Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Elfter Nachmittag

Peter: Ich wollte dich gern etwas fragen, Vater. Wird es denn auf Robinsons Insel gar nicht Winter?

Johannes: Winter? Unsinn! Wie soll es denn in solch einer heißen Gegend schneien?

Dietrich: Von Schneefall hat Peter ja gar nicht gesprochen. Es kann doch auch kalt sein, ohne daß es schneit. Aber ich glaube nicht, daß das in jener Gegend vorkommt.

Vater: Wir wollen uns die Angelegenheit einmal richtig überlegen. Der Wechsel von Winter und Sommer ist gerade solch eine merkwürdige Erscheinung auf unserer Erde wie die Tatsache, daß Tag und Nacht einander ständig ablösen. Woher dies letzte kommt, weißt du natürlich, Johannes.

Johannes: Gewiß. Wir haben ja auch schon neulich darüber gesprochen. Durch die Drehung der Erde um ihre Achse.

Dietrich: Wobei jeder Punkt auf der Erde bald der Sonne zu und bald von ihr abgekehrt ist.

Vater: Das wäre also klargestellt und ist so einfach, daß auch Ursula es verstanden haben wird.

Ursula: Natürlich!

Vater: Nun aber zu den Jahreszeiten! Wie ist es mit deren Entstehung?

Johannes: Ich weiß es. Die Erde dreht sich doch um die Sonne, aber nicht im Kreis, sondern in einer langgestreckten Schleife.

Dietrich: Die heißt Ellipse.

Johannes: Ach ja! Die Sonne steht nun nicht in der Mitte dieser Ellipse, sondern mehr an der einen Seite. Deshalb ist die Erde, wenn sie rumläuft, bald in der Nähe der Sonne 131 und bald sehr weit von ihr. Dann ist es Winter, im anderen Fall Sommer.

Dietrich (lachend): Ach, lieber Johannes, in der Erdkunde weißt du ja ganz gut Bescheid, aber in der Himmelskunde offenbar noch nicht. Von dem, was du eben erzählt hast, ist allein richtig, daß die Sonne nicht im Mittelpunkt der Erdbahnellipse steht. Aber die Folgerung ist ganz falsch. Im Gegenteil haben wir bei uns gerade Winter, wenn wir uns der Sonne näher befinden, und Sommer haben wir in Sonnenferne.

Johannes: Ach Unsinn, Dietrich, das kann doch nicht stimmen! Wie ist es denn, Vater?

Vater: Ich muß dir einen Schmerz zufügen, lieber Johannes, indem ich Dietrichs Angaben bestätige. Der anscheinende Unsinn ist die Wirklichkeit. Die durchschnittliche Entfernung der Erde von der Sonne beträgt nicht weniger als hundertfünfzig Millionen Kilometer. Der Unterschied des Abstands bei Sonnennähe und Sonnenferne aber ist nur lumpige fünf Millionen Kilometer. Die spielen für die Reise der Licht und Wärmestrahlen von dem Tagesgestirn zu uns gar keine Rolle, da diese Reise durch den leeren Weltenraum hindurchgeht, wo kein Hindernis vorhanden ist. Wenn die wärmenden Strahlen aber der Erde schon sehr nahe gekommen sind, dann werden die Strahlen plötzlich stark gebremst, und zwar durch den Luftmantel, der ja unsere Erde umkleidet. Für die Erwärmung, welche die Strahlen uns, die wir auf der Oberfläche der Erde wandeln, bringen können, hängt alles davon ab, wie dick die Luftschicht ist, welche sie durchfallen müssen, um zu uns zu gelangen. Wenn die Wärmestrahlen einen langen Weg durch die Erdluft zurückzulegen haben, dann spüren wir nicht mehr viel von ihrer wohltätigen Kraft, und es ist Winter.

Johannes: Aber die Luftschicht um die Erde wird doch nicht bald dicker und bald dünner? Die bleibt doch immer gleich stark.

Vater: Das schon! Aber stelle dir einmal vor, du hättest einen kugelrunden Kuchen, der innen einen gleichfalls kugelrunden Kern aus Schokolade birgt. Dann liegt der Kuchen als Schicht überall um die Schokolade geradeso wie die Luft um 132 den Erdkörper. Und nun nimmst du eine Nadel und stichst sie in den Kuchen so tief hinein, daß die Spitze gerade die Schokolade erreicht. Wenn du genau in der Richtung nach dem Mittelpunkt der Kugel zu stichst, dann brauchst du die Nadel nicht tief einzubohren, denn du erreichst die Schokoladenkugel sogleich, nachdem du die wirkliche Dicke der Kuchenschicht überwunden hast. Wenn du aber in irgendeiner anderen Richtung hindurchstichst, so mußt du die Nadel immer tiefer einführen, um die Schokolade zu erreichen.

Johannes: Aha! Und die Sonnenstrahlen fallen wohl in wechselnden Richtungen auf?

Vater: Ja, so ist es tatsächlich. Überall, wo Winter herrscht, da befindet sich die betreffende Gegend in einer solchen Lage zur Einfallrichtung der Sonnenstrahlen, daß diese sehr lange durch die Kuchen- oder Luftschicht hindurchreisen müssen und deshalb nicht mehr ordentlich wärmen können, wenn sie die Oberfläche der Schokoladen oder festen Erdkugel erreicht haben, auf der wir uns tummeln. Während des Sommers findet in derselben Gegend ein kürzerer Einfall statt, und dazu kommt noch, daß auch die Dauer der Zeit wechselt, während der die Sonne das betreffende Stück der Erde bescheint. Zuzeiten beschreibt sie nur einen kleinen Bogen über dem Horizont, geht also spät auf und früh unter. Zu anderen Zeiten läuft sie hoch über die Himmelsknppel und scheint lange nieder. Das trifft immer mit geringer Dicke der zu durchfallenden Luftschicht zusammen; daher die Sommerhitze. Diese Unterschiede nehmen aber aus Gründen, die ihr verstehen werdet, wenn ihr erst Primaner seid wie Dietrich, immer weiter ab, je mehr man sich dem Äquator nähert. Dort sind alle Tage des Jahrs fast gleich lang, und der besonders günstige Einfallwinkel der Sonnenstrahlen verändert sich nur äußerst wenig.

Johannes: Da gab es also auf Robinsons Insel gar keinen richtigen Winter?

Vater: Nein. Aber trotzdem wechselten die Jahreszeiten. Bald nachdem Robinson seine Gemsbüffelchen eingehegt hatte, begannen nämlich Tag für Tag furchtbare Regengüsse niederzufallen. Das Wasser strömte vom Himmel herunter, als hätten alle Schleusen des Firmaments sich geöffnet, als 133 sollte eine neue Sintflut hereinbrechen. Wochenlang ging es so fort mit geringen Pausen, die Robinson rasch ausnutzen mußte, um Mundvorrat herbeizuholen. Der Aufenthalt im Freien war ganz unmöglich, und Robinson schätzte sich glücklich, daß er die Höhlung in der weichen Felswand, an die seine Wohnungshecke sich lehnte, schon vorher zwischen anderen Arbeiten zu vertiefen begonnen hatte. Die Möglichkeit hierzu bot ihm jener spitze, meißelartige, harte Stein, den er gefunden und auf den er mit seinem Steinbeil schlug.

Als die ersten schweren Regengüsse niedergefallen waren, arbeitete er um so fleißiger an seinem Werk, und eine gnädige Fügung wollte es, daß nach Durchschlagen einer nicht allzu dicken Wand eine natürliche Höhlung, so geräumig wie ein Zimmer, mit hoher gewölbter Decke, sich in dem Felsen auftat. Hier drinnen wohnte Robinson nun gerade wie ein Höhlenmensch der Vorzeit, nur begünstigt durch die warme Luft, die auch dem regenreichen Tropenwinter eigen ist, wenngleich infolge der immerwährenden schweren Bewölkung auch einige kältere Tage vorkommen. Alle seine Vorräte, Früchte, Kokosschalen mit Milch, auch vorläufig das Heu hatte er hier untergebracht. Den Tieren in der Umzäunung baute er ein Laubdach, unter das sie bei besonders starkem Regen flüchteten. Sonst machten sie sich nicht viel aus dem niederströmenden Wasser. Die Pflanzen aber tranken die Feuchtigkeit durstig auf, und so hellgrün schimmernd und prächtig wuchernd hatte Robinson den Wald noch nie gesehen wie während und kurz nach dieser Regenzeit.

Eines Spätabends, als es nicht mehr regnete, wandelte unseren Freund die Lust an, den Berg auf seiner Insel zu besteigen . . .

Johannes: Ach entschuldige, lieber Vater, wenn ich dich mit einer Frage unterbreche, da du gerade eine Bergbesteigung erwähnst.

Vater: Gern, lieber Johannes, wenn du nur etwas Gescheites zu fragen hast.

Johannes: Ich hoffe, du wirst es nicht dumm finden, wonach ich mich erkundigen will. Woher die Jahreszeiten entstehen, hast du uns ja eben so schön erklärt. Nun gibt es aber doch noch andere merkwürdige Wärmeunterschiede auf der Erde, 134 die ich mir nicht erklären kann. Als wir in Tirol waren, haben wir ja selbst gesehen, daß unten alles grünte und blühte, während oben die Berge mit dickem Schnee bedeckt waren. Und das soll ja auch ebenso bei hohen Bergen sein, die nahe dem Äquator liegen, wie zum Beispiel beim Chimborasso. Wie ist das bloß möglich in der heißen Gegend?

Vater: Eine Unterbrechung durch eine solche Frage ist mir sehr willkommen. Gibst du mir doch Gelegenheit, euch eine wirklich sehr merkwürdige geologische Erscheinung zu erklären. Nach dem, was du vorhin über die Entstehung der Jahreszeiten vermutetest, mußtest du nun eigentlich auch darauf hinweisen, daß die Spitze des Chimborasso der Sonne näher ist als sein Fuß, und dich doppelt über die Vereisung des Gipfels wundern.

Johannes: Na, Vater, wenn die fünf Millionen Kilometer keine Rolle spielen, die die Erde bei ihrer Drehung der Sonne näher kommt, dann werden die paar tausend Meter, die der Berg hoch ist, wohl erst recht nichts ausmachen. Aber wunderbar bleibt's trotzdem.

Vater: Ganz gewiß! Doch glücklicherweise bin ich in der Lage, euch über die Gründe aufzuklären. Wir wollen einmal wieder, um die Sache richtig anzufassen, geschwind auf den Mond springen, wo wir ja schon einmal verweilten, als wir von der kurzen Dämmerung am Äquator sprachen. Da habe ich euch schon darauf aufmerksam gemacht, daß der Mond keine Atmosphäre, keinen Luftmantel hat. Und deshalb gibt es nun auf diesem Gestirn ganz tolle Wärmeunterschiede. Wenn an einem Punkt der Mondoberfläche die Nacht herrscht, so ist es dort so entsetzlich kalt, daß es über alle unsere Begriffe hinausgeht. Die Temperatur sinkt unter zweihundert Grad Kälte hinunter.

Peter: Wie schrecklich! Nur gut, daß dort niemand lebt!

Vater: Das wäre unter solchen Umständen gar nicht möglich, denn der menschliche Körper würde in einem Augenblick zum Eiszapfen erstarren. Es ist die Kälte des leeren Weltenraums, die auf der dunklen Mondoberfläche herrscht. Sobald aber die Sonne jenen Punkt wieder trifft, so erwärmt er sich sehr geschwind, und schon nach wenigen Stunden würde 135 dort nicht nur alles Wasser, wenn es vorhanden wäre, ins Kochen geraten, sondern selbst Blei würde zu schmelzen beginnen. Prasselt doch die ganze Heizkraft der Sonne ungehindert hernieder und erzeugt mehrere hundert Grad Hitze. Nun sage mir, Dietrich, warum auf der Erde derartige schreckliche Temperaturgegensätze nicht herrschen?

Dietrich: Das ist ja nach dem, womit du deine Erklärung begonnen hast, ganz klar! Weil die Erde von Luft umgeben ist.

Vater: Diese hüllt unseren Heimatstern ein wie ein Pelz. Er hält die Erde in der Nacht und im Winter schön warm, so daß sie nicht die ganze, von der Sonne empfangene Wärme geschwind in den Weltenraum ausstrahlt und dessen Kälte annimmt.

Dietrich: Und er schützt auch vor allzu großer Hitze!

Vater: Freilich, denn die Atmosphäre schluckt eine ganze Menge der Sonnenwärme ein. Sie wirkt also wie ein richtig eingestelltes Ventil an der Zentralheizung in unseren Zimmern, indem sie es weder zu warm noch zu kalt auf dem Erdboden werden läßt. Aber das gilt doch alles nur für die Tieflande und die Täler. Wie ist's denn nun oben auf dem Chimborasso, der ungefähr sechstausend Meter hoch emporragt?

Dietrich: Da wird der Pelz wohl nicht mehr so dick sein, denn die Luft wird ja dünner, je weiter man nach oben kommt.

Vater: Sie hört schließlich sogar ganz auf; allmählich, vielleicht in sechzigtausend bis siebzigtausend Metern Höhe – wir wissen das nicht ganz genau – geht unsere Atmosphäre in den leeren Weltenraum über. Schon in fünftausend Metern Höhe ist die Luft nur noch halb so dicht wie hier unten.

Dietrich: Da strahlt der Boden auf dem Berggipfel also auch viel mehr Wärme aus!

Vater: Richtig! Doch darfst du nicht vergessen, daß die Sonne auch mehr wärmt. Wenn man im prallen Sonnenschein auf einem Gletscher steht, so ist es da furchtbar heiß, und der Schnee beginnt überall zu tauen. Aber die Nächte und der lange Winter bringen es mit sich, daß die Sonne viel längere Zeit einen solchen Berggipfel nicht bescheint, als sie ihm ihre 136 Strahlen zusendet. So kommt's denn niemals über ein ganz oberflächliches Auftauen der ungeheuren Schnee- und Eismassen hinaus. Immer wieder bricht schwere Kälte herein, und die Vergletscherung wächst.

Johannes: Danke schön, lieber Vater, jetzt weiß ich das doch auch. Aber nun fahre bitte mit dem fort, was du uns erzählen wolltest. Weißt du noch, wo du stehengeblieben bist?

Vater: Ja, was war es denn?

Peter: Robinson ging eines Abends spät auf den Berg!

Vater: Ja richtig! Er ging hinauf, um von dort aus den Sternenhimmel zu betrachten. Eine wunderbare Klarheit begünstigte jetzt am Ende der Regenzeit den Fernblick nach dem Firmament, die schmale Sichel des Monds im Osten erglänzte lieblich, aber doch nicht lichtstark genug, um die Gestirne zu überstrahlen, die bis zur siebenten Größenklasse hinab dem freien Auge erkennbar blieben.

Peter: Was heißt das: Größenklasse?

Vater: So bezeichnen die Sternkundigen, die Astronomen, die Unterschiede in den Helligkeiten der Sterne. Die allerhellsten Lichtpunkte am Himmel werden als Sterne erster Größe hervorgehoben, wie zum Beispiel die beiden Sterne, die ihr gerade jetzt, wo der Abend über meiner heute etwas verspätet begonnenen Erzählung schon herabgesunken ist, über unserm Garten erblicken könnt.

Johannes: Ist das nicht der »Jakobsstab« da drüben?

Vater: Ganz recht, lieber Johannes. Es ist dir also schon bekannt, daß man der leichteren Übersicht wegen die Gruppen der Sterne in Figuren zusammenfaßt und diesen bestimmte Namen erteilt. Diese drei hellen Sterne dort, die man leicht auseinanderkennt, wenn man sie einmal aufmerksam betrachtet hat – denn sie stehen in ganz gleichem Abstand und in gerader Linie ausgerichtet, wie die Soldaten in der Front – heißen also der Jakobsstab.

Johannes: Und diese sind alle Sterne erster Größe?

Vater: Nein, Johannes, sie alle drei gehören trotz ihres Glanzes zur zweiten Größenklasse. Sie werden überstrahlt durch die zwei anderen Sterne oben und unten, die wiederum mit dem Jakobsstab zusammen eine ganz regelmäßige Figur 137 bilden, nämlich zwei ganz gleiche und darum höchst auffallende Dreiecke. Und die beiden Sterne an den Spitzen der Dreiecke sind solche ungeheure lichtstarke Sonnen, die man als Sterne erster Größe bezeichnet.

Johannes: Sonnen sind das?

Vater: Ja, außer den vier oder fünf Planeten unseres Sonnensystems, die wir gleichzeitig am Himmel sehen können, sind alle übrigen Sterne, die wir dort erblicken, Sonnen anderer Welten. Diese mögen auch Planeten haben, aber sie sind mit ihrem von den Sonnen erborgten Licht viel zu wenig strahlkräftig, als daß wir sie über die ungeheuren Entfernungen hinweg wahrnehmen könnten. Jene beiden Sonnen, auf die ich eben hinwies, heißen Rigel und Beteigeuze.

Johannes: Wer hat ihnen denn solch komische Namen gegeben?

Vater: Die Araber, die schon lange vor unseren heimischen Gelehrten die Sternkunde gepflegt haben. Die ganze schöne Leuchtfigur von Rigel bis Beteigeuze mit dem Jakobsstab in der Mitte nennt man das Sternbild des Orion, nach einem jagdeifrigen Helden des Altertums, der von den sagenhaften Göttern nach seinem irdischen Tod in den Himmel versetzt wurde, um dort in Sternenglanz ein ewiges Leben zu führen.

Johannes: O, es gibt ja auch ein Sternbild des Hundes, da kann man sich ja vorstellen, daß der Orion mit dem Hund dort oben lustig weiterjagt!

Vater: So haben es sich die Alten auch tatsächlich gedacht. Sie nannten deshalb auch den Hauptstern im Hundsbild »Sirius«, weil Orion, als er noch auf Erden pirschte, seinen großen Jagdhund Seirios gerufen hatte. Und auch dieser Stern Sirius gehört zur ersten Größenklasse.

Johannes: Hat denn nun wohl der Robinson auf seiner Insel dieselben Sternbilder gesehen wie wir hier?

Vater: Ich möchte deine Frage nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten, sondern zuerst eure eigenen Mutmaßungen darüber hören. Was meinst du wohl, Johannes?

Johannes: Ich sollte meinen, er hätte ganz etwas anderes gesehen. Er war ja nun so weit weg von Deutschland, warum soll er denn da dasselbe sehen wie wir?

138 Dietrich: Ach, Johannes, du bedenkst wohl nicht die ungeheure Entfernung der Sterne von der Erde! Die Erde ist ja nur wie ein Pünktchen im Weltraum, und wo man sich gerade auf diesem Pünktchen befindet, das kann doch nichts ausmachen; der Himmel ist doch überall gleich weit von uns.

Johannes: Das schon; aber die Erde ist doch nun einmal eine Kugel, und wenn da einer etwa auf der entgegengesetzten Seite steht, kann er doch unmöglich durch die Kugel hindurchgucken, um gerade das zu sehen, was uns sichtbar ist.

Vater: Ihr habt alle einerseits recht, andererseits unrecht. Am nächsten bist wohl du, Johannes, diesmal der Wahrheit gekommen, obschon du etwas sehr Wichtiges übersiehst, nämlich, daß die Erde sich dreht und dadurch jeden Betrachter in sehr verschiedene Stellungen zum Himmel bringt; in sehr verschiedene, aber freilich nicht in alle erdenklichen. Denn die Erde dreht sich nicht regellos, sondern sie hält die Richtung ihrer Drehachse fest, dergestalt, daß ihre Achse immer nach einem bestimmten Punkt des Himmels zeigt. Dadurch wird der Erde ein für allemal eine bestimmte Stellung im Weltall zugewiesen, und hiermit hängt es zusammen, daß der Anblick des gestirnten Himmels sich allerdings beträchtlich ändern kann, wenn man seinen Wohnsitz wechselt, wenn man etwa auf sehr erhebliche Strecken von Norden nach Süden reist. Alsdann verschwinden viele Sternbilder aus dem Gesichtskreis, andere, im Norden nie erblickte treten hervor, wie zum Beispiel vier Sterne, die das wundervolle Kreuz des Südens bilden, während eine größere Anzahl von Bildern zwar seine Lage am Himmel verändert, aber trotz der Südreise des Beobachters sichtbar bleibt. Robinson suchte den ihm wohlbekannten Polarstern . . .

Johannes: Ja, wie sucht man den denn?

Vater: Wenn ich dir das ein einziges Mal gezeigt habe, kannst du es nie mehr vergessen. Sieh dort über uns am Abendhimmel das Sternbild des Großen Bären, leicht kenntlich an seiner Figur, die an einen Wagen mit Deichsel erinnert. Nun verbinde in Gedanken die zwei äußersten hellen Sterne, sozusagen die Hinterräder, durch eine gerade Linie, verlängere diese Linie fünfmal um sich selbst, so stößt du auf den Polarstern – dort!

139 Johannes: Und fand ihn denn Robinson ebenso?

Vater: Nein, er konnte ihn nicht finden, denn der Polarstern kann auf der Südinsel, auf der sich Robinson befand, niemals sichtbar werden. Den Orion dagegen konnte er wunderschön wahrnehmen, und dies gewährte ihm einen eigentümlichen Trost. Er sagte sich nämlich: vielleicht stehen jetzt meine geliebten Eltern in Hamburg am Fenster und betrachten dieselben Sterne! Das nämliche Sternbild, das ich zu Hause so oft gleichgültig angesehen habe, und das mir jetzt zu einem Wahrzeichen wird! Zwischen mir und meinem Heimathaus ist jede Verbindung abgeschnitten bis auf diese eine – unsere Augen, getrennt durch Hunderte von Meilen auf der Erde, sind verbunden durch einen Blickpunkt am Himmel.

Das war nun freilich eine Phantasie, bei der er noch nebenbei übersah, daß zwischen seiner Insel und Hamburg ein Zeitunterschied von sechs bis sieben Stunden besteht. Wenn er am Abend nach den Sternen Ausguck hielt, war es in Hamburg früher Nachmittag, und es war somit höchst unwahrscheinlich, daß seine Eltern um diese Zeit am Fenster standen, um Sterne zu bewundern. Hingegen hatte Robinsons Phantasie eine ausgezeichnete Beziehung zur wirklichen astronomischen Wissenschaft, und es verlohnt sich wohl, ihr eine Minute des Nachdenkens zu widmen.

Denn wenn zwei Beobachter gleichzeitig ein und denselben Leuchtpunkt am Himmel betrachten, so können sie dadurch tatsächlich mancherlei Wichtiges und Wissenswertes herausbekommen. So zum Beispiel können sie daraus ermitteln, wie weit einzelne Sterne von uns entfernt sind.

Um euch dies klarzumachen, zünde ich hier eine Kerze an und halte sie mit ausgestrecktem Arm vor meinen Kopf. Blickt auf meine Augen, Kinder, und ihr werdet erkennen, daß die Stellung beider fast dieselbe ist. Bringe ich die Kerzenflamme allmählich immer näher an mein Gesicht, so stellen sich meine Augen, indem ich die Flamme anschaue, immer schräger; jetzt bin ich mit der Flamme fast in der Nähe der Stirn, und nun haben sich meine beiden Augen, stark schielend, das linke nach rechts, das rechte nach links eingestellt, als ob sie an der Nasenwurzel zusammentreffen wollten. Warum tun das die Augen?

140 Johannes: Na, wenn sie beide nach demselben Punkt blicken, und der Punkt kommt immer näher, dann müssen sich doch die Richtungen der Blicke immer mehr kreuzen.

Vater: Und die Blicklinien müssen immer mehr gleichgerichtet werben, je weiter sich der Leuchtpunkt entfernt. Wenn ich also den Unterschied der Blickrichtungen genau messen kann, und wenn ich dazu den Abstand meiner zwei Augenpupillen genau kenne . . .?

Johannes: So müßte man danach herauskriegen können, wie weit die Flamme vom Gesicht entfernt ist.

Vater: Seht, Kinder, darin steckt eine große Hauptsache der Astronomie: die Unterschiede in den Blickrichtungen messen! Die Herren Gelehrten drücken das so aus: wir messen die »Parallaxe«! Das klingt nun freilich sehr professorenhaft, ist aber im Grund wirklich gar nichts anderes als diese Alltäglichkeit mit der Kerzenflamme und meinen zwei Augen.

Wir gehen nun einen ganz kleinen Schritt weiter. Unser Robinson auf der Insel soll mein rechtes Auge vorstellen, Robinsons Vater in Hamburg mein linkes Auge, und beide blicken nach dem hellen Stern Rigel im Orion, der also jetzt die Kerzenflamme vorstellt. Wenn beide lange Fernrohre haben, so können sie den Stern sogar bei Tage sehen, und wenn beide nun genau aufzeichnen, welche Richtung sie den Rohren geben mußten, um scharf nach dem Stern zu schauen, so müßte sich aus beiden Beobachtungen zusammengenommen ausrechnen lassen . . .?

Johannes: Wie weit der Stern Rigel von uns entfernt ist.

Vater: Und so ähnlich wird eine Sternweite auch wirklich ausgerechnet, wenn auch die Sache selbstverständlich sich noch etwas verwickelter gestaltet, sobald wirkliche Astronomen an diese Arbeit gehen. Freilich ergibt sich auch eine Vereinfachung: man braucht nämlich gar nicht zwei verschiedene Beobachter, sondern ein einziger genügt. Der muß aber von einer Beobachtung zur anderen sehr weit reisen.

Peter: Noch weiter als von Hamburg nach Robinsons Insel?

Vater: Bedeutend weiter. So weit, daß alle Entfernungen auf der Erde dagegen Katzensprünge sind. Er muß 141 vom Sommer bis in den Winter reisen, denn dann ist er mit der Erde halb um die Sonne gereist und befindet sich nun viele Millionen Meilen vom Ausgangspunkt entfernt. Hat er aber am Anfang der Reise, also im Sommer, und am Endpunkt der Reise, also im Winter, gut die Richtung der Blicklinien gemessen, so kann er sich jetzt ruhig an seinen Schreibtisch niedersetzen und beginnen auszurechnen, wie weit so ein Fixstern entfernt ist.

Dietrich: Dazu muß aber wohl verdammt viel Mathematik gehören. Ich könnte es nicht.

Vater: Tröste dich mit den Astronomen, Dietrich, die können's auch nicht immer, obschon sie großartig rechnen. Denn die meisten Fixsterne sind so fabelhaft weit entfernt, daß die Blicklinien in der Richtung zu ihnen immer dieselben bleiben, immer parallel. Wir sind ja doch bloß Menschen, unsere feinsten Beobachtungswerkzeuge sind doch nur Menschenwerk, also unvollkommen. Und diesen Mängeln gegenüber verhalten sich viele Sterne so, als wären sie von uns unendlich weit entfernt. So schön sie auch leuchten, hüllen sie sich doch für uns in ein undurchdringliches Geheimnis.

Robinson ging indessen, während er zu den Sternen schaute, das alte Lied durch den Kopf: »Weißt du, wieviel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt?« Er hätte es gern gewußt, und da er Zeit hatte, so begann er zu zählen, aber schon nach wenigen Minuten gab er dies Vorhaben auf, denn er vermochte keine Ordnung in seine Umschau zu bringen, und die Zahlen verwirrten sich. Gewiß, so dachte er, ist die Anzahl der sichtbaren Sterne unermeßlich.

Johannes: Da hatte er sicherlich recht.

Vater: Nein, er hatte unrecht; denn die Gesamtzahl aller Sterne, die wir mit freiem Auge am ganzen Himmelsglobus wahrnehmen können, erreicht nicht einmal die sechstausend; darunter sind zwanzig Stück von der ersten Größenklasse. Aber von einigen hat man wirklich herausbekommen, wie weit sie von uns abstehen, nämlich der nächste mehr als vier Lichtjahre. Das heißt, der Lichtstrahl, der in jeder Sekunde einen Weg zurücklegt mehr als siebenmal so lang wie der ganze Erdumfang, braucht vier Jahre, um die Reise von der Erde zu 142 solchem Stern zurückzulegen. Das heißt aber auch noch etwas anderes. Würde ein äußerst scharfsichtiges Wesen von diesem Stern aus die Erde erblicken, und alles, was auf ihr vorgeht, so würde dieses Wesen heute nicht die Vorgänge von heute schauen, sondern die vor vier Jahren. Nun sind aber andere Sterne noch viel, viel weiter entfernt und unter ihnen sicherlich einige, deren Bewohner beim Blick auf die Erde heute die Kreuzzüge wahrnehmen würden oder die Völkerwanderung oder den Trojanischen Krieg.

Peter: Sind denn wohl dort auf den Sternen auch Menschen?

Vater: Menschen wie wir sicherlich wohl nicht, lebende Wesen vielleicht. Wir können darüber nur ganz unbestimmte Vermutungen hegen, und wir tun gut, diese Vermutungen auf die Planeten unseres Sonnensystems zu beschränken, nicht aber auf die Fixsterne auszudehnen, welche selbst Sonnen sind und an ihrer Oberfläche viele Tausende von Hitzegraden entwickeln. Von diesen Wärmeleistungen gibt uns Menschen allerdings lediglich unsere Sonne wahrnehmbare Kunde; man könnte hinzufügen: auch von der Lichtausstrahlung. Denn mit der Helligkeit der Sterne, soweit sie uns trifft, ist es eigentlich nicht weit her, mag auch der Sternenglanz in klaren Nächten noch so zauberhaft auf uns wirken. Tatsächlich sind selbst die Sterne erster Größe für uns äußerst lichtschwach, und nicht zwanzig Stück, sondern vierzigtausend Millionen müßten am Himmel stehen, um uns die eine Sonne zu ersetzen. Ja, es läßt sich sogar ein gewisser Sternersatz denken, der von höchst lichtschwachen Quellen herrührt, und unserem Robinson war es beschieden, noch in derselben Nacht derartiges zu erleben.

Dietrich: Aber, Vater, so etwas ist doch gar nicht möglich!

Vater: So sollte man meinen. Nun begab es sich aber, daß Wolken heraufzogen, welche die ganze Sternenherrlichkeit bedeckten und verdunkelten. Robinson erhob sich deshalb, um sich in tiefer Finsternis auf den Heimweg zu tasten. Da plötzlich sah er einen Stern fliegen.

Dietrich: Das wird wohl eine Sternschnuppe gewesen sein.

Vater: So dachte auch er im ersten Augenblick. Allein eine Sternschnuppe verfolgt einen unabänderlich geraden Weg, 143 während dieses Sternchen in krausen Schleifen hin und her irrlichterte. Und bald noch eins und noch eins, bis die Sterne zu Dutzenden über ihm glitzerten und ihm das Bild eines von tanzenden Gestirnen erhellten Firmaments vortäuschten.

Dietrich: Ich möchte beinahe sagen, das könnten Leuchtkäfer gewesen sein; aber die glimmen doch viel zu schwach, um solch eine Täuschung hervorzubringen.

Vater: Die bei uns heimischen können das freilich nicht. Allein in den Tropen lebt eine glänzende Art, Cucujo genannt, die sogar bei sehr erfahrenen Tierforschern diese Täuschung hervorrief, so daß sie bisweilen wirklich nicht wußten, ob sie den Sternenhimmel vor sich hatten oder wimmelnde Insekten. Robinson glaubte zuerst an eine Überreizung seiner Augennerven, ja er fing an, sich mit einer Sinnesverwirrung zu ängstigen, bis er bei einer unwillkürlichen Armbewegung so ein Sternchen in die Hand bekam; einen Käfer von Halbfingerlänge, aus dessen Halsschild der Lichtstrahl hervorbrach. Und es bedurfte erst dieses handgreiflichen Beweises, um ihn darüber aufzuklären, daß er eine Erscheinung, die sich wenige Schritte von ihm abspielte, fälschlich bis ans Firmament verlegt hatte. Woraus also hervorgeht, daß selbst ein so heller Stern wie der Sirius sich unter Umständen durch einen Käfer ersetzen läßt. Hier wiegt eine Lichtleistung die andere auf, die des Leuchtkäfers in direkter Nähe des Auges, und die des Sirius, der von uns fünfhunderttausendmal so weit absteht wie die Sonne. 144


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