler in Liverpool. Das Schiff sollte zuerst südwärts steuern, um in Kerguelenland die Bestände durch Seelöwen und See-Elefanten zu ergänzen

Unter den Fahrgästen hatte sich ein waghalsiger Engländer befunden, Wilcox mit Namen, der den Plan hegte, von Kerguelen aus die Südpolarländer zu überfliegen und, wenn möglich. den damals noch unerforschten Südpol der Erde zu erreichen. Sein Luftballon befand sich auf dem Schiff, ebenso aller Bedarf für Erzeugung von Wasserstoff zur Gasfüllung des Ballons. Dieser Wilcox hatte also im wesentlichen dieselbe Absicht wie der Schwede Andree, der im Juli 1897 von der Däneninsel aufstieg, dem Nordpol entgegen, und der seitdem für die Welt verschollen ist.

Noch bevor der »Rangoon« die unwirtliche Robbeninsel erreicht hatte, stieß er in voller Fahrt mit Höchstgeschwindigkeit auf einen schwimmenden Eisberg. Die Katastrophe erfolgte bei Nacht, und der Zusammenprall war so ungeheuer, daß das Schiff von einer Eiskante an der Breitseite gespalten wurde.

Das Schriftstück war unterzeichnet vom Stellvertreter des Kapitäns, der voraussah, daß sich das geborstene Schiff höchstens noch eine halbe Stunde über Wasser halten konnte. Er fügte hinzu, daß sich infolge des Zusammenpralls mehrere der wilden Tiere aus ihren Behältern befreit hätten und mit wütendem Gebrüll den Schiffsrumpf durchrasten. Ein besonderer Zettel enthielt die Schiffsliste mit den Namen der Fahrgäste und des Schiffspersonals.

Dies also war der Inhalt der Flaschenpost. Mit voller Sicherheit konnte angenommen werden, daß von allen Menschen, die jene Unglücksfahrt unternommen hatten, kein einziger mehr unter den Lebenden weilte. Dagegen hielt es Robinson für durchaus möglich, daß noch einige Frachtstücke des verlorenen Dampfers bei ihm an Land treiben konnten; denn es kam ja 293 dabei hauptsächlich darauf an, wie die Wasserströmung gerichtet war, und diese hatte ihm ja soeben die Flasche mit ihrem traurigen Inhalt zugetrieben. Von Südwesten her mußte also wohl eine Meeresströmung auf den Inselstrand zuführen. Selbstverständlich nahm sich Robinson vor, etwaiges Strandgut getreulich zu verwahren, und den Angehörigen der auf der Schiffsliste Bezeichneten Kunde zu geben, falls er selbst einmal aus seiner Inselhaft erlöst werden sollte.

Aber eintönig rauschten die fernen Wogen, rieselten die nahen Flachwellen am Gestade, vom Tag zur Nacht, von der Nacht zum Tage, ohne daß sich etwas zeigen wollte. Da, nach Ablauf einer Woche, kam Freitag, der wieder auf der Westseite mit dem Fernglas hantiert hatte, zu Robinson gelaufen und meldete aufgeregt und bestürzt, etwas Großes, Gewaltiges käme herangeschwommen. Und nach der in atemloser Hast herausgestoßenen Beschreibung war Robinson nahe daran zu denken, Freitag habe einen Walfisch gesehen.

Diese Annahme verflog rasch genug, als Robinson selbst die Beobachtung aufnahm. Ungeheuerlich genug sah es freilich aus, das dunkelgelbe Ding, das da draußen auf den Fluten trieb. Allein während Freitag nunmehr die Meinung äußerte, das müsse wohl der Mond sein, der aufs Wasser gefallen sei, befestigte sich in Robinson die Ansicht, dieser treibende Körper könne gar nichts anderes vorstellen als die Hülle eines großen Ballons. Und es lag nahe, diese Ansicht zu ergänzen: ohne jeden Zweifel war das der Luftballon des Südpolsuchers Wilcox, der sich mitsamt seiner ganzen Ausrüstung auf dem geborstenen Schiff »Rangoon« befunden hatte. Der Ballon hatte also genau denselben Strömungsweg genommen wie die voraufeilende Flaschenpost. Er war wohl als Körper mit größerer Fläche von entgegenstehendem Wind aufgehalten worden und kam daher erst später in die Nähe der Insel.

Immerhin lag die Möglichkeit vor, daß der Ballon nun durch irgendwelchen Wechsel in Wasser und Wind an dem Eiland vorbeitreiben könnte, und Robinson war sofort entschlossen, unter allen Umständen dieser Möglichkeit vorzubeugen. Er machte daher mit seinem Gefährten das Boot flott, um dem schwimmenden Ungeheuer vorsichtig entgegenzufahren. 294 Zusehends verminderte sich die Entfernung, und es währte gar nicht lange, da berührte das Boot den schwappenden Großkörper, der in aufgemalten, ellenlangen Buchstaben den Namen seines ursprünglichen Besitzers trug. Dieser hatte sein Luftfahrzeug wie ein lebendes Wesen behandelt, ihm seinen eigenen Namen verliehen, und so sei denn dieser Ballon auch von uns Wilcox genannt.

Wie eine schwimmende Insel flutete der Wilcox daher, und bei seiner erheblichen Ausdehnung wandelte Robinson einen Augenblick die Lust an, aus dem Boot zu steigen und den Wilcox zu betreten. Allein schnell genug sagte er sich, daß diese Unternehmung eigentlich keinen rechten Sinn hätte und zudem auch üble Folgen haben könnte. Er begnügte sich also damit, eine feste Verbindung herzustellen – was bei dem umfangreichen Netzwerk des Ballons gut vonstatten ging – und mit dem Ballon im Schlepptau den Heimweg anzutreten. Sie mußten kräftig mit den Rudern arbeiten, denn der Großkörper verzögerte infolge des Widerstands im Wasser die Fahrt merklich, aber es gelang ihren vereinten Kräften doch, die Aufgabe zu lösen.

Freilich stand jetzt noch ein tüchtiges Stück Arbeit bevor, denn der Wilcox mußte doch, wenn er überhaupt zu irgendeinem Zweck dienstbar gemacht werden sollte, eine Strecke weit landeinwärts gebracht werden. Und das war keine Kleinigkeit bei einer Hülle aus gefirnißtem Seidenstoff von mehreren hundert Quadratmetern Oberfläche. Da galt es vor allem, Beschädigungen zu vermeiden, durch vorsichtiges Aufassen, langsames Rücken, bedächtiges Schieben sozusagen Glied um Glied den gewaltigen Körper vorwärts zu bringen. Aber auch diese Geduldprobe wurde überwunden; und nach etlichen Tagen lag der Wilcox in der Nähe der Robinsonschen Behausung und zwar innerhalb einer Holzumfriedigung, die es gestattete, das offene Ende des Ballons, den sogenannten Füllansatz, nach Belieben zu bewegen.

Peter: Oh, jetzt wird er gewiß mit dem Freitag davonfliegen und durch die Luft nach Hamburg reisen, und dann ist die Geschichte aus.

Vater: Wenn das nur so schnell ginge wie in deinen Gedanken, Peter, hätte ich selbst gar nichts dagegen einzuwenden. Aber du hast ja schon zur Genüge erfahren, daß in Robinsons 295 Erlebnissen gewöhnlich alles anders kommt. Also wird die Geschichte auch diesmal noch nicht so rasch ihr Ende erreichen.

Johannes: Aber zum Steigen wollte Robinson doch den Wilcox bringen?

Dietrich: Das soll er wohl bleiben lassen. Dazu gehört doch eine Füllung mit Wasserstoff oder Leuchtgas, und davon gleich ein paar tausend Kubikmeter. Da möchte ich wohl wissen, wo er die Gase herkriegen will.

Vater: Dietrich hat vollkommen recht. An so einen Gasauftrieb war gar nicht zu denken, und Robinson war viel zu klug, um sich deshalb den Kopf zu zerbrechen und damit die Zeit zu vertrödeln. Aber solche Gase sind auch nicht unbedingt nötig, um einen Ballon flugfähig zu machen: gewöhnliche Luft, wenn sie nur stark erhitzt wird, tut es auch.

Dietrich: Richtig, das hatte ich übersehen. Der allererste Luftballon, den die Brüder Montgolfier gebaut haben, ist ja auch wirklich so geflogen.

Vater: Jawohl, das war der Anfang der Luftballonerfindung. Wie Wasserstoff und Leuchtgas, so ist auch die erhitzte Luft leichter als die gewöhnliche Atmosphäre und besitzt sonach eine Kraft des Auftriebs. Nur gelangt man damit nicht sehr weit. Denn erstlich ist die Leistung der Heißluft weit geringer, und dann kommt sie doch auch bald zum Erkalten, sobald das Heizmaterial sich verzehrt hat. Das alles versuchte Robinson dem Freitag klarzumachen, der davon recht wenig begriff. Nur das eine erfaßte er zur Not, daß Robinson das seidene Ungetüm zu einer großen Kugel aufblähen wollte, und daß dann etwas Unerhörtes sich ereignen sollte.

Fliegen würde das Ding! Und sie beide sollten daran befestigt sein und mitfliegen! Das erschien ihm nun unfaßbar, allein er hatte doch neben Robinson und durch Robinson schon so viele Wunder erlebt, daß er auch dem bevorstehenden neuen Abenteuer, wenn auch kein richtiges Vertrauen, so doch einen Schimmer von Gläubigkeit entgegenbrachte.

»Sieh, Freitag,« sagte Robinson, »ich beabsichtige keineswegs, in die weite Welt hinauszufliegen, denn ich hätte dabei nur sehr geringe Aussicht, dorthin zu kommen, wohin ich möchte, dagegen beinahe die Gewißheit, auf offenem 296 Weltmeer niederzugehen; wobei wir dann rettungslos verloren wären. Mein Vorhaben beschränkt sich vielmehr darauf, ein tüchtiges Stück aufwärts zu fliegen, um von hier aus in bedeutender Höhe einen Überblick über das ganze Inselsystem ringsum zu gewinnen. Man lernt dadurch doch die Gestaltung des ganzen Gebiets besser kennen und entdeckt manches, was einem sonst entgeht; denn nur von oben umfaßt der Blick alle Einzelheiten. Es ist heute ein ganz windstiller Tag, der Wilcox wird also wahrscheinlich ganz geradeaus senkrecht in die Höhe steigen. Ebenso wahrscheinlich ist es, daß er nur ganz kurze Zeit in der Luft bleiben wird, eine Gefahr ist also allem Anschein nach nicht vorhanden. Unsere Vorbereitungen sind fast beendet, also können wir uns sogleich fertig zum Flug machen.«

Zu diesen Vorbereitungen gehörte vor allem ein größeres Gefäß, angefüllt mit ganz trockenen, leicht brennbaren, mit Harz untermischten Faserstoffen. Ferner ein Weidengeflecht, gerade groß und fest genug, um den beiden Männern einen Halt zu bieten. An der Stelle des Füllansatzes war der Wilcox durch Abschneiden mehrerer Meter beträchtlich erweitert worden, so daß er nunmehr dem bald zu entfachenden Heißluftstrom einen breiten Eingang gewährte. Noch lag fast die ganze Hülle am Boden, mit Ausnahme des Schlußteils, der an Stangenstützen befestigt und erhöht war mittels einer sinnreichen Verknotung, die zwar festhielt, aber in jedem beliebigen Augenblick durch einen Handgriff gelöst werden konnte.

»Anzünden!« befahl Robinson, und alsbald erhob sich die Flamme aus den Faserstoffen, unschädlich für den Ballon, denn sie züngelte bei weitem nicht bis an die Öffnung, aber doch sofort merkbar in ihrer Wirkung; die aufsteigende Heißluft drang hinein und begann die Hülle von unten her zu wölben. Und immer kräftiger rundete sich die Wölbung, da der Luftstrom nach und nach im Aufwärtsstreben auch die Seidenteile straffte, die zuerst noch am Boden lagen, nunmehr aber sich lüfteten, um sich dem Ganzen anzufügen und dessen Figur zu vollenden. Freitag verlor beinahe die Besinnung bei diesem Anblick; er vermochte nur noch auszurufen, was schon von Anfang an seine Gedanken aufgerührt hatte: »Der Mond! Der Mond! Das ist der Mond – nein, nein – viel größer als der Mond.«

297 Mächtig zerrte der Wilcox bereits am Stangengerüst, da schob Robinson das Feuergefäß mit kräftigem Ruck zur Seite, setzte sich auf den Ring des mit dem Netzwerk verbundenen Weidengeflechts, und Freitag folgte seinem Beispiel. Im Nu waren die Halteknoten gelöst, und nun erhob sich der Ballon langsam, senkrecht, ohne Schwankung mit den beiden Luftreisenden, die sich ihm anvertraut hatten. Er schwebte bis zu einer Höhe von etwa siebenhundert Metern, weiter reichte die Triebkraft der Luft nicht, die schon zu erkalten begann und nun nur noch die Fähigkeit besaß, den Ballon eine Minute lang in der Schwebe zu halten.

Aber in dieser Minute überfiel unsern Robinson ein fürchterlicher Eindruck!

Peter: Ach, ich kann mir schon denken – der Ballon hat angefangen zu brennen!

Dietrich: Wieso denn? Die Flamme war ja nicht mitgestiegen; er war ja nur durch die eingefangene erhitzte Luft hinaufgetrieben, und an heißer Luft brennt kein Seidenstoff!

Johannes: Aber wenn die Luft kalt wird, fallen sie doch herunter mit dem Ballon und müssen sich zu Tode stürzen!

Vater: Dies, Johannes, war durchaus nicht zu befürchten, denn die Luft braucht zum Erkalten Zeit und vermindert ihre Tragkraft nur allmählich. Dann aber wirkt auch der unten offene Ballon wie ein Fallschirm, kurzum die Senkung hat durchaus nichts Plötzliches und Überstürztes. Nein, der fürchterliche Eindruck, von dem ich eben sprach, wurde durch etwas ziemlich weit Abliegendes hervorgerufen. Robinson hatte nämlich im Höhepunkt der Luftfahrt sein Fernglas ans Auge gesetzt, und als er etwa nach der Richtung der großen Grotten spähte, erblickte er dort nahe bei einem Gehölz – ein Tier.

Die Kinder: Vater, sag' schnell, was für ein Tier?

Vater: Freitag hatte es mit seinen scharfen Augen schon ohne Glas wahrgenommen. Da er aber die Art nicht kannte und wegen der bedeutenden Entfernung die Größe nicht recht abzuschälen wußte, so machte ihm der Anblick durchaus nicht den erschütternden Eindruck wie seinem Herrn. Dem entrang sich der angstgepreßte Ruf: »Freitag – dort – dort – – ein Tiger!«

298 Wie versteint starrte er nach der Richtung, obschon die Bestie selbst für ihn nicht mehr zu erblicken war. Denn der Wilcox hatte sich stark gesenkt und schwebte nur noch achtzig Meter über der Erdsohle. Da, fast im letzten Augenblick, wurde Robinson sich der noch weit näheren Gefahr bewußt; denn ein harter Aufprall konnte verhängnisvoll werden. In der Sekunde verständigten sich die Männer durch Blicke. Und als nur noch etwa zwei Meter Raum zwischen ihnen und der Erde lag, sprangen sie geschickt aus dem Flechtgestell, das noch eine kurze Strecke dahinschleifte. Der Wilcox stieß mit mäßiger Wucht auf den Grund, legte sich auf die Seite und fiel bald in sich zusammen. Robinson aber war inzwischen so weit Herr seiner Sinne geworden, daß er mit Freitag Kriegsrat abhalten konnte. Dieser Rat gestaltete sich zu folgendem Gespräch:

Robinson: Nie zuvor haben wir Raubtiere auf der Insel angetroffen oder auch nur ihre Spur bemerkt. Die Insel beherbergt also von Natur aus keine wilden Bestien. Ist trotzdem, wie wir sahen, eine solche vorhanden, so kann sie nur über das Meer hinweg hierher gelangt sein.

Freitag: Kann denn ein Tiger so weit schwimmen?

Robinson: Das gewiß nicht; aber eine Schiffsplanke kann es. Und solcher Besuch ist uns ja eigentlich schon als möglich angezeigt worden. Besinne dich, Freitag: in der Flaschenpost befand sich ja die Nachricht von der Tierladung aus Bengalen. Unser schlimmer Gast ist nichts anderes als ein bengalischer Königstiger, der nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberg von dem Wrack des Schiffs »Rangoon« entkommen ist und auf einem schwimmenden Trümmerstück mit der Strömung bis an unsere Insel gelangte. Sicher ist sonach, daß der Tiger sich erst seit ganz kurzer Zeit hier befindet, und ebenso sicher, daß er dabei ist, das Gelände zu erkunden, um uns und unsere Haustiere zu überfallen und zu zerfleischen.

Freitag: Wir werden ihn mit Beilen, Pfeilen, Wurfspießen erwarten, ihn erst durchbohren und ihm dann den Kopf zerspalten.

Robinson: Besser wäre es schon, wir hätten noch Patronen für meine Gewehre. Mit unseren jetzigen Waffen 299 werden wir gegen dieses Untier nicht viel ausrichten. Mit seiner ungeheuren Sprungkraft, seinen entsetzlichen Krallen und seinem furchtbaren Gebiß ist es stärker im Angriff als wir in der Abwehr. Warten wir also, bis es gegen uns hervorbricht, so sind wir verloren. Wir müssen zum Angriff schreiten.

Freitag: Herr, willst du ihn angreifen mit unseren Waffen?

Robinson: Nicht mit Bogen und Axt, sondern mit List. Ich will ein Werkzeug bereiten, um ihn zu fangen und unschädlich zu machen. Freilich einige Stunden lang werden wir unser Leben wagen müssen, aber ich hoffe zuversichtlich, daß uns das Werk gelingen wird.

Freitag: Herr, ich weiß nicht, wie du das anfangen willst.

Robinson: So höre! Neulich, als du im Wald warst, untersuchte ich noch einmal die Gegend nahe der Tropfsteinhöhle und bemerkte eine tiefe, steil abfallende Erdgrube im Gelände. In dieser Grube will ich den Tiger fangen. Wir werden sie mit dünnen Stämmchen und Zweigen bedecken und eines unserer jungen Gemsbüffelchen darauf binden; sein Geblök soll das Raubtier anlocken. Gewiß, es tut mir leid, das unschuldige Tier zu opfern, aber wir retten dadurch unsere ganze Herde und uns selbst dazu.

Freitag: Aber der Tiger wird uns überfallen, wenn wir uns in seine Nähe wagen, um die Bretter aufzulegen.

Robinson: Das ist möglich! Dann werden wir kämpfen, so gut es eben gehen mag, und in diesem Fall gehen wir vielleicht zugrunde. Weichen wir aber dieser kurzen Gefahr aus, dann sind wir später bestimmt verloren. Also, was meinst du, Freitag, sollen wir gehen?

Freitag: Ja, Herr, wir werden gehen, um die Fallgrube herzurichten.

Das sollte also am nächsten Vormittag geschehen. Früh am Morgen blätterte Robinson in seinen Büchern, um vielleicht irgend etwas zu ersehen, was man wissen muß, wenn man mit einem Tiger zu tun bekommt; irgendeinen Wink aus den Erfahrungen früherer erprobter Tigerjäger. Allein das Buch gab nicht die geringste Auskunft. Dagegen fand er etwas 300 anderes, was in diesem Augenblick seine stärkste Aufmerksamkeit fesselte: er fand nämlich eine Tabelle . . .

Johannes: Da hört doch aber alles auf! Wo er dem Tiger gleich in den Rachen laufen wird, liest er Tabellen!

Vater: Er las sie nicht nur, er vertiefte sich in sie mit größter Spannung. Denn aus dieser Tabelle ersah er, daß just an diesem Tag, kurz vor Mittag, eine vollständige Sonnenfinsternis stattfinden würde. Über diese Weltereignisse, welche genau vorausberechnet werden können, besitzt man nämlich Listen, Tabellen, die für viele Jahrhunderte von kundigen Astronomen aufgestellt worden sind. Und aus solcher Liste kann man ablesen, auf die Sekunde genau, wann für einen bestimmten Ort auf der Erde eine Sonnenfinsternis stattgefunden hat oder in Zukunft stattfinden wird.

Dietrich: Aber was konnte es ihm denn bei einer Tigerjagd helfen, wenn sich die Sonne verfinsterte?

Vater: Sehr viel! Denn er fand auch die Beschreibung einer solchen Finsternis und den Hinweis, daß die ganze Natur von dieser Erscheinung ergriffen wird. Angst und Schrecken verbreiten sich über alle Lebewesen; die Blumen schließen ihre Kelche, und die Tiere ziehen sich in ihre tiefsten Schlupfwinkel zurück, wo sie, von Entsetzen betäubt, so lange verharren, bis die Sonne wieder zu scheinen beginnt. Wird es dir jetzt begreiflich, was den Robinson so erregte, als ihm die Tabelle zu Gesicht kam?

Dietrich: Freilich! Er dachte sich, wenn sie die Fallgrube gerade in der Zeit der Sonnenfinsternis herrichteten, so hätten sie nichts zu fürchten. Denn der Tiger würde sich gewiß so lange verkrochen halten.

Vater: Robinson rief nun seinen Freitag herbei, um ihn in die bevorstehenden Dinge einzuweihen. Das war nun wieder keine leichte Aufgabe. Es wollte dem Gefährten auf keine Weise in den Verstand eingehen, daß man im voraus wissen könnte, wann mit der Sonne etwas vorgehen würde. Er hatte zwar selbst schon dergleichen gesehen, aber seine eigene Erklärung lautete ganz anders als die der Astronomen, nämlich so: der Mond will bisweilen die Sonne auffressen! Robinson hatte für heute nicht Zeit und Muße genug, um ihm den wahren Sachverhalt auseinanderzusetzen; daß der Mond, weit entfernt 301 von feindseliger Absicht, sich nur als ein dunkler Körper zwischen Erde und Sonne schiebe und zwar bei geeigneter Stellung derart, daß die ganze Sonnenscheibe für unser Auge verschwinde, was sich allerdings höchst selten ereigne, so daß ein Mensch hundert Jahre und darüber alt werden könne, ohne je eine vollständige Sonnenfinsternis zu erleben. »Die Hauptsache ist,« so erläuterte Robinson, »daß Sonne und Mond uns heute gegen den Tiger helfen werden. Wenn wir jetzt zu der Grube hingehen, um unsere Arbeit zu verrichten, so kommen wir gerade zum Anfang der Verfinsterung, und können sicher sein, daß uns der greuliche Unhold nicht belästigt.«

»Aber, Herr, wenn es ganz finster wird, so können wir ja nichts verrichten,« warf Freitag ein. Robinson belehrte ihn, daß es nicht völlig Nacht würde, nur tiefe Dämmerung, bei der man zwar einzelne Sterne am Himmel blinken sähe, aber doch noch eben genügend Licht behielte, um sich zurechtzufinden. Und damit zogen sie hinaus, der Grotte und dem Wald entgegen, schwer genug bepackt mit ihrem Waffen und Brettergerät, am Leitstrick das Büffelkälbchen, das sich gewaltig sträubte, wie in einer Vorahnung der Opferrolle, die ihm zugedacht war.

Das himmlische Ereignis war inzwischen Wirklichkeit geworden. Immer mehr, immer tiefer schob sich der dunkle Mond in die Sonnenscheibe, und nun begab sich in einem schaurig-schönen Augenblick das Wunder ohnegleichen: der Eintritt der Totalität, der vollständigen Verfinsterung, bei der die ganz schmal gewordene Sonnensichel wie in perlenschnurartigen Gebilden entzweiriß, während fliegende Schatten als wellenförmige Farbbänder über die Erde dahinrasten. Gleichzeitig entwickelte sich rings um die erloschene Sonne ein besonderes Feuerspiel, man nennt es die Korona, eine büschelförmig absonderlich verzweigte Hervorbrechung von Strahlen, die weit über den Bereich der Verdunkelung hinweg hinauslodern, und die in Wirklichkeit eine Ausdehnung erreichen, die zwanzigmal größer ist als der Durchmesser der ganzen Erde. Alles in allem ein Dunkelwerk und ein Feuerwerk so einziger Art, daß Robinson vielleicht darüber den Tiger vergessen hätte, wenn er nicht durch den Anblick der Fallgrube an seine keinen Aufschub duldende Arbeit erinnert worden wäre.

302 Schnell war die Bedeckung darübergelegt und mit wippendem Fuß ausgeprobt. Sie hätte zur Not das Gewicht eines Manns ausgehalten, mehr nicht. Unter der Wucht eines springenden Tigers mußte sie ganz gewiß bersten. Und nun kam das wahrhaft traurige Geschäft des Anbindens eines lebenden Hauswesens, das zwischen den erbarmungslosen Kiefern des Raubtiers verenden sollte. Robinson mußte eine Träne im Auge zerdrücken, als er sich zur Heimkehr wandte. Wirklich, das war ein Opfer, wie man es in Vorzeiten den heidnischen Göttern brachte, um sich dadurch von größerem Unheil loszukaufen.

Die Korona war verschwunden, und bald weitete sich von der entgegengesetzten Seite die Sonnensichel zur vollendeten Scheibe. Am Abend desselben Tags bis tief in die Nacht hinein lauschte Robinson nach der Richtung der Grotte und des Waldes. Nichts ließ sich hören, während ihn in der vorangehenden Nacht die heiser heulenden Brülltöne des schweifenden Tigers erreicht hatten. Sicher, so meinte Robinson, hat er sich schon in der tiefen Fallgrube gefangen, deren steile Wände sein Gewinsel ersticken, und Freitag war der nämlichen Ansicht. Zur Vorsicht beschlossen indes beide, noch zwei Tage zu warten und erst am übernächsten das Ergebnis zu erforschen.

Auch die nächste Nacht verstrich in vollkommener Stille, und am folgenden Morgen machten sie sich auf den Weg, mit befreitem Herzen, um sich an der ohnmächtigen Wut des furchtbaren Feindes zu weiden. Dem wollten sie nun in sicherer Stellung von oben her mit Steinwürfen den Garaus machen. Fiebernd vor Erwartung näherten sie sich dem Ort. Aber wer beschreibt ihr Erstaunen und ihre Enttäuschung, als sie alles genau so fanden, wie sie es verlassen hatten! Die Grube war leer! Die Belegung zeigte keine Spur einer Berührung und obenauf wimmerte das unverletzte Haustier, indem es den Kopf mit bittenden Blicken zu seinem Herrn drehte.

Allein eine ganz winzige Veränderung hatte sich dennoch ereignet, und Freitag war es, der sie mit seinen scharfen Sinnen zuerst wahrnahm. Einige Tage zuvor hatte nämlich ein heftiger Tropenregen die Erde erweicht, und auf der inzwischen völlig erhärteten Schlammkruste bemerkte Freitag in einiger 303 Entfernung den Abdruck tierischer Füße. Die Spur war so undeutlich und verschwommen, daß Robinson sie zuerst kaum zu erkennen vermochte. Und doch, sie war vorhanden, und nach längerer angestrengter Durchforschung der Fläche ergab sich zur Gewißheit: man hatte die Tigerspur gefunden! Sie führte vom Gehölz in der Richtung zu den Grotten, gar nicht sehr weit von der Fallgrube entfernt; ja an einigen Stellen ließ sich sogar erkennen, daß der Leib des bengalischen Katzentiers den Boden gestreift hatte.

Robinson war sofort entschlossen, die Spur bis ans Ende zu verfolgen. »Der Tiger befindet sich in der Höhle,« so rief er, »wohin er sich bei Beginn der Sonnenfinsternis, von wahnsinniger Angst gescheucht, verkrochen hat. Komm, Freitag, ihm nach!«

»Willst du kämpfen, Herr?«

»Auch das, wenn es nötig ist; das Beil zur Rechten, die Fackel zur Linken, vorwärts, Freitag!«

Mit erhobenen Leuchten drangen sie hinein. Und sie brauchten nicht lange zu suchen. Zehn Schritt vom Eingang lag der Tiger am Boden der Höhle, flach ausgestreckt, mit weitgespreizten Flanken bewegungslos – ein Kadaver! Hätte noch ein Funken von Leben in ihm geglommen, so wäre er beim plötzlichen Schein der Fackeln gewiß aufgeschnellt. Nichts dergleichen erfolgte. Robinson stieß mit dem Fuß kräftig gegen den gestreiften Leib, der nur noch durch seine ungeheure Größe, aber nicht mehr durch die Spannkraft der Muskeln an seine ehemalige Furchtbarkeit erinnerte.

Was da vorgegangen war, enthielt für die beiden Männer kein Rätsel mehr. Die Giftgase, welche die Höhle bis zur Brusthöhe eines Manns erfüllten, boten die genügende Erklärung. Tief geduckt, von Schrecken über das Naturereignis zusammengepreßt, war der Tiger hineingekrochen in den Bereich des Höhlengases, das ihn alsbald mit betäubendem Todeshauch überschwemmte.

Die Verlockung, den Leichnam hinauszubefördern und als glänzende Beute mitzunehmen, lag wohl nahe. Allein das war ganz aussichtslos, denn ihre Kraft würde für die Fortbewegung dieser Last kaum ausgereicht haben, und zudem durften 304 sie sich ja nicht längere Zeit am Boden zu schaffen machen, um nicht selbst von der lebentötenden Stickluft betäubt zu werden. Ja sogar der Versuch, dem toten Tiger etwas näher ins Angesicht zu leuchten, mißglückte, denn die Fackel verlosch augenblicklich, als Freitag sie ein wenig senkte. Bei so deutlichen Warnungszeichen blieb nichts anderes übrig, als den Ausgang ins Freie zu beschleunigen und den prachtvollen Bestienkörper dem Vergehen zu überlassen.

Ursula: Was war denn aus dem armen Büffelkälbchen geworden?

Vater: Das hatte Robinson schon losgebunden, während Freitag die Umgebung abstreifte, um die Spur im Erdreich aufzufinden. Das Haustier war natürlich durch Hunger sehr geschwächt, vermochte aber doch noch in langsamem Trab den häuslichen Stall zu erreichen. Als Robinson später ihm reichliches frisches Futter aufschüttete, sprach er zu seinem Genossen:

»Gestehe nur, Freitag, du hast gewaltige Angst vor dem Tiger gehabt. Du brauchst dich deswegen gar nicht zu schämen, denn mir selbst ist es, offen gesagt, genau so ergangen.«

»Oh, Herr,« sprach Freitag, »ich habe viel gezittert in diesen Tagen. Aber mehr noch vor dem Luftballon als vor dem Tiger. Und die allermeiste Angst habe ich vor der Sonnenfinsternis ausgestanden.« 305


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