Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant - Teil 1
Balduin Möllhausen

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Zweiundzwanzigstes Capitel. In der Bibliothek.

In der Bibliothek des Herrn Professors stand noch Alles auf seiner gewohnten Stelle. Die Bücher spreizten sich gravitätisch auf ihren dienstpflichtigen Brettern; die mit mancherlei Nummern und lateinischen Namen beschriebenen Schädel schauten mit der tadellosen Standhaftigkeit eines wohlgedrillten Grenadiers geradeaus in die emporsteigende Morgensonne hinein, und endlich bot auch das zähnefletschende Orang-Utang-Gerippe ein so getreues Portrait von Geduld und Beharrlichkeit, wie nur je eins sein Entstehen dem übervollen Kopfe eines überspannten, nach Effecten haschenden Künstlers verdankte.

Von Tischen, Fensterbrettern, Stühlen und gebleichten Knochen war bereits in gewohnter Weise sehr sorgfältig der Staub abgewedelt worden; nur das Klavier bedeckte noch eine graue Lage, gerade, als ob der Staub des ganzen Hauses eine besondere Vorliebe für die blank polirte Platte gehegt hätte, auf welcher er nicht Gefahr lief, an jedem neuen Morgen mittelst Flederwisch und Handfeger unbarmherzig aufgestört und vertrieben zu werden.

Thatsache ist, daß dem alten griesgrämigen Aufwärter des Herrn Professors nicht ausdrücklich anbefohlen worden war, auch das Instrument in seinen gnädigen Schutz zu nehmen. Da aber außer ihm selber kein dienstbarer Geist das geheiligte Tusculum betreten durfte, so konnte es kaum überraschen, daß der kostbare Flügel sich in einer Verfassung befand, über welche eine ordnungsliebende Frau unstreitig von Krämpfen befallen worden wäre. Bei dem gefühllosen Aufwärter dagegen, welcher durch sein ganzes Aeußere und Wesen nicht wenig an den wurmstichigen Pergamentdeckel eines altehrwürdigen Folianten oder vielmehr an ein bewegliches, von einem Jahrhundert zernagtes Lesepult erinnerte, stand eine derartige sittliche Entrüstung natürlich nicht zu befürchten. Im Gegentheil, es lag sogar eine gewisse Schadenfreude in seinen boshaft schielenden Blicken, wenn er beobachtete, wie die Staubschicht auf dem Instrument von Tag zu Tag anwuchs, so daß man zuletzt ganz bequem und leserlich mit dem Finger in dieselbe hineinschreiben konnte. Er verachtete nämlich das arme Instrument aus vollster Seele, jedoch nicht etwa, weil so viel schöne Musik in demselben verborgen war, die ihn schon manches liebe Mal in seinem nicht weit abwärts gelegenen Stübchen recht behaglich in den sanftesten Schlummer gelullt hatte, sondern er verachtete es, weil der Professor täglich betheuerte, daß ihm das Ding sehr im Wege sei und er es, wenn er nicht das Gerede der Leute fürchtete, sammt der lärmenden Klavierlehrerin über alle Berge schicken würde. Was aber dem Herrn Professor recht war, das war seinem getreuen Famulus billig, und was der Herr Professor nicht liebte, das haßte sein Famulus gründlich. Der sicherste Beweis hierfür war, daß Letzterer einen alten, abgelegten Schädel, welchem die Gaumenknochen fehlten, zu seinem Tabakskasten degradirt, ferner, zum Zeichen seiner Menschenfeindlichkeit und daß er für Niemand, außer für die Besucher seines Herrn zu sprechen sei, statt seines Namens, mit Kreide drei Kreuze auf seine Stubenthür geschrieben hatte.

Ob der Staub auf dem Flügel dem Herrn Professor unangenehm war oder ihn erfreute, ließ sich nicht genau feststellen. Gewiß ist nur, daß er ihn bemerkte und sich veranlaßt fühlte, ganz gegen seine Gewohnheit, im Vorbeigehen öfter mit der Fingerspitze einige Worte in denselben hineinzuschreiben.

»Anna Werth ist heute nicht gekommen,« las man zum Beispiel gleich vorne auf dem Verschlußbrett.

Er hatte es am ersten Tage geschrieben, an welchem Anna ihre Stunde versäumte, denn die Striche waren schon wieder mit einer leichten Staubschicht bedeckt.

»Wo sie wohl bleiben mag?« waren die nächstältesten Worte; sie reichten fast über den ganzen Flügel fort.

»Ihretwegen von der Kathrin ausgeschmält zu werden,« stand gleich unter dieser Riesenzeile, und »wir müssen Alles aufbieten, sie ausfindig zu machen,« schlossen die dem leicht zerstörbaren Material aufgetragenen Bemerkungen, die jedenfalls beim Anblick des verwaisten Instrumentes im Kopfe des Professors entstanden und, vielleicht mechanisch, sofort registrirt worden waren. –

Es mochte um die zehnte Stunde sein. Die zwischen zerfetzten Nebelwolken hindurchschielende Sonne war bereits so hoch emporgestiegen, daß sie die leeren Augenhöhlen der numerirten Schädel nicht mehr belästigte: dagegen suchte sie mitleidig die dürren Schienbeine und langen Fußfinger des an ein heißes Klima gewöhnten Orang-Utangs zu erwärmen, als zuerst die Corridorthür und dann die Thür der Bibliothek geöffnet wurden und gleich darauf der griesgrämige Famulus den ihm bekannten Johannes und die ihm noch bekanntere junge Klavierspielerin sehr zuvorkommend hineinwies.

»Der Herr Professor werden sogleich erscheinen,« sagte er beim Hinausgehen mit einer Höflichkeit, deren eine besternte Excellenz sich schwerlich zu erfreuen gehabt hätte und die drauf zurückzuführen war, daß sein Herr einst zu ihm von dem bleichen Studenten im fadenscheinigen Röckchen, als von einem grundgescheiten und gelehrten jungen Manne gesprochen hatte.

Anna's Blicke waren über das Instrument hingestreift, an welchem sie, ihren lieblichen Phantasien hingegeben, so viele genußreiche Stunden zugebracht hatte. Wie einen lange, schmerzlich vermißten Freund begrüßte sie es in Gedanken und unwillkürlich hob sie die Hand mit dem Taschentuch empor, um den Staub von demselben zu entfernen, als ihre Augen auf die wunderlichen Schriftzüge trafen. Ihren Namen las sie zuerst; mit einem Gefühl der Dankbarkeit zeigte sie denselben ihrem Freunde.

»Er hat mich nicht vergessen, der gute Herr,« sprach sie dabei erröthend.

»Aber vermißt hat er Dich,« bestätigte Johannes »er hat Dich sogar sehr vermißt, Dich und Dein Spiel; hier steht es klar und deutlich; er kann es daher nur gut mit Dir meinen.«

»Soll ich von meiner möglichen Uebersiedelung nach Amerika zu ihm sprechen?«

»Nichts dürfen wir ihm verschweigen; er ist der Einzige, der gegen Alvens auftreten kann und keine Rücksichten zu nehmen braucht.«

Der Schall von schnellen und festen Schritten im Nebenzimmer verhinderte Johannes, weiter zu sprechen, dagegen beobachtete er mit zärtlicher Theilnahme seine jugendliche Freundin, wie dieselbe ängstlich und verlegen dahin blickte, wo der Professor erscheinen mußte.

Geräuschvoll wurde die Thür geöffnet, und das Sammetkäppchen etwas schief geschoben, statt des Schlafrockes, mit einem schwarzen Rock bekleidet und ein boshaft sarkastisches Lächeln auf seinem klugen, wohlgebildeten Antlitz, drängte der Professor sich seitwärts in die Bibliothek hinein.

Es war nämlich seine Gewohnheit, sich den ihn Besuchenden zuerst im Profil zu zeigen, um durch den mit einem gewissen Trotz vorgeschobenen Höcker den nach seiner Ueberzeugung ungünstigsten Eindruck auf sie auszuüben.

»Eigentlich ist es noch etwas früh am Tage, mein lieber, junger Mann,« wendete er sich nach seinem Eintritt an Johannes, indem er Anna, ohne Ueberraschung über ihre Anwesenheit zu verrathen, wie einem Kinde, großmüthig zwei Finger zum Gruß darreichte, »und namentlich Sie, als ein vir doctus, sollten wissen daß die Vormittagsstunden sich am besten zum Studium eignen; da Sie aber einmal hier sind und ich mich Ihretwegen von einer unendlich wichtigen Frage losgerissen habe, so wollen wir nicht weiter darüber rechten. Nehmen Sie Platz, meine Herrschaften, und theilen Sie mir ohne Säumen Ihr Anliegen mit.«

Kaum aber hatte er ausgesprochen, als er, Anna mit verstecktem Wohlgefallen beobachtend und ihren verlegenen Blicken mit den Augen folgend, die Schrift auf dem Flügel entdeckte und sogleich auf dieselbe losstürzte und sie mit dem Aermel seines Rockes schonungslos zu vernichten begann.

»Da haben Sie die Folgen, wenn man gezwungen wird, mit der Außenwelt in Verkehr zu treten!« rief er ärgerlich aus, bevor Johannes auf seine Anrede zu antworten vermochte, »zuerst ein Klavier, dann folgt der Staub und dann macht sich irgend ein Tagedieb das Vergnügen, Dummheiten in den Staub zu schreiben – aber ich bat schon einmal, Platz zu nehmen – wie ich sehe, ist unser Flüchtling zurückgekehrt? Frau Kathrin war recht besorgt um Sie,« wendete er sich darauf an das junge Mädchen, »und große Mühe hat es mich gekostet, sie einigermaßen zu beruhigen – übrigens eine vortreffliche, höchst ehrenwerthe Person – wird sich recht freuen, Sie wiederzusehen, oder kommen Sie schon von ihr?«

Anna verneinte die Frage und begann alsbald zu erzählen, auf welche Weise sie aus Frau von Birks Wohnung entkommen sei. – Als sie indessen zu ihren Beziehungen zu dem Bruder des Kärrners überging, fiel ihr der Professor in die Rede, sie bedeutend, daß Braun und dessen Gattin bei ihm gewesen wären und ihn von der ganzen Sachlage unterrichtet hätten.

»Wenn man nur die beiden Briefe, welche der Schreiber den guten Leuten vorzeigte, erlangen könnte,« schloß er seine Erklärungen, »dieselben würden einestheils mehr Licht in die verwickelte Geschichte bringen, und dann hätte ich ein Mittel in Händen, dem Herrn Rechtsanwalt Alvens, diesem sauberen Vormunde, etwas schärfer zu Leibe zu gehen!«

Und in seinem Eifer nach dem anderen Ende des Zimmers hinüberschreitend, rieb er mit seinem Taschentuch den Staub von dem gebleichten Schädel des Orang-Utangs, daß es den Anschein gewann, als hätte er ihm den Schweiß von der Stirne trocknen wollen. »Ja, ein sauberer Vormund,« wiederholte er, dem hohläugigen Schädel, wie einem mit Begriffsvermögen ausgerüsteten Wesen, vertraulich zunickend, dann trat er, seinen Höcker bei jedem Schritt sehr bedächtig wiegend, wieder vor die beiden jungen Leute hin.

»Hier sind die Briefe,« bemerkte Johannes, auf die in Anna's Hand befindlichen Papiere weisend.

»Die an Herrn Alvens gerichteten und derjenige, in welchem Herr Braun mir rieth, mich der Führung Beltrams anzuvertrauen,« ergänzte Anna, die Papiere dem Professor einhändigend.

»Ah, der Brief des Kärrners war eine große Unvorsichtigkeit,« entgegnete dieser, indem er den zuletzt erwähnten zurückgab, die anderen beiden dagegen behielt, »ich sagte gleich, eine solche Empfehlung sei in den Händen eines unredlichen Menschen eine gefährliche Waffe. Ich bin überzeugt, mein liebes Kind, ohne diesen Brief würden Sie dem Beltram nicht gefolgt sein?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete Anna, und ein Schauder durchrieselte sie bei der Erinnerung an ihre jüngsten Erlebnisse, »ich befand mich in einer so trostlosen Lage, daß ich jedes Mittel willkommen hieß, durch welches ich hoffen durfte, zu meinen Freunden zu gelangen.«

»Es entspricht zwar nicht meinen Gewohnheiten, mich mit anderer Leute Privatangelegenheiten zu befassen,« versetzte der Professor, indem er einen Stuhl heranzog und den jungen Leuten gegenüber Platz nahm, »allein Frau Kathrin ist eine ganz vortreffliche Seele mit Weltanschauungen, welche weit über ihren Stand hinausgehen, und schon allein um ihr zu beweisen, daß ihre höchst unzarten Anspielungen und Schmähungen mir gleichgültiger – ha! weit gleichgültiger sind, als wenn das Skelett da drüben zu mir gesprochen hätte, will ich diesmal eine Ausnahme machen. Sie, der Sie die Stelle eines Bruder bei diesem Mädchen vertreten – wozu ich Ihnen Beiden übrigens gratulire – billigen doch mein Verfahren?«

Die Wangen des jungen Mannes glühten tiefer, und ein flüchtiges Feuer leuchtete aus seinen schwermüthigen Augen, als er sich zustimmend verneigte.

»Kann ich gezwungen werden, zu Herrn Alvens, meinem Vormunde, zurückzukehren?« fragte Anna, ihren ganzen Muth zusammenraffend, und wie sie, richtete auch Johannes seine Blicke erwartungsvoll auf ihren gemeinschaftlichen Freund.

»Eigentlich ja,« erwiderte dieser nachdenklich, »doch will ich es nicht fest behaupten, zu wenig vertraut bin ich mit Rechtsangelegenheiten. Möglich ist dagegen, daß ich in diesen Briefen –« hier schlug er mit der Rückseite der rechten Hand auf die mit der linken hochgehaltenen Papiere – »Mittel entdecke, den Herrn Alvens zu zwingen, seine Gerechtsame gutwillig aufzugeben. Aber entschuldigen Sie einige Minuten, ich will nur einen Blick hier hineinwerfen. Plaudern Sie unterdessen, spielen Sie Klavier, beschäftigen Sie sich mit den Schädeln – lauter ausgezeichnete Exemplare – machen Sie, was Sie wollen, ich höre nichts, mich stören Sie in keiner Weise.«

Dann seine Augen auf das erste entfaltete Schreiben senkend, vertiefte er sich in den Inhalt desselben.

Anna und Johannes, anstatt den ihnen ertheilten Rath zu befolgen, beobachteten aufmerksam den gekrümmten alten Herrn, wie um aus seinem Mienenspiel seine Empfindungen und Ansichten zu errathen. Beide wagten vor ängstlicher Spannung kaum zu athmen, und wenn der Professor mit seiner weißen feinen Hand zweifelnd sein glattes Kinn liebkoste, oder das Papier zwischen seinen Fingern knitterte, dann bebte Anna bis in's Herz hinein, als ob ein Urtheil über Leben und Tod aus seinem Mund zu erwarten gewesen wäre.

Beinah zehn Minuten verstrichen in tiefer Stille; man hätte fast den Pulsschlag jedes Einzelnen zählen können. Wie aber die drei lebenswarmen Physiognomien gleich hohe Spannung ausdrückten, so schienen auch die dickleibigen Folianten plötzlich Augen erhalten zu haben und mit den ihrem Lederrücken aufgepreßten goldenen Buchstaben sehr bedenklich auf die fast regungslosen Menschenbilder herabzusehen. Sogar der entfleischte Orang-Utang rief in seiner geneigten Stellung den Eindruck hervor, als hätte er sich für sein Leben gern an der zu erwartenden wichtigen Berathung betheiligt, wogegen die numerirten Schädel höchst unempfindlich geradeaus stierten und dabei feindselig ihre langen Zahnreihen wiesen.

Eine große stahlblaue Fliege schwebte durch das Zimmer. Durch lautes, sorgloses Summen verrieth sie die unverkennbare ernste Absicht, in der warmen Bibliothek zu überwintern; sie fühlte sich auch schon vollständig heimisch daselbst, denn bald fliegend, bald lustwandelnd gelangte sie endlich zu einem sehr schönen Schädel, wo sie übermüthiger Weise durch die eine Ohrhöhle bis in den leeren Gehirnraum hineinkroch. Dort nun mußte sie den richtigen Weg verfehlt haben, denn sie begann alsbald fliegend und summend eine Oeffnung zu suchen, stieß sich indessen überall den Kopf und die zarten Gaceflügel. Indem sie aber in ihrer Angst den Lärm verdoppelte, klang es aus dem knöchernen Resonanzgehäuse, als hätte der alte Schädel plötzlich Leben erhalten und mit gedämpfter Stimme seine Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles Irdischen in die Welt hineingemurmelt.

Wiederum knitterte das Papier in des Professors Händen. Ein Schlag mit der Rückseite der beiden oberen Fingergelenke traf es; es klang wie ein: Punktum nach einer langen Periode, oder vielmehr wie ein kurzes, bündiges »fertig!«

»Neues habe ich nicht gefunden,« eröffnete der alte Herr sogleich das Gespräch wieder, »meine energische Freundin hat mir bereits Alles ziemlich genau mitgetheilt, nur daß es hier etwas geordneter steht. Die Sache an sich unterliegt keinem Zweifel: Sie, mein theures Kind, besitzen in dem Bruder des Kärrners – und Fälschungen scheinen bei der Abschrift nicht vorgenommen zu sein – nicht nur einen wohlwollenden, sondern auch einen so mächtigen Beschützer, wie ein Mann nur immer durch Glücksgüter mächtig werden kann. Es wäre daher am gerathensten für Sie, sich bald möglichst unter den Schutz Ihres fernen, Ihnen vorläufig allerdings noch unbekannten Freundes zu begeben.«

»Dasselbe ist mir von anderer Seite so dringend gerathen worden,« bemerkte Anna mit einem traurigen Seitenblick auf Johannes, »daß ich kaum noch Einwendungen zu erheben wage; allein so bald oder gar gleich? O, Herr Professor, ich würde mich sehr schwer von hier trennen; und die weite Reise und das Eintreten in mir ganz fremde Verhältnisse – eine unnennbare Angst erfüllt mich.«

»Sie würden nicht allein gehen, liebes Kind« versetzte der Professor ungeduldig, »Ihr Adoptivvater – und anders kann ich ihn nicht nennen – spricht von einem zuverlässigen Begleiter, und es versteht sich von selbst, daß bei der Wahl eines solchen Ihre eigenen Wünsche maßgebend sind. Fragen Sie nur die Brauns, die werden meine Ansichten vollkommen billigen, um so mehr, da Sie eigentlich in der Familie bleiben und jedenfalls dazu beitragen, das Verhältniß zwischen den beiden Brüdern freundlicher zu gestalten.«

Anna blickte bei dieser Eröffnung lange und tief in die Augen ihres geliebten Johannes, so lange, bis ihre lieben frommen Augen in Thränen schwammen.

»Möchtest Du mich wohl begleiten, Johannes?« fragte sie endlich mit rührender Innigkeit.

Der Angeredte erbleichte, ein heftiges Zittern durchlief seine schlanke Gestalt, während die treuen Augen, Anna's Blicken ausweichend, sich scheu abwendeten und dann senkten.

»Verlange das nicht von mir, Anna,« sprach er leise, wie im Traume, »ich darf Dich nicht begleiten, ich bin der Letzte, der geeignet wäre, auf einer so großen Reise Dich zu beschützen – ich kann mich nicht von hier trennen,« schloß er mit einem tiefen Seufzer, und indem er nunmehr gefaßt aufsah, begannen auch die Rosen auf seinen Wangen sich wieder üppiger zu entfalten, dem leidenden Antlitz einen gleichsam überirdischen Reiz verleihend.

»Warum nicht trennen von hier, wenn es gilt, der Schwester einen Liebesdienst zu erweisen?« fragte der Professor, welchen die in Anna's Zügen ausgeprägte bittere Enttäuschung tief rührte.

»Meine Studien sind noch nicht beendigt, und meine kränkliche Mutter ist auf meine Unterstützung angewiesen,« antwortete Johannes in seiner inneren Angst.

»Auf Ihre Unterstützung?« fuhr der Professor erstaunt empor, und in den Blicken, mit welchen er den jungen Mann maß, äußerten sich zugleich ernste Hochachtung und inniges Bedauern; denn bis jetzt hatte er Johannes' Lebensgeschichte nur theilweise kennen gelernt.

»Leider fast allein auf meine Unterstützung,« bekräftigte dieser mit beinahe stolzem Lächeln, »und es wird mir durchaus nicht schwer, neben den Pflichten gegen meine arme Mutter, auch die gegen mich selbst zu erfüllen.«

»Und das sagt er so ruhig, als ob sich das von selbst verstände,« murmelte der Professor, worauf er hastig auf und ab zu schreiten begann, mit dem Daumen der auf seinen Rücken gelegten Hand eifrig auf der Basis seines Höckers trommelnd.

Plötzlich kehrte er wieder zu den beiden jungen Leuten zurück.

»Was wir hier besprechen, sind freilich erst Ideen,« hob er an, »denn um zu einem bestimmten Zweck zu gelangen, müssen wir uns vorher mit Alvens verständigen, das hindert uns indessen nicht, schon jetzt die einzuschlagenden Wege anzubahnen und vorzubereiten. Aus den Briefen unseres Amerikaners geht hervor, daß Sie, mein liebes Kind, ihm, je eher, um so willkommener sind. Ihn vorher noch einmal zu befragen, würde zu zeitraubend und daher überflüssig sein; außerdem führen Schreibereien leicht zu Mißverständnissen, die wir vermeiden wollen. Sie werden also reisen, auf Kosten Ihres Adoptivvaters reisen, mithin auf seine Kosten auch einen Begleiter mitnehmen – so deute ich wenigstens seinen Willen. Da Sie nun, mein junger Freund, die einzige Persönlichkeit sind, der wir dieses Kind ohne Besorgniß anvertrauen dürfen, so ist es selbstverständlich, daß für die Zeit Ihrer Abwesenheit ausreichend für Ihre gute Mutter gesorgt wird, und Ihre Studien? Was bedeuten bei einem jungen Manne von Ihren Fähigkeiten einige Monate –«

»Nein, nein, Herr Professor!« fiel Johannes wie beschwörend ein, »ich kann auf das Anerbieten nicht eingehen, ich darf selbst für meine Mutter keine almosenartige Unterstützungen annehmen, so lange ich die Kraft in mir fühle, für uns Beide zu sorgen.«

Der Professor sah forschend in das Antlitz des sichtbar tief erregten jungen Mannes, und dann wieder auf Anna, in deren lieblich gerötheten Zügen sich bange Erwartung spiegelte.

»Was studiren Sie, mein lieber Freund?« fragte er theilnehmend.

»Theologie.«

»Ja, ja, ich entsinne mich; ich glaubte, Sie hätten sich der Medicin geweiht, namentlich der Anatomie so wie ich, der ich thöricht genug war, gerade dies Studium zu wählen, weil ich in meiner Verblendung hoffte, ein Mittel zu entdecken, die unschöne Beigabe« – hier wies er mit dem Daumen der rechten Hand rückwärts auf seinen Höcker – »wenigstens um ein paar Grade zu verkleinern; mit einem Wort: ich wollte meinen eigenen Körper studiren.«

»Herr Professor, als Mediciner würde ich meinen Körper nicht genauer kennen gelernt haben, als es bei meinem Studium der Theologie geschehen ist,« versetzte Johannes, und ein mildes, ergebungsvolles Lächeln verrieth dem enthusiastischen Anatomen, daß er nicht den leisesten Zweifel über seinen Gesundheitszustand hegte.

»Sollten Sie wohl?« fragte der Professor mit erzwungener Sorglosigkeit, um Anna nicht mit dem wahren Charakter des zwischen ihm und Johannes in unbestimmten Andeutungen gepflogenen Gesprächs vertraut zu machen.

»Ich bin vollständig im Klaren, Herr Professor.«

»Wohlan denn, mein junger Freund, wenn mir nun zum Beispiel Jemand die Aussicht eröffnete, durch eine große Seereise, durch das beständige Einathmen der salzgeschwängerten Luft, meinen Buckel vertreiben zu können, so daß ich halb Apoll, halb Hercules heimkehrte, glauben Sie dann wohl, daß ich auch nur eine Sekunde zögerte, eine Fahrt, meinetwegen um die ganze Erde herum anzutreten? Freilich, Sie sind tadellos gewachsen, allein angestrengtes Studium und nächtliche Arbeit haben Ihre Gesundheit erschüttert, wenn auch glücklicher Weise noch nicht in so hohem Grade, daß Sie nicht wieder zu Kräften kommen könnten; Sie haben eben das Stadium erreicht, in welchem eine Seereise Wunder an Ihnen bewirken dürfte. Was meinen Sie nun, wenn ich als Arzt zu Ihnen sagte: Herr, Sie müssen auf das Meer hinaus, oder ich stehe nicht für die Folgen; Sie müssen eine Seereise unternehmen, wenn Sie überhaupt jemals von der Kanzel herab Ihren Zuhörern die durch Ihren scharfen Verstand geläuterten christlichen Lehren an's Herz legen wollen?«

Wie das Morgenroth eines Glück verheißenden Tages erweiterte sich die Gluth auf den Wangen des jungen Mannes, bis sie endlich die von den weichen Locken umwallten Schläfen erreichte, während ein schwärmerisches Feuer aus seinen Augen hervorleuchtete.

Er wollte sprechen, er öffnete schon die Lippen, als plötzlich, offenbar in Folge der heftigen Erregung, ein leiser, trockener Husten ihn hinderte.

Von jähem Schrecken befallen, griff er nach seiner Brust; die eben noch sein Antlitz belebende Farbe wich in die Wangen zurück; um aber den Eindruck, welchen dieser ihm bewußte auffallende Wechsel auf Anna ausüben konnte, abzuschwächen, zwang er sich wieder zu einem heitern Lächeln.

»Fragen Sie mich jetzt vielleicht noch einmal?« entgegnete er dem Professor, sobald der Husten es ihm gestattete.

»Ja, ich frage Sie nicht nur einmal, sondern hundertmal: Wollen Sie dem Kinde hier, Ihrer Mutter und endlich auch sich selbst diese Wohlthat erweisen, oder beharren Sie eigensinnig auf Ihrem Willen?«

»Ich beharre darauf. Ich muß darauf beharren; verzeihen Sie mir, Herr Professor, und auch Du, Anna, allein – Unterstützungen –«

»Aber es ist ja keine Unterstützung!« fiel der Professor mit wachsender Ungeduld, fast zornig ein, »Sie sollen ja keine Almosen empfangen, sondern für Ihr Geld arbeiten!«

»Möchtest Du, daß Deine arme Anna allein zöge?« fragte diese jetzt leise, indem sie des Freundes Hand zärtlich drückte, »Johannes, es gab eine Zeit, in welcher Du mich, Deine kleine Nachbarin, nicht allein zur Schule hättest gehen lassen.«

Und sie bat so flehentlich, und sie bat so innig, die arme verwaiste Anna, daß jedes einzelne Wort wie ein zweischneidiges Messer in der wunden Brust ihres getreuen Johannes wühlte. Er schwankte zwischen der Stimme seines Herzens und dem Mahnruf einer kalten, berechnenden Gewissenhaftigkeit, welchem von beiden Folge zu geben sei, als der Professor plötzlich emporsprang, die Hand auf seine Stirne preßte und nach kurzem Sinnen wieder auf seinen Stuhl zurücksank.

»Ich hab's!« rief er triumphirend aus, zuerst Johannes und dann Anna die Hände herzlich drückend, »Ich hab's! Wo befanden sich meine Gedanken? Unbegreiflich! Und dennoch liegt es so nahe! Sie, mein gutes Kind, reisen geradenwegs zu Ihrem zukünftigen Adoptivvater, und Sie mein theuerer Freund, erhalten von mir wichtige Aufträge, welche ich nur einem ganz sicheren und zuverlässigen Menschen anvertrauen darf, und für deren pünktliche Ausführung ich mit Freuden das doppelte, ja, das dreifache Reisegeld hingebe, geschweige denn die Sorge für Ihre arme Frau Mutter übernehme. Wiegen Sie nicht bedenklich das Haupt, mein junger Freund,« fuhr er dringender fort, als er den Ausdruck kämpfender Zweifel auf Johannes' Zügen gewahrte, »und glauben Sie nicht, daß ich einen Auftrag aus der Luft greife, nur um Sie zu bestimmen. Im Gegentheil, Sie verpflichten mich durch Ihre Bereitwilligkeit, auf meinen Vorschlag einzugehen, zu ewigem Danke. Doch hören Sie, bevor Sie endgültig entscheiden: Wie in allen Erdtheilen, so knüpfe ich auch in Amerika Verbindungen an, welche leider durch den Bürgerkrieg eine traurige Unterbrechung erlitten, andererseits aber wieder zu einem schönen Resultat geführt wurden.«

Hier schloß der Professor ein Weilchen die Augen, wie um sich im Geiste das schöne Resultat zu vergegenwärtigen, worauf er mit dem Enthusiasmus eines glücklich Liebenden fortfuhr:

»Ja, ein sehr schönes Resultat! Ich bin nämlich durch die Verwendung eines ausgezeichneten Gelehrten in den Besitz eines unschätzbaren Kunstwerkes gelangt, von welchem mich nun schon seit zwei Jahren der Ocean trennt, ohne daß ich im Stande wäre, die entsprechenden Schritte zu seiner Versendung zu thun. Das Unglück wollte nämlich, daß gerade um die Zeit, zu welcher das bezeichnete Kleinod nach Europa abgeschickt werden sollte, die betheiligten Personen wahrscheinlich von der vernichtenden Woge des Bürgerkrieges mit fortgerissen wurden. Ich erfuhr, daß mein unersetzliches Eigenthum in eine Kiste gepackt und nach Washington adressirt worden sei, und dann schwiegen alle weitere Nachrichten. Dort drüben hat Niemand ein Interesse, sich um die Kiste zu kümmern; es läßt sich daher erwarten, daß sie noch heute unbeachtet da, wo sie zur Beförderung aufgegeben werden sollte, oder in Washington oder endlich auf einer der zwischen diesen beiden Endpunkten befindlichen Stationen liegt, und es daher nur der Mühewaltung eines umsichtigen Mannes bedarf, mir zu meinem lange und heißersehnten Kleinod zu verhelfen.

»Sie nun, mein theuerer Freund, wären gerade die geeignete Persönlichkeit, mir den unbezahlbaren Dienst zu leisten, das heißt, nicht allein die Kiste aufzutreiben, sondern sie auch nicht eher aus den Augen zu lassen, als bis Sie mit derselben hier bei mir eingetroffen sind. Gehen Sie also auf meinen Vorschlag ein, so wirken Sie dadurch segensreich nach drei Richtungen; Erstens leisten Sie mir einen Dienst, welcher Ihnen nach Gebühr zu vergelten, meine ganze Habe nicht ausreicht; zweitens dürfen Sie sich den kühnsten Hoffnungen betreffs der Einwirkung der Seeluft auf Ihre – nun, sagen wir, auf Ihre Gemüthsstimmung hingeben, und endlich können Sie stolz darauf sein, Ihre brave und ehrenwerthe Schwester allen ferneren Nachstellungen entzogen und sie der treuen Fürsorge ihres Beschützers übergeben zu haben.«

Nach dieser langen, mit vielem Eifer vorgetragenen Rede heftete der Professor seine Blicke erwartungsvoll auf Johannes, der stumm und von schweren Zweifeln befangen vor sich niederschaute.

Da legte sich sanft eine kleine, warme Hand auf des jungen Mannes Arm, und als er aufsah, blickte er in zwei Augen, die so bittend und innig auf die seinigen gerichtet waren, daß ihm das Blut in den Adern wallte, als sei er plötzlich von neuem Leben durchströmt, seine wunde Brust, wie durch Zauber, geheilt worden.

»So will ich Dich denn begleiten, wenn Du doch so ernstlich darauf dringst,« sprach er tief bewegt, indem er, wie er so oft gethan, die braunen Locken von Anna's weißer Stirne zurückstrich, »ich begleite Dich, ich gehe auf die Bedingungen des Herrn Professors ein – um Deinetwillen –« er hustete wieder leise, und dann fügte er kaum vernehmbar, halb zu dem Professor gewendet, hinzu, »und was meine Gemüthsstimmung betrifft, da wage ich nicht, viel von der Seeluft zu hoffen – denn ich fürchte – es ist zu spät.«

Der Professor nickte leicht, wie zum Zeichen, daß er die Andeutung verstanden habe; dann erhob er sich schnell, um vor das Orang-Utang-Skelett hinzutreten und auf diese Weise den beiden jungen Leuten den Rücken zuzukehren.

Er mußte seine besonderen triftigen Gründe zu diesem Verfahren haben, denn er starrte dem zähnefletschenden Schädel so lange in die leeren Augenhöhlen, bis ihm endlich selbst die Augen übergingen und er gezwungen war, mit dem Taschentuch zuerst einige Staubatome von dem Schlüsselbein des Orang-Utangs zu entfernen und bei dieser Gelegenheit ganz heimlich und verstohlen über sein eigenes Gesicht hinzufahren.

Die auf dem Rücken liegende Hand trommelte mit allen fünf Fingern grimmig auf der Basis seines Höckers. Er wollte sich gewaltsam an sein eigenes Gebrechen erinnern, welches ihm schon so vielfach den Spott seiner mitleidlosen Menschen zugezogen hatte.

Er trommelte stärker und grimmiger, und so grimmig starrte er dabei in die hohlen Augen, als sei der gebleichte Schädel ein Notenheft gewesen, nach welchem er seine geräuschlose Musik regelte, der ganze Orang-Utang dagegen ein dämonischer Kapellmeister, der ihn mit aller Gewalt aus dem Text zu bringen suchte. Er trommelte stärker, allein was er bezweckte und was ihm so häufig gelang, seinen Zorn und seinen Haß gegen die Menschheit wach zu trommeln, von welcher er seines unverschuldeten Gebrechens halber die verletzendsten Spottnamen hatte hinnehmen müssen, heute erwies sich sein Kunstgriff als unzureichend. Sein Höcker war plötzlich gefühllos geworden; den Spottnamen hatte er vergessen, selbst seinen Liebling, den lauschenden Orang-Utang sah er nicht, zu ergreifend waren die Bilder, welche seinem geistigen Auge vorschwebten.

Obwohl er Johannes den Rücken zukehrte, wollte das bleiche Antlitz, mit dem milden, gütigen Ausdruck und der unheimlichen Röthe auf den Wangen nicht aus seiner Seele weichen. Sein Herz blutete, und was er dachte, das schien ihm ein unerbittliches Geschick mit Donnerstimme in die Ohren zu rufen: »Die Meerluft kann Wunder bewirken! Und ist es zu spät, um zu retten, so ist es nicht zu spät, um zu mildern, Deine letzten Tage zu verlängern und zu versüßen, Du armes, gebrochenes Gemüth! Vor Elend und Mangel sollst Du nicht in's Grab sinken, dafür sorge ich, ich ganz allein, ich, der mißgestaltete Kobold, der aber in seinem Schädel mehr gesunden Verstand besitzt, als ein ganzes Heer hoch erleuchteter und wohlgebildeter Narren zusammen genommen. Ha! Nicht für eine Welt gebe ich mein Gebrechen hin – aber tauschen, ja, vertauschen möchte ich wohl – etwa meine gesunden Lungen gegen seine – o, es ist jammervoll, so jung, so reich begabt, und ein Opfer dieser finstern Krankheit zu werden.«

Das Taschentuch säuberte den weißen Affenschädel und glitt wieder über die getrübten Augen des Professors. So sehr der alte Herr sich bemühte, durch energische und herausfordernde Bewegungen dem verachteten Höcker die hervorragendste Stelle in seiner äußeren Erscheinung einzuräumen, es wollte nicht glücken. Es war, als ob sein menschenfreundliches Herz die armselige Hülle mit Macht durchbrochen habe, dieselbe mit einem wunderbaren, gleichsam rührenden Schimmer schmückend.

Wohl fünf Minuten verstrichen, ohne daß ein Wort in der Bibliothek laut geworden wäre. Johannes hielt noch immer die Hand seiner jungen Freundin; Beide aber spähten mit banger Erwartung zu dem kleinen Professor hinüber, als ob er der Richter über ihre ganze Zukunft gewesen wäre.

Da trat dieser endlich vor sie hin, ihnen Beiden zugleich die Hände reichend. Ein tiefer Ernst thronte auf seinem Antlitz, ruhige Ueberlegung und fester Wille sprachen aus seinen klaren Augen.

»Ich habe noch einmal Alles erwogen,« hob er an, »und gelangte zu dem Schluß, daß wir wohl den richtigen Ausweg gefunden haben dürften. Gehen Sie jetzt zu Ihren Freunden; auch ich werde heute noch dort hinkommen und gemeinschaftlich wollen wir dann berathen und entscheiden. Von dem Augenblick der Entscheidung an betrachte ich Sie, mein junger Freund, als in meinen Diensten stehend. Sie werden daher, bevor Sie nach Amerika aufbrechen, noch einmal zu Ihrer Mutter reisen, um es mir zu erleichtern, Sie zu vertreten. Ihre Bücher und sonstige Habseligkeiten finden für die Dauer Ihrer Abwesenheit, höchstens vier bis sechs Monate – ein sicheres Unterkommen in meiner Wohnung, und kehren Sie zurück, gestärkt und erfrischt, mögen Sie mit erneuter Lust Ihre Studien wieder aufnehmen.«

»Wenn es mir, bei der großen Unsicherheit des ganzen Unternehmens, nicht gelänge, die Kiste aufzufinden,« fragte Johannes, der sich ebenfalls erhoben hatte.

»So haben wir Zeit und Geld einem guten Zwecke geopfert,« antwortete der Professor, die Hände erschreckt faltend, »doch nein, eine solche himmelschreiende Ungerechtigkeit ist nicht denkbar – o, Sie ahnen nicht, wie Großes sich an das glückliche Eintreffen des unbeschädigten Inhaltes der Kiste knüpft – also auf Wiedersehen, meine Herrschaften.«

»Steht nicht zu befürchten, daß ich auf meiner alten Zufluchtsstätte mit Herrn Alvens zusammentreffe?« fragte Anna besorgt, bevor sie sich empfahl, »Herr Beltram meinte, daß er gerade dort zuerst nachforschen würde.«

»Der Herr Beltram ist ein nichtswürdiger und obendrein wenig scharfsinniger Betrüger,« versetzte der Professor, »sollten Sie Alvens wirklich treffen, so theilen Sie ihm gütigst mit, daß ich mich in dringenden Geschäften nach seiner Wohnung begeben hätte, um ihn daselbst zu erwarten. Und nun Gott befohlen, die Zeit eilt.«

Johannes und Anna waren auf den Corridor hinausgetreten, wo des Professors alter Leibdiener ihnen höflich die Treppenthür öffnete und ihnen, als sie hinabstiegen, noch ein Weilchen kopfschüttelnd nachsah.

Keiner von ihnen sprach ein Wort; in Anna's Geist schwirrten die Erlebnisse der letzten vierundzwanzig Stunden durcheinander, während sie sich vergeblich bestrebte, die zwischen ihrem zukünftigen Adoptivvater und ihren verstorbenen Eltern bestehenden Beziehungen zu errathen. Johannes schritt mit schwer belastetem Gemüthe an ihrer Seite einher. Der Gedanke an die letzte entscheidende Wendung der in seiner Brust verborgenen Krankheit hatte oft seine Seele tief gebeugt; tiefer aber noch beugte es ihn, fortan in täglichem Verkehr mit seiner lieblichen, ihm in treuer Anhänglichkeit ergebenen Jugendgespielin leben zu müssen. Sie schritten dahin Hand in Hand, wie sie so oft in ihrem Leben gethan, aber ihre Augen waren gesenkt, stumm ihre Lippen. – –

Der Professor sah sich nicht sobald allein, als er sich plötzlich wieder seines Höckers erinnerte und mit großer Virtuosität auf der Basis desselben zu trommeln begann. Was ihm kurz vorher nicht gelang, glückte ihm jetzt ausnehmend gut, nämlich sich in eine gewisse kriegerische Stimmung hineinzutrommeln; denn höchstens dreimal war er in der Bibliothek auf- und abgewandelt, als sein Unmuth sich in halblaut gesprochenen Worten Bahn brach.

»Das sind die Folgen, wenn man seinen Grundsätzen nicht treu bleibt,« grollte er, »der bucklige Professor bequemt sich dazu, der Sklave wildfremder Menschen zu werden und ihretwegen seine Studien zu vernachlässigen! Und dergleichen muß mir widerfahren! Hm, Hm, geschähe es nicht, um der unverschämten Kärrnerfrau zu beweisen, daß sie die Letzte ist, über die ich mich ärgern möchte, wollte ich kurzen Prozeß machen. Und dann die Kiste! Ei, ei, um ein solches Kleinod zu erlangen, darf man schon einmal etwas aus dem gewohnten Geleise weichen. Ha, und dieser Alvens! Wie will ich ihn unbarmherzig auf die Folter spannen, wie will ich triumphiren, wenn er vor mit zittert!«

Die klugen Augen funkelten kriegerischer und entschlossen schmiegten sich die glatt rasirten Lippen an die schönen weißen Zähne an, indem er sich rüstete, dem Rechtsanwalt einen Besuch abzustatten.

Eine wahrhaft menschenfeindliche Stimmung hatte sich des guten Professors bemächtigt. Leider wollte sein eigensinniges Herz nicht gleichen Schritt mit den erregten Leidenschaften halten. Es klopfte so ruhig, so sanft und versöhnlich, als ob es die Herberge der ewigen Eintracht gewesen wäre.


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