Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant - Teil 1
Balduin Möllhausen

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Zwölftes Capitel. Eine weiße Sklavin.

Vier Tage waren seit Lukas' Besuch auf dem Holzhofe verstrichen. Das Wetter hatte sich immer noch nicht geändert; es war stürmisch und rauh, wie gewöhnlich beim Herannahen der Tag- und Nachtgleiche, und daher nur wenig einladend zu einer längeren Seereise. Doch wie Lukas sich unempfindlich gegen klimatische Einflüsse auf dem Lande gezeigt hatte, war er auch gleichgültig gegen die Aequinoctialstürme, unter deren Herrschaft sich das Meer, wie ein in Fesseln geschlagener und blutrünstig gepeitschter Sklave windet. Für ihn hatte die Natur Reize und Schrecken verloren; in Verfolgung selbstsüchtiger Zwecke kannte er keine Rücksichten, weder für sich, so weit dieselben von äußeren Umständen abhängig, noch für Andere, und wenn deren irdische Wohlfahrt dadurch zerrüttet und zertrümmert wurde.

Er wollte zurückkehren nach seinem Adoptivvaterlande; denn nachdem er die geheime Aufgabe gelöst, welche ihn vor Kurzem erst über den Ocean führte, hielt ihn nichts mehr in Europa, wogegen drüben die dringendsten Geschäfte seiner harrten.

Seine Reiseeffecten befanden sich in den Händen eines Gepäckträgers, das Billet zur Fahrt nach einer Hafenstadt war gelöst, und eine Viertelstunde dauerte es noch, bis die ungeduldig zischende Locomotive ihn davonführte.

Lukas liebte Pünktlichkeit in allen Dingen, heute war er aber noch besonders früh auf dem Bahnhofe eingetroffen, wo er von Alvens zum Zweck einer letzten Unterredung erwartet wurde. Längere Zeit waren Beide, in ein ernstes Gespräch vertieft, auf- und abgewandelt, als zum ersten Male die Glocke gezogen wurde.

»Nur noch eine Viertelstunde,« bemerkte Lukas, indem er nach der Uhr sah; »ich darf also darauf rechnen, daß Sie meinen Freund Redsteel von allen Ereignissen jedesmal genau in Kenntniß setzen?«

»Wäre es nicht rathsamer, zwischen uns Beiden noch eine Privatcorrespondenz zu eröffnen?« fragte Alvens, indem er, um den Ausdruck seiner Augen zu verbergen, seine tadellos anschließenden Handschuhe sehr aufmerksam betrachtete und glatt strich.

»Ich rathe nicht dazu,« entgegnete Lukas; »wollen Sie indessen meiner freundschaftlich gedenken, so legen Sie in den Brief an Redsteel einige Zeilen für mich ein – er kennt stets meine Adresse – in Geschäftssachen dagegen muß ich Sie nothgedrungen direct an meinen Chef verweisen. Sie wissen, meine Vollmachten erlöschen mit meinem ersten Schritte über die Schwelle seines Bureaus.«

»Sie genießen das unbegrenzte Vertrauen Redsteels?« fragte Alvens, noch immer mit seinen Handschuhen beschäftigt.

Um Lukas' bärtigen Mund spielte ein eigenthümliches Lächeln.

»Im Grunde besteht wohl kaum ein Geheimniß zwischen ihm und mir,« versetzt er gleich darauf, »und wohl weiß er zu würdigen, daß ich ihm mit Herz und Seele treu ergeben bin. Aber auch Sie mögen zuversichtlich auf Redsteels glänzendste Dankbarkeit für jeden ihm geleisteten Dienst rechnen.«

Alvens blickte nach der zischenden Locomotive hinüber, als ob er noch etwas Wirksameres kenne, als die angekündigte Dankbarkeit, doch antwortete er, scheinbar tief durchdrungen von seines Begleiters aufrichtigen Gefühlen, mit erheuchelter Wärme:

»Unsere Arbeiten, Zwecke und Erfolge gehen Hand in Hand; Einer kann ohne den Andern kaum fertig werden, das beiderseitige Interesse gebietet daher nicht nur gegenseitiges Vertrauen, sondern auch die schärfste Wachsamkeit.«

»Des Kärrners sind Sie sicher?«

»Vollkommen; mein Bericht, der drüben bereits eingetroffen sein muß, hat den alten Herrn darauf vorbereitet, daß sein wunderlicher Bruder, namentlich dessen noch wunderlichere Frau sich kaum zu Erben eines fürstlichen Vermögens eignen dürften. Uebrigens eine köstliche Idee von den Leuten, sich mit Klavieren und Klavierspielerinnen zu umgeben, wovon sie ebenso viel verstehen, wie ihre Frachtgäule.«

»Rathsam bleibt es indessen immer, daß auch Sie auf eine kleine Jahresrente für sie dringen; wir schützen uns dadurch gegen spätere Anfechtungen.«

»Ich verstehe, bauen Sie auf mich.«

Es läutete zum zweiten Male und die Reisenden begannen, sich den verschiedenen Wagen zuzudrängen. Auch Lukas lenkte auf den Wagen zu, in welchem er einen Sitz für sich belegt hatte.

»Von den Mitteln und Wegen, für welche Redsteel sich entscheidet, haben Sie noch keine Ahnung?« fragte Alvens, nur mit Mühe eine äußerlich ruhige Haltung bewahrend.

»Nicht die leiseste Ahnung,« lautete die Antwort, »ich kann nur wiederholen, daß Alles von den Nachrichten abhängt, welche ich selbst mitbringe, und daß kein Schritt gethan wird, ohne Sie vorher davon in Kenntniß zu setzten.«

Alvens war mit dieser Erklärung offenbar nicht ganz zufrieden; er begriff indessen, daß alle weiteren Forschungen kein besseres Ergebniß liefern würden, und da sie sich allmälig dem bestimmten Wagen näherten, so beschränkte er sich auf einige Bemerkungen betreffs der einer Seereise nicht günstigen Jahreszeit.

Bald darauf stieg Lukas ein. Die Glocke ertönte zum dritten Male, die beiden Geschäftsfreunde wechselten einen letzten Händedruck, ein scharfer Pfiff, und dahin brauste die mit einer langen Wagenreihe beschwerte Locomotive. –

Die unter dem Vorbau befindlichen Leute hatten sich längst zerstreut, da stand Alvens noch immer auf derselben Stelle, die sinnenden Blicke dahin gerichtet, wo der Wagenzug verschwunden war.

»Verteufelt klug,« verlieh er flüsternd seinen geheimsten Gedanken Ausdruck, »verteufelt klug und verschwiegen. Aber wir wollen sehen, was Einer gegen zwei vermag, ob wir auf gesetzlichem Wege nicht noch schlauer sein können. Möchte wissen, was ihn überhaupt hierherführte, denn was er durch mich erfuhr, sind alte Geschichten und wäre ein geringer Lohn für die geopferte Zeit und Mühe. Ja, ja, wir müssen sehr schlau sein – und seine glänzende Dankbarkeit?« Er lachte still vor sich hin; dann rief er einen Miethswagen zu sich heran, und in denselben einsteigend, befahl er dem Kutscher, ihn nach einer der abgelegensten, aber schönsten, neu errichteten Vorstädte zu fahren. –

Vor einem fünfstöckigen Hause hielt der Wagen an. Alvens stieg aus, bezahlte den Kutscher, und in den übergebauten Thorweg tretend, zog er an der Klingel. Das Portal öffnete sich geräuschlos und schloß sich ebenso geräuschlos hinter ihm, und ohne den aus seinem Fensterchen spähenden Hausdiener zu beachten, eilte er sogleich die breite Treppe bis zum dritten Stockwerke hinauf, wo zwei Glasthüren die Corridors zweier abgesonderten Wohnungen von der noch höher hinaufführenden Treppe trennten.

Vor der größeren Wohnung klingelte er wieder. Ein sauber gekleidetes Dienstmädchen öffnete, und als er auf seine Frage, ob Frau von Birk zu Hause sei, eine bejahende Antwort erhielt, bat er, ihn anzumelden.

Das Mädchen verschwand, erschien jedoch nach kurzer Abwesenheit wieder und bat Alvens, die Thür eines zwar nicht auffallend reich, dagegen geschmackvoll eingerichteten Salons öffnend, näher zu treten und einige Minuten auf die gnädige Frau zu warten.

Nachdem das Mädchen sich entfernt hatte, warf Alvens sich nachlässig auf einen weich gepolsterten Lehnstuhl. Er fühlte sich offenbar heimisch daselbst, denn unbekümmert um seine Umgebung richtete er die Augen grübelnd auf eine Seitenthüre, durch welche die Besitzerin der Wohnung erscheinen mußte.

Wohl zehn Minuten verstrichen, bevor er in dem Nebenzimmer eine leichte Bewegung vernahm und gleich darauf die Thür geöffnet wurde.

Alvens erhob sich, und der sich ihm nähernden Dame entgegentretend, küßte er höflich die ihm dargereichte Hand.

»Immer schön, immer liebenswürdig,« sprach er halb spöttisch, halb bewundernd, während seine Blicke über die in dunkelblaue Seide gehüllte, hohe Gestalt flogen und demnächst auf einem alternden, jedoch die unverkennbaren Merkmale früherer hoher Schönheit tragenden Antlitz haften blieben; »es scheint fast, als gingen die Jahre spurlos an uns vorüber, meine gnädige Frau,« fügte er hinzu, worauf er diese zu dem Sopha hinführte und durch eine anmuthige Handbewegung zum Sitzen einlud.

Bei den Schmeicheleien des Rechtsanwalts lagerte sich ein unendlich trauriger Zug um den kleinen Mund der Dame, während aus den dunkelbraunen Augen ein unverhohlener Vorwurf ihn traf.

»Ihre gewohnten Complimente,« erwiderte eine wohlklingende, tiefe Stimme, und zwischen den sich öffnenden Lippen wurden zwei Reihen Zähne sichtbar, die an Weiße und Gleichmäßigkeit mit Perlenschnüren wetteiferten, »immer die alten Floskeln; ich hatte mich bereits der Hoffnung hingegeben, daß meine sechsundvierzig Jahre mich endlich gegen dieselben schützen würden.«

»O meine theuerste Frau von Birk,« entgegnete Alvens, seinen Polsterstuhl etwas näher an das Sopha heranrollend, »ich sollte denken, unsere langjährige Bekanntschaft berechtigte mich dazu, Sie noch immer schön und liebenswürdig zu finden; und in der That, meine Gnädigste, mögen Sie selbst auch auf das Dahinschwinden der Zeit hinweisen, für mich schmücken Sie noch immer dieselben Reize, welche ich einst, in den Tagen unserer ersten Bekanntschaft, an Ihnen bewunderte und die mich fast zum Wahnsinn trieben –«

»Erinnern Sie mich nicht an jene Tage,« fiel Frau von Birk dem Rechtsanwalt erbleichend in die Rede, »erinnern Sie mich nicht an die Umstände, welche unsere erste Bekanntschaft begleiteten oder vielmehr herbeiführten! Helfen Sie mir vielmehr, wenn nicht der letzte Funke von Mitleid in Ihrer Brust erloschen ist, dieselben in Vergessenheit begraben.«

»Nicht doch, meine Liebe,« versetzte Alvens schnell, und aus seiner Stimme klang ebenso wohl ein ernster Wille, wie eine Art freundlicher Ermuthigung hervor; »erinnern Sie sich der Vergangenheit lieber recht lebhaft, es wird ihnen dann leichter, scheinbare Widerwärtigkeiten, welche sich von einem armen Menschenleben leider nicht trennen lassen, zu ertragen.«

»Ihre Worte enthalten eine versteckte Drohung,« erwiderte Frau von Birk mit unverkennbarer Besorgniß, »denn ohne bestimmte Absichten rufen Sie mir nicht in's Gedächtniß, daß Sie sich hier in Ihrem Eigenthum befinden.«

Alvens begegnete den vorwurfsvollen Blicken mit einem Ausdruck, als ob er sich an dem Gemüthszustande der offenbar sehr unglücklichen Frau geweidet hätte; dann ergriff er deren Hand, und dieselbe zwischen den seinigen haltend, fragte er ernst:

»Sie haben meinen Brief erhalten?«

»Ich erhielt ihn« hieß es fast tonlos zurück.

»Und haben meinen Wünschen Rechnung getragen?«

»Zwei Zimmer und ein Kabinet sind zur Aufnahme der geheimnißvollen Person hergerichtet worden.«

»Ich danke Ihnen herzlich, meine Theure, übrigens soll die geheimnißvolle Person nicht lange ein Geheimniß für Sie bleiben. Bevor ich mich indessen weiter erkläre, muß ich mir nothgedrungen einige Fragen an Sie erlauben, um – nun, um der jungen Fremden eine recht gute Aufnahme bei Ihnen zu bereiten – ja, ich muß mich einer freundlichen Aufnahme von Ihrer Seite durchaus versichert halten können.«

»Also eine junge Fremde, ein Mädchen?« fragte Frau von Birk, und ihr bleiches Gesicht überzog sich mit einer flüchtigen Röthe.

»Ein Mädchen, ein schönes, reich begabtes junges Mädchen, mit welchem ich mich zu verheirathen gedenke,« antwortete Alvens langsam und jedes einzelne Wort besonders betonend, während er in den dunklen Augen seiner Gegnerin zu lesen suchte. Kaum aber war die letzte Silbe seinen Lippen entflohen, da richtete Frau von Birk sich mit einer heftigen Bewegung empor, ihr Antlitz erhielt die fahle Farbe des Todes, und indem sie beide Hände betheuernd auf's Herz legte, rief sie schmerzlich aus:

»Nun und nimmermehr! Verlangen Sie Alles von mir, nehmen Sie mir Alles, was mich umgiebt, es hat keinen Werth für mich; stoßen Sie mich hinaus, zwingen Sie mich, die Maske, welche ich meinen und seinen Verwandten gegenüber unter den namenlosesten Qualen fast ein Vierteljahrhundert hindurch trug, fallen zu lassen; zwingen Sie mich zu Demüthigungen, die gleichbedeutend mit meinem Tode wären, aber verlangen Sie nicht von mir, in ein derartiges Verhältniß zu Ihrer zukünftigen Gattin zu treten!«

»Und dennoch sehe ich keinen andern Ausweg; Sie müssen,« entschied Alvens, »Sie sind es mir schuldig, wenn überhaupt von bestehenden Verbindlichkeiten zwischen Menschen die Rede sein darf.«

Frau von Birk blickte starr vor sich nieder; ihre Lippen bewegten sich leise, und kaum verständlich klang es zwischen denselben hervor:

»Sie haben recht, ich bin Ihre Sklavin.«

»Nein, nein, ein solches Geständniß verlange ich nicht von Ihnen,« versetzte Alvens mißmuthig, »es lag überhaupt nicht in meiner Absicht, das Gespräch auf Verhältnisse überzulenken, welche Ihnen – ich begreife es – peinlich sein müssen. Nur das geringste Entgegenkommen von Ihnen, und alles, was Sie schmerzt und verstimmt, wäre unberührt geblieben.«

Hier schwieg er, und längere Zeit beobachtete er die unglückliche Frau, deren Geist und Körper in eine schwere Erstarrung versunken zu sein schienen.

»Mathilde, Sie zwingen mich zum Aeußersten,« hob er wieder an, als jene fortgesetzt regungslos verharrte, »Mathilde, wer war es, der vor dreiundzwanzig Jahren einer jungen, schönen Frau behülflich war, die Scheidung von ihrem Manne, einem ebenso schönen jedoch etwas älteren Offizier, der aber als falscher Spieler entlarvt wurde, durchzusetzen?«

»Sie waren es,« hauchte es leise über die bebenden Lippen, »und dennoch hätte ich mich nie von ihm getrennt, wäre ich nicht schändlich hintergangen und dadurch namenlos elend gemacht worden – er betrachtete mich als Waare – und – und er verkaufte mich!«

»Es ist wahr, meine Theuerste,« versetzte Alvens mit erheucheltem Bedauern, »die Mittel, der ihn verfolgenden Gerichtsbarkeit zu entschlüpfen, und etwa achthundert Thaler Reisegeld waren indessen ein kaum nennenswerther Preis für das, was ich zu gewinnen hoffte.«

Frau von Birk zuckte schmerzlich zusammen, warf einen Blick gänzlicher Rathlosigkeit auf den Rechtsanwalt und sank dann wieder in ihr dumpfes Brüten zurück.

»Entsinnen Sie sich einer jungen, schönen Frau,« fuhr Alvens nach einer Pause fort, »welche den allerdings nur mittelbaren Käufer – wenn Sie es so nennen wollen – durch giftigen Kohlendunst um seine doppelt theure Waare zu bringen versuchte, einer jungen, schönen Mutter, die selbst durch einen sie zufällig besuchenden Freund vom Rande des Grabes zurückgerissen wurde, während ihr Kind einem unerbittlichen Tode anheimfiel?«

»Ich entsinne mich,« hallte es dumpf zurück.

»Und die dann aus Dankbarkeit, daß durch die Entfernung der kleinen Leiche der entsetzliche Verdacht des Kindesmordes von ihr genommen wurde –«

»Schweigen Sie!« rief Frau von Birk emporspringend aus, und ihre braunen Augen funkelten vor ohnmächtigem Zorn und wilder Verzweiflung, »schweigen Sie, oder erzählen sie die ganze Begebenheit, anstatt nur einzelne, mich zermalmende Punkte hervorzuheben! Was mir damals mißlang, heute kann es glücken – wollte Gott, ich wäre damals nicht gestört worden, und ich hätte Alles überstanden; ich läge neben meinem armen Engel, anstatt daß ich jetzt nicht einmal nach seinem kleinen Grabe zu forschen wage! Glauben Sie etwa, feige Furcht vor dem Tode vermöchte mich an einer Wiederholung eines letzten, entscheidenden Schrittes zu hindern? Oder schmeicheln Sie sich gar, der Furcht vor der Strafe einer frevelhaften That, welche ohnedies mit Schonung und Mitleid beurtheilt werden würde, verdankten Sie, daß ich den gräßlichen Bann immer noch nicht brechen kann? Nein, nein und tausendmal nein! Wie schon so oft, wiederhole ich Ihnen auch jetzt wieder: Ein Stolz, wie Sie ihn nicht fassen, nicht begreifen, leitete mich auf allen meinen Wegen; ihm allein mögen Sie die Vortheile zuschreiben, welche ich Ihnen über mich einräumte. Ich durfte nicht im Elend umkommen, weil ich einen Namen, welchen ich gegen den Wunsch und den Willen meiner Eltern annahm, vor Schmach zu bewahren hatte; ich durfte nicht im Elend untergehen, um nicht nachträglich Denjenigen Recht zu geben, die einst mit aller Macht gegen die von mir beschlossene Verbindung ankämpften. Für mich gab es nur zwei Wege: entweder ein Leben des behaglichen Auskommens – ha! Und dennoch, was hätte ich nach Behaglichkeit gefragt? – oder den Tod. Aber auch Letzteren herbeizuführen, nachdem Sie mich einmal demselben entrissen – gegen meinen Willen entrissen hatten – verbot mir der Stolz, zu welchem ich seinen und meinen Verwandten gegenüber heilig verpflichtet war. Ich wiederhole Ihnen dies Alles, damit Sie keinen Augenblick über die mich in meinen Handlungen lenkenden Beweggründe in Zweifel gerathen mögen. Es ist wahr, ich gab mich einst, thörichter, kurzsichtiger Weise, Hoffnungen hin, welche Sie in mir erweckten, ich klammerte mich an dieselben an und erwartete von ihrer Erfüllung, wie von der gewissenhaften Hingebung der mir auferlegten neuen Pflichten eine theilweise Rückkehr des inneren Friedens. Diese Hoffnungen, sie sind längst gestorben, und daß ich mich täuschte, ist am wenigsten meine Schuld. Zwischen uns aber kann kein Mißverständniß mehr walten, wir kennen unsern gegenseitigen Werth; es fällt daher der Grund für Sie fort, mich durch die Erinnerung an eine entsetzliche Vergangenheit immer wieder aufs neue zu martern; Sie wissen, ich bin Ihre Sclavin, und bis in's Grab hinein wird mein Stolz mich nicht verlassen!«

Hier zögerte Frau von Birk eine Weile. Trotz der unerschütterlichen Willenskraft, welche in ihrer Brust wohnte und der allein sie alle Wandlungen ihres Geschickes, zum Guten, wie zum Bösen, verdankte, schienen ihre Kräfte nach der langen Erklärung sie dennoch verlassen zu wollen. Die Farbe kam und wich von ihrem erregten, noch immer schönen Antlitz, und mit der Farbe wechselte jedesmal der Ausdruck der dunklen Augen, bald einen namenlosen Seelenschmerz, bald einen unbeugsamen Stolz verrathend. Sie seufzte tief auf; ihre Hand strich, indem sie wieder Platz nahm, wie marternde Bilder verscheuchend, leicht über ihre Augen und Stirne hin, und dann fuhr sie mit erzwungener Kälte und fester, gedämpfter, tiefer Stimme fort:

»Alles dieses vorausgeschickt, erkläre ich, daß ich auch dieses Mal mich unter Ihren Willen beuge; widerstrebt es nicht Ihren Gefühlen, nicht Ihren Begriffen von Ehre, Ihre zukünftige Gattin gerade mir anzuvertrauen, so bin ich bereit, sie bei mir aufzunehmen.«

»Sie wollen der jungen Dame, einer elternlosen Waise, eine mütterliche Freundin sein?« fragte Alvens, sich den Anschein gebend, als ob Frau von Birk's Erklärung ihn nur oberflächlich berührt habe.

»Ich will es.«

»Sie wollen nach besten Kräften dahin wirken, daß sie sich mit dem Gedanken: die Gattin eines älteren Mannes zu werden, allmälig vertraut macht?«

»Auch das noch?« fragte Frau von Birk mit ersterbender Stimme, »ich soll da zu vermitteln suchen, wo Sie selbst von vielleicht gerechtfertigten Zweifeln an Ihren Erfolgen erfüllt sind?«

Aus den Augen des Rechtsanwalt sprühte ein Blick verletzter Eitelkeit; gleich darauf aber hatte er seine Selbstbeherrschung zurückgewonnen und mit sicherer Stimme sprach er:

»Sie sind die einzige, der ich eine solche Aufgabe anvertrauen darf und die mit Treue und Gewissenhaftigkeit über das Gelingen meiner Pläne wacht, um so mehr, da durch eben dies Gelingen mir nicht nur ein glückliches Alter gesichert wird, sondern schließlich auch Sie selbst so frei und unabhängig hingestellt werden sollen, wie nur je in Ihren eigenen Wünschen gelegen haben kann.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Frau von Birk hastig, wie von einer schwach aufdämmernden Hoffnung beseelt.

»Durch eine auskömmliche Leibrente und gänzliches Brechen mit der Vergangenheit.«

»Entsetzlich,« flüsterten die bebenden Lippen, »für Geld und immer für Geld; doch sprechen Sie weiter, ich bin in Ihrer Gewalt.«

»Die Leibrente soll Ihnen so gesichert werden, daß Sie meinen Namen nicht mehr auszusprechen brauchen ...«

»Mit andern Worten, Sie wollen mich unter einigen Opfern von sich abstreifen,« fiel Frau von Birk mit herbem Spott ein.

»Nein, nein, mißverstehen sie mich nicht; es hängt nämlich zu viel von meiner Verheirathung ab, als daß ich nicht mit Freuden Alles aufbieten möchte, auch Ihnen einen freundlich lächelnden Lebensabend zu bereiten.«

»Mein Lebensabend!« hohnlachte die Unglückliche, und mit einer Ergebung, wie sie nur durch die furchtbarsten Seelenqualen erzeugt werden kann, lehnte sie sich zurück.

»Seien Sie verständig, liebe Mathilde,« sprach Alvens mit unerschütterlicher Ruhe, »warum sollte man nicht glücklich werden können, wenn man eine traurige Vergangenheit gleichsam aus dem Leben streicht?« sie urtheilen vorschnell, und ich weiß, bei ruhiger Ueberlegung werden Sie anders denken.«

»Und die junge Waise, deren Sie erwähnten, hat sie denn Niemand, der über sie wacht, der sie warnt vor Gefahren, vor übereilten Schritten?« fragte Frau von Birk, wie im Traume, als hätte sie Alvens letzte Worte gar nicht vernommen.

»Sie besitzt einen Freund, der sie beschützt und über sie wacht,« erwiderte Alvens entschieden, »einen Freund, der ihr durch eigene Neigung, wie von Rechtswegen zur Seite gestellt wurde – doch schenken Sie mir auf einige Minuten Ihre Aufmerksamkeit, liebe Mathilde, und ich will Ihnen Alles ausführlich erklären:

»Eine junge Waise, welche mir durch ihre sterbende Mutter empfohlen wurde, hat, trotz ihrer Jugend, Jahre hindurch in einem Landstädtchen von dem Ertrage ihres meisterhaften Klavierspiels gelebt, bis endlich der Zufall sie vor mehreren Wochen nach der Residenz führte, wo sie bei schlichten Bürgersleuten liebevolle Aufnahme fand. Von der Zeit ihres Eintreffens hier schreibt sich meine Bekanntschaft mit ihr her, doch muß ich einräumen, daß ich sie bis jetzt nur flüchtig und im Vorbeigehen sah. Ich ließ sie beobachten, und da sich ergab, daß sie eine äußerst sorgfältige Erziehung genossen hatte, so beschloß ich, den Brief ihrer Mutter berücksichtigend, in einer ihrer Begabung entsprechenden Weise für sie zu sorgen. Um dies zu ermöglichen, war ich gezwungen, einzelne schwer wiegende Hindernisse zu besiegen, indem die Leute, bei welchen sie wohnt, sich nicht von ihr trennen wollten, Zwang auszuüben aber nicht in meiner Macht lag. Nach manchem Hin- und Herschreiben ist es mir endlich gelungen, die Vormundschaft über die junge Waise an mich zu bringen – keine schwere Aufgabe, indem ihr bisheriger Vormund, ein wenig bemittelter Lehrer, offenbar froh war, einer Verantwortlichkeit überhoben zu sein, welche durch die zwischen ihn und sein Mündel gelegte Entfernung doppelte Schwierigkeiten gehabt hätte.

»Die Vormundschaft habe ich also in aller Form des Rechts übernommen, und hiermit die Verpflichtung, nach bestem Vermögen über die Zukunft der jungen Waise zu wachen. Da dieselbe nun in einer Umgebung weilt, in welcher ihr jede Gelegenheit mangelt, sich weiter auszubilden, bin ich nach reiflicher Ueberlegung zu dem Entschluß gelangt, sie bei Ihnen unterzubringen. Sie selbst werden mein Verfahren billigen; denn Anna Werth ist nicht nur ein liebes, treues Kind, sondern auch hochbegabt, und manche genußreiche Stunde wird sie Ihnen durch ihr meisterhaftes Klavierspiel bereiten; haben Sie aber erst meinen holden Schützling kennen gelernt, dann ist es überflüssig, ihn noch weiter Ihrer treuen Fürsorge anzuempfehlen.«

»Weiß die sogenannte Anna Werth um Ihre väterlichen Absichten?« fragte Frau von Birk mit eisiger Kälte, sobald Alvens schwieg.

»Bis jetzt noch nicht.«

»Weiß sie, daß Sie die Vormundschaft übernommen haben?«

»Daß ein Wechsel geboten sei, hat sie wohl erfahren, dagegen ist ihr fremd, daß gerade ich es bin, an welchen ihr früherer Vormund seine Rechte und Verpflichtungen abtrat. Ich beabsichtige nicht, sie über diese Verhältnisse zu belehren, bevor sie hier eingezogen ist. Es steht nämlich zu befürchten, daß die Leute, bei welchen sie zur Zeit wohnt, eine unangenehme Scene heraufbeschwören, wenn ihr Pflegling ihnen nicht mit List entzogen wird; das junge Mädchen aber über die gezwungene Trennung zu trösten, soll Ihre Aufgabe sein, eine Aufgabe, welche Ihnen bei Ihrer angeborenen Liebenswürdigkeit durchaus nicht schwer werden kann.«

Frau von Birk warf die Lippen mit einem spöttischen Lächeln empor und zuckte geringschätzig die Achseln. Sie war jetzt kalt, kalt wie Eis, und ihr schönes, unheilbare Seelenleiden verrathendes Gesicht veränderte bis zum Schluß des Gespräches kaum noch eine Muskel.

»Machen Sie Alles, wie Sie wollen,« sagte sie, nachlässig in einem vor ihr liegenden Buche blätternd; »tritt ein junges, unverdorbenes Wesen in meine Nähe, dann müßte ich meine Natur verleugnen, wollte ich es entgelten lassen, was Andere und vor Allen ich selbst an mir verbrochen. Wie soll ihrem Schützlinge der gezwungene Wechsel erklärt werden?«

»Durch Enthüllung der unverfälschten Wahrheit; ich selbst werde als Vormund in schonendster Weise mit ihr darüber sprechen.«

»Welche Vortheile knüpfen sich an das Mädchen? Oder möchten Sie mich überreden, daß in Ihrem vorgerückten Alter und bei Ihrer Vergangenheit der erste Anblick genügte, Ihr Herz zu entflammen?«

»Sie werden sarkastisch, liebe Mathilde,« versetzte Alvens mit einem bezeichnenden Lächeln. »Heute entflammt sich mein Herz allerdings nicht mehr so schnell, wie vor zwanzig Jahren, als ich meine Seele nur einzig und allein einer schönen, jungen Frau verschrieb, doch leugne ich nicht, daß Anna Werth's ganze Erscheinung einen recht günstigen Eindruck auf mich ausübte. Die Sehnsucht nach einem stillen, häuslichen Glück ist indessen bei mir an Stelle der jugendlichen Ueberspanntheit getreten, und keineswegs blind für den bestehenden Altersunterschied, fiel meine Wahl auf ein sehr junges Mädchen, weil mir dabei an die Hand gegeben ist, es gewissermaßen nach meinem Geschmack zu bilden und zu erziehen.«

»Sie hat wohl ein bedeutendes Vermögen zu erwarten?«

Alvens antwortete nicht gleich. Frau von Birk wußte so gut, wie er selbst, daß um geringer Vortheile willen er nie dem ihm fast zum Bedürfniß gewordenen Junggesellenleben entsagen würde, und dennoch scheute er sich, die Hoffnungen durchblicken zu lassen, welche sich an den Besitz seines Mündels knüpften. Nicht einig mit sich, wie weit er mit seinen Eröffnungen gehen könne, bemerkte er daher wie im Selbstgespräch:

»Anna Werth ist von Hause aus mittellos; durch Musikunterricht gedenkt sie so viel zu erwerben, wie zu ihrem Unterhalt nothwendig.«

»O, dann ist sie nicht mittellos,« entgegnete Frau von Birk, das grübelnd gesenkte Haupt Alvens' aufmerksam betrachtend, »hervorragendes musikalisches Talent ist treuer und zuverlässiger, als ein großes Vermögen.«

»So folgerte auch ich, meine Theuerste, als ich zum ersten Mal die Möglichkeit meiner Verheirathung in Betracht zog,« pflichtete Alvens hastig bei, »ich liebe überhaupt Musik und verspreche mir einen hohen Genuß von Anna's glücklichen Anlagen.«

»Unterrichtet sie noch?«

»Wirkliche Unterrichtsstunden fand sie noch nicht, dagegen spielt sie täglich im Hause eines halb verrückten, verwachsenen Professors, der sie für ihre Mühe sehr freigebig honoriert.

»Wird sie diese Beschäftigung fortsetzen, nachdem sie meine Hausgenossin geworden?«

»Vorläufig wird sie nur mit Ihnen allein verkehren, dabei darf es aber an nichts fehlen, war ihr das Leben angenehm machen könnte; selbst wenn es gilt, eine flüchtige Laune zu befriedigen, sparen Sie weder Zeit, noch Mühe. Sollte indessen die ganze Art ihrer Aufnahme bei Ihnen sie befremden, so mögen sie immerhin auf die Ihnen eigenthümliche zartfühlende Weise durchblicken lassen, daß Alles von ihrem Vormunde herrühre, der dadurch nicht nur seine Vorliebe für sie selbst, sondern auch seine Verehrung und Hochachtung vor ihrer längst in kühler Erde schlummernden Mutter zu bekunden trachte.«

»Sehr gut, sehr gut,« versetzte Frau von Birk, und das bittere Lächeln trat wieder auf ihr Antlitz; »Alles soll nach Ihrem Wunsche geschehen – jedenfalls ist Ihr Schützling noch sehr jung und unerfahren, ich meine, weil Sie, um den Weg zu dessen Herz zu finden, die kindliche Anhänglichkeit an die verstorbene Mutter zum Bundesgenossen wählen.«

Alvens biß die Lippen zusammen, antwortete aber scheinbar sorglos und heiter:

»Anna ist kaum sechszehn Jahre alt.«

»Sechszehn und vierundfünfzig machen zusammen gerade siebenzig,« bemerkte Frau von Birk ruhig.

»Vierundfünfzig und siebenundvierzig würde noch weit mehr betragen haben,« entgegnete Alvens aufflammend, doch beherrschte er sich sogleich wieder und versöhnlicher fügte er hinzu: »Lassen wir die Vergleiche, bei welchen wir uns nutzlos erhitzen; wir müssen nun einmal gute Freunde bleiben, und seien Sie fest überzeugt, daß unser beiderseitiges Glück und Zufriedenheit Hand in Hand gehen.«

Bei dieser rücksichtslosen Hindeutung war Frau von Birk aufgesprungen; ihr Antlitz glühte, ihre Augen schossen Blitze der Entrüstung, ihre Lippen bebten, als hätte sie nach einer ihren Gefühlen entsprechenden Antwort gesucht; dann aber, wie im Bewußtsein ihrer Ohnmacht, sank sie auf ihren Sitz zurück, und ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckend, schluchzte sie krampfhaft.

Alvens betrachtete sie eine Weile sinnend, wie wohl ein Meister die von ihm zusammengefügte und nicht recht nach Wunsch arbeitende Maschine beobachtet. Kein mildes Gefühl bewegte seine Brust beim Anblick des heftig ausbrechenden Schmerzes, der vollkommen widerstandslosen Verzweiflung; er nickte sogar billigend, und dann erst zog er die eine ihrer Hände von dem von heißen Thränen überströmten Gesicht zurück.

Wie durch diese Berührung elektrisirt, richtete Frau von Birk sich empor; vor dem heuchlerisch wohlwollenden und doch strengen Blicke des Rechtsanwalts versiegten ihre Thränen; ihre Selbstbeherrschung kehrte zurück, und sogar ein bitteres Lächeln erzwingend, fragte sie mit gepreßter, dumpfer Stimme:

»Wie lange soll der unerträgliche Zustand, in welchen Sie mich zu versetzen gedenken, dauern?«

»Ihre völlige Unabhängigkeit tritt mit dem Tage in's Leben, an welchem Anna Werth mich zum Traualtar begleitet.«

»So sei es denn,« versetzte Frau von Birk, indem sie sich erhob und dadurch Alvens das Zeichen zum Aufbruch gab, »was ich dazu beitragen kann, die mir gestellt Frist abzukürzen, das soll geschehen, und gewänne ich nur eine einzige Minute dadurch, ich wollte sie als eine Gnade des Himmels begrüßen.«

Dann wendete sie sich stolz ab, und ohne Alvens eines Blickes zu würdigen, schritt sie an ihm vorbei der nach dem Innern der Wohnung führenden Thüre zu.

Im nächsten Augenblick befand Alvens sich an ihrer Seite.

»Mathilde, so dürfen wir nicht scheiden,« begann er, und er ergriff der unglücklichen Frau Hand, wodurch diese gezwungen wurde, stehen zu bleiben; »die Stunde, in welcher ich Sie zur Vertrauten eines uns Beiden gleich wichtigen Geheimnisses machte, darf keine schmerzlichen Erinnerungen bei Ihnen zurücklassen. Verspreche ich Ihnen doch mit Freuden, daß nie wieder eine Silbe zwischen uns gewechselt werden soll, welche Ihre Seele schmerzlich treffen könnte. Heute erlaube ich mir noch, sie nach alter, trauter Weise Mathilde zu nennen, dann aber sind Sie für mich nur noch die gnädige Frau.«

»Wie rücksichtsvoll,« versetzte Frau von Birk spöttisch, während sich auf ihrem Antlitz eine unbeschreibliche Verachtung ausprägte, doch duldete sie, daß Alvens ihre Hand küßte und sich nach einigen, offenbar nicht mit seiner Stimmung im Einklang stehenden Höflichkeitsformeln verabschiedete.

Lange verharrte Frau von Birk regungslos auf derselben Stelle. Erst nachdem unten der Portalflügel hinter Alvens in's Schloß gefallen war, schien die Erstarrung von ihr zu weichen.

Sinnend schritt sie nach dem nächsten Lehnstuhl hin, doch zögerte sie, sich niederzusetzen.

»Er will also wirklich mit der Vergangenheit brechen,« verriethen die bebenden Lippen die durcheinander wogenden Gedanken, »und dennoch scheut er sich nicht mich zu Dienstleistungen zu zwingen, die so unnatürlich sind, wie sie nur von einem Verräther erdacht werden können. Diejenige, die er als Gattin heimzuführen gedenkt, stellt er neben mich, auf daß ich ihr eine mütterliche Freundin sei. Ein unschuldiges, argloses Wesen, welches vielleicht vertrauensvoll zu mir aufschaut, soll ich in seine Arme führen, und zwar mit dem Bewußtsein, ein hoffnungsreiches Gemüth endlosem Gram zu überantworten! Doch ich bin seine Sklavin, nur ein todtes Werkzeug für ihn!«

Als ob ein anderer ihr dies zugerufen hätte, erschütterte bei den letzten, fast bewußtlos gelispelten Worten heftiges Beben ihre Gestalt; ihre Augen schienen sich zu verglasen, die Farbe des Todes breitete sich über ihr Antlitz aus, und mit beiden Händen ihre Schläfen pressend, warf sie sich weinend auf den Sessel.

Sie weinte lange und bitterlich, doch das zermalmte Herz wurde durch die Thränen nicht erleichtert. Nach keiner Richtung hin zeigte sich auch nur der leiseste Trostesschimmer. Das Bewußtsein, ihre eigenen Verwandten wie die ihres geschiedenen und verschollenen Gatten, welchen sich zu nähern ein unbezwinglicher Stolz sie hinderte, getäuscht und unter den qualvollsten Opfern einen äußeren Schein von Wohlhabenheit und Unabhängigkeit aufrecht erhalten zu haben, gewährte ihr keine Befriedigung mehr, wie einst, da der ihr innewohnende Stolz durch unglückselige Verhältnisse bis zur Starrheit gesteigert wurde. –

Alvens befand sich um diese Zeit schon weit abwärts; er verschmähte es, sich eines Miethswagens zu bedienen. Seine feige Seele jauchzte; was waren die in Fesseln geborenen Sklaven, die sich unter den Peitschenhieben grausamer Aufseher winden, im Vergleich mit den Sklaven, welche er sich durch listige Ausnutzung der ihm bei Prozessen anvertrauten oder künstlich entlockten Geheimnisse zu schaffen wußte, und welchen gegenüber er nur die Stirne zu runzeln brauchte, um sie in die gefügigsten Werkzeuge zu verwandeln? –

»Und etwas Betrug und etwas Hinterlist kann gar nicht schaden,« schmunzelte er selbstzufrieden vor sich hin. Es waren beinahe dieselben Worte, welche der Kärrner einst im Uebermaß seines Wohlwollens der holdseligen Anna zuraunte. –


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