Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant - Teil 1
Balduin Möllhausen

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Sechszehntes Capitel. Der Wohnungswechsel.

Mit geschmackvoller Einfachheit gekleidet saß Frau von Birk in ihrem Empfangszimmer, als ein Wagen vor dem Hause anhielt.

»Es ist also geschehen,« seufzte sie, und wie entkräftet sanken die Hände mit der zwischen denselben befindlichen Stickerei in ihren Schooß. Starr blickte sie vor sich nieder. Dir Farbe kam und wich von ihren noch immer anmuthigen Zügen, während ihr Busen sich krampfhaft hob und senkte, verrathend den heftigen Kampf, welcher in ihrem Innern tobte.

»Dazu auserkoren, ihm das unschuldige Opfer in die Hände zu liefern,« sprach sie schmerzlich bewegt, »nun, wie Gott will – geht es über meine Kräfte – so will ich selbst das Opfer sein.«

Es klingelte. Alsbald erschien die Aufwärterin, Fräulein Anna Werth anmeldend.

»Ich bitte näher zu treten,« antwortete Frau von Birk, indem sie sich erhob, und in der nächsten Minute stand Anna vor ihr, das ihr zugekehrte schöne, jedoch tief bekümmerte Antlitz mit erwartungsvoller Theilnahme betrachtend.

»Sie waren so gütig, mich hierher zu bescheiden,« begann sie schüchtern, doch bevor sie weiter zu sprechen vermochte, hatte Frau von Birk, förmlich überwältigt durch den Anblick der vertrauensvollen Unschuld, welche ihr so lieblich aus Anna's freundlichen Augen entgegenstrahlte, ihr die Hand gereicht, sie bittend, neben ihr auf dem Sopha Platz zu nehmen.

»Sie wünschten, mich wegen Musikunterricht zu sprechen, Frau Geheimeräthin,« wiederholte Anna ihre Anrede, obwohl befremdet über den stummen Empfang, mit ungekünsteltem und daher doppelt bezauberndem Anstande.

Frau von Birk wendete sich ab, wie um neue Kräfte zu der ihr aufgezwungenen Aufgabe zu sammeln, doch schnell sich Anna wieder zukehrend, hob sie an:

»Bevor ich zu dem eigentlichen Zweck Ihres Hierseins übergehe, liebes Fräulein, erlauben Sie mir, eine kurze Erklärung von Umständen voranzuschicken, welche Sie anderen Falls vielleicht beängstigen möchten.«

Hier schöpfte sie tief Athem, wobei sie, vor dem besorgten Ausdruck, mit welchem Anna zu ihr aufsah, die Augen verwirrt niederschlug.

»Sie brachten einen Brief Ihrer verstorbenen Mutter an den Rechtsanwalt Alvens?« fragte sie dann mit mühsam errungener Fassung.

»Ich übergab ihn nicht persönlich,« antwortete Anna und banges Erstaunen prägte sich in ihrem holden Antlitz aus, »nein, ich übergab ihn nicht selbst, sondern ein braver, rechtschaffener Mann, in dessen Haus und Familie ich liebreiche Aufnahme fand, war so gütig, den Brief an seine Adresse zu befördern.«

»Braun, der Kärrner Braun,« versetzte Frau von Birk schnell, »ehrenwerthe Leute, bei welchen Sie vortrefflich aufgehoben sind, obwohl es kaum in den Wünschen Ihrer edlen Mutter gelegen hat, daß Sie gerade dort ein Unterkommen finden möchten.«

»Ich sehne mich nicht fort,« entgegnete Anna verwirrt und von bangen Ahnungen beschlichen, »hätte aber meine arme Mutter jene Leute gekannt, würde sie gewiß meinen Entschluß, bei ihnen zu bleiben, gebilligt haben.

»Ich wage nicht, Ihre Angabe zu bestreiten, liebes Fräulein,« erwiderte Frau von Birk, und es wurde ihr schwer, es auszusprechen, »doch haben Sie etwa den Brief Ihrer Mutter gelesen?«

»Meine Mutter hatte ihre besonderen Gründe, mir den Inhalt zu verschweigen, und nie dachte ich daran, nach demselben zu forschen.«

»Sie handelten mit der einer treuen Tochter würdigen Pietät, und dennoch sind gerade in Folge jenes Briefes Umstände und Verhältnisse eingetreten, welch es dem Empfänger zur Pflicht machen, Sie wenigstens theilweise von den letzten Wünschen Ihrer um Sie so namenlos besorgten Mutter zu unterrichten. Sie sollen indessen zu nichts gedrängt werden; ich erlaube mir nur, Sie zu fragen, ob Sie bereit sind, die betreffenden Erklärungen jetzt entgegen zu nehmen?« Anna sann eine Weile nach. Obwohl Frau von Birk in der liebreichsten Weise zu ihr sprach, sehnte sie sich weit fort von ihr. Die ihr gezollte Theilnahme vermochte den unbestimmten Argwohn nicht zu verscheuchen, welcher sich in ihrer Seele zu regen begann; die Zweifel aber, welche sie bestürmten, spiegelten sich deutlich auf ihrem Antlitz, als sie nach geraumer Zeit zögernd antwortete: »Der Brief war an den Herrn Rechtsanwalt Alvens gerichtet –«

»Ganz recht,« fiel ihr Frau von Birk in's Wort, »es muß Sie natürlich befremden, daß nicht er, sondern eine Ihnen Fremde diese Angelegenheit zur Sprache bringt. Erkennen Sie indessen darin nur die zartesten Rücksichten des Herrn Alvens, der nach reiflichem Ueberlegen vorzog, Sie durch mich auf die Ihnen bevorstehenden Eröffnungen vorbereiten zu lassen.«

»Durch meine Gastfreunde ist mir bereits der Rath des Herrn Alvens übermittelt worden, meinen jetzigen Aufenthaltsort mit einem anderen zu vertauschen,« versetzte Anna schnell, während ihr Herz sich krampfhaft zusammenzog.

»Und sie sind nicht darauf eingegangen, ich weiß es,« entgegnete Frau von Birk mit einem matten Lächeln, »doch lassen wir das vorläufig, liebes Kind, und halten sie sich überzeugt, daß keine Bestimmungen über Ihre Zukunft getroffen werden, welche nicht mit Ihrem Willen und Wünschen im Einklang stehen. Kommen wir indessen noch einmal auf den Brief zurück,« fuhr sie erleichterten Herzens fort, als sie zu entdecken glaubte, daß Anna neuen Muth gewann, »und da muß ich Ihnen vor allen Dingen eröffnen, daß in Folge einer letztwilligen Verfügung Ihrer verstorbenen Mutter, die Vormundschaft über Sie auf Herrn Alvens übergegangen ist.«

»Er mein Vormund?« rief Anna sichtbar erschreckt aus, während ihre Augen sich umflorten.

»Kennen Sie ihn nicht?« fragte Frau von Birk verwirrt.

»Gesehen habe ich ihn wohl,« lautete die ängstliche Antwort, »doch geahnt hätte ich nie – auch nicht gewünscht, daß er mir so nahe treten möchte. Es mag tadelnswerth von mir sein, allein ich kann das Vorurtheil nicht besiegen, welches ich dadurch gegen ihn faßte, daß er schon damals zwischen mich und meine Wohlthäter treten wollte.«

Ueber Frau von Birks Antlitz flog es wie ein Schimmer heimlichen Triumphes; in der nächsten Sekunde hatte der Ausdruck bitterer Ergebung wieder die Oberhand gewonnen.

»Sie beurtheilen ihn zu hart,« sprach sie mit innerem Widerstreben, »wenn Sie ihn erst genauer kennen, werden Sie milder über ihn denken – ich hoffe es – zuversichtlich – denn mit Ihnen meint er es aufrichtig und gut, und dann stehen ihm auch weitreichende Mittel zu Gebote, Ihre Zukunft sicher zu stellen. Ich kenne leider die Verhältnisse nicht genau genug, um Ihnen eine ausführlichere Erklärung zu geben; nur so viel scheint fest zu stehen, daß Ihre verstorbene Mutter manches ihr Gebotene nicht für sich in Anspruch nahm, nur um es Ihnen zuzuwenden. Die Vortheile, deren Sie sich fortan erfreuen werden, sind also gewissermaßen eine Erbschaft Ihrer Mutter, welche anzutreten Sie keinen Augenblick zaudern dürfen. Ihnen Letzteres mitzutheilen, bin ich von Ihrem väterlichen Freunde ausdrücklich beauftragt, damit es Sie nicht befremdet, wenn Ihre Lage sich plötzlich in glänzendster Weise umgestaltet.«

So lange Frau von Birk sprach, lauschte Anna mit angehaltenem Athem, als ob sie ihren Sinnen nicht getraut hätte, und immer schärfer trat auf ihren erregten Zügen die Bangigkeit hervor, welche sie beseelte. Dann aber belebte sich ihr Antlitz wieder, in ihren klaren Augen flammte es empor, wie das Erwachen eines in der holden, fast noch kindlichen Gestalt schlummernden festen Willens, und sich Frau von Birk zukehrend, fragte sie mit wunderbar ruhiger Entschiedenheit:

»Derjenige, der mich mit Reichthum und Glanz umgeben möchte, dessen Hülfe und Beistand meine Mutter verschmähte und an den ich mich nur im äußersten Nothfall wenden sollte, ist es Herr Alvens selbst?«

»Diese Frage zu beantworten, liegt nicht in meiner Macht,« versetzte Frau von Birk überzeugend, »ich kann Ihnen nur das offenbaren, was ich selbst weiß. Im Uebrigen muß ich Sie nothgedrungen an Ihren Herrn Vormund verweisen.«

»Ich fühle mich nicht veranlaßt, Herrn Alvens mit Fragen zu belästigen,« erwiderte Anna nicht minder bestimmt, »ich bin mit meinem jetzigen Loose vollkommen zufrieden, und wenn meine Mutter ihre Beweggründe hatte, die ihr vielleicht aufgedrungenen Wohlthaten zurückzuweisen, so sind diese mir unbekannten Beweggründe auch maßgebend für mich. Sie haben wohl die große Güte, Herrn Alvens dies mitzutheilen. Für das Wohlwollen, mit welchem er die Vormundschaft übernommen hat, sage ich ihm meinen aufrichtigen Dank, hege indessen die Hoffnung, daß ihm diese Vormundschaft nicht viel Mühe verursacht. Gehören doch nur wenige Unterrichtsstunden dazu, meine Unabhängigkeit zu sichern, und der Anfang ist ja schon gemacht.«

Die letzten Worte begleitete sie mit einem so süßen, gleichsam selbstbewußten Lächeln, daß Frau von Birk sie hätte an ihre Brust ziehen, sie um Verzeihung bitten mögen für die Täuschung, zu welcher sich herzugeben ein finsteres Geschick sie gezwungen hatte.

»Ich erwarte Herrn Alvens noch heute,« sagte sie nach kurzem Nachdenken, wie zweifelnd, »er kann in jedem Augenblick eintreffen.«

»So bin ich wohl gar nicht des zu ertheilenden Unterrichtes wegen hierher beschieden worden, Frau Geheimeräthin?« fragte Anna besorgt.

»Nein, nicht wegen des Unterrichtes,« antwortete Frau von Birk, vor Scham tief erröthend und kaum verständlich, »auch bin ich keine Geheimeräthin,« fügte sie hinzu, die Blicke unwillkürlich vor den unschuldvollen blauen Augen senkend, »ich bin die Wittwe eines früh verstorbenen Officiers – Herr Alvens hat lange geschwankt, bevor er sich zu dem Ihnen gewiß seltsam erscheinenden Schritt entschloß – Sie begreifen, in den verschiedenen Volksschichten weichen die Ansichten sehr von einander ab, und Ihre alten Gastfreunde mögen noch so rechtschaffen und ehrenwerth sein, so dürfen Sie durch dieselben bei wichtigen Beschlüssen doch nicht beeinflußt werden. Aber auch die Gefühle der biederen Leute zu schonen, lag in Herrn Alvens' Absicht, und da er selbst keine Familie besitzt, so habe ich mich auf seine Bitten bereit erklärt, Sie bei mir aufzunehmen.«

»So bin ich getäuscht worden,« sprach Anna leise und von unbestimmter Furcht erfüllt.

»Ja, Sie sind getäuscht worden,« gab Frau von Birk zu, »aber glauben Sie mir, einen schweren Kampf hat es mich gekostet, bevor ich einwilligte, mich an dieser Täuschung zu betheiligen. Nur das feste Vertrauen, daß für Sie unberechenbare Vortheile auf dem Spiele stehen, hat mich überhaupt dazu bewegen können. Und dann – ja, liebes Fräulein – es ließ sich fast voraussetzen, daß Sie schwerlich hierher gekommen wären, wenn nicht –« »Nein, ich wäre gewiß nicht gekommen,« fiel Anna hastig ein, »oder ich hätte Jemand gebeten, mich zu begleiten; das Vertrauen zu meinem künftigen Vormunde aber kann unmöglich dadurch befestigt werden, daß man mich unter falschen Vorspiegelungen hierherlockte.«

Der bittere Vorwurf, der in Anna's Worten lag, und die Blicke beleidigter Unschuld, welche sie, während sie sprach, auf Frau von Birk richtet, erschütterten diese tief. Nur die Ueberzeugung, daß Alvens' Pläne an der instinctartigen Abneigung und dem erwachenden Selbstgefühl des jungen Mädchens scheitern würden, hielt sie ab, einem unwiderstehlichen Drange folgend, mit rückhaltloser Offenheit zu dem arglosen Opfer zu sprechen; aber mit der unbestimmten Absicht, wenigstens für sich selbst Anna's Vertrauen zu gewinnen, ergriff sie nach einigem Zögern deren Hand mit Innigkeit.

»Herr Alvens muß bald eintreffen,« begann sie sichtbar verlegen, »Sie dürfen dann einer ausreichenden Erklärung mit Zuversicht entgegensehen. Betrachten Sie sich daher vorläufig nur als meinen Gast, als meinen lieben Gast, von welchem ich wünsche, daß er sich, wenn auch nur auf ganz kurze Zeit, heimisch bei mir fühlen möge.«

»Ich versprach, innerhalb einer Stunde zurück zu sein, und diese Stunde ist bereits abgelaufen,« versetzte Anna mit wachsender Unruhe.

»Man weiß Sie in guten Händen,« tröstete Frau von Birk, indem sie sich erhob und nach dem mitten in dem Zimmer stehenden Flügel hinschritt. Sie hatte indessen ihre Absicht, das Instrument zu öffnen und durch dessen Klang Anna's Aufmerksamkeit zu fesseln, noch nicht ausgeführt, als es draußen klingelte und gleich darauf Alvens mit unverkennbarer Eile eintrat.

»Mein liebes Kind!« rief er in väterlichem Tone aus, nachdem er Frau von Birk flüchtig, jedoch sehr höflich begrüßt hatte, »wie freue ich mich, Sie endlich in einer Umgebung zu sehen, die etwas mehr mit den Ansprüchen im Einklänge steht, welche Sie mit Recht erheben dürfen! Seien Sie mir willkommen, herzlich willkommen in diesem Hause, in der Wohnung meiner treuen, langjährigen Freundin, die auch Ihnen eine treue, eine mütterliche Freundin sein wird!« und scheinbar tief gerührt ergriff er Anna's Hände, dieselben innig drückend und ihr wohlwollend in die erstaunten Augen schauend. »Ja, mein liebes Kind,« fuhr er für einen Vormund fast zu stürmisch fort, und schmeichelnd legte er die eine Hand auf das Haupt des rathlos dastehenden jungen Mädchens, »ich segne das Andenken Ihrer verewigten Mutter, die sich in ihren letzten Lebenstagen ihrer ergebenen Freunde erinnerte und Sie namentlich meinem Schutz anvertraute. Ich sprach nicht früher zu Ihnen darüber, mein liebes Kind, weil ich vorher in Ihrem Interesse Einiges zu regeln wünschte, und das ist mir endlich gelungen – vielleicht wurde Ihnen schon mitgetheilt, daß die Vormundschaft über Sie nunmehr in meinen Händen ruht?«

»Die gnädige Frau waren so gütig,« antwortete Anna verwirrt, denn die Zärtlichkeit des ihr fast fremden Mannes, welchen sie von der Familie Braun nicht geliebt wußte, ängstigte sie.

»Gut, mein liebes Kind,« versetzte Alvens, das bebende Mädchen zu Frau von Birk hinführend, welche ihn und Anna abwechselnd mit tödlicher Spannung beobachtete, »Sie sind also vorbereitet und werden Vertrauen zu mir fassen, zu mir und zu Ihrer mütterlichen Freundin, welche Ihnen ein ganzes Herz voll Liebe entgegenträgt.«

»Ich – ich soll hier bleiben?« fragte Anna entsetzt, und ihre Hand dem Rechtsanwalt entziehend, wich sie scheu einen Schritt zurück, »ich soll hier bleiben, wohin man mich unter falschen Vorspiegelungen lockte? Nein, mag später von denjenigen, die ein Recht dazu haben, über meine Zukunft beschlossen werden, was da wolle, heute bleibe ich nicht, kann ich nicht bleiben! Ich bitte daher, mir zu gestatten, mich sogleich zu entfernen – ich finde den Weg allein und zu Fuß – ich würde überhaupt nie wieder von einem unbekannten Wagen Gebrauch machen.«

Während Anna dies mit einem Ausdruck sagte, in welchem heimliche Angst und innere Entrüstung gleichsam im Kampfe mit einander lagen, griff sie nach Hut und Mantel, als Alvens wieder vor sie hintrat und sie mit freundlicher Ruhe bat, auf seine Worte zu achten.

»Ihre Anhänglichkeit an die braven Brauns gereicht Ihnen zur größten Ehre,« begann er, »und ich bin gewiß der Letzte, der störend in ein Verhältniß eingreifen möchte, welches die Vorsehung so recht mit vollem Bedacht geschaffen zu haben scheint. Wenn ich aber trotzdem darauf bestehe, als Ihr Vormund darauf bestehe, daß Sie fortan dieses Haus als Ihre Heimath betrachten, so geschieht das nicht etwa in Folge einer flüchtigen Laune, sondern nach langem, reiflichem Erwägen, und nachdem ich die Ueberzeugung gewonnen, das Beste für Sie erwählt zu haben. Ihre auf ungewöhnliche Art in's Werk gesetzte Uebersiedelung dagegen werden Sie vollkommen gerechtfertigt finden, wenn ich Ihnen betheure, daß ich Scenen zu vermeiden wünschte, welche nothwendiger Weise bei allen Betheiligten einen unfreundlichen Eindruck zurückgelassen hätten. Sie selbst müssen einräumen, daß der biederherzige Kärrner und seine etwas excentrische Frau in manchen Dingen sehr schwer zu überzeugen sind, und gerade Sie hätten bei einzelnen Meinungsverschiedenheiten am meisten gelitten. Nun aber ist Alles geordnet, und die Zukunft wird und muß Sie belehren, daß füglich kein anderer Weg eingeschlagen werden konnte, wenn Ihre Gefühle geschont und zugleich Ihre fernere Wohlfahrt nicht vernachlässigt werden sollte. Um Sie indessen gänzlich zu beruhigen, mein liebes Kind, begebe ich mich heute noch zu Ihren Freunden, um sie von Ihrem Wohlergehen in Kenntniß zu setzen, sie zu trösten und sie zu bitten, Ihrem Glücke nicht hindernd entgegenzutreten. Auch Ihre Sachen soll man schicken oder – wenn Sie es wünschen – selbst bringen, und sind Sie nach einigen Tagen geneigt, die guten Leute zu besuchen, so wird Frau von Birk die Güte haben, Sie in einem Wagen zu begleiten.«

Hier schwieg Alvens; es wurde eben eine Lampe hereingebracht und auf den Tisch gestellt, bei deren Schein er zu erforschen trachtete, welche Wirkung seine Worte auf Anna ausübten.

Diese schien ihren Sinnen noch immer nicht zu trauen, als sie vernahm, daß sie sich als eine Gefangene zu betrachten habe. Wie Rath erflehend blickte sie zu Frau von Birk hinüber, die sich abgewendet hatte, als sei es ihr peinlich gewesen, wie Alvens sein Recht als Vormund geltend machte, für Anna ein Beweis, daß sie sich in der Gewalt Jemandes befand, der, mochte er es nun gut oder böse meinen – weder ihre Neigungen noch Wünsche berücksichtigte.

»Ich sollte wirklich nicht mehr zu meinen Freunden heimkehren dürfen?« fragte sie endlich zagend, nicht länger im Stande, ihre Thränen zurückzuhalten.

»Es dient zu Ihrem Besten, mein liebes, gutes Kind,« erwiderte Alvens, indem er versuchte, sich wieder Anna's Hand zu bemächtigen, was ihm nicht gelang, da jene, wie von Widerwillen beseelt, scheu zurückwich, »ja, nur zu Ihrem Besten,« wiederholte er, seinen Unmuth dadurch verbergend, daß er mit dem Taschentuch leicht über sein Gesicht hinfuhr, »fügen Sie sich daher in das Unabänderliche und trösten Sie sich mit dem Gedanken, daß meine Handlungsweise später Ihre volle Billigung finden wird.«

»Nie wird sie das!« rief Anna aufflammend aus; im nächsten Augenblick aber hatte die Weichheit ihres Gemüthes wieder die Oberhand gewonnen, und ihre Hände faltend, fuhr sie leiser fort: »Ich füge mich heute, weil ich nicht anders kann, weil es dennoch möglich ist, daß die Bestimmungen meiner Mutter –«

»Ja, ja, mein liebes Kind,« nahm Alvens schnell die letzte Bemerkung auf, »wenn Sie selbst an die Verklärte erinnern, darf ich wohl andeuten, daß ich nur streng im Sinne der Ihnen zu früh Entrissenen handle und in diesem Bewußtsein weniger schmerzlich den Vorwurf empfinde, welcher mir in Ihren Thränen schwer auf die Seele fällt.«

Anna sah vor sich nieder. Was Alvens sprach, klang so aufrichtig, so wohlmeinend, und dennoch vermochte sie nicht, Vertrauen zu ihm zu fassen. Solche Empfindungen äußerten sich auch im Tone ihrer Stimme, als sie, die Augen schwermüthig aufschlagend, derer gedachte, die zur Zeit wohl besorgt nach ihr ausschauten und sich vergeblich ihr Ausbleiben zu erklären suchten.

»Würden mir auch morgen Hindernisse in den Weg gelegt werden, wenn ich –?« fragte sie, doch stockte sie, als sie in Alvens' Zügen die gefürchtete Antwort las, und wie Rettung von ihrem nächsten Einwand erhoffend, rief sie mit ergreifender Bangigkeit aus: »Aber meine Musikstunde bei dem Herrn Professor! Es wird mir doch nicht verwehrt sein, meinen eingegangenen Verpflichtungen nachzukommen?«

»Auch daran habe ich gedacht,« erwiderte Alvens beruhigend, »ich nahm Veranlassung, mit dem Professor Ihretwegen Rücksprache zu nehmen, und nach Schilderung Ihrer Lage pflichtete er mir bei, daß Sie füglich hinfort keinen Unterricht mehr ertheilen dürften.«

Indem Alvens dies sagte, machte er sich einer groben Unwahrheit schuldig; allein so groß war die Gewalt der Seelenreinheit, welche ihm aus Anna's ängstlich forschenden Augen entgegenstrahlte, daß er deren Blicke nicht ertragen konnte. Wie in Vorahnung eines heftigen Gefühlsausbruches, welchen zu beschwören er Frau von Birk anheim zu geben gedachte, traf er mit seltsamer Hast Anstalt, sich zu entfernen, und da Niemand nach ihm das Wort ergriff, fuhr er, sich zum Aufbruch rüstend, mit seinen Entschuldigungen und Trostesgründen fort:

»Gern bliebe ich noch länger,« begann er, und diesmal gelang es ihm wirklich, Anna's Hand zu ergreifen und flüchtig zu drücken, »allein ich fühle mit Ihnen, daß Ihre Freunde über Ihr Ausbleiben beruhigt werden müssen. Mein erster Gang soll daher zu ihnen sein. Ich überlasse Sie unterdessen der Fürsorge meiner hochverehrten Freundin; und Sie, meine gnädige Frau, Ihnen könnte ich nicht warm genug an's Herz legen, sich meines theuern, elternlosen Schützlings mütterlich anzunehmen, hätte ich nicht schon sovielfach Ihren hohen Edelmuth kennen gelernt.«

Dann verneigte er sich tief vor Frau von Birk, und nachdem er, wie von seiner väterlichen Hinneigung übermannt, Anna im Vorbeigehen zutraulich auf die Schulter geklopft, trat er auf den Corridor hinaus.

Lange stand Anna wie versteinert auf derselben Stelle, die Blicke starr auf die Thür gerichtet, durch welche ihr Vormund verschwunden war. Erst als unten die Hausthür mit dumpfem Schlage zufiel, schien sie wieder zum vollen Bewußtsein ihrer Lage zu erwachen. Mit einer hastigen Bewegung wendete sie sich Frau von Birk zu; Worte des Vorwurfs und Aeußerungen der namenlosesten Seelenangst schwebten ihr auf den Lippen, allein sie wurde entwaffnet und beruhigt durch den Ausdruck der innigsten Theilnahme und des Mitleids, mit welchem Frau von Birk sie betrachtete. »Sagen auch Sie, daß ich hier bleiben muß?« fragte sie kummervoll, »o, ich sehe es, Sie werden mir keinen Zwang auferlegen, Sie werden Mitleid mit mir und den guten Brauns haben –«

»Die Macht eines Vormundes reicht zu weit, als daß ich wagen dürfte, störend in seine Anordnungen einzugreifen,« fiel Frau von Birk Anna in's Wort, deren Bitten ihre Seele, wie ebenso viele Geißelhiebe trafen; »das Einzige, was ich Ihnen bieten kann, das soll Ihnen im vollsten Maße werden, nämlich ein Herz voll Liebe, welches Ihnen in allen Verhältnissen und Lagen des Lebens mit unerschütterlicher Treue zur Seite steht.«

»Sie sagen das so schwermüthig, Sie betrachten mich so traurig und mitleidig!« rief Anna schmerzerfüllt aus, »harret meiner denn wirklich ein so trübes Loos, daß Ihr Mitleid dadurch wachgerufen wird?«

»Meine Schwermuth, mein Mitleid?« fragte Frau von Birk zögernd, denn die Vorstellung, daß Anna in ihrer Seele gelesen haben könne, verwirrte sie, »o, glauben Sie mir,« fuhr sie alsbald ruhiger fort, »meine Erfahrungen sind wohl der Art, daß die Traurigkeit leicht Eingang bei mir findet; Ihnen dagegen lächelt noch des Lebens hoffnungsreichste Zeit – mißtrauen Sie indessen einem wankelmüthigen Glück; lassen Sie sich nicht durch Scheinglanz verblenden, und bei Allem, was Sie je unternehmen oder beschließen, folgen Sie stets allein den Eingebungen Ihres Herzens, denn Ihr Herz – es kann Sie nicht täuschen, kann keinen Mißgriff begehen.«

»Wie soll ich meinen Neigungen folgen, wenn ich gefangen gehalten werde?« fragte Anna träumerisch, denn wie Räthsel erschienen ihr die eben vernommenen Worte; »man lockt mich aus mir lieb gewordenen Verhältnissen fort, ohne für nöthig zu halten, nach meinem Willen zu fragen; man gestattete mir nicht einmal, die zum gewöhnlichsten Alltagsleben fast unentbehrlichen Gegenstände mitzunehmen –«

»Sie finden hier Alles, was Sie bedürfen,« erwiderte Frau von Birk tröstend, »es soll Ihnen Nichts fehlen. Wo aber Ihr Herr Vormund vielleicht als Mann nicht gleich den rechten Weg zu finden weiß, wo ein weibliches Urtheil und die Erfahrungen einer schwer geprüften Frau von Nutzen sein können, da, liebes Fräulein, werde ich über Sie wachen, werde ich Ihnen treu zur Seite stehen, und sei es auch nur, um mich mit dem Bewußtsein einer letzten gewissenhaften Pflichterfüllung in's Grab zu legen. An Ihnen dagegen ist es, schon allein um Ihrer selbst willen, mir zu vertrauen, und ich trete für Sie ein mit derselben Opferwilligkeit, als ob ich Ihre leibliche Mutter wäre.«

So lange Frau von Birk im Auftrage Alvens' handelte, war es ihr nicht gelungen, das erwachende Mißtrauen ihrer Schutzbefohlenen zu verscheuchen. Sobald sie aber ihr eigenes Herz sprechen ließ, mit rückhaltloser Offenheit ihre wahren Gefühle äußerte, schwand der Argwohn aus dem Herzen Anna's. Heiße Thränen entstürzten ihren Augen, und als ob sie weiteren Trost von ihr erwartet hätte, duldete sie, daß jene sie in ihre Arme schloß und sanft neben sich auf das Sopha niederzog.

Sie, die bisher die Kraft nicht besessen hatte, sich den Fesseln zu entwinden, welche Alvens mit hinterlistiger Berechnung um sie legte, in diesem Augenblick war sie bereit, den edelsten Regungen, welche in ihrer Brust lebten, mit Hintenansetzung ihres starren Stolzes, ihrer ganzen Scheinexistenz, blindlings freien Spielraum zu gewähren. Zu oft aber schon hatte sie ihre ernstesten Vorsätze vor Alvens Blicken und Worten in Nichts zusammensinken sehen.

Alvens selbst befand sich um diese Zeit in der Nachbarschaft von des Kärrners Gehöft. Er näherte sich demselben nur so weit, wie nöthig war, sich von dem Nichteintreffen des Frachtwagens zu überzeugen; dann trat er munter und guter Dinge den Heimweg an.

»Alles glückt,« murmelte er zufrieden, »und unter dem trostreichen Zuspruch meiner alten verständigen Freundin wird sich das kleine holde, widerspänstige Wesen zur Zeit wohl schon so weit getröstet haben, daß es weniger zornig des gestrengen Herrn Vormundes gedenkt.«

Der gute Alvens, wie glaubte er doch, Alles so schlau ausgedacht und eingeleitet zu haben.


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