Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant - Teil 1
Balduin Möllhausen

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Siebentes Capitel. Ein weißer Sclave.

So lange die schweren Schritte des Kärrners in dem Kabinet vernehmbar waren, blieb Alvens regungslos auf derselben Stelle stehen; dann aber schob er die Hände unter die Schöße seines Leibrockes, und das Haupt tief geneigt, begann er langsam auf und ab zu wandeln. Gelegentlich hielt er auch ein Weilchen inne, und wie grübelnd über die Hinwegräumung eines sich ihm entgegenstellenden Hindernisses, zog er die Brauen über der gebogenen Nase in eine dicke Falte zusammen, während er mit den Zähnen eifrig bald an der Oberlippe, bald an der Unterlippe nagte.

»Es könnte gehen, ja, es könnte gehen,« sprach er leise vor sich hin, »wenn ich nur diesem verkappten Agenten, dem Lukas trauen dürfte. Und das Mädchen, von welchem Niemand eine Ahnung hatte – wunderbares Verhängniß – gerade im Hause des Kärrners zu erscheinen. Wer vermag zu errathen, in welcher Beziehung die Familie des Musiklehrers zu Allen stand?«

Hastig trat er an den Schreibtisch, und sich auf den Drehstuhl niedersetzend, nahm er den ihm von Braun eingehändigten Brief, welchen er abermals einer sorgfältigen Prüfung unterwarf.

»Wenn ich bei meinen Lebzeiten die mir großmüthig angetragene Hülfe zurückwies,« las er still für sich, nachdem er die Einleitung mit den Augen überflogen hatte, »so wird derjenige, auf dessen Wunsch sie mir angeboten wurde, die Gründe zu würdigen wissen, welche mich zu einem solchen Verhalten bestimmten. Ich konnte, ich durfte nicht anders handeln; ich wäre lieber im Elend umgekommen, bevor ich mich zu diesem Schritte entschlossen hätte. Heute dagegen, an dem Tage, an welchem Ihnen, geehrtester Herr Alvens, dieses Schreiben überreicht wird, ist es anders; mich deckt die Erde, und indem ich aus dem Grabe meinen Nothruf an Sie richte, an Sie, durch den mir einst unbegrenzter Beistand angetragen wurde, und zwar auf Wunsch Jemandes, dessen Namen ich freilich nur ahne, bebt mein erkaltetes Herz nicht mehr, sind alle Rücksichten geschwunden, welche mir bisher den herben Zwang auferlegten. Und dennoch würde ich diesen Weg nicht eingeschlagen haben, wäre es nicht mein Kind, das Kind meines dahingeschiedenen, unvergeßlichen Gatten, für welches ich bitte, und welches ich schutzlos zurücklasse. Wann meine arme, verwaiste Tochter, und ob sie jemals diesen Brief an seine Adresse abgeben wird, ruht verborgen im Schooße der Zukunft. Sie ist nicht unvorbereitet, sich selbst ihren Weg durch's Leben zu bahnen; ihre hervorragenden natürlichen Anlagen sind von ihren Eltern gewissenhaft gepflegt und ausgebildet worden; es ist dies das Einzige, was wir ihr hinterlassen und mitgeben konnten; aber sie ist noch so jung, und weiß ich sie vorläufig auch nothdürftig untergebracht, so kann doch eine Zeit kommen, in welcher ihr kräftigerer Schutz und gediegenerer Rath unerläßlich sind. Ihnen ist nicht fremd, wo allein ich Schutz und Rath für meine verwaiste Tochter erhoffen und erflehen darf, und ich thue es Angesichts eines unvermeidlichen Todes, mit klarem Bewußtsein, nach langen Seelenkämpfen, nach reiflicher Ueberlegung. Der Zeitpunkt der Abgabe dieses Briefes soll von dem Ermessen meiner Tochter, des einzigen mir gebliebenen Kindes, abhängen; sie ist schon jetzt verständig genug, zu begreifen, daß nur die triftigsten Gründe mich dazu bewegen konnten, ihr die Ueberreichung dieses Schreibens als ihre letzte Zuflucht zu bezeichnen.

»Indem, geehrter Herr Alvens, Ihre Blicke auf diesen Zeilen ruhen, steht die Ueberbringerin, meine arme Tochter, vor Ihnen. Der Würfel ist gefallen, denn mein Kind, bedroht von der Wucht eines unbarmherzigen Verhängnisses, hat sich zu Ihnen geflüchtet! Haben Sie daher Mitleid; aus meinem Grabe flehe ich um Ihre Verwendung! Derjenige, der einst großmüthig mir seinen Beistand anbot, wird sich nicht kaltherzig abkehren, wenn ich jetzt um seinen Schutz für mein Kind bitte. Zeigen Sie ihm diesen Brief, und in der Erinnerung längst entschwundener Zeiten wird er meinem Andenken eine Thräne des Wohlwollens weihen, von meiner Tochter aber Noth, Elend und die schrecklichste aller einem schutzlosen Mädchen drohenden Gefahren fern halten und ihr ein väterlicher Freund sein. Ich segne –«

Weiter las Alvens nicht; die Gefühlsäußerungen, welche den ergreifenden Ausdruck eines geängstigten Mutterherzens enthielten, hatten keinen Werth für ihn. Ihm galten nur Thatsachen, welche auf die eine oder die andere Art benutzt und ausgebeutet werden konnte.

Mit überlegender Ruhe und systematischen Bewegungen faltete er den Brief in seine ursprüngliche Form, und dann ein vor ihm liegendes Federmesser nehmend, begann er höchst bedächtig an den Nägeln seiner schönen weißen Hände zu putzen. Die Augen hatte er gesenkt, und wenn er, in tiefes Sinnen versunken, seine Stirne nicht in ernste Falten legte, die blauschwarzen Brauen nicht finster zusammenzog, nicht die Lippen einkniff und verzerrte, so war dies dem eisernen Willen zuzuschreiben: den entstellenden Runzeln keine Gelegenheit zu bieten, sich auf dem glatten Antlitz einzustellen und schließlich haften zu bleiben.

Nach mehreren Minuten, und nachdem er einen prüfenden Blick zuerst auf die Außenseite und demnächst auf die Innenseite seiner zierlich ausgestreckten Hände geworfen, nickte er billigend, worauf er den von Beltram copirten Bericht in kleine Schnitzel zerriß und in den Papierkorb warf. Dann drückte er dreimal schnell hinter einander auf die Glocke, sowohl für den Diener, wie für den Secretair ein bestimmtes Signal.

In dem Vorzimmer hörte er nämlich geräuschvoll eine Thür öffnen und zuschlagen, ein sicheres Zeichen, daß der wohlgeschulte Diener sich entfernte, während auf der entgegengesetzten Seite der Vorhang von der unhörbar geöffneten Thüre zurückglitt und eben so unhörbar Beltrams knochige und hagere Gestalt hereinschlich.

»Anmeldungen zu heute sind nicht mehr eingegangen?« fragte Alvens im Geschäftstone und ohne aufzublicken.

»Nein, Herr Rechtsanwalt,« lispelten die wulstigen Lippen des Geheimschreibers bescheiden, während seine Schultern sich vor lauter Ehrerbietung mitten vor der Brust schienen berühren zu wollen, »in Ihrem Auftrage erlaubte ich mir, anzuordnen, alle etwa Vorsprechenden zu morgen Vormittag zwischen zwölf und eins hierher zu bescheiden.«

»Es ist gut, lieber Beltram,« versetzte Alvens mit einer Milde, die seltsamer Weise die letzte Spur von Röthe aus dem sommersprossigen Gesicht des Schreibers jagte und seinen leicht entzündeten Augen einen sprechenden Ausdruck innerer Angst verlieh; »wir sind also ungestört,« fuhr er noch sanfter fort, »nehmen Sie daher Platz auf jenem Stuhl und merken Sie recht genau auf Alles, was ich Ihnen sage. Ich gedenke nämlich auf vergangene Zeiten zurückzukommen –« »Herr Rechtsanwalt –« wagte Beltram seinen Brodherrn zitternd zu unterbrechen.

»Ich habe gebeten, Platz zu nehmen,« erwiderte Alvens mit eisiger Kälte, worauf er wieder in den sanften, theilnahmvollen Ton verfiel: »ja, von vergangenen Zeiten möchte ich mit Ihnen sprechen, damit einzelne Hauptpunkte unseres langjährigen Verkehrs nicht in Vergessenheit gerathen.«

»Ich werde es nie vergessen, Herr Rechtsanwalt,« flehte Beltram wieder mit allen äußeren Zeichen tiefer Zerknirschung, »ich werde es selbst im Tode nicht vergessen, haben Sie daher Barmherzigkeit –«

»Setzen Sie sich, mein Freund,« bat Alvens dagegen unerschütterlich milde, und als sein Befehl endlich ausgeführt war, fuhr er fragend fort:

»Wie lange sind Sie in meinem Bureau beschäftigt gewesen?«

»Im zehnten Jahre,« antwortete Beltram kaum verständlich, und in seiner Angst die knochigen Hände auf seine etwas emporgezogenen Kniee haltend.

»Gut, also beinahe zehn Jahre,« bekräftigte Alvens, »Sie kamen zu mir, fast noch ein Knabe, und haben mir seitdem ununterbrochen treu und gewissenhaft gedient; ja, noch mehr, Sie haben mir Mittel in die Hände gegeben, welche es mir ermöglichen, Ihnen mein rückhaltlosestes Vertrauen zu schenken – eine Seltenheit unter den Schreibern – was nicht hoch genug angeschlagen werden kann. Kommen doch zu häufig Fälle vor, über welche das strengste Geheimniß bewahrt werden muß, und die dennoch ohne Beihülfe mindestens eines Zeugen schwer zu erledigen sind. Habe ich recht?«

Beltram verneigte sich zustimmend; zu sprechen vermochte er nicht, die Worte erstarben ihm auf der Zunge.

»Oeffnen Sie doch gefälligst einmal das Fach da vor sich,« sprach Alvens darauf weiter, indem er Beltram einen kleinen Schlüssel darreichte.

Dieser führte mit zitternder Hand aus, was ihm geheißen war, und obwohl er aus Erfahrung wußte, was nunmehr folgen würde, harrte er doch fast athemlos der weiteren Anordnungen.

»In diesem Fache befindet sich ein großer Theil meiner wichtigsten Documente,« nahm Alvens alsbald wieder das Wort, »Documente, in welche ich, außer Ihnen, nicht für Millionen einem Zweiten einen Blick gestatten möchte. Unter Anderem liegt dort ganz unten ein Papier – bitte, ziehen Sie es einmal heraus – dessen Werth nicht hoch genug angeschlagen werden kann. So – so, das ist es, bitte, lieber Beltram, mäßigen Sie Ihre Unruhe – es geschieht Alles mit zu Ihrem eigenen Besten – schlagen Sie das Papier auseinander und lesen Sie die roth angestrichene Stelle recht deutlich vor.«

Beltram öffnete den zusammengefalteten Bogen und warf dabei einen ersterbenden Blick auf den Rechtsanwalt. Dieser aber hatte das Federmesser wieder genommen und schabte und putzte höchst andächtig an seinen eleganten Nägeln.

»Ich höre,« sagte er ruhig, als Beltram noch immer säumte, seinem Befehle nachzukommen, worauf dieser, als habe er sich in einen vor ihm gähnenden Abgrund gestürzt, mit blinder, an Wuth grenzender Verzweiflung anhob:

»bekenne ich Endesunterzeichneter, daß ich, entbehrend jeden Gefühls von Dankbarkeit gegen meinen edlen Wohlthäter, mich durch den Glanz des Geldes und durch meine Sucht, mir ein über meinen Stand bequemes Leben zu bereiten, dazu hinreißen ließ, meinen Brodherrn mehrfach um erhebliche Summen zu bestehlen. Diese That erscheint mir um so ruchloser, weil meine eigene Mutter nicht nur darum wußte, sondern auch durch ihre Ueberredungskünste viel dazu beitrug, daß ich mich zu einem gemeinen Diebe herabwürdigte. Dieses Bekenntniß schreibe ich jetzt offen nieder, ohne von Jemand dazu gezwungen zu sein, es der Willkür meines Brodherrn anheimgebend, mich sofort der betreffenden Gerichtsbarkeit zu überantworten und ebenso die entsprechenden Schritte gegen meine Mutter, meine Mitschuldige, einzuleiten.«

»Die Unterschrift?« fragte Alvens, sobald Beltram geendigt, und aufmerksamer betrachtete er den unmäßig langen Nagel an dem kleinen Finger seiner linken Hand.

»Leberecht Beltram,« antwortete dieser mit einem tiefen Seufzer.

»Datum?«

»Bleibt noch auszufüllen,« tönte es leise von den convulsivisch zitternden Lippen, und als wäre das Papier glühend gewesen, begannen die bebenden Hände dasselbe wieder in die gewohnten Falten zusammenzulegen.

»Gut, bleibt noch auszufüllen,« wiederholte Alvens, das Federmesser nachlässig hinwerfend und zu seinem Sclaven aufschauend, »schreibe ich das heutige Datum auf die leere Stelle, so sitzen Sie, sammt Ihrer geehrten Frau Mutter morgen im Gefängniß. – Ob der Diebstahl gestern oder vor zwei Jahren begangen wurde, macht keinen Unterschied – schlimm genug, daß er überhaupt begangen wurde – und nur um mich für die Zukunft Ihrer Redlichkeit versichert halten zu dürfen, ließ ich mich dazu bewegen, ein derartiges Uebereinkommen mit Ihnen zu treffen. Die geringste Indiscretion, und Sie wissen, was Ihnen bevorsteht; andererseits dagegen bin ich gern bereit, wenn ich in den nächsten zwei Jahren keine Ursache habe, unzufrieden mit Ihnen zu sein, nicht nur das gefährliche Document in Ihrer Gegenwart zu vernichten, sondern auch Ihren Fehltritt zu vergessen und sogar Ihr Honorar zu erhöhen. Sie sind damit einverstanden?«

Beltram verbeugte sich zustimmend; den Blicken seines unumschränkten Gebieters zu begegnen, vermochte er nicht. Schlaff saß er da, eine wahre Jammergestalt, von der man nicht wußte, ob man sie mehr bemitleiden, oder, ihrer thierischen Unterwürfigkeit wegen mehr verachten sollte. Erst als Alvens ihn anwies, das gefürchtete Document fortzulegen, belebten sich seine sommersprossigen Züge wieder, während die gerötheten Augen ihren halb listigen, halb einfältigen Ausdruck zurückgewannen.

»Diese Angelegenheit wäre also vorläufig wieder einmal erledigt,« verfiel Alvens in seinen gewöhnlichen Geschäftston, »und mögen wir daher zu anderen Dingen übergehen, wegen deren ich Sie rief. Sie kennen den Kärrner Braun?«

»Von Ansehen, Herr Rechtsanwalt.«

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Ich werde seine Wohnung unbedingt finden.«

»Gut, so begeben Sie sich morgen, nachdem Sie das Bureau geöffnet haben, zu ihm und fragen Sie, – natürlich mit einem freundschaftlichen Gruße von mir – ob ich ihm bei der Vergrößerung seines Hausstandes irgend wie von Nutzen sein könnte. Was ich damit meine, weiß er; verstehen Sie mich aber recht, die Frage selbst ist mehr Nebensache, Ihre Hauptaufgabe bleibt, eine junge Person, welche dort eingezogen ist, zu sehen und mir demnächst eine recht ausführliche Beschreibung von ihr zu geben. Namentlich achten Sie darauf, ob die junge Fremde sich einer guten Sprache bedient, ich meine, ob sie ihre Ausbildung in einer Dorfschule, oder in einer höheren Lehr-Anstalt genossen hat; werden Sie das ungefähr beurtheilen können?«

»Annähernd gewiß,« antwortete Beltram, wobei sich der Ausdruck seines Gesichtes nicht um ein Haar veränderte.

»Gut; halten Sie es zur Erreichung Ihres Zweckes für rathsam, ein Stündchen bei dem Kärrner zu verweilen, so sind Sie nicht an die Zeit gebunden; wird indessen schwer halten, indem die Frau eine wenig zugängliche Person ist. Treten Sie nur recht bescheiden auf, und gelingt es Ihnen, das Vertrauen der Leute zu gewinnen, so ist das um so vortheilhafter. Sie haben mich verstanden?«

»Ganz genau, Herr Rechtsanwalt.«

»Dann zu etwas Anderem. Entsinnen Sie sich etwa, wann wir von Amerika die letzten Instructionen betreffs der ausgestorbenen Familie des Musiklehrers erhielten?«

»Es wird ungefähr sechs Jahre her sein.«

»Wissen Sie, wo der betreffende Brief sich befindet?«

»Er liegt unter Verschluß.«

»Hier ist der Schlüssel; finden Sie ihn nicht gleich, so hat die Sache keine Eile.«

Beltram nahm den Schlüssel und begab sich nach einem Wandschrank, der nach Öffnung der Thüre mehrere Reihen von Fächern zeigte, welche verschiedene Jahreszahlen trugen.

Während nun Alvens in einen vor ihm hängenden Handspiegel sah, scheinbar, um sein Bild wohlgefällig zu betrachten, in der That aber, um Beltrams Bewegungen zu überwachen, zog dieser, nach einigen ungeschickten Bewegungen, ein Packet Acten hervor, aus welchem er nach längerem Blättern und Suchen einen in blaues Papier eingeschlagenen Brief herausnahm.

»Hier ist das Schreiben,« sagte er, geräuschlos an den Schreibtisch zurückkehrend, und seine Augen blickten trüber und einfältiger, denn je, durch die großen runden Brillengläser.

»Ich glaube, die Hauptstellen wurden damals von mir roth angestrichen?« bemerkte Alvens fragend.

»Sehr wohl, Herr Rechtsanwalt,« versetzte Beltram demütig.

»Ah, dann lesen Sie.«

Beltram räusperte sich, hob den Brief dicht vor seine Augen und begann:

»Den Tod des braven Werth beklage ich tief; er war ein allgemein geachteter Mann, der sein trauriges Schicksal gewiß nicht verdiente. Daß Frau Werth bei seinen Lebzeiten jede Unterstützung zurückwies, ist mir erklärlich; jetzt aber, da sie allein dasteht und gegen Noth und Mangel kämpft, urtheilt sie vielleicht anders. Versuchen Sie es daher noch einmal; ich sollte denken, wenn Sie recht vorsichtig zu Werke gingen, so daß sie völlig im Dunkeln über den Urheber der Unterstützung bliebe, müßte es gelingen. Mir liegt sehr viel daran, daß jede Noth von der so schwer heimgesuchten Frau abgewendet werde –«

»Gut gut,« unterbrach Alvens den Lesenden, »sind nicht noch andere Papiere in dem Umschlage?«

»Nur noch das Original des Briefes, in welchem wir den Tod der Frau anzeigten.«

»Entsinnen Sie sich der Antwort auf denselben?«

»Eine unmittelbare Antwort erfolgte nicht, dagegen ist in einem späteren Geschäftsbriefe das tiefste Bedauern über den Todesfall ausgesprochen.«

»Von einem Kinde war nie die Rede?«

»Nein, die beiden Leute starben kinderlos, doch äußerte er in dem zuletzt erwähnten Briefe, wie glücklich es ihn machen würde, seiner Theilnahme für die Verstorbenen dadurch Ausdruck zu geben, daß er die Sorge für deren Hinterbliebene übernähme.«

»Ja ja, so war's,« versetzte Alvens nachdenklich, und das Federmesser drohte wieder den langen polirten Nägeln, »ich wollte mich nur überzeugen, ob mein Gedächtniß mich nicht täuschte; jedenfalls kann seine warme Theilnahme für die Familie des Musiklehrers nicht abgeleugnet werden, noch weniger, daß er aus vollem Herzen Vaterstelle bei den Kindern vertreten würde, wenn welche vorhanden wären.«

Beltram antwortete nicht, sondern blickte gespannt auf den Rechtsanwalt, wie um das Weitere aus den Bewegungen des Federmessers und der Fingernägel herauszulesen.

»Und dennoch lebt eine Tochter jener Leute,« warf Alvens plötzlich hin, »die Kunde von dem Tode dreier Kinder, welche ich mir mit Mühe verschaffte, bezog sich offenbar auf ältere Geschwister, die schon gestorben sein mußten, bevor man an den kleinen Nachkömmling dachte. Ich glaube, damals hatte ich noch nicht das Vergnügen, Sie in meinem Bureau zu beschäftigen, – es mögen achtzehn bis zwanzig Jahre seitdem verflossen sein; ich selbst war noch ein junger Dreißiger und eben erst im Begriff, meinen Ruf zu begründen.«

»Also eine Tochter,« bemerkte Beltram bescheiden, während seine Augen hinter der Fensterglasbrille zuckten und blinzelten, als hätte Alvens mit jedem Worte, welches er sprach, ein Sandkorn in dieselben gestreut.

»Ja, eine Tochter,« wiederholte Letzterer, und behutsam zupfte er an seinen von großen goldenen Knöpfen gehaltenen Manchetten, »ein Mädchen, welches sich zur Zeit, wie Sie vielleicht errathen, im Hause des Kärrners befindet.«

Beltram verneigte sich unterwürfig; Alvens aber, zufrieden mit dem einfältigen, bewundernden Ausdruck seines Secretairs, fuhr fort:

»Zweifel über die Richtigkeit meiner Vermuthung walten zwar noch, allein ich hoffe, es soll mir binnen kurzer Frist gelingen, dieselben zu beseitigen; jedenfalls ist es nothwendig, schleunigst darüber nach Amerika zu berichten – der bereits angefertigte Bericht ist natürlich überflüssig geworden – setzen Sie daher gleich heute noch einen anderen auf und legen Sie ihn mir morgen vor. Die Form bleibt dieselbe, dagegen ist in den Hauptpunkten eine Abänderung erforderlich. Merken Sie sich Folgendes:«

Beltram zog schnell eine kleine, unsaubere Brieftasche hervor, und sobald er bereit war, die einzelnen Bemerkungen auf ein waschbares Pergamenttäfelchen niederzuschreiben, dictirte Alvens:

»Brauns Auftreten, namentlich das seiner Frau flößt mir Bedenken ein – sie sind auf dem besten Wege, vornehme Leute zu werden – eine Gesellschafterin ist in's Haus genommen worden – man geht mit der Absicht um, einen kostbaren Flügel zu kaufen – man spricht vom Aufgeben des Geschäftes – kurz, Alles gewinnt den Anschein, als ob man entweder eine gute Erbschaft angetreten habe – oder in nächster Zeit eine solche anzutreten hoffe – über den Verlust des Sohnes hat man sich offenbar getröstet. Doch auch eine erfreuliche Nachricht u. s. w.

– Täusche ich mich nicht, so bin ich auf die Spur eines Kindes der Familie Werth gerathen – ein junges Mädchen – spät geboren, von welchem bisher Niemand etwas wußte. Ich werde, den vor Jahren empfangenen Weisungen gemäß, die Spur mit allem Eifer verfolgen und, im Falle des Auffindens, mich der jungen Waise redlich annehmen – und erwarte ich umgehend die entsprechenden Instructionen.«

»Dies wären ungefähr die Hauptsachen, mein lieber Beltram,« schloß Alvens, indem er sich erhob, für den Secretair ein Zeichen, daß er entlassen sei, »führen Sie Alles etwas umständlich aus, und sollte mir noch dieses oder jenes einfallen, können wir das morgen hinzufügen.«

Beltram empfahl sich mit einer tiefen Verbeugung, welche sein Brodherr durch leichtes Nicken seines Hauptes lohnte, und in der nächsten Minute befand Alvens sich wieder allein. Nach kurzem Ueberlegen verschloß er die Papiere und Briefschaften, ebenso verfuhr er mit anderen Gegenständen, welche noch auf seinem Schreibtische umherlagen, dann sah er nach der Uhr.

Es war bereits spät am Nachmittage; nur noch verstohlen warf die sinkende Sonne einzelne Strahlen zwischen den Dächern der Nachbarhäuser hindurch. Die Zeit, zu welcher das Bureau geschlossen zu werden pflegte, war bereits vorüber. Alvens mochte sich dessen entsinnen, denn kaum eine Viertelstunde verwendete er dazu, die Arbeiten seiner Schreiber flüchtig zu prüfen, an ihn gerichtete Fragen zu beantworten und neue Befehle zu ertheilen. Mit Beltram dagegen sprach er kein Wort; er überzeugte sich nur, daß derselbe den ihm übertragenen Bericht in Angriff genommen hatte, worauf er sich wieder in sein Kabinet und von da nach seiner Wohnung begab.

Obwohl die jüngsten Erfahrungen seinen Geist noch immer rege beschäftigten, war er doch munter und guter Dinge. Für ihn begannen ja jetzt erst die Stunden des Lebens und Genießens, wie es einem freien und wohlhabenden Junggesellen gebührte; und er in seiner unabhängigen Stellung brauchte sich um so weniger Zwang aufzuerlegen, als er sein Bureau mit allen in demselben verborgenen Geheimnissen unter der sicheren Obhut eines gewissenhaften Secretairs wußte; verfügte sich dieser aber nach Hause, dann lag Alles wohlgeschützt hinter eisernen Stangen und doppelt verriegelten und verschlossenen Thüren. –

Der gewissenhafte Beltram! Nachdem die anderen Schreiber die Treppe des Hinterhauses hinuntergestolpert waren, versicherte er in gewohnter Weise die Außenthür, worauf er in seiner Arbeitsstube die Lampe anzündete und die Fenstervorhänge zuzog. Ein Blick in die an das Kabinet seines Herrn stoßenden Zimmer belehrte ihn, daß er heute keine Störung mehr zu befürchten habe. Ein heller Triumph glitt dabei über sein häßliches Gesicht, drohend ballte er die Fäuste und indem seine tückischen Augen unheimlich glühten, zischte es wie ein entsetzlicher Fluch zwischen den wulstigen Lippen und den aufeinander knirschenden Zähnen hervor.

»Du hättest mich zu Deinem Hunde machen können,« stöhnte er wuthbebend in sich hinein, »Du aber hast es vorgezogen, durch die ausgesuchtesten Martern mich in eine Hyäne zu verwandeln; so mögen denn auch die Folgen davon auf Dein eigenes Haupt zurückfallen! Ich war ein Dieb im Kleinen aus Noth, um mein elendes Dasein und das meiner noch elenderen Mutter zu fristen, und Du? Hahaha! Was sind meine Sünden gegen Deine Schurkenstreiche? Und mit meiner Beihülfe hättest Du Alles leicht und glücklich ausgeführt, wärest Du klug genug gewesen, dem Hunde dafür einen Brocken hinzuwerfen. Jetzt aber? Oh, wir wollen sehen!«

Die eine Hand fuhr hastig in die Seitentasche, in welcher mehrere Schlüssel klirrten.

»Wir wollen sehen,« wiederholte er mit gehässigem, feindseligem Ausdruck, dann lauschte er mit angehaltenem Athem.

Lautlose Stille herrschte ringsum. In dem von nur einem Fenster erhellten Kabinet hatte sich bereits Dämmerung eingestellt; vergrößert und durch die unbestimmte Beleuchtung verunstaltet, hoben alle Gegenstände von den dunkel tapezierten Wänden ab. Nur die kostbaren Lithographieen und Kupferstiche in ihren Goldrahmen schimmerten noch weiß, daß die Wände sich ausnahmen, als wären ihnen fürchterlich große Augen, Ohren und Nasen eingefügt gewesen, um Alles zu hören und zu beobachten, was vor Ihnen getrieben und ausgeführt wurde, und es dann zu verrathen. O, diese fürchterlichen Augen! Hätten sie nur ordentlich sehen und der dazu gehörige Mund jedesmal das Geschehene und Vernommene ordentlich mittheilen können! Wie dann wohl die elegante Erscheinung des berühmten Rechtsgelehrten bis in's innerste Mark hinein erschüttert worden wäre, wie seine feinen Hände sich wohl ineinander gerungen und die schwarzen stechenden Augen sich vor Entsetzen verglast hätten!

Doch die in dem Halbdunkel drohenden Lithographieen waren stumm, stumm und leblos, wie das Polisanderholz des kostbaren Schreibtisches mit den zahlreichen verborgenen Fächern und Thüren, stumm, wie die weichen Polstermöbel, stumm, wie der wunderlich geformte Drehstuhl mit den drei Löwenfüßen, der geschweiften Lehne und den beiden schön gestickten Sitzkissen.

Die Vorzüge und der Glanz der Zimmereinrichtung verschwanden in der zunehmenden Dunkelheit; der Drehsessel aber verwandelte sich in einen lächerlichen Kobold mit großen Höckern und zwischen den hohen Schultern verschwindendem Kopfe, der vor dem Schreibtische kauerte, wie bewachend alle die Geheimnisse, welche dieser in seinem Innern barg, und bereit, sich hinterlistig auf jeden in seinen Bereich tretenden zu stürzen.

Von der Straße her erscholl dumpf das Rasseln der Equipagen, die den Verkehr in hochgestellten und glänzenden Kreisen vermittelten. Im dunkelen Winkel auf vergoldeter Console tickte ausdruckslos eine broncene Stutzuhr; ihr eintöniges Ticken schien zu betheuern, wie gleichgültig es ihr sei, ob der Gebieter oder der Sclave auf ihr einschläferndes Geräusch lausche, ob kleine oder große Frevel in ihrer Nachbarschaft ersonnen und vorbereitet wurden. Sie tickte langsam und regelmäßig, als sei sie die Pulsader des Kabinets gewesen, viel langsamer, als das Blut in Beltrams Adern; denn Beltrams Blut kochte vor Wuth und Feigheit, vor Rachedurst und Sehnsucht, ebenfalls in einer stattlichen Karosse durch die belebten Straßen zu rollen und den Neid der erbärmlichen Fußgänger zu erwecken, von welchen Manche vielleicht dazu verdammt waren, hungrig zu Bett oder vielmehr auf eine moderige Strohschütte zu gehen.

Geisterhaft stierten die schwarzen Wände und bleichen Bilder auf Beltram, als dieser mitten in dem Kabinet stand und mißtrauisch in die Ferne lauschte. Alles ringsum erschien ihm unheimlich drohend. Da klirrten die Schlüssel wieder zwischen seinen Fingern, und wie durch den eigenthümlichen Klang neu belebt, richtete er sich empor.

Mit sicheren, jedoch unhörbaren Schritten trat er vor den Wandschrank hin, aus welchem er kurz zuvor die Papiere hervorgesucht hatte. Einige Sekunden tastete er auf der Tapete umher, dann schob sich mit leise knirschendem Geräusch ein bereit gehaltener Schlüssel in das Schloß.

»Er paßt,« entschlüpfte es gepreßt der eingezwängten, schwer athmenden Brust.

»Und er schließt,« folgte es in derselben Weise nach, als der Riegel dem auf ihn ausgeübten Druck nach links und rechts herum willig nachgab. »O, ich wußte, daß meine Augen mich nicht täuschten,« stöhnte er, den Schlüssel wieder herausziehend, worauf er sich nach dem Schreibtisch hinbegab. Auch hier prüfte er zwei Schlösser mit zwei verschiedenen Schlüsseln, welche indessen nicht paßten.

»Von diesem muß noch etwas Eisen heruntergefeilt werden,« tröstete er sich leise, »und an diesem scheint die Kreuzkerbe zu eng zu sein. Geduld, Geduld, die Zeit ist nicht mehr fern, in welcher seine Briefschaften mir ebenso zugänglich sind, wie ihm selber! Ha, und alle Tage will ich dann lesen, daß ich ihn bestahl, daß meine elende Mutter eine Diebshehlerin war und die Freiheit von uns Beiden in seinen Händen ruht. Wohl, unendlich wohl soll es mir thun, dies ungestört zu lesen, wenn seine Augen nicht auf mir ruhen, sich nicht weiden an meiner Scham – Scham? Hahaha! die wurde längst durch seine freundliche Fürsorge erstickt, und zu meinem Segen, denn ein armer Abschreiber – ha! wer würde sich wohl gern als Abschreiber durch's Leben schlagen?«

Er lauschte wieder; Nichts rührte sich in seiner Umgebung. Von der Straße her dasselbe dumpfe Rasseln, im Winkel dasselbe ausdruckslose Ticken. Die Bilder waren beinahe gänzlich verschwunden; ein schmaler Lichtstreifen fiel hinter dem verschobenen Vorhange hervor in das Cabinet hinein und traf den Drehsessel so wunderbar, daß die beiden vorspringenden polirten Knöpfe der Seitenlehnen den Schein zurückstrahlten und dadurch die Aehnlichkeit mit einem mißgestalteten, feurig glotzenden Gnomen noch erhöhten.

»Wie die Arbeit, so der Lohn,« sprach Beltram unheimlich, und kühn warf er sich auf den drohenden Kobold, daß dieser in allen seinen Fugen knackte und knarrte.

»Ganz genau solchen Stuhl werde ich mir dereinst anfertigen lassen,« fuhr er in seinem Selbstgespräch fort und behaglich schob er seinen knochigen Oberkörper zwischen den gepolsterten Lehnen und Kissen hin und her, »und eine schmackhaftere Mahlzeit hoffe ich dann auch zu halten.«

Ohne sich zu erheben, drehte er den Stuhl so weit herum, daß der Lichtschein aus dem Nebenzimmer gerade auf seinen Schoß fiel. Aus der einen Tasche seines fadenscheinigen Rockes zog er darauf ein Stück grobes Brod, aus der anderen einige in Papier gewickelte Wurstschnitten und Zwiebeln und endlich aus der Westentasche ein Zuschlagemesser hervor.

Mit großem Appetit begann er zu speisen; ein auf seine Kniee ausgebreiteter Bogen Papier war sein Tischtuch, hinreichendes Licht spendete ihm die Lampe in dem Nebenzimmer zwischen dem Thürpfosten und dem Vorhang hindurch, und was ihm sonst noch etwa mangelte, das ersetzte ihm reichlich das Bewußtsein, auf dem weich gepolsterten Drehstuhl zu rasten, welcher genau so beschaffen war, wie derjenige, den er einst sein Eigenthum zu nennen hoffte.

Hei! Wie bei diesem Gedanken die breiten Kinnladen so eifrig arbeiteten und das harte grobe Brod und die kärglichen Zuthaten zermalmten! Wie die großen, runden Gläser vor den zuckenden und blinzelnden Augen den schwachen Lichtschein so wunderlich zurückspiegelten und die wulstigen Lippen und eingefallenen Backen sich in alle nur denkbaren Formen hineinquälten und zwängten, während die knochigen Finger bedächtig und wenig einladend Messer und Speisen handhabten!

Der Drehstuhl hatte bei der unzureichenden Beleuchtung seine Aehnlichkeit mit einem Kobold immer noch nicht ganz verloren, doch was war sein Zerrbild im Vergleich mit der häßlichen, Unheil brütenden Gestalt, welche er trug? Wie die Tarantel aus künstlich hergestelltem Hinterhalte in's Tageslicht hineinspäht, um sich wild auf die arglos in ihren Bereich tretenden Opfer zu stürzen, so stierten grämlich und zugleich listig die gerötheten grauen Augen in den falben Lichtschein, der, wie ein Kometenschweif, seitwärts von dem Vorhange seinen Weg in das finstere Kabinet fand.


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