Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant - Teil 1
Balduin Möllhausen

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Neunzehntes Capitel. Das Entkommen.

In trüber Einförmigkeit war der Tag entwichen. Frau von Birk hatte sich beständig in Anna's Gesellschaft befunden, sie zu zerstreuen, zu trösten und aufzuheitern gesucht, was ihr indessen nur in geringem Maaße gelang.

Oft schien es wohl, als ob das liebevolle Entgegenkommen die Schranke durchbrechen wolle, durch welche Anna sich von jener getrennt fühlte, und es zog sie hin zu ihr, von der allein sie Trost in ihrer gezwungenen Abgeschiedenheit erwarten konnte; in der nächsten Minute aber quälte sie wieder der Gedanke: daß Frau von Birk sich mit vollem Bewußtsein an der gegen sie verübten Täuschung betheiligt habe und daher die Beweise ihrer wohlwollenden Gesinnungen unmöglich als der wahre Ausdruck ihrer Gefühle betrachtet werden dürften.

Zu ihrer Beruhigung gereichte, daß Alvens, seitdem er sie zum ersten Male als Vormund begrüßte, nicht mehr bei ihr erschienen war, wenn auch durch Uebersendung einer reichen Auswahl von Blumen seine Person in ihrer Erinnerung frisch zu erhalten suchte. Sie nahm die Blumen hin, ohne sich an denselben zu erfreuen, als seien sie gar nicht für sie bestimmt gewesen. Kamen sie doch von dem Manne, der sie mit grausamer Härte ihrer Freiheit beraubte, sie von den einzigen Menschen getrennt hielt, welche sie zärtlich liebte und von denen sie sich ebenso zärtlich geliebt wußte. –

Unter dem schwer verhangenen Himmel begann die herbstliche Atmosphäre sich langsam zu verdunkeln, noch bevor die versteckte Sonne unter die Linie des Horizontes hinabgesunken war. Frau von Birk und Anna befanden sich in dem Zimmer, in welchem der Flügel stand, der seit Anna's Eintreffen noch nicht geöffnet worden war. Sie, die so vielfach, wenn leichte Wolken ihren natürlichen jugendlichen Frohsinn verschleierten, in der Musik Aufheiterung gesucht hatte, betrachtete das kostbare Instrument mit Gleichgültigkeit, sogar mit einer Art Scheu, ähnlich einer melodiereichen Nachtigall, die hinter den eisernen Stäben ihres Käfigs verstummte. Eine geheime Stimme schien sie über den Zweck zu belehren, zu welchem man sie mit allen nur erdenklichen Annehmlichkeiten umgab. Es erging dem Instrument, wie den Blumen: Beides kam von Alvens, und wie von einem dumpfen Instinct geleitet, fürchtete sie, die Aufmerksamkeiten, welche sie jenen erwies, mittelbar auf diesen zu übertragen, auf ihn, dessen sie nicht anders, als mit Angst und Mißtrauen zu gedenken vermochte. Selbst das Bewußtsein, durch ihre sterbende Mutter an den neuen Vormund gewiesen worden zu sein, befreite sie nicht von dem unheimlichen Druck, welcher auf ihrem Gemüth lastete.

Sinnend sah sie zum Fenster hinaus und gleichgültig beobachtete sie die Leute, welche die Straßen unabänderlich belebten. Frau von Birk hatte schon zweimal gefragt, ob Licht gebracht werden solle, ohne eine andere Antwort zu erlangen, als daß sie mit Allem zufrieden sei und nicht wünsche, ihretwegen die gewöhnliche Hausordnung gestört zu sehen. Sie gedachte dabei der trauten Dämmerungsstunden im Hause des Kärrners, welche sie mit Musik zu verbringen pflegte, eine Beschäftigung, bei der ihr die Dunkelheit nie fühlbar wurde.

Frau von Birk, schmerzlich berührt durch den sichtbaren Mangel an jeder Spur von Vertrauen und den Grund dafür mit blutendem Herzen in der eigenen Vergangenheit suchend, hatte sich ebenfalls schwermüthigen Grübeleien hingegeben, als Beltram angemeldet wurde.

Schnell begab sie sich hinaus, und erst nachdem sie vernommen hatte, daß Alvens einen genaueren Bericht über Anna's Befinden und Gemüthszustand wünsche, ließ sie Beltram eintreten, während sie selbst sich in das Nebenzimmer zurückzog, um das Verlangte sogleich niederzuschreiben. Von Anna's Unterhaltung mit Beltram fürchtete sie nichts; sie kannte die Abneigung der Ersteren gegen diesen, und gern gönnte sie Alvens die Beschämung, durch seinen Secretair das bestätigt zu hören, was sie selbst ihm brieflich mitzutheilen beabsichtigte.

»Nehmen Sie Platz,« wendete sie sich, bevor sie hinaustrat, noch einmal an Beltram, »und Sie, liebe Anna, wenn Sie vielleicht dieses oder jenes Ihrem Herrn Vormunde mitzutheilen wünschen – Herr Beltram wird gewiß so gütig sein, Ihre Aufträge zu übernehmen.«

»Unbedingt, geehrtes Fräulein,« bekräftigte Beltram schnell, indem er, anstatt sich niederzusetzen, mit zwei unbeholfenen, jedoch geräuschlosen Schritten nach dem Fenster zu Anna hinschlich, »ich werde mir jeden kleinen Beweis Ihres Vertrauens zur höchsten Ehre anrechnen ...«

Hier schwieg er plötzlich; er unterschied, daß in dem Nebenzimmer eine Thür geöffnet wurde; sobald dieselbe aber gleich darauf hinter Frau von Birk zugefallen war, fuhr er mit geheimnißvollem Wesen und leidenschaftlich erregter Stimme fort:

»Ich komme von Ihren Freunden – ich bin ebenfalls Ihr Freund, wenn ich mich auch scheue dieses offen zu bekennen. Verzeihen Sie mein zudringliches Wesen, allein die Zeit drängt und meine ganze Existenz ist gefährdet. Die Brauns grüßen und ich soll Ihnen sagen, daß Sie sich in schlechten Händen befinden. Sie müssen gerettet werden – dieser Brief besagt Alles – ich selbst, als die am wenigsten verdächtige Persönlichkeit, bin auserkoren worden, Ihre Rettung zu bewirken, das heißt, Sie mit Ihren Freunden zu vereinigen. Sie werden erwartet – eine große Gefahr droht Ihnen hier; entschließen Sie sich also, dort drüben an der Ecke der Nebenstraße werde ich nach Ablauf einer Stunde Ihrer harren. Ich werde harren, bis tief in die Nacht hinein; entweder heute oder nie – man kommt, ermannen Sie sich und handeln Sie schnell, wenn Sie nicht die Gemahlin Ihres Herrn Vormundes werden wollen.«

Als Beltram sich Anna näherte, war diese im Begriff, von Widerwillen und unbestimmten Besorgnissen erfüllt, sich ebenfalls zu entfernen, doch bannten seine Worte sie sogleich wieder. Die Erwähnung des alten Braun und Frau Kathrins waren der Zauber, welcher diese schnelle Wandlung herbeiführte; und dennoch würde sie kaum das Ende der ihr unglaublich erscheinenden Anschuldigungen abgewartet haben, hätte Beltram nicht, während er ihr seine Bereitwilligkeit, sie zu befreien, flüsternd betheuerte, den offenen Brief des Kärrners so vor sie hingelegt, daß sie ihre Blicke nur auf denselben hinzulenken brauchte, um das in den großen deutlichen Schriftzügen Ausgedrückte, trotz der herrschenden Dämmerung, mit Leichtigkeit zu entziffern. Erfüllten aber seine Worte sie schon mit Entsetzen, so legte es sich wie tödtliche Kälte um ihr Herz, sobald sie Beltrams Aussagen durch Brauns briefliche Mittheilungen bestätigt sah. Wie der sich ihr mit der Geschmeidigkeit einer Schlange nähernde Schreiber ihr zuerst geheime Furcht einflößte, so erblickte sie jetzt plötzlich in ihm ihren Retter, der sie dahin zu führen versprach, wo sie sich gesichert gegen alle ferneren heimtückischen Anschläge wähnte. Hätte sie aber noch geschwankt, wäre sie noch von Zweifeln befangen gewesen, ob sie dem ihr von Braun empfohlenen Freunde trauen dürfe, so würden die letzten von diesem mit schlauer Berechnung gewählten Worte eine seinen geheimen Plänen entsprechende Entscheidung bewirkt haben. Der Gedanke, daß Alvens, der eine fast unumschränkte Gewalt über sie besaß, der sie mit einem ihr unerklärlichen Luxus umgab, der sie mit Blumen beschenkte und von ihrer glücklichen Zukunft sprach, der sich sogar nicht gescheut hatte, sie ihren Freunden heimlich zu entführen, daß dieser Alvens also wirklich die von Beltram angedeutete Absicht hegen könne, war ihr so neu, so unverständlich und dabei so grausig, daß sie, um schon allein diesen Befürchtungen zu entrinnen, sich blindlings in die Arme des Todes geflüchtet hätte. Wie die Hand des Ertrinkenden jeden in ihren Bereich treibenden Gegenstand krampfhaft umklammert, ahnungslos, unbekümmert, ob es ein ihr zugeworfenes Seil, oder eine morsche, sie noch tiefer hinabziehende Wurzel ist, so klammerte Anna sich an die erste ihr vorgespiegelte Gelegenheit zur Rettung an. Das Wie und Wohin waren ihr gleichgültig, wenn sie nur einer Gefahr entrann, welche in ihrer Ungeheuerlichkeit Alles, was sie zu denken und zu begreifen vermochte, in so hohem Grade übertraf. Wie ihr Geist sich aber sträubte, das Vernommene zu enträthseln, so fehlte ihr die Sprache, weitere Fragen an Beltram zu richten, und als sie endlich ihre Fassung einigermaßen zurückgewonnen hatte, da schritt dieser, ihr gleichsam Vorsicht anempfehlend, nach dem anderen Ende des Zimmers hinüber, um die Aufträge der mit den an Alvens gerichteten wenigen Zeilen und einer brennenden Lampe eintretenden Frau von Birk in Empfang zu nehmen.

»Geben Sie dies dem Herrn Rechtsanwalt,« sagte sie eintönig, ihm das Billet einhändigend. »Haben Sie vielleicht noch etwas hinzuzufügen?« wendete sie sich darauf freundlich an das junge Mädchen.

»Nichts,« antwortete Anna leise, die Hand verstohlen auf die Stelle legend, auf welcher sie Brauns Schreiben verborgen hatte.

»Darf ich vielleicht melden, die Blumen seien unbeschädigt eingetroffen?« fragte Beltram bescheiden, jedoch listig die Wirkung seiner Worte berechnend.

»Nein, nein, ich bitte Sie dringend, meiner gar nicht zu erwähnen,« erwiderte Anna schnell, »die Blumen habe ich überhaupt nicht als die meinigen angesehen, ich kümmere mich nicht um sie – ich bin keine Freundin von Blumen, in meiner Pflege würden sie nur verdorren.«

Dann sah sie, wie um ihre wiederum aufsteigende Entrüstung zu verbergen, zum Fenster hinaus, und Beltram glaubte zu bemerken, daß sie, die brennende Stirne an eine kalte Scheibe lehnend, mit den Blicken die Straßenecke zu erreichen suchte, welche er ihr kurz vorher bezeichnet hatte. Er betrachtete dies als Beweis ihrer Einwilligung zur Flucht, und auf ihre mit Bitterkeit ertheilte Erklärung durch eine linkische Bewegung antwortend, empfahl er sich. –

Auf Frau von Birk, die an dem Tische vor der Lampe Platz genommen hatte, achtete Anna nicht. Je länger sie aber auf die verdunkelte Straße hinausschaute und über die ihr jüngst gewordenen Enthüllungen nachsann, um so tiefer wurzelte in ihr der Abscheu, welcher dem ersten Entsetzten gefolgt war, um so mehr fühlte sie ihren Muth und ihre Entschlossenheit wachsen, sich einer Tyrannei zu entziehen, welche über sie auszuüben nach ihrer Ueberzeugung kein Mensch der Welt ein Recht besaß. Es schien, als ob Alles, was so lange kindlich an ihr gewesen, ihr Sinnen und Trachten, ihre ganze Anschauungsweise, plötzlich um viele Jahre gealtert wäre, als hätte sie in dem kurzen, nur nach Minuten zu berechnenden Zeitraume die scharf abhebende Grenze überschritten, welche die glückliche, sorglos in die Zukunft blickende Kindheit von dem ruhigen, überlegenden und an Erfahrungen reicheren Alter trennt.

Sie dachte an ihren Jugendfreund, an den Gespielen ihrer Kindheit, an ihren getreuen Johannes, und wie von einer rettenden Hand berührt, wendete sie sich kurz nach Frau von Birk um.

»Kann ich Papier und Feder erhalten?« fragte sie mit fester Stimme, »ich möchte heute Abend noch an Jemand schreiben.«

Frau von Birk erschrak; sie war um eine Antwort verlegen. Die Frage sowohl, als auch das wunderbar veränderte Wesen Anna's überraschten sie unangenehm, und sich Alvens' strenger Anordnungen entsinnend, erwiderte sie mit mütterlicher Freundlichkeit, welche indessen durch die hervorklingende innere Verwirrung etwas Erzwungenes erhielt:

»Warum heute noch schreiben, und zwar in einer – wenn ich nicht irre – gedrückten Stimmung? Warten Sie lieber bis morgen, oder noch länger – bis Sie Ihren jugendlichen Frohsinn zurückgewonnen haben, der in so hohem Grade gestört zu sein scheint. Ich hoffe, Herr Beltram hat Ihnen gegenüber seine Befugnisse nicht überschritten – es mangeln ihm so gänzlich alle Formen –«

»Er nicht,« fiel Anna schnell und bitter ein, »nein, Herr Beltram nicht,« wiederholte sie entschiedener; »er, der nur die Befehle seines Herrn ausführt, wie sollte er mich verletzten können? Freilich, mittelbar trug er dazu bei, mich zu beleidigen, indem Herr Alvens ihn dazu mißbrauchte, mir in's Gedächtniß zurückzurufen, daß ich seine Gefangene sei.«

»Seine Gefangene?« rief Frau von Birk vorwurfsvoll aus, und sie näherte sich Anna, wie um sie an sich zu ziehen, sie zu trösten und über die irrthümliche Auffassung ihrer Lage aufzuklären.

»Anders kann ich es nicht nennen, gnädige Frau,« bekräftigte Anna, sich erhebend und ihre leicht emporgekräuselten Lippen zeugten von ihrer Entschlossenheit, »oder wie soll ich es bezeichnen, wenn man der Freiheit seines Willens beraubt ist, wenn man keinen Schritt thun darf, ohne beaufsichtigt zu werden? Sogar bis in mein Schlafgemach begleiten Sie mich hinein – natürlich nur auf Veranlassung des Herrn Alvens – um sich zu überzeugen, daß ich mich wirklich zur Ruhe begebe; oder möchten sie es etwa anders auslegen, daß mir sogar der Briefwechsel mit meinen Freunden und Bekannten verboten ist?«

»Sie thun mir Unrecht,« bat Frau von Birk, die der empörten Unschuld gegenüber ihre Fassung verlor, »die Besorgnisse, welche man um Sie hegt, deuten Sie falsch, Sie sind aufgeregt, die Erscheinung des häßlichen Schreibers und seine Unbeholfenheit haben nachtheilig auf Sie eingewirkt. Doch kommen Sie, liebes Kind, kommen Sie, mein Schreibtisch steht zu Ihrer Verfügung – ich verspreche Ihnen, Sie sollen nicht gestört werden.«

Anna antwortete nicht gleich; sie schwankte, von dem Anerbieten Gebrauch zu machen. Bei ihrem wachsenden Mißtrauen lag der Gedanke nahe, daß es unsicher sei, ob ein von ihr geschriebener Brief auch an seine Adresse gelange; sie lehnte daher Frau von Birks Gefälligkeit mit höflichem Ernste ab, woran sie die Erklärung schloß, sich zur Ruhe begeben zu wollen.

Alle freundlichen Vorstellungen der Frau von Birk, alle Bitten, alle Rathschläge, ihren Körper mehr zu pflegen und zu erfrischen, blieben erfolglos. Anna beharrte auf ihren Entschluß und nachdem sie sich kurz verabschiedet, begab sie sich in ihr Zimmer, die Thür hinter sich abschließend.

Aehnlich einem der Freiheit beraubten Vöglein, welches, unbekümmert um die sich ihm entgegenstellenden Drahtstäbe, nach allen Richtungen hin dem es umschließenden Käfige flatternd zu entrinnen sucht, kannte auch Anna, sobald Beltram von ihr gegangen war, nur noch das einzige Sehnen, den einzigen Gedanken: aus einem Hause zu entkommen, in welchem sie sich von den furchtbarsten Gefahren umringt meinte. Einen Plan zur Flucht zu entwerfen, reichte ihre geistige Ruhe nicht aus; ein unbewachter Augenblick genügte ihr, zu entschlüpfen. Hatte sie aber erst das Haus hinter sich, dann lag ja der Weg zu ihren Freunden vor ihr, und ob nun der unheimliche Beltram oder ein Anderer sie auf der verabredeten Stelle erwartete, wenn sie nur dahin geführt wurde, wo sie sich nicht mehr ängstigte, wo der alte riesenhafte Kärrner mit seinem treuen, kindlichen Herzen bereit war, sie gegen die ganze Welt zu vertheidigen. – –

Anna hatte sich kaum entfernt, da sank Frau von Birk auf einen Stuhl und traurig blickte sie vor sich nieder.

»So gern hätte ich mir ihr Vertrauen erworben,« sprach sie in Gedanken, »so gern sie gewarnt vor den Klippen, welche sich, Verderben drohend, auf ihrer Lebensbahn unsichtbar aufthürmen. Doch sie stößt mich zurück, sie wendet sich von mir, wie von einer Gebrandmarkten – und dennoch, – habe ich ein Recht mich zu beklagen?« Sie schauderte; wie um sich der sie marternden Empfindungen zu erwehren, erhob sie sich.

Langsam schritt sie der Thüre zu. Vor derselben blieb sie stehen, zweifelnd, ob sie Anna noch einmal aufsuchen, oder sie ungestört ihren eigenen Betrachtungen überlassen sollte.

»Sie würde meinem Eindringen unedle Beweggründe zuschreiben,« sprach sie mit herber Selbstverspottung, »sie würde glauben, ich käme nur, um sie zu bewachen. Nein, ihr Kerkermeister will ich nicht sein; mag sie ungestört bleiben und möge ein kräftigender Schlummer ihr diejenige Beruhigung bringen, welche ihr zu verschaffen ich mich vergeblich sehne und bestrebe.«

Sinnend wendete sie sich einer andern Thüre zu. Zwei Stunden waren seit Beltrams Besuch verstrichen. Die Straßen zeigten sich noch reich belebt; auch in den Wohnungen herrschte noch jene behagliche Regsamkeit, welche die sich verlängernden Herbstabende gleichsam charakterisirt. Nur einmal hatte die Aufwärterin Anna gefragt, ob sie zur Nacht zu speisen wünsche, worauf diese verneinend antwortete und die Bitte hinzufügte, sie ungestört zu lassen.

Ihre Wünsche wurden freundlich berücksichtigt, und leicht erkannte sie, daß die Aufwärterin, so oft ihr Weg an ihrer Thür vorüberführte, auf den Zehen einherschlich, als ob sie befürchtet hätte, sie im Schlafe zu stören.

Anna, die klopfenden Herzens und mit einer sie fast vernichtenden Seelenangst auf jedes Geräusch lauschte, faßte bei dieser Entdeckung neuen Muth. Sie begriff, daß wenn sie glücklich entkam, vor Tagesanbruch ihre Flucht nicht bemerkt werden würde, also zu einer Zeit, zu welcher sie sich längst bei ihren Freunden befand. Ihr Entschluß, sich dem ihr auferlegten Zwange durch die Flucht zu entziehen, war noch keinen Augenblick schwankend geworden; aber erst das bedachtsame Einherschleichen der Aufwärterin, brachte eine Art von Plan in ihr zur Reife. Nachdem sie sich mit Mantel und Hut bekleidet hatte, löschte sie das Licht aus, und dicht neben die Thüre hintretend, harrte sie geduldig auf die nächste sich ihr bietende Gelegenheit. Als sie nach Verlauf einiger Zeit vernahm, daß die Aufwärterin sich wieder nach dem Innern der Wohnung begab, um voraussichtlich nicht umgehend nach der Küche zurückzukehren, schlüpfte sie leise in diese hinaus, die Thüre ihres Zimmers behutsam hinter sich abschließend. Ebenso vorsichtig öffnete und schloß sie die zur Treppe des Hinterhauses führende Thüre, und ohne sich zu überzeugen, ob das schallende Einspringen des Schloßriegels von Jemand vernommen worden sei, eilte sie auf den Hof hinab. Eine Minute später trat sie athemlos auf die Straße hinaus, wo sie sich ohne Säumen der Straßenecke zuwendete, an welcher sie zu erwarten Beltram versprochen hatte. Erst als sie sich weit genug glaubte, um von Frau von Birks Wohnung aus nicht mehr zwischen den ab- und zugehenden Fußgängern erkannt zu werden, mäßigte sie ihre Eile. Ungefähr hundert Schritte trennten sie noch von der verabredeten Ecke, und jetzt erst drängten sich ihr Zweifel auf, wohin sie sich zu wenden haben würde, im Falle Beltram seinem Versprechen untreu geworden oder durch Alvens an der Erfüllung desselben gehindert sein sollte. Aengstlich beobachtete sie die ihr begegnenden Leute; von jedem Einzelnen glaubte sie, daß er sie erkenne, ihr Vorhaben errathe und sie demnächst an den Ort ihrer Gefangenschaft, der ihr als das Furchtbarste der Erde erschien, zurückführen würde. In demselben Grade aber, in welchem ihre Angst sich steigerte, wuchs auch ihr Sehnen nach Beltrams erstem Anblick, und ihr Vertrauen auf seine uneigennützige Opferwilligkeit.

Als sie ihn dann endlich entdeckte, wie er mit gekrümmtem Rücken und eingeengter Brust, die großen Hände fröstelnd in die Taschen seiner Beinkleider gezwängt, um die bezeichnete Hausecke herumschlich, da hätte sie aufjauchzen mögen vor Entzücken, und ihm mit beschleunigten Schritten entgegeneilend, rief sie ihm aus ihrem von Dankbarkeit überfließenden Herzen zu:

»Gott sei Dank, Herr Beltram, daß Sie da sind!«

»Still, liebes Fräulein, ganz still,« schnitt Beltram ängstlich flüsternd das ab, was sie weiter sagen wollte, »man beobachtet uns vielleicht; legen Sie Ihren Arm in den meinigen, damit man glaubt, wir gehörten zu einander – so – so, theuerstes Fräulein, nun kommen Sie – nicht zu schnell, es möchte Aufsehen erregen, und dann ermüdet Sie auch die hastige Bewegung. Wir haben einen langen Weg vor uns und Sie sind bereits außer Athem, lehnen Sie sich daher auf meinen Arm, ich bin ja Ihr eigentlicher Retter und treuester Freund – und Sie sind so warm, und ich so namenlos glücklich, daß Sie meinen Wink verstanden haben und solch festes Vertrauen in mich setzten.«

Was Beltram zu ihr sprach, überhörte Anna; ebenso beachtete sie nicht, daß plötzlich das Kriechende aus seinem Wesen verschwunden war und er sich einer Vertraulichkeit schuldig machte, welche ihr in jeder anderen Seelenstimmung widerwärtig und beängstigend gewesen wäre. Daß aber seine Stimme unnatürlich heiter klang und leidenschaftlich zitterte, während er ihren Arm fester an sich drückte, das konnte sie in ihrer kindlichen Unschuld und Einfalt nur der Besorgniß zuschreiben, welche er für sich selbst so wohl, als auch für sie empfand.

Ihre eigene Stimme entbehrte daher auch nichts von der ihr eigentümlichen, gewinnenden Freundlichkeit, als sie, anstatt auf Beltrams Anrede zu antworten, nach den Brauns fragte und wo sie mit ihnen zusammentreffen würde.

»Sie könnten in diesem Augenblick zwischen Beiden gehen,« erwiderte Beltram entschuldigend, und seine unheimlich glühenden Augen schielten seitwärts auf das von einer nahen Straßenlaterne spärlich beleuchtete Profil seiner Begleiterin, »ja, zwischen Beiden, liebes Fräulein, rechts von Ihnen Herr Braun, der so unendlich viel von Ihnen hält, und links seine Frau –«

»Aber warum nicht, warum sind sie nicht hier?« fiel Anna ihm mit plötzlich aufsteigender Besorgniß in's Wort.

»Weil man um Ihre beabsichtigte Flucht weiß und nicht nur Ihre Freunde in deren Wohnung bewacht, sondern diesen auch nachfolgen würde, wollten sie sich Ihnen zugesellen.«

»Wenn man um meine Flucht wußte, warum traf man nicht Vorkehrungen, derselben vorzubeugen?« fragte Anna noch besorgnißvoller, indem sie die auf Beltrams Arm ruhende Hand lockerte.

Beltram räusperte sich und neigte seinen breiten Mund näher an ihr Ohr.

»Man hatte wohl Zeit, Jemand zur Bewachung der Kärrnersleute abzuschicken,« hob er flüsternd an, »bei der Frau von Birk dagegen kann der Bote um diese Zeit noch nicht eingetroffen sein. O, Sie glauben nicht, mein geliebtes Fräulein, zu welchen Mitteln Ihr Vormund greift, um seine Ränke durchzuführen. Ich ahnte Alles und entfernte mich rechtzeitig – den Brief des Herrn Braun hatte ich mir, der Sicherheit halber, schon gestern geben lassen – und seit zwei Stunden harrte ich auf meinem Posten auf Sie. O, wie habe ich gezittert! In jedem Augenblick glaubte ich, daß Verrath Ihnen die Flucht abschneiden würde, bis endlich Ihre Gestalt in geringer Entfernung vor mir auftauchte.«

Anna hatte ihre Hand ganz von Beltrams Arm zurückgezogen; dieser versuchte zwar, sich derselben wieder zu bemächtigen, doch gab er seine Absicht auf, sobald jene einen Schritt seitwärts von ihm forttrat und ihm dadurch ihren Willen verständlich machte. Diese Bewegung hatte zur Folge, daß er zurückhaltender wurde und weniger verschwenderisch mit den Betheuerungen seiner Hingebung verfuhr.

»Wohin wollen Sie mich bringen?« fragte Anna nach einer längeren Pause, sich Beltram wieder nähernd.

»Vorläufig an einen sicheren Ort,«, entgegnete dieser, der nach dem ihn berauschenden Triumph über das Gelingen des ersten Theils seines Unternehmens wieder überlegender und vorsichtiger geworden war. »Ja, an einen ganz sicheren Ort, welchen ich für unvorhergesehene Fälle mit Herrn Braun verabredete. Er schrieb ja an Sie, daß Sie sich vertrauensvoll meiner Leitung überlassen möchten. Oh, Herr Braun kennt mich schon lange und weiß, was er von mir zu halten hat; er weiß aber auch, wie weit die Gewalt eines Vormundes reicht, und Herr Alvens ist so listig, und nun gar nicht zu denken, daß er auf nichts Geringeres ausgeht, als Sie –«

»Sprechen Sie nicht davon, Herr Beltram,« bedeutete ihn Anna mit einem Ernste, welcher das, was er weiter anführen wollte, jäh zurücktrieb, und zugleich beschleunigte sie ihre Schritte, als sei Alvens plötzlich als ein sie verfolgendes Gespenst hinter sie getreten, »sagen Sie mir lieber, wo und wann ich mit meinen Freunden zusammentreffe, und wo und wie ich die Zeit bis dahin verbringen soll.«

»Eine ganz bestimmte Antwort kann ich Ihnen darauf nicht ertheilen,« versetzte Beltram bedauernd, »indem Alles mehr oder minder von den obwaltenden Verhältnissen abhängt, die sich weder von mir, noch von den guten Brauns lenken lassen. Unser Uebereinkommen ist, Sie gut und sicher da zu verbergen, wo wir uns überzeugt halten dürfen, daß Sie nicht aufgesucht werden. Leider ist der verabredete Ort etwas unbequem und vielleicht Ihrer Lebensstellung nicht entsprechend –«

»Meine Lebensstellung, Herr Beltram?« fiel Anna traurig ein, »den allerunbequemsten Aufenthaltsort ziehe ich jenem Hause vor, in welchem mich Lug und Trug umgaben und in welches ich nur mittelst Lug und Trug gebracht werden konnte.«

»Das trifft sich glücklich,« fuhr Beltram alsbald wieder fort, »ich meine, daß Sie einzelne kleine Unannehmlichkeiten nicht scheuen, welche indessen voraussichtlich sehr bald ihr Ende erreichen. Doch Sie wünschten mehr über Ihre Privatverhältnisse zu erfahren, theuerstes Fräulein, und da kann ich, mit Rücksicht auf die von Ihnen angezweifelte Lebensstellung, Ihnen nur anvertrauen, daß Alvens wohl wußte, weßhalb er die Vormundschaft über Sie an sich riß und seine Hoffnungen noch höher steigerte. Ja, theuerstes Fräulein, Sie sind reich, sehr reich, und die Beweise dafür will ich Ihnen vorlegen, sobald wir in Ihrem Versteck eingetroffen sind. Sie mögen dann selbst entscheiden und sich nach Willkür in die Obhut von Leuten begeben, welche die größte Berechtigung haben, Sie zu beschützen. Ich könnte ausführlicher in meinen Enthüllungen sein, allein die Kürze der Zeit erlaubt es jetzt nicht. Ist die Nacht erst weiter vorgeschritten, dann eile ich heimlich zu den Brauns, um deren Gutachten einzuholen, und geht Alles nach Wunsch, so befinden Sie sich in den ersten Morgenstunden schon so weit von hier, daß Herr Alvens, und nähme er die Hülfe der vereinigten Polizei der ganzen Stadt für sich in Anspruch, Sie nicht mehr einzuholen vermöchte.«

»Ich soll fort?« fragte Anna zögernd, und sie machte Miene stehen zu bleiben, »Herr Beltram, Sie erschrecken mich, Ihre Worte lauten so geheimnißvoll, Sie sprechen sogar von der Polizei, ist es denn ein strafbarer Weg, welchen ich eingeschlagen habe?«

Beltram lachte heiser; das Lachen sollte sorglos und ermuthigend klingen, allein es übte gerade die entgegengesetzte Wirkung von der beabsichtigten aus. Denn Anna bebte bis in's Herz hinein, während Beltram selbst die Polizei bereits auf seinen Spuren zu sehen meinte.

»O, mein geehrtes Fräulein,« hob er darauf mit erzwungener Heiterkeit an, »verzeihen Sie mein achtungswidriges Lachen, allein das Wort strafbar mit Ihrem Namen zusammen auszusprechen, erscheint mir so unnatürlich, daß ich nicht umhin konnte – aber ich wiederhole, Ihre Freunde sind mit mir einverstanden – fort müssen Sie, oder halten Sie etwa für glaublich, daß Alvens eine verlockende Beute nach dem ersten mißglückten Versuche gutwillig aufgeben würde? Nein, nein, täuschen Sie sich darüber nicht, er wird Sie verfolgen, Ihnen Schlingen stellen, so lange Sie sich im Bereiche seiner Macht befinden, und zu solchen Zwecken steht einem gewissenlosen Vormunde wirklich die Hülfe der Gerichtsbarkeit zur Seite.«

Anna schwieg. Durch die jüngsten Erlebnisse, durch das, was sie von Beltram erfuhr, war ihr Kopf so eingenommen, daß sie die unter einander wogenden Gedanken nicht mehr so schnell zu entwirren vermochte, wie jener immer neue anregte. Sie trachtete daher, nur den einzigen festzuhalten: daß sie frei sei und vor keinen Opfern zurückschrecken dürfe, sich diese Freiheit zu bewahren. Dabei suchte sie sich das Bild des getreuen Braun zu vergegenwärtigen, wie er tief über's Papier geneigt dasaß, mit dem linken Mundwinkel gewissenhaft den Bewegungen der Feder nachfolgend, mit welcher er das niederzeichnete und malte, was er seinem geliebten Schätzchen mitzutheilen wünschte.

O, dieser Brief! Auf dem ganzen Wege hielt sie die Hand auf denselben gepreßt, als hätte sie durch ihn den Muth gewonnen, auf der einmal eingeschlagenen Bahn auszuharren. Wenn aber ihr alter Freund eine derartige Warnung an sie schrieb, dann durfte sie darauf rechnen, daß sie begründet sei, der ihr empfohlene Führer aber ihr Vertrauen verdiene. Deshalb folgte sie Letzterem auch so willig überall hin, gleichviel, ob durch breite, hell erleuchtete Straßen oder durch enge, finstere Gassen. Ihn selbst beachtete sie dabei kaum; sie sah daher nicht, wie er unter jeder Laterne sein sommersprossiges Gesicht ihr heimlich zukehrte und einen verlangenden Blick auf ihr liebliches, sinnend gesenktes Antlitz zu werfen suchte; sie sah nicht, wie seine Augen, wenn ihm dies glückte, scheinbar hervorquollen und die wulstigen Lippen auf den breiten Zahnreihen convulsivisch zitterten.

Mehrfach redete Beltram sie an, allein sie antwortete nicht; wie von einem wüsten, sie beängstigenden Träume umfangen, bewegte sie sich an seiner Seite dahin. Erst als sie wohl eine halbe Stunde durch das Straßengewirre dahingewandert waren, schien sie zum Bewußtsein ihrer Lage zu erwachen.

Sie sah empor. Zu beiden Seiten von ihr drängten sich die Häuserreihen zu einer schmalen Gasse zusammen. Leuten begegneten sie selten, und diese wieder riefen den Eindruck hervor, als ob sie es sehr eilig hätten oder unbemerkt zu bleiben wünschten. Nur in größeren Zwischenräumen spendete hin und wieder eine Gaslaterne der Umgebung einiges Licht; es wurden dann die mit kleinen, zum Theil schadhaften Läden geschlossenen Fenster der untersten baufälligen Stockwerke deutlicher sichtbar, auf welchen die ebenso baufälligen oberen Stockwerke, bald alterthümlich vorgebaut, bald verschoben und überhängend, sich hoch aufthürmten. Obgleich für eine Residenz noch verhältnißmäßig früh am Abend, zeigten die Häuser dieser Gasse, so weit man von Außen zu beobachten vermochte, nur wenig Leben. Licht fiel zwar durch die Ritzen der Fensterladen in's Freie hinaus, auch vernahm man hin und wieder das durch die Entfernung und dazwischen liegendes Mauerwerk gedämpfte Geräusch laut sprechender zuweilen sogar singender Menschen, als ob in den unsauberen Revieren, ganz im Verborgenen, des Elends höllische Orgien gefeiert würden.

Für Anna gingen derartige Eindrücke glücklicher Weise verloren, nur die Vereinsamung der Gasse selbst fiel ihr auf, und dieselbe der späten Abendstunde zuschreibend, bemerkte sie ängstlich flüsternd:

»Wir müssen schon sehr lange unterwegs sein, Herr Beltram; sind wir nicht bald zur Stelle? Ich fange an, mich zu fürchten – es erscheint mir Alles so seltsam, so drohend.«

»Möchten Sie lieber zu Frau von Birk in die Gewalt Ihres zärtlichen Herrn Vormunds zurückkehren?« fragte Beltram, ergrimmt darüber, daß sie ihn auf dem ganzen Wege kaum beachtet hatte, zugleich aber auch, um sie aufs Neue einzuschüchtern und fügsamer zu machen.

»Nein, nein, lieber in den Tod,« antwortete Anna leise, »ich fragte auch nur, weil die Nacht so weit vorgeschritten ist.«

»Es hat eben zehn Uhr geschlagen,« versetzte Beltram freundlicher, und vorsichtig den zwischen ihm und seiner Begleiterin bestehenden Zwischenraum beobachtend. »Wir sind übrigens bald am Ziele – nur noch wenige Minuten Geduld und vor allen Dingen kein Aufsehen erregt, denn die gefährlichste Strecke liegt noch vor uns.«

Anna neigte das Haupt wieder; sie fühlte sich namenlos unglücklich und verlassen. Nur die feste Hoffnung, schließlich dennoch mit ihren Freunden zusammenzutreffen, verlieh ihr die Kraft, ohne Klagen und Vorwürfe gleichen Schritt mit ihrem allmälig seine Eile beschleunigenden Führer zu halten. –


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