Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant - Teil 1
Balduin Möllhausen

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Neuntes Capitel. Eine Musikstunde.

Die erste Musikstunde war in der Wohnung des Herrn Professors gegeben worden und hatte nicht geringes Erstaunen in der nächsten Nachbarschaft hervorgerufen. Der ersten Stunde war gleich am andern Tage die zweite nachgefolgt, und eine ganze Woche ging dahin, ohne daß Anna, außer einem alten, halbinvaliden Diener, auch nur einen einzigen sterblichen Menschen in des Professors Behausung gesehen oder gehört hätte. Die Scheu, mit welcher sie anfangs die geheimnißvollen Räume betrat und die in denselben herrschende Stille durch ihr Spiel unterbrach, wich indessen bald von ihr, und eine gewisse ängstliche Freude erfüllte sie bei dem Gedanken, nicht nur ungestört ihren eigenen Phantasieen auf dem kostbaren Flügel nachhängen, sondern auch die Musikstücke durchspielen zu können, welche, mit Sachkenntniß und Geschmack geordnet, ein neben dem Instrument stehendes Notengerüst beschwerten.

Allerdings befremdete es sie, für eine Mühe, welche ihr selbst zum Genuß gereichte, jedesmal auf dem einen Leuchterständer des Klaviers das ihr zuerkannte Honorar vorzufinden, um so mehr, als sie den Zweck nicht kannte, zu welchem überhaupt die Ausübung ihrer Kunst von ihr gefordert wurde. Doch auch über diese Bedenken gelangte sie leicht hinweg, sobald der Kärrner ihr mit geheimnißvollem Wesen erklärte, daß wahrscheinlich eine kränkliche Person im Nebenzimmer den von ihr vorgetragenen Melodien lausche und vielleicht gar ihre Fortschritte beobachte. Hätte sie hingegen geahnt, daß sie nur den Leuten zum Aerger spielen sollte, würde sie schwerlich den Muth besessen haben, ihr Möglichstes aufzubieten, den vermeintlichen heimlichen Lauscher zu erfreuen und gar, je nachdem sie sich in ihre Lieblingsmelodieen vertiefte, zwei Stunden und noch länger, statt der ausbedungenen einen, vor dem Flügel zu sitzen. Es war am siebenten Tage nach ihrer ersten Bekanntschaft mit dem Professor, und schon vor der bestimmten Zeit hatte Anna sich auf den Weg nach der weit abwärts liegenden Wohnung ihres Gönners begeben. Ihr Herz war so voll, als hätte es zerspringen müssen, und mit ganzer Seele gab sie sich den Betrachtungen über ein freundliches Geschick hin, welches sie in das Haus der guten Kärrnersleute geführt hatte. Aber auch an ihren treuen Jugendgespielen dachte sie, an den armen, traurigen Johannes, und wie er sich freuen würde, daß es ihr so gut gehe. Denn nunmehr erst, nachdem sie ein ihre kühnsten Erwartungen so weit übersteigendes, sorgenfreies Unterkommen gefunden, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß ihr Glück von Bestand sein würde, glaubte sie, an ihn schreiben und ihn beruhigen zu dürfen.

»Anna, bist Du's wirklich?« tönte plötzlich zwischen den zahlreichen, ihr begegnenden Fußgängern hindurch eine traute Stimme zu ihr herüber.

»Lieber Johannes!« rief sie eben so innig zurück, indem sie dem Jugendgespielen die Hand entgegenreichte und ihre Blicke tief in seine entzückten Augen senkte. Dann schritten sie Hand in Hand weiter, unbekümmert um die Leute, die sich zu beiden Seiten an ihnen vorbeidrängten, sie auch wohl flüchtig betrachteten.

»Du lieber, guter Johannes,« eröffnete Anna endlich das Gespräch, nachdem sie eine Weile schweigend neben einander hingegangen waren, und forschend ruhten ihre Augen auf den bleichen Zügen ihres Gefährten, »welch' glücklicher Zufall, daß wir einander trafen; ich gedachte eben Deiner und vergegenwärtigte mir, wie Du die guten Nachrichten von mir begrüßen würdest.«

»Kein Zufall, Du liebe Anna,« entgegnete Johannes mit einem glücklichen Lächeln, »nein, kein Zufall, denn ich habe Dich wirklich gesucht – ich befand mich sogar auf dem Wege zu demselben Kärrner, in dessen Gesellschaft Du die weite Reise zu Fuß zurücklegtest und dessen Wohnung ich mit genauer Noth auskundschaftete.«

»Wer sagte Dir von dem Kärrner?«

»Ich erkundigte mich bei dem Besitzer des Hauderers, und von ihm erfuhr ich, daß Du nicht mit ihm gereist seist, dagegen versicherte er, Dich in Gesellschaft eines Frachtfuhrmanns gesehen zu haben. O, Anna, wie ein Alp hat es seither auf meiner Seele gelastet, wenn ich mir die Gründe zu enträthseln trachtete, welche Dich bestimmten, anstatt im Dorfe anzukehren – denn auch dort forschte ich nach Dir – Deinen Weg weiter zu Fuße fortzusetzen.«

»Laß das jetzt ruhen, mein guter Johannes; Du siehst, ich bin vom Glück hoch begünstigt worden und wer weiß, ob ich jemals die braven Leute, bei denen ich wohne, kennen gelernt hätte, wäre ich mit dem Hauderer gefahren.«

»Dir geht es ganz gewiß gut?«

»Besser, als zu hoffen ich gewagt hätte. Aber Du sollst Dich überzeugen – Du mußt mich besuchen und zwar bald – und Du wirst einräumen, niemals biederere und wohlwollendere Menschen kennen gelernt zu haben, als den Kärrner Braun und seine Frau.«

»Bei ihnen also wohnst Du, und nicht in einem vornehmen Hause?« fragte Johannes mit scharf hervorklingender Freude.

»Sie sind einfache Bürgersleute und ich fühle mich heimisch bei ihnen; ich möchte den Aufenthalt unter ihrem Dache nicht mit einer Wohnung im glänzendsten Schloß vertauschen.«

»So hat der Brief Deiner dahingeschiedenen Mutter die erwarteten Früchte getragen?«

»Er hätte sie wohl getragen, ich habe wenigstens alle Ursache, dies vorauszusetzen, denn abgegeben ist er, doch die Leute, bei denen ich mein erstes Unterkommen fand, wollen mich nicht wieder von sich lassen, und ich – wie ich bereits andeutete – hege keine Neigung, mich von ihnen zu trennen. O, mein Gott, ich wäre ja undankbar – und dann, mein lieber Johannes, ich habe bereits Gelegenheit gefunden, täglich etwas durch mein Klavierspiel zu verdienen. Doch das sind wunderbare Verhältnisse, über die wir später mit mehr Ruhe sprechen; ich bin nämlich augenblicklich auf dem Wege zur Arbeit, und wenn es Deine Zeit erlaubt, kannst Du mich bis vor die Thür des Hauses begleiten, in welchem ich erwartet werde. Vor allen Dingen sage mir jetzt, wie Du selbst Dich befindest; es scheint mir fast, als sei Dein treues, gutes Gesicht noch bleicher geworden; und dann Deine arme Mutter, wie geht es ihr, und hat sie Dir nicht einen Gruß an mich aufgetragen?«

So lange Anna mit dem warmen, aus der reinsten Freude des Wiedersehens entspringenden Eifer sprach und am liebsten gleich Alles auf einmal gefragt und erklärt hätte, betrachtete Johannes die liebliche Gefährtin mit schwer zu schildernden Gefühlen. Wie Stolz ruhte es auf den ernsten Zügen, während die Todesrosen auf seinen Wangen sich tiefer färbten und aus seinen schwermüthigen Augen zugleich eine bittere Entsagung und ein unendlich banges Sehnen sprachen.

»Meine arme, leidende Mutter befindet sich nach alter Weise,« antwortete er traurig, und unwillkürlich drückte er Anna's Hand fester, »sie würde Dir gewiß die innigsten Grüße geschickt haben, hätte sie geahnt, daß ich Dich so bald wiedersehen würde. Ich verschwieg ihr nämlich, daß ich in Unruhe und Besorgniß um Dich schwebte und deshalb etwas früher aufbrach, als ursprünglich meine Absicht gewesen. Wenn Du sie aber gesehen hättest, als ich ihr das Opfer, welches Du ihr und mir so großmüthig brachtest, in seinem ganzen Umfange schilderte, dann würdest Du in ihren heißen Thränen der Rührung wenigstens einen kleinen Lohn für Deine edle Handlung gefunden haben.«

Hier sank Johannes' Stimme fast bis zum Flüstertone herab; das Drückende seiner Lage war ihm vielleicht nie so peinigend gewesen, als jetzt, indem er mittelbar einräumte, daß die in edler Selbstverleugnung seiner Mutter zugewendete Hülfe ihm selbst am meisten zu Statten gekommen sei.

»Nun, lieber Johannes, Deiner Mutter Freude kann nicht inniger gewesen sein, als die meinige: ihr das gewissenhaft zurückzuerstatten, was sie einst in besseren Zeiten meiner Mutter geliehen hatte. Doch sage, hast Du Deine alte Wohnung wieder bezogen, oder fandest Du sie anderweitig vermiethet?«

»Sie war zu meiner Freude leer; meine Adresse ist daher noch immer die alte.«

»Oh, dann werde ich Dich in nächster Zeit besuchen, um mich zu überzeugen, wie Du es verstanden hast, Dich mit geringen Mitteln bequem und wohnlich einzurichten. Doch was ist Dir?« fragte Anna plötzlich, indem sie besorgt in das bleiche Antlitz schaute, dessen Farbe wechselte, »Deine Hand zittert –«

»Nichts, nichts, mein gutes Kind,« fiel Johannes hastig ein, »mich befallen zuweilen körperliche Schmerzen, die indessen sehr schnell vorübergehen – es ist schon besser – sogar ganz gut jetzt – Du sagtest, Du wolltest mich besuchen, möchtest Du mir aber eine recht große Freude bereiten, so gieb diesen Gedanken auf. Sieh, mein gutes Kind, ich bin so viel älter und erfahrener, als Du, und da muß ich Dir zu bedenken geben, daß es in der Residenz nicht Sitte ist, daß junge Mädchen junge Männer besuchen.«

»Was kümmert uns die Sitte der Residenz?« fragte Anna, befremdet Ihres Gefährten Augen suchend, »nein Johannes, Deine Einwendungen überzeugen mich nicht; Du willst mir nur den weiten Weg ersparen.«

Johannes seufzte schmerzlich.

»Wenn ich Dich aber recht herzlich bitte, dann wirst Du gewiß von Deinem Vorhaben abstehen,« sagte er darauf befangen, »und glaube mir, ich habe die triftigsten Gründe, Dir abzurathen. Vergegenwärtige Dir, wenn Du in das Haus kämest, in welchem außer mir noch sehr viele Menschen wohnen, welche Dich alle neugierig betrachteten; und wenn Du dann, nachdem Du nach vielem Fragen endlich meine Stube gefunden, mich – was sehr wahrscheinlich – nicht zu Hause träfest und unverrichteter Sache heimkehren müßtest. Gieb es daher auf, mein liebes Kind, und wenn Du mich zu sprechen wünschest, schreibe mir eine Zeile, und binnen kürzester Frist bin ich bei Dir.«

Anna antwortete nicht gleich; sinnend blickte sie vor sich nieder. Sie waren in eine weniger belebte Straße eingebogen, und noch immer hielten sie die Hände in einander verschlungen. Anna schien die Gründe, welche Johannes angeführt hatte, von allen Seiten zu prüfen und zu beleuchten, ohne sie recht zu begreifen.

Endlich richtete sie das Haupt wieder empor, und den Gefährten mit bezaubernder Zutraulichkeit anblickend, sprach sie in zufriedenem Tone:

»Ich bin zu sehr gewohnt, Deinen Wünschen und Rathschlägen blindlings Folge zu leisten, als daß ich in diesem Falle denselben zuwider handeln möchte. Du mußt mir aber dafür versprechen, mich recht bald, vielleicht heute noch zu besuchen, denn ich habe Dir ja so viel zu erzählen.«

In diesem Augenblick dankte sie höflich einem ihnen Begegnenden, der mit linkischer Zuvorkommenheit grüßte.

»Du hast schon Bekanntschaften hier geschlossen?« fragte Johannes, sobald der Grüßende weit genug war, um seine Worte nicht zu verstehen.

»Ja, denke Dir nur, dieser Herr stellte sich am zweiten Tage nach meiner Ankunft im Hause meiner Freunde mir vor, um im Auftrage des Rechtsanwaltes, an welchen ich durch meine Mutter empfohlen wurde, sich zu erkundigen, wie ich mit meiner Lage zufrieden sei. Er heißt Beltram, ist sehr freundlich und zuvorkommend, obwohl er, sobald er mit Jemand spricht, stets die Augen verlegen niederschlägt. Ich habe Mitleid mit dem armen Menschen – es scheint ihm nicht gut zu gehen.«

»Es war wohl Zufall, daß wir ihm begegneten?«

»Nein, kein Zufall; nachdem er in Erfahrung gebracht, daß ich täglich zu einer bestimmten Stunde durch diese Straße gehe, sucht er es möglich zu machen, mich entweder auf dem Hinwege oder auf dem Heimwege auf das Achtungsvollste zu begrüßen. Er erkundigt sich auch wohl nach meinem Befinden und nach dem Befinden der Frau Braun, bei der er sich leider keiner sehr entgegenkommenden Aufnahme erfreut.«

»Einfache Leute, denen eine höhere Bildung und eine dieser entsprechende Menschenkenntniß mangelt, haben mitunter ein wunderbar richtiges Gefühl – Instinkt möchte ich es nennen, was sie in ihrem Urtheil leitet,« versetzte Johannes nachdenklich.

»Du meinst doch nicht, daß Herr Beltram schlecht sei?«

»Das grade nicht, allein in seinem Aeußeren liegt Etwas, das nicht sehr zu seinen Gunsten spricht; mir erscheint es wenigstens so, obwohl ich ihn nur flüchtig sah.«

»Er ist nicht schön,« pflichtete Anna überlegend bei, »ihm darf indessen nicht zur Last gelegt werden, daß er von der Natur so sehr vernachlässigt wurde. Schon allein seiner Häßlichkeit wegen bemitleide ich ihn, nicht zu gedenken, daß er, nach seiner Kleidung und seinem ängstlichen Wesen zu schließen, sehr arm sein muß.«

»Du hast recht, man soll sich nie durch die äußere Erscheinung eines Menschen zu ungünstigen Vorurtheilen bestimmen lassen. In diesem Falle ist es aber nicht das Aeußere, was mich bewegt, Dir zu rathen, im Verschenken Deines Vertrauens vorsichtig zu sein, sondern der scheue Blick, mit welchem der Herr Beltram, wie Du ihn nennst, ebensowohl mich, als auch Dich betrachtete, und die knechtische Unterwürfigkeit, welche sich unverkennbar in seinen linkischen Bewegungen ausprägte. Ich leugne nicht, auf mich machte er einen beunruhigenden Eindruck, ich gebe indessen zu, daß ich mich täuschen kann; jedenfalls aber mahne ich Dich noch einmal zur Vorsicht.«

»Ich werde Deines Rathes stets eingedenk sein,« erwiderte Anna treuherzig, indem sie vor der Thüre eines großen, mehrstöckigen Hauses stehen blieb; »übrigens ist die Beobachtung der nothdürftigsten Formen der Höflichkeit immer noch kein Verschenken des Vertrauens. Nun aber, lieber Johannes, müssen wir uns trennen. In dieses Haus ruft mich meine Pflicht; lebe daher wohl, und wenn Du mich recht glücklich machen willst, dann säume nicht zu lange mit Deinem Besuch; laß uns auch in der Residenz die alten Freunde bleiben, die als Kinder oft ihr Stückchen Brod mit einander theilten – und sollte ich dessen einmal bedürftig sein, lieber, Johannes, dann weisest Du mich nicht zurück, wenn ich dich bitte, wiederum einmal mit mir zu theilen. Augenblicklich leide ich zwar keine Noth, ich halte mich sogar für reich, allein man kann nicht wissen, wie schnell sich das ändert.«

»Lebe wohl,« entgegnete Johannes fast tonlos, indem er der Freundin Hand krampfhaft preßte, »lebe wohl und auf baldiges Wiedersehen.«

Dann wendete er sich hastig ab, um die Gemüthsbewegung zu verbergen, die, wie er fühlte, sich auf seinem Gesicht verrieth.

Anna blickte ihm nach.

»Armer Freund,« flüsterten die frischen, rothen Lippen unbewußt, während Thränen in ihre Augen drangen, »vermöchte ich doch nur, Dir jene Heiterkeit zurückzugeben, welche damals unser trockenes Brod so oft würzte. Du armer Johannes, mein ältester, bester, mein treuster Freund!«

Sie klingelte; gleich darauf trat sie in das Haus ein.

Johannes war bereits um die nächste Straßenecke herumgebogen. Bis dahin hatte er seine aufrechte Haltung bewahrt; dann aber sank, wie vor Erschöpfung, das Haupt auf die Brust, und langsamer wurde sein Schritt.

»Sie möchte ihr Brod mit mir theilen und weiß nicht, wie sie's beginnen soll,« sprach er vor sich hin; »habe ich denn noch nicht schwer genug zu tragen? Muß ich auch das noch von ihr hören? Gottes Segen über Dich, Du freundliches Kind; mir dagegen wäre am wohlsten, dürfte ich mich schon jetzt in das vor mir gähnende Grab legen.«

Er hörte eine Uhr schlagen.

»Es giebt Menschen, die von der Vorsehung eigens dazu auserkoren zu sein scheinen, zu leiden und zu dulden,« seufzte er, und als ob diese Betrachtung ihn ermuthigt und getröstet habe, breitete sich eine sanfte Ruhe über sein erregtes Antlitz aus. –

Anna war auf der breiten Treppe nach dem zweiten Stockwerk hinaufgeeilt, wo auf ihr Klingeln sogleich eine Doppelthür geöffnet wurde. – Ein griesgrämiger Diener führte sie in den Bibliotheksaal, in welchem der Professor den Flügel hatte aufstellen lassen.

»Wie befindet sich der Herr Professor?« fragte Anna mit einer so bezaubernden Freundlichkeit, daß sogar der alte Murrkopf von Diener nicht umhin konnte, flüchtig zu lächeln.

»Der Herr Professor befinden sich ganz nach Wunsch,« antwortete er dann, wie sich nachträglich über das unwillkürliche Lächeln ärgernd, mit verdoppeltem Ernst. »Der Herr Professor sitzen in ihrem Arbeitszimmer im Hinterhause, wo sie durch Ihre Musik nicht gestört werden; Sie mögen daher so laut spielen, wie Sie nur immer Lust haben, er hört's nicht, will's auch nicht hören. Das Geld habe ich dort hingelegt, und wenn Sie weiter nichts wünschen –«

»Nein, ich danke Ihnen herzlich,« versetzte Anna schnell, und ihr liebliches Antlitz glühte vor Verwirrung und Scham.

Die Thür schloß sich hinter dem verschwindenden Diener und Anna war allein.

Langsam, wie schmerzlichem Sinnen hingegeben, legte sie Hut und Tuch ab; gleichsam neuen Muth suchend nach der kränkenden Begegnung des mürrischen Dieners, blickte sie um sich. Nirgend entdeckte sie einen Gegenstand, dessen Anblick tröstlich auf sie eingewirkt hätte. Sie befand sich in einem großen, dreifensterigen Zimmer; schwere, dunkelfarbige Gardinen beschatteten die Fenster; Vorhänge von demselben Stoff verbargen die Thüren. Von den dunkel tapezierten Wänden war nur wenig sichtbar; den größten Theil derselben nahmen bis zur Decke reichende Bücherständer ein, angefüllt mit Werken von allen Größen, von der Pergament-gebundenen Folioausgabe bis zu dem kleinsten Duodezbändchen. Zwischen den Ständern hingen schwarz eingerahmte Kupferstiche und Lithographieen, darstellend verkrüppelte Glieder und Gerippe von Menschen und Thieren. Die übrige alterthümliche, eichengeschnitzte Möbeleinrichtung war offenbar mit großem Aufwande an Geld und Mühe zusammengebracht worden; sie bildete den Hauptschmuck des Zimmers und deutete auf einen etwas wunderlichen Geschmack des Ordners hin. Daß gerade die Bibliothek zum Musikzimmer hergegeben worden war, hing mit dem Umfange der Räumlichkeit zusammen; denn die an den Wänden angebrachten Bilderwerke paßten nicht im Entferntesten zu musikalischen Studien. Einen grelleren Gegensatz zu denselben bildeten aber noch das Gerippe eines riesenhaften Orang-Outangs, welches aufrecht auf einem niedrigen Postamente stand, und eine Reihe grinsender Todtenköpfe, theils von Menschen, theils von Affen, die ein ganzes Brett des größten Bücherständers für sich allein angewiesen erhalten hatten.

Ueber alle diese Gegenstände eilten Anna's Blicke mit einer gewissen Scheu fort; sobald dieselben aber endlich auf dem geöffneten Flügel haften blieben, verwandelte sich die Scheu, wie durch Zauber, in eine Art Enthusiasmus, und schnell nach dem runden Drehsessel hinschreitend, nahm sie vor dem Instrument Platz.

Prüfend glitten ihre Hände über die Tasten. Ursprünglich hegte sie die Absicht, das vor ihr aufgeschlagen stehende Notenheft zu benutzen, allein bevor sie diesen Entschluß ausführte, gingen die kunstvollen Läufer allmälig in Melodien über, wie sie eben durch diesen oder jenen Ton in ihrer Erinnerung wachgerufen wurden. Je länger sie aber spielte, um so mehr belebte sich ihr holdes Antlitz, um so mehr schien die Gewandtheit ihrer zierlichen Finger zu wachsen, und bald war sie mit ganzer Seele in Phantasieen vertieft, die gewissermaßen als ein Ausfluß ihrer reinen Gemüthsstimmung, als eine Wiedergabe der in endlosen Räumen schweifenden Gedanken betrachtet werden konnten.

Sie schienen zu erzählen von der Freude, welche sie über das Wiedersehen ihres getreuen Johannes empfunden hatte, und von ihrer Besorgniß, daß sein Gesicht so bleich und so traurig; was sie zu ihm gesprochen, was er ihr gesagt, was sie gedacht und die Gedanken, welche sie bei ihm voraussetzte, Alles, Alles legte sie in die Musik, welche sie den willig folgenden Tasten entlockte.

Und so spielte sie fort und fort; bald klang's einherrauschend, wie endloser Jubel, bald feierlich gedämpft, wie andächtiges Gebet. An die Klänge der Freude schlössen sich sanfte Klagen und Thränen der Wehmuth an, und Alles, was ein jugendliches, noch von keinem verderblichen Hauche berührtes Gemüth nur immer bewegen kann, das durchzog, ähnlich einem Heer freundlicher Geister, das düstere Zimmer und verwandelte es gleichsam in ein duftendes Blumengefilde. Selbst die grinsenden Schädel auf dem Bücherbrett schienen noch regungsloser geworden zu sein und wollüstig den reichen Tönen zu lauschen, nicht zu gedenken der dickleibigen Folianten und Duodezbände, die sich spreizten und spreizten, als hätten sie alle die vielen Noten, welche verschwenderisch in die leere Ewigkeit hinausgestreut wurden, am liebsten in sich hineingepackt, um sie der Nachwelt aufzubewahren. Der fleischlose Orang-Outang aber mit seinem furchtbaren Gebiß stand da, wie ein Kapellmeister: den dicken Schädel und den durchsichtigen Oberkörper dem Klavier zugeneigt, den einen langen Arm mit den entsetzlich langen Fingern hoch erhoben. Es fehlte nur noch, daß er den Stock, auf welchen er sich stützte, geschwungen und klappernd auf seinen eigenen weißen Rippen den Tact geschlagen hätte.

Anna spielte weiter und weiter; sie merkte nicht das Enteilen der Zeit, noch achtete sie auf die Bilder des Todes und der Vergänglichkeit, die mit hohlen Augen zu ihr herüberstierten. Sie hatte Alles um sich her vergessen, vergessen, daß vielleicht Jemand im Verborgenen lauschte und mit stillem Entzücken ihr Spiel verfolgte; vergessen, daß mit ihrer Anwesenheit in der Bibliothek noch ein anderer Zweck verbunden sein könne.

Und das Zimmer, welches zunächst an die Bibliothek stieß, war in der That nicht vereinsamt, denn die ersten Accorde waren kaum verhallt, da öffnete sich eine mit schweren Schlössern und Riegeln versehene Thür eines Gemachs im Hinterhause, und durch dieselbe schlüpfte auf den Zehen und mit hoch empor gezogenem Höcker und Schultern der Professor.

Ein weiter, grauer, rothverbrämter Schlafrock, dessen Aermel er, wie von schwerer Arbeit kommend, bis an die Ellenbogen zurückgestreift hatte, schlotterte lose um den kleinen, mißgestalteten Körper; eine grüne, goldgestickte Sammetmütze thronte schief auf dem edelgeformten Haupte, so daß der lange, goldene Quast derselben in beständigem Kriege mit den Schultern und dem Höcker lebte. Unter der hohen, geistreichen Stirne hervor aber blitzten die klugen Augen mit einem so seltsamen Feuer um sich, daß man beim Hineinschauen in dieselben die übrigen Gebrechen glaubte verschwinden zu sehen und höchstens in Zweifel blieb, ob ein guter Genius oder ein böser Dämon verstohlen aus ihnen hervorluge.

Nachdem er die Thür seines geheiligten Arbeitszimmers sorgfältig verschlossen und verriegelt hatte, eilte er nach dem Vorderhause hin, von woher die Musik, durch mehrere dazwischen liegende Räumlichkeiten gedämpft, zu ihm drang. Anfangs waren seine Bewegungen hastig, so daß der schlotternde Schlafrock bei jedem neuen Schritte von dem Höcker herunter zu gleiten drohte; je mehr er sich aber der Bibliothek näherte, um so vorsichtiger schlich er einher, um so behutsamer stellte er die Füße auf die weichen Teppiche, um so höher zuckten die unförmlichen Schultern und um so lebhafter blitzten die braunen Augen nach allen Richtungen. Als er dann endlich das an den Saal stoßende Gemach erreichte, da hätte man ihn – ohne deshalb einen Schluß auf seinen Charakter zu ziehen – mit einer Spinne vergleichen mögen, die sich lauernd und beutegierig dem in ihr Netz verstrickten Opfer näherte.

Bis in die Mitte des Gemaches vorschreitend, blieb er plötzlich stehen, und nachdem er einige Sekunden aufmerksam gelauscht, nickte er beifällig. Daß Anna, anstatt sogleich die vor ihr liegenden Musikstücke durchzuspielen sich ihren eigenen Phantasieen hingab, befriedigte ihn, und um sich keine einzige Note derselben entgehen zu lassen, trug er mit großer Mühe einen gepolsterten Lehnstuhl bis in die Nähe der geschlossenen Thüre, auf welchem er sodann Platz nahm.

Den Arm auf die Seitenlehne des Stuhles und das Haupt schwer auf die Hand gestützt, saß er da. Anfänglich schienen seine Augen etwas zwischen den gewebten Arabesken des Teppichs zu suchen; bald aber verloren sich die fast ängstlich lebhaften Bewegungen der durch die gesenkten Lider halb verdeckten Pupillen; der Blick wurde, indem er sich auf eine grüne Rosette heftete, stetig, beinahe starr, und nur noch das Arbeiten der ungewöhnlich hohen Brust und die auf dem sinnenden Antlitze sich gelegentlich spiegelnden Gefühle verriethen, daß Leben in der scheinbar hinfälligen Gestalt wohne.

Und welches Leben! Wie die alternden Züge sich verjüngten bei den rauschenden Jubelmelodieen, und ein Schimmer von Wehmuth sie schmückte bei dem in sanfte, einschmeichelnde Töne gekleideten Gebet! Bald trüber, bald heller glänzten die gesenkten Augen, je nachdem vor den die Erinnerung weckenden Melodieen das Herz schwoll und die Brust sich erweiterte, oder das Blut matter, melancholischer kreiste. Die klingenden Glöcklein und die in sprudelnder Quelle spielenden Fischlein, sie führten die seit mehr als einem halben Jahrhundert entschwundene erste Jugendzeit vor sein geistiges Auge zurück, als er noch nichts kannte, als des Lebens Freuden und des Lebens Glück; jene Zeit, in welcher er aus jeder Blumenglocke frommes Läuten zu vernehmen meinte, als die Sterne noch gediegenes Gold für ihn waren, die sich im flüssigen, echten Silber der auf abschüssiger Bahn ungestüm niederwärts schäumenden Quelle vergeblich zu spiegeln trachteten.

Wie ein Blüthenregen umrieselten ihn die kunstvoll angeschlagenen Töne, wie ein Blüthenregen, reich an Farben, reich an Formen. Dann tropften, wie Perlen, helle, liebliche Noten dazwischen, zugleich heiter und auch doch wieder so melancholisch. Die Perlen aber erinnerten ihn an Thränen, welche der arme Knabe weinte, als er, zum erstenmal zwischen wilde Gespielen tretend, sich seiner körperlichen Gebrechen wegen verhöhnt und verspottet hörte. O, wie bitterlich hatte er damals geweint, als er sich der Mängel in seiner äußeren Erscheinung so recht bewußt wurde, der Mängel, welche er bisher mit demselben Gleichmuthe, gewissermaßen ahnungslos mit sich herumgetragen hatte, wie das weiche, braune Lockenhaar, oder die zarte Gesichtsfarbe und die zierlichen, schön geformten Hände. Auch heute drangen wieder Thränen in seine Augen, Thränen des Mitleides, die dem heranwachsenden Knaben galten, der auf Schritt und Tritt, bei Allem, was er unternahm, beständig an die unverschuldeten Gebrechen erinnert wurde und selbst da, wo zärtliche Liebe ihm aus den Augen theurer Angehörigen entgegenstrahlte, in dem ihm gezollten aufrichtigen Bedauern eine Mahnung an die ihm von der Natur gewordene unverdiente, harte Zurücksetzung erkannte. Bittere Gedanken keimten damals in seiner Seele, bittere Gedanken wiederholten sich heute: Und wenn seine äußere Hülle jeder Anmuth entbehrte, so war ihm dafür ein Geist verliehen, der, nicht durch jugendliche Spiele und romantische Liebeständeleien abgelenkt, sich mit Leichtigkeit weit über alle diejenigen empor zu schwingen vermochte, welche den unbeholfenen Genossen mieden oder ihn gar zum Stichblatt ihrer Neckereien wählten. Ja, er wollte sich über Alle erheben und, um sich abzuhärten gegen ähnliche marternde Eindrücke, mit dem Studium an seinem eigenen, so traurig entstellten, armen Körper beginnen. Mit kalter Aufmerksamkeit wollte er an sich selbst die Ursachen und Wirkungen prüfen, welchen er sein Unglück verdankte; er wollte weiter schreiten auf der Bahn des Wissens und Forschens, und dann erst, nachdem er seinen Ruf begründet, nachdem man sich von seinem hohen wissenschaftlichen Werthe überzeugt, der Welt den Rücken kehren, die für ihn nur bittere, die bittersten Täuschungen in ihrem, manchen Menschen so überreich spendenden Füllhorn hatte.

Nebenan ertönte es bald in vollen Accorden, bald in schüchtern an einander gereihten hellen Noten. Es klang wie das Pochen eines von unbestimmtem Sehnen und Hoffen erfüllten Herzens, wie das kühne Hinaufschwingen nach ungeahnten Höhen und das zaghafte Zurückbeben vor dem Schwindel erzeugenden Abhange.

Schwerer stützte sich das sinnende Haupt auf die Hand. Auch das Herz, welches in der verkrümmten Brust schlug, hatte einen Liebesfrühling gesehen, aber einen Liebesfrühling, aus welchem ihm nur bittere Qualen erwuchsen. Die aufflammenden, ängstlich geheim gehaltenen Empfindungen hatten sengend und brennend an seinem Innern genagt und nur Asche zurückgelassen, welche den fruchtbarsten Boden, die mächtigste Triebkraft für den keimenden Haß und die üppig emporschießende Saat der Verachtung bot.

Choralartig gesellte sich ein Accord zu dem andern, und um dieselben herum, sie gleichsam vereinigend, schlangen sich liebliche, heitere Melodieen.

Abermals befeuchteten sich die gesenkten Augen, als hätte das hinter ihnen wohnende Herz Abschied genommen, schmerzlichen Abschied von der Menschheit, um sich fortan nur einzig und allein dem ernsten Studium zuzuwenden, unbekümmert darum, ob ihm daraus innere Ruhe und Zufriedenheit erwachsen würden.

Ha, und welche Ueberwindung kostete es ihn oft, der übernommenen Rolle treu zu bleiben; wie schwer wurde es ihm, da kalt zu urtheilen und zu lächeln wo sein Herz vor Mitgefühl blutete! Zu den seltsamsten Mitteln mußte er seine Zuflucht nehmen, er mußte sich martern, sich selbst verhöhnen, um bis an sein Lebensende das getreulich durchzuführen, was durchzuführen er mit so vielem Ernst beschlossen hatte.

Die melodiereichen Phantasieen waren beendigt, und indem Anna in dem vor ihr stehenden Notenhefte blätterte, glitt dasselbe auf die Tasten nieder, einen mißtönenden Accord erzeugend.

Der Professor fuhr aus der sinnenden Stellung empor; seine Hände ballten sich, aus den dunkeln Augen blitzte es unheimlich, und nur die Besorgniß, seine Anwesenheit zu verrathen, hielt ihn davon ab, aufzuspringen.

»Der bucklige Professor,« lispelten die bebenden Lippen; es waren die Worte, welche er aus dem unharmonischen Accord deutlich herausgehört zu haben meinte.

»Der bucklige Professor,« wiederholte er; das Haupt sank wieder in die offene Hand, und die eben noch so scharfen, boshaft verzerrten Züge glätteten sich zu einer unbeschreiblich rührenden Milde.

»Sag' mir das Wort, das ich einst hab' gehört,
Lang', lang' ist's her, lang' ist es her,«

tönte es weich und getragen zu ihm herüber.

Es war das Lied, welches er bei dem Kärrner von denselben Händen gehört und in Folge dessen angeschafft und auf den Notenhalter gestellt hatte.

»Lang' ist es her,«

sprachen die vor Wehmuth zitternden Lippen leise, und zwei Thränen rollten auf den grauen Schlafrock nieder. Dann aber lauschte die gekrümmte Gestalt mit einer Spannung und Aufmerksamkeit, als ob sie dadurch, daß sie sich mit ganzer Seele in die liebliche Melodie vertiefte, von ihren Gebrechen hätte geheilt werden können. Das Lied war beendigt und an dieses schlossen sich die reichen Variationen über dasselbe an.

Der weite Raum der Bibliothek glich einem Meer der Töne; die einzelnen Töne aber verwandelten sich in ebenso viele freundliche Geister, für welche die Mauern und Thüren kein Hinderniß. Sich wiegend und schwingend drangen sie in das Nebengemach, wo sie die gekrümmte, stille Gestalt liebreich umtändelten und sich warm und zärtlich anschmiegten an die arme, mißgeformte Brust und an das wunderliche Herz, welches ihnen, trotz des ihm gewaltsam aufgedrungenen Menschenhasses, ebenso warm und zärtlich entgegenschlug. – –

Die Zeit flog dahin, und über zwei Stunden hatte Anna gespielt, als sie sich entsann, daß es wohl Zeit zur Heimkehr sein dürfte.

Der Professor sah überrascht nach der Uhr; er konnte nicht begreifen, so lange auf einer und derselben Stelle gesessen zu haben.

Als er das leise Klingen unterschied, mit welchem Anna das Geld an sich nahm, horchte er hoch auf, als sei er unzufrieden mit sich selbst gewesen.

»Ich möchte es ihr wohl auf eine andere Art zustellen,« folgten seine Gedanken auf einander, »in einer weniger demüthigenden Weise – allein – warum so viel Rücksichten für mir fernstehende, fremde Personen? Ich möchte wohl – und dennoch –« er schüttelte das Haupt, wie um sich der auf ihn einstürmenden milden Gefühle zu erwehren.

Die Flurthür schloß sich hinter dem scheidenden jungen Mädchen. Der Professor erhob sich; schadenfroh rieb er die Hände, sein Antlitz leuchtete vor Entzücken, während sein Höcker ernstlich Sturm läutete.

»Oh, wie die Herren Nachbarn sich ärgern mögen, nicht in das geheimnißvolle Treiben des buckligen Professors eindringen zu können!« sprach er schmunzelnd, »und solche Musik in seiner Wohnung! Haha! Wie sie sich wohl die Köpfe zerbrechen!«

Schnell trat er in die Bibliothek ein. Einen bedauernden Blick warf er auf das verstummte Instrument und auf den leeren runden Sessel. Dann zählte er die weißen Schädel auf dem Bücherbrett, und nachdem er sich überzeugt, daß ihm keiner entwendet worden war, trat er dicht vor das Orang-Outang-Gerippe hin. –

Lange schaute er in die hohlen Augen des grinsenden und zähnefletschenden Hauptes; dann glitten seine Blicke, wie um das scheinbar lauschende Knochengerüst zu beleben, niederwärts, flüchtig zählend die Rippen und prüfend die langen Arme.

»Hätte man die Beweise, daß die ersten Menschen bucklig und verkrüppelt gewesen, möchte man noch unbedingter zu der Darwinschen Theorie hinneigen,« sprach er mit einem Anfluge von Spott, und nachdenklicher fuhr er darauf fort: »aber der Geist, der Geist – ich fürchte, dies ist ein Punkt, an welchem manche Schlußfolgerungen, die Früchte eifriger Forschungen und zahlloser Stunden ununterbrochener Arbeit scheitern werden. Der Daumen am Hinterfuß will nicht viel bedeuten, jeder Mensch ist im Stande – wie die australischen Eingeborenen und die kalifornischen Wurzelfresser zur Genüge beweisen – durch Uebung den Zehen eine erhöhte Gewandtheit zu verleihen.«

Grübelnd schlug er die Hände unterhalb der Schöße seines Schlafrockes in einander, und sich umwendend schritt er langsam davon. Das Instrument, um welches er in weitem Bogen herumging, war für ihn nur noch ein leerer Holzkasten, die auf dem Notenständer liegenden Musikalien Makulatur.

Einige Minuten später klirrten die Schlösser und Riegel der Thüre, welche den Professor in seinem Arbeitszimmer von der ganzen übrigen Welt absonderte.


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