Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant - Teil 1
Balduin Möllhausen

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Zwanzigstes Capitel. In der Kellerwohnung.

»Da hinein soll ich?« fragte Anna entsetzt, als sie endlich, aus der langen Gasse in eine breitere und weniger unansehnliche eintretend, vor einem großen düsteren Gebäude stehen blieben und Beltram Anstalt traf, anstatt die drei Stufen zur Hausthür hinaufzugehen, sechs Stufen zu einer im Schatten des Gemäuers liegenden Kellerthüre hinabzusteigen.

»Es giebt keinen anderen Ausweg,« tröstete Beltram mit geheimnißvollem Wesen, »dort unten leben ebenfalls rechtliche Menschen, welchen das Geschick bis jetzt nur größere Reichthümer versagte. Ein paar Stunden werden Sie wohl bei denselben aushalten – und so lange dauert es wohl, bis ich die Brauns von Ihrem glücklichen Entkommen in Kenntniß gesetzt und weiteren Rath eingeholt habe. Ich muß nämlich sehr, sehr vorsichtig zu Werke gehen, um Ihnen die Schmach zu ersparen, von Seiten der Polizei ausgekundschaftet und zu Ihrem zärtlichen Herrn Vormunde zurückgeführt zu werden.«

Anna schauderte, folgte indessen schwankend nach, als Beltram schurrend und tastend die sechs Stufen abwärts überwand und demnächst den einen Flügel der ihre Fugen nicht ganz ausfüllenden Thüre mittelst eines kleinen Drückers aufschloß. Fast einer Ohnmacht nahe ergriff sie seine Hand, worauf er sie in die enge, finstere Vorflur hineinzog; sobald sie aber den Thürflügel hinter sich in's Schloß fallen hörte, riß sie sich wieder los, und einen Schritt zurückweichend, rief sie mit ersterbender Stimme:

»Ich will hinaus! Ich ersticke! Was soll ich in diesem Keller! Lassen Sie mich gehen, denn hier kann ich nicht weilen!«

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da erhellten sich seitwärts von ihr die Ritzen einer anderen, durch die Feuchtigkeit aus ihrer ursprünglichen Form getriebenen Thüre. Gleich darauf wurde eine lose haftende Klinke empor gehoben, die Thür wich nach innen, und wiederum prallte Anna so weit zurück, wie der enge Raum es ihr gestattete. Sie war geblendet durch den Schein einer ihr dicht vor die Augen gehaltenen Küchenlampe, mehr aber noch entsetzt über den Anblick eines alten zerlumpten Weibes, auf dessen gerunzelten und durch trübe Augen häßlich belebten Zügen eine wahrhaft teuflische Schadenfreude spielte.

Beltram gewahrte den Eindruck, welchen die plötzliche Erscheinung seiner Mutter auf Anna ausübte. Mit einer heftigen Bewegung entriß er der häßlichen Megäre die Lampe, und sie in den hinter ihr liegenden dunkeln Raum zurückdrängend, näherte er seinen Mund ihrem Ohr.

»Unsinnige,« flüsterte er, bebend vor thierischer Wuth, »es ist Dein und mein Tod, wenn Du gegen meine Anordnungen verstößt!« Dann fügte er lauter hinzu: »Gehe nur hinein, liebe Mutter, und zünde auf dem Herde ein Feuer an, damit die junge Dame sich erwärme. Sie wird sich einige Stunden hier aufhalten, Du brauchst nicht zu fürchten, daß ihr edles Herz vor dem Anblick tiefster Armuth zurückschreckt.«

Die Mutter schlurfte auf ihren niedergetretenen Schuhen dem Feuerherd zu, auf welchem noch einige Kohlen glimmten.

»Ich habe Euch erwartet und wollte Euch würdig empfangen,« murmelte das elende Weib, ihrem Sohne einen scheuen Blick zusendend. Was sie weiter sprach, wurde übertönt durch das Knacken und Splittern, mit welchem die dürren, braun geräucherten Hände einige alte Tonnenreifen zerbrachen und die Stücke behutsam über die Kohlen aufschichteten.

Beltram hatte sich unterdessen wieder Anna zugewendet, die, sich an die Wand stützend, wie geistesabwesend in den nunmehr offen vor ihr daliegenden Kellerraum hineinstarrte. Die zügellose Leidenschaftlichkeit, welche vollständig Besitz von ihm ergriff, sobald er das junge Mädchen in seiner Gewalt wußte, war durch das erste Auftreten seiner Mutter in einen heftigen Zorn verwandelt worden; dieser aber ging schnell in sein gewöhnliches vorsichtiges Wesen über, als er inne wurde, daß Anna sich in einer Gemüthsstimmung befand, welche seine tollkühnen und barocken Pläne ernstlich gefährdete. Er betrachtete es daher als seine nächste Aufgabe, sie zu beruhigen und das wankend gewordene Vertrauen in seine Aufrichtigkeit wieder zu befestigen.

»Fürchten Sie nichts,« bat er unterwürfig, die Lampe so haltend, daß sein krampfhaft zuckendes Gesicht beständig im Schatten blieb, »meine Mutter ist eine seltsame alte Frau; durch Unglück und Noth mürbe geworden, ist eine gewisse Menschenfeindlichkeit in ihrem Wesen zum Durchbruch gekommen; sie meint es deshalb aber nicht minder gut mit denjenigen, welche ich ihrem Schutze anempfehle. Sie sehen, wir wohnen sehr eingeschränkt und ärmlich, allein die wenigen Stunden werden Sie Ihre Abneigung gegen den Anblick unverschuldeter Armuth wohl überwinden – doch das Feuer brennt, kommen Sie und setzten Sie sich, damit Sie Ihre armen erkälteten Glieder erwärmen. Ich werde Ihnen unterdessen mancherlei mittheilen, was dazu beiträgt, Sie zu ermuthigen und auf das vorzubereiten, was man Ihnen noch vor Anbruch des Tages dringend anrathen wird. Mutter, begieb Dich zur Ruhe,« wendete er sich darauf an die noch immer mit dem Feuer beschäftigte alte Frau, als Anna ihm willenlos in das Gemach hinein nachfolgte und erschöpft auf einen neben den Feuerherd geschobenen Schemel sank, »lege Dich zu Bett und kümmere Dich nicht um uns; ich habe mit der jungen Dame Wichtiges zu besprechen.«

Die Mutter, von einer unbezähmbaren Neugierde gefoltert, zögerte, seinen Befehlen Folge zu leisten. Da kehrte er sich ihr ganz zu, und die Lampe hoch genug emporhebend, um sein Gesicht voll zu beleuchten, sah er ihr mit einem solchen Ausdruck von Wuth und verhaltener Grausamkeit in die Augen, daß sie, wie vor dem Blick eines giftigen Reptils zusammenschauerte und, ähnlich einer in ihrem Käfig mißhandelten Hyäne, murrend auf ihr Lager kroch. Das häßlich verzerrte Gesicht dem Feuerherd zugewendet, zog sie die zerlumpte Decke über ihren Kopf, aber listig ordnete sie die zerfetzten Zeugstreifen in Muschelform um das von der einen Hand nach vorn gepreßte Ohr, um wenigstens Etwas von dem zwischen ihrem Sohne und Anna geführten Gespräch zu erlauschen.

Beltram legte noch einige Späne auf das Feuer, und als diese aufflackerten, löschte er die Lampe aus. Zugleich flogen die Blicke aus seinen gerötheten Augen prüfend über die beiden kleinen, nach der Straße hinausliegenden, dicht verhangenen Fenster.

»Das Feuer verbreitet hinreichend Helle,« sprach er leise und, wie er meinte, ermuthigend, »die Lampe macht es zu hell, die Vorübergehenden könnten Verdacht schöpfen, und ich bezweifle nicht, daß man uns zur Zeit schon verfolgt und das Haus des Herrn Braun umstellt hat. Seien Sie indessen unbesorgt, ich bin bei Ihnen und hafte mit meinem Leben für Ihre Freiheit.«

Dann zog er einen zweiten Bretschemel so dicht neben den Anna's hin, daß er, indem er sich niedersetzte, diese scharf streifte. Anna sprang empor.

»Lassen Sie mich hinaus!« rief sie, von Angst und Widerwillen erfüllt aus, »lassen Sie mich hinaus, denn lieber will ich zu Frau von Birk zurückkehren, als hier vor Todesangst sterben!«

Beltram erbleichte vor Wuth, und als hätte er das, was er antworten wollte, vorher noch einmal in Gedanken wiederholt, bebten und zitterten seine aufgeworfenen Lippen.

»Gewiß würde sich Niemand mehr darüber freuen, als Ihr zärtlicher Vormund,« antwortete er hämisch, doch wie von dem Anblick des in seiner Verzweiflung die Hände ringenden Mädchens bezaubert, verfiel er sogleich wieder in sein knechtisch kriechendes Wesen. »O, mein theures Fräulein!« sprach er klagend, indem er seinen Schemel etwas zurückschob, »machen Sie mich doch nicht noch unglücklicher und elender, als ich bereits bin! Ich würde Sie ja gern selbst zurückführen, allein bedenken Sie, Alles ist eingeleitet zu Ihrer Flucht, und wird das Unternehmen entdeckt, oder auch nur der Versuch desselben, so bin ich der Einzige, der dafür leidet, ich und meine arme, nicht mehr ganz zurechnungsfähige Mutter dort, während unser gemeinsamer Feind über uns Alle triumphirt. Ermannen Sie sich daher, liebes Fräulein; Sie könnten im Hause des Kärrners nicht sicherer aufgehoben sein, als hier – er selbst wird hoffentlich binnen kurzer Frist meinen Ausspruch bestätigen – wenigstens auf so lange beruhigen Sie sich, bis ich Ihnen das mitgetheilt habe, was vor Ihnen zu enthüllen ich von Ihrem Freunde Braun beauftragt worden bin. Sie trauen mir nicht,« fuhr er ungeduldig fort, und er eilte nach seinem Bett hin, unter welchem er eine verschlossene Reisetasche hervorzog; »aber ich besitze Mittel, Ihre Bedenken und Besorgnisse zu verscheuchen. Sehen Sie her, liebes Fräulein, und sagen Sie, ob Sie dies kennen.«

»Meine Reisetasche,« versetzte Anna freudig überrascht, »sie kann Ihnen nur von den Brauns eingehändigt worden sein.«

»Von Herrn Braun eingehändigt, und von Frau Braun selbst gepackt mit allen Gegenständen, welche Ihnen auf einer Reise von Vortheil sein können. Sie ersehen daraus, wie vorsichtig die guten Leute zu Werke gingen; sie hielten für möglich, daß Sie abreisen müßten, ohne ihnen Lebewohl zu sagen, und gaben mir für alle Fälle die Tasche mit – hier ist der Schlüssel – und fehlt Ihnen also nur noch Reisegeld. Aber auch das werde ich, wenn Herr Braun nicht vorziehen sollte, es Ihnen selbst zu übergeben, noch in dieser Nacht von ihm in Empfang nehmen, so daß Ihrem schleunigen Aufbruche nichts mehr im Wege steht. Auch für einen Reisebegleiter ist schon gesorgt worden – ich darf es jetzt wohl verrathen – für einen zuverlässigen Menschen, der mit treuer Sorgfalt Tag und Nacht über Sie wachen wird.«

Als Anna ihre Reisetasche erkannte, fühlte sie ihre Besorgnisse theilweise schwinden, so daß sie wieder Platz nahm und Beltram gestattete, sich ihr halb gegenüber niederzusetzen. Dagegen riefen seine weiteren Mittheilungen ein so maßloses Erstaunen in ihr hervor, daß sie kaum ihren Gedanken Worte zu verleihen vermochte.

»Sie sprechen von einer Reise,« fragte sie zagend, »von einer großen Reise, aber mein Gott, wohin soll ich gehen, da ich außer meinen hiesigen Freunden weder Freunde noch Bekannte in der Welt habe?«

»Bekannte gerade nicht, aber Ihnen sehr nahe stehende Freunde, von welchen der alte gute Braun bisher nichts wußte, und die schmerzlich und sehnsuchtsvoll darauf harren, Sie, die Tochter des verstorbenen Musiklehrers Werth in ihre Arme zu schließen. Doch Sie mögen selbst entscheiden,« fuhr er fort, indem er zwei beschriebene Papiere aus seiner Brusttasche zog und entfaltete. Bevor er dieselben aber Anna reichte, näherte er noch einmal sein Haupt ihrem Antlitz bis auf wenige Zoll.

»Verzeihen Sie,« hob er flüsternd an, »meine Mutter ist eine gute Frau, allein Geheimnisse zu bewahren, ist nicht ihre Sache – daher meine scheinbare Zudringlichkeit. Wissen Sie schon, daß der Kärrner Braun noch einen Bruder hat?«

Anna, fast betäubt durch die Wirkung von Beltrams Worten, horchte hoch auf.

»Ich weiß es; derselbe befindet sich in Amerika,« versetzte sie sodann, ihre Stimme unwillkürlich ebenfalls dämpfend.

»Wohlan denn, geehrtes Fräulein, dieser ist der Freund, auf welchen ich hingewiesen habe; gestern erst bot sich mir die Gelegenheit, dem Kärrner Braun meine Entdeckung mitzutheilen, die ihn nicht minder, als Sie in Erstaunen setzte. Alvens wußte es freilich schon lange, wie diese Briefe darthun, er hatte indessen seine Gründe, es zu verheimlichen. Er wußte, daß sich Ihnen die Aussicht eröffnet, in eine reiche Erbschaft einzutreten; sind ihm doch schon im Voraus die Mittel zur Verfügung gestellt worden, in glänzendster Weise für Sie zu sorgen. Anstatt nun mit dem leiblichen Bruder Ihres amerikanischen Freundes in Einvernehmen über die einzuschlagenden Wege zu treten, giebt er sich den Anschein, als sei er Ihr Wohlthäter. Er hofft, sich dadurch um so leichter seiner Beute bemächtigen zu können, darauf fußend, daß Sie als seine Frau ebenso gut die Erbin des Amerikaners sind, als wenn Sie jetzt gleich Ihrem väterlichen Beschützer als elternlose Waise zugeführt würden. Doch seine Anschläge sollen scheitern; bevor er zur Besinnung kommt, sind Sie weit fort von hier, und erst unter dem Dache Ihres Adoptivvaters, vermag seine Hand Sie nicht mehr zu erreichen. Darauf bezogen sich also meine Andeutungen einer Reise, welcher Sie sich unterziehen müssen, wenn Sie aus der entsetzlichen Lage gerettet werden wollen; ich aber rechne es mir zur höchsten Ehre an, am meisten zu Ihrer Rettung beigetragen zu haben.«

Während Beltram in solcher Weise sprach, erwachte plötzlich in Anna's Seele die gräßliche Befürchtung, in die Gewalt eines Wahnsinnigen gerathen zu sein. Ihre Brust schnürte sich bei diesem Gedanken krampfhaft zusammen, und nur ihre Reisetasche und die in Beltrams Händen befindlichen Briefe zeugten dafür, daß die seltsamen, unglaublich klingenden Enthüllungen vielleicht nicht ganz aus der Luft gegriffen seien.

»Wer schrieb die Briefe?« fragte sie fast tonlos, als die Erstarrung, welche sich um ihre Brust gelegt hatte, allmälig wieder wich.

»Der Amerikaner Braun an Herrn Alvens; es sind treue Abschriften; der Originale mich zu bemächtigen durfte ich nicht wagen.«

Anna sah argwöhnisch in die gerötheten Augen, die hinter der großen Fensterglasbrille zuckten und blinzelten, als hätten die ängstlichen Blicke des jungen Mädchens eine ätzende Eigenschaft besessen.

»Herr Braun hat diese Briefe gelesen?« fragte sie endlich.

»Gestern Abend, wie ich schon so frei war, zu bemerken.«

»Was war seine Ansicht, was die Ansicht seiner Frau?«

»Sie hegten die Ansichten, aus welchen mein ganzes Verfahren hervorgegangen ist. Sie bestanden darauf, daß Ihre Flucht aus der Gefahr drohenden Nähe Alvens' bewirkt werden müsse, bevor es zu spät sei.«

»Ihrem Urtheil werde ich das meinige natürlich unterordnen, dagegen bin ich fest entschlossen, nicht eher von dannen zu gehen, als bis ich sie Beide gesehen und gesprochen habe – und dann – was soll ich von Ihren Enthüllungen denken? Mir ist – Alles dunkel und unverständlich –«

»Lesen Sie, theuerstes Fräulein,« fiel Beltram mit halberstickter Stimme ein, denn der Anblick des in seiner Bedrängniß mit so viel Entschiedenheit auftretenden lieblichen Mädchens wirkte wieder so gewaltig auf ihn ein, daß das wild aufgeregte Blut die sommersprossige Haut seines knochigen Antlitzes zu zerreißen drohte und der Athem sich röchelnd und glühend heiß seinen Lungen entwand, »lesen Sie,« wiederholte er stotternd, und er reichte Anna die beiden Briefe, »Sie haben jetzt die beste Zeit dazu, während ich hingehe und eine Zusammenkunft mit den Brauns herbeizuführen suche. Den Zusammenhang werden Sie leicht aus diesen Abschriften errathen, Sie werden begreifen, daß Ihres Bleibens hier nicht mehr ist. Innerhalb zweier Stunden hoffe ich mit guten Nachrichten zurück zu sein, bis dahin aber fassen Sie Muth für das, was zu unternehmen Sie vielleicht gezwungen sind.«

So schließend hielt er ihr die Hand hin, in welche Anna, kaum wissend was sie that, ihre zarten Fingerspitzen legte, worauf sie sich mit dem einen auseinander geschlagenen Briefe dem unzureichenden Lichte des flackernden Feuers zuneigte.

Beltram schritt unterdessen noch einmal zu seiner Mutter hinüber, und seine Hand mit festem Druck auf deren Schulter legend, heftete er die Blicke starr und durchdringend auf ihre trüben Augen. Das elende Weib zitterte unter der unsanften Berührung und schaute mit banger Erwartung empor.

»Ich werde sehr bald zurück sein,« folgten Beltrams Worte langsam und mit drohendem Ausdruck zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch aufeinander, »während meiner Abwesenheit bewachst Du das Mädchen, als ob es meine eigene Seele wäre. Quäle es nicht durch Deine Zudringlichkeit, oder besser noch, stelle Dich schlafend. Bedenke, unser Beider Glück liegt in der Hand des schönen Wesens dort, und daher bürgst Du mir auch mit Deinem Leben für seine Sicherheit. Wahrscheinlich bringe ich Geld mit, und Ein Lohn soll nicht ausbleiben, wenn ich keinen Grund finde, ein furchtbares Gericht über Dich zu verhängen.«

»Wo willst Du das Geld hernehmen?« fragte die Mutter, auf welche der Klang dieses Wortes einen merkwürdigen Zauber ausübte.

Beltrams Faust krallte sich fester in die Schulter des elenden Geschöpfes.

»Was kümmert's Dich, woher ich's nehme?« zischte er wieder leise, und lauter fügte er hinzu: »sorge auch, Mutter, daß das Fräulein nicht gestört werde.«

Dann begab er sich nach einem anderen Winkel des dumpfigen Gemaches hinüber, wo er aus einem zerbrechlichen Schranke mehrere Gegenstände nahm, die er vorsichtig auf seinem Körper verbarg, worauf er seinen Rock bis unter's Kinn zuknöpfte. Womit er sich zu einer nächtlichen Wanderung ausrüstete, ließ sich nicht genau unterscheiden, zu geschickt handhabte er die einzelnen Theile. Nur einmal klirrte es leise, als ob er zwei Schlüssel zugleich in die Tasche geschoben hätte; sein häßliches Gesicht wurde dabei leichenfahl, und geisterhaft spähten die nunmehr der Brille entkleideten Augen um sich.

Anna hatte nicht auf das Geräusch geachtet; sie war zu sehr vertieft in das Lesen der Briefe, deren Inhalt in nie geahnter, räthselhafter Weise ihre eigene Person betraf. Kaum daß sie, wie im Traum, flüchtig aufsah, als das Einspringen des Drückers der Außenthüre verkündigte, daß Beltram auf die Straße hinausgetreten sei. –

»Es muß etwas Wahres zu Grunde liegen,« sprach Anna in Gedanken, sobald sie die beiden Briefe gelesen hatte.

Dann stützte sie das Haupt auf ihre Hände, die Augen mit denselben bedeckend, wie um in dem Gewirre der auf sie einstürmenden Empfindungen, die unheimliche Umgebung von ihrem Geiste auszuschließen.

Lange saß sie regungslos da; die Furcht, welche sie kurz vorher noch gehegt hatte, war unterdrückt worden durch das gleichsam krankhafte Trachten, die Schleier zu lüften, welche sich dichter um ihre heftig arbeitende Phantasie zusammenzogen.

Da fiel ein heller Schein zwischen ihren Fingern hindurch auf die geschlossenen Augenlider. Erschreckt sah sie empor; sie mußte sich förmlich besinnen, wo sie war, denn vor ihr stand das grausige alte Weib, mit den geierartigen Krallen neue Späne auf das vernachlässigte und niedergebrannte Feuer häufend und sie mit ihren blöden Augen neugierig betrachtend.

Der Ausdruck des Schreckens auf Anna's Zügen entging der lauernden Megäre nicht, und wie um jene am Aufstehen zu hindern, legte sie die eine Hand auf deren Schulter.

»Du darfst Deine schönen Augen nicht verderben,« murmelte sie mit schwerer Zunge, »denn was würde er dazu sagen, wenn Du blind würdest? Das Feuer soll daher lustig brennen, damit wir keine Lampe anzuzünden brauchen; die Lampe wirft einen zu hellen Schein auf die Fenstervorhänge. Auf etwas Holz mehr oder weniger kommt es nicht mehr an, seit Du Deinen Einzug hier gehalten hast; denn Du bist ein Glückskind, und wir werden fortan friedlich bei einander wohnen.«

Bei dieser von einem schadenfrohen Grinsen begleiteten Anrede fühlte Anna das Blut in ihren Adern stocken. Der Widerwille, welchen sie bei der Berührung der häßlichen Alten empfand, war so groß, wirkte so lähmend auf sie ein, daß ihr die Kraft mangelte, demselben Ausdruck zu geben. Eine Weile starrte sie sprachlos und am ganzen Körper zitternd in das grinsende Gesicht, dann versetzte sie mit ersterbender Stimme:

»Herr Beltram wird zurückkehren und Ihr Verfahren gewiß nicht billigen.«

Wie von einem electrischen Schlage getroffen, zuckte das Weib bei dieser Bemerkung zusammen, und ähnlich einem Hunde, der von einer falschen Fährte zurückgescheucht wurde, schlich sie nach ihrem Lager hin.

Anna, mit Aufbietung aller geistigen Kräfte eine äußere Ruhe erzwingend, hob wieder den einen Brief empor, allein sie vermochte nicht zu lesen, die Buchstaben flossen vor ihren Augen ineinander. Von Todesangst erfüllt, kannte sie nur den einzigen Gedanken, Beltram's Mutter, in der sie eine erbitterte Feindin zu errathen meinte, durch ihre Fassung zu entwaffnen.

Wiederum verrannen einige Minuten, die Anna wie eine Ewigkeit erschienen, als plötzlich die alte Megäre wieder vor ihr stand. Mit der unbestimmten Absicht, sich deren Anblick zu entziehen, brachte sie den Brief dichter vor ihre Augen; doch nur kurze Zeit wirkte ihr Verfahren; denn eine gebräunte Hand mit krallenartigen Fingern bog den Brief von ihrem Antlitz zurück, während die andere Hand schmeichelnd über ihren mit seidenen Schleifen geschmückten Hut hintastete.

»Um Gotteswillen, ich bitte Sie, lassen Sie mich die Briefe zu Ende lesen,« flehte Anna in ihrer Todesangst, und aus Besorgniß, die boshafte Alte zu erzürnen, wagte sie nicht, deren Beginnen ernstlichen Widerstand entgegenzustellen.

»Kind, warum willst Du die Briefe zweimal lesen?« fragte das Weib höhnisch, »warte damit, bis wir in eine glänzende Wohnung eingezogen sind, dann kannst Du sie meinetwegen auswendig lernen.«

»Sie ist wahnsinnig!« rief Anna entsetzt aus, und weit lehnt sie den Oberkörper zurück, um der widerwärtigen Berührung auszuweichen.

»Wahnsinnig, meinst Du?« fragte das Weib zutraulich nickend, »ich bin so wenig wahnsinnig, wie mein schöner, kluger Sohn oder Du selber; bin ich aber nicht so kummervoll, wie gewöhnlich, so rührt das daher, weil ich Dich hier sehe; denn unsere Noth hat jetzt ihr Ende erreicht, und solchen Hut, wie Du besitzest, werde auch ich nächstens tragen. Laß mich sehen, wie er mir steht – her damit!« rief sie zornig aus, indem sie die Bänder löste und Anna den Hut wirklich entriß, »oder ekelt Dir vor mir, weil ich arm bin und Du bisher in Reichthum schwelgtest?«

So sprechend drückte sie den Hut gewaltsam auf ihren eigenen zottigen Kopf, wobei es ihr offenbar einen teuflischen Genuß gewährte, Jugend und Schönheit sich verzweiflungsvoll vor ihr winden zu sehen. Indem aber Anna's Todesangst sich steigerte, steigerte sich der grausigen Megäre Entzücken, und entfesselt, wie sie einmal war, suchte sie sich dadurch gleichsam zu berauschen, daß sie nach besten Kräften ihres zitternden Opfers Verzweiflung auf den höchsten Gipfel trieb. – Anna, einer Ohnmacht nahe, leistet keinen Widerstand. Fort und fort wiederholend, daß sie ebenso gut die Rolle einer vornehmen Dame durchzuführen verstehe, zog die Elende ihr nunmehr auch noch den Mantel von den Schultern, welchen sie sofort selbst anlegte; als sie aber hohnlachend betheuerte, daß die Leute sie beneiden würden, wenn sie, an dem einen Arme ihren schönen, klugen Sohn, an dem anderen eine nicht minder schöne und kluge Schwiegertochter, durch die Straßen wandere, sprang Anna empor.

»Lassen Sie ab!« flehte sie, ihre Hände faltend, »tödten Sie mich nicht durch die furchtbare Angst, welche Sie mir einflößen!«

»Ich flöße Dir Angst ein?« kreischte das Weib, »ei, da seh' einer die junge, hochnäsige Person! Wir sind ihr nicht gut genug, weil sie sich einbildet, so viel jünger und schöner zu sein, als wir? Aber warte, auch Dir kann die Schönheit geraubt werden! Was thust Du überhaupt mit dem langen Haar auf Deinem Kopfe? Herunter mit der Frisur, damit Du aussiehst, wie andere Menschen, zumal jeder Perrückenmacher mindestens sechs Thaler dafür zahlt; der Beltram kann mit Dir auch ohne die langen Zöpfe zufrieden sein, die bald genug wieder heranwachsen werden!«

Um Anna's Brust legte es sich wie Eis; was die alte Verbrecherin in ihrem wahnsinnigen Haß gegen alles Gute und Schöne sprach, bildete eine gräßliche Erklärung zu dem Benehmen Beltrams, der ihr, seit er sie aus Frau von Birks Wohnung fortgelockt hatte, schon mehrfach in dem unheimlichsten Lichte erschienen war. Ihr schwindelte, die Füße drohten ihren Dienst zu versagen, und mit stockenden Pulsen blickte sie auf das entartete Weib, welches mit wüthender Hast in dem feuchten Kellerraum umherstöberte und vergeblich nach einer Scheere suchte.

»Die Scheere, die Scheere!« schrie die häßliche Megäre, gleichgültig dagegen, daß das zierliche Hütchen halb von ihrem zottigen Kopfe heruntergeglitten war und der saubere Mantel nur noch auf ihrer einen Schulter hing, »wo ist die Scheere? Schnell, schnell! Bevor er zurückkehrt, muß es geschehen sein, oder er giebt den süßen Bitten seines verführerischen Engels nach!«

»Lassen Sie mich hinaus!« rief Anna von Grausen überwältigt, indem sie der Thüre zuschwankte. »Hinaus?« keifte die tolle Hexe giftig. »Du bleibst, wenn Du nicht willst, daß ich Dein glattes Frätzchen mit diesem Feuerbrand versenge und verderbe!«

Indem sie aber das brennende Stück Holz aus der Gluth riß, fielen ihre Blicke auf ein abgenutztes Küchenmesser, welches, halb mit Asche bedeckt, auf dem Feuerherd lag.

»Ha, 's geht auch mit einem Messer!« rief sie triumphirend aus, und wild schwang sie die Waffe, »und still halten sollst Du, oder ich zeichne Dein glattes Gesicht mit lauter Kreuzschnitten! 's thut Dir keinen großen Schaden, denn der Junge heiratet Dich doch –«

Sie war nur noch einen Schritt von Anna entfernt, deren selbst in ihrer Todesangst unbeschreiblich liebliches Antlitz eine Wirkung auf sie ausübte, wie etwa die blendend rothe Farbe auf einen wüthenden Stier, und schon streckte sie die Hand nach der Halbohnmächtigen aus, als diese, einem dumpfen Gefühl der Selbsterhaltung folgend, plötzlich hoch aufhorchte und diese Bewegung mit den ängstlich geflüsterten Worten: »man klopft,« begleitete.

Die Alte fuhr zurück; das Messer warf sie auf den Feuerherd, Anna's Hut und Mantel in den nächsten Winkel, und ebenfalls eine lauschende Stellung annehmend, murmelte sie mit vor Angst klappernden Zähnen:

»Es ist nicht wahr, ich habe nichts gehört; Du lügst, Mädchen, Du lügst, um mich zu erschrecken, der Junge kann noch nicht zurück sein!«

Anna, von neuer Hoffnung beseelt, wiederholte dringend, daß sie nicht nur das Klopfen deutlich vernommen habe, sondern auch das Geräusch, mit welchem Jemand die sechs Stufen hinuntergestiegen sei.

»Ich bin überzeugt, es war Herr Beltram,« fügte sie hastig hinzu, »wenn Sie mir nicht glauben, so will ich ihn rufen, ihn laut fragen.«

»Still, still, Du wilde Hexe, oder möchtest Du mich in's Unglück stürzen?« versetzte das Weib leise, indem es an den Feuerherd schlurfte, wo es schnell die Lampe anzündete. »Wer weiß, wer da geklopft hat; der Junge war's nicht, oder er hätte sein Klopfen erneuert.«

»Er hat es erneuert, jetzt eben,« bekräftigte Anna mit von der Verzweiflung eingegebener Entschiedenheit, »fragen Sie aber nicht, wer Einlaß begehrt, so sehe ich mich gezwungen, laut zu rufen, daß ich hier sei, denn ich ahne, man sucht mich!«

»'s ist ja schon gut, Mädchen,« beruhigte die Alte jetzt, indem sie sich in größter Verlegenheit der Thüre näherte, »sprich kein Wort zu ihm davon, ich habe nur Scherz mit Dir gerieben, da halte die Lampe, während ich an die Hausthür schleiche und horche. Nimm Dich in acht, damit Niemand Dich sieht – so – so, da hinten bleibe stehen.«

So sprechend trat sie an die Hausthüre, und ihr Ohr dem Drückerschloß nähernd, lauschte sie längere Zeit auf die Straße hinaus.

»'s ist nichts,« sagte sie endlich, sich aufrichtend und ihr zottiges Haupt halb nach ihrer Gefangenen umwendend.

»Da, – da klopft es wieder an das eine Fenster,« flüsterte Anna, der vor heftiger Erregung die Sprache fast versagte. Zugleich aber prüfte sie auch mit scharfen Blicken das Schloß, ob es ihr wohl gelingen würde, dasselbe zu öffnen.

In demselben Augenblick legt die alte Hehlerin die Hand an den Drücker, denselben leise zurückschiebend.

»Nun, wir sind ja ehrliche Leute,« sprach sie laut genug, um draußen verstanden zu werden, »und da brauchen wir wahrhaftig keinen nächtlichen Besuch zu scheuen. Wollen doch einmal sehen, wer noch so spät ehrliche Leute in ihrer Ruhe stört.«

Dann zog sie den einen Thürflügel etwa eine Handbreit nach innen, eine für ihre eigenen Zwecke große Unvorsichtigkeit, deren sie sich schwerlich schuldig gemacht hätte, wäre sie nicht sowohl für sich selbst, als auch für ihren abwesenden Sohn, dessen nächtliches Gewerbe sie nur zu genau kannte, von Besorgniß erfüllt gewesen.

»'s ist Niemand zu sehen,« bemerkte sie, die Thüre noch etwas weiter aufziehend, um einen Blick seitwärts auf die Fenster zu gewinnen.

»Doch, doch,« flüsterte Anna plötzlich neben ihr, und als sie sich erschreckt nach ihr umkehrte, da ließ diese die Lampe fallen, und die augenblickliche Verwirrung des überraschten Weibes benutzend, drängte sie sich schnell an demselben vorbei, und in der nächsten Sekunde huschte sie leicht und gewandt die sechs Stufen hinauf.

Oben angekommen wagte sie nicht, noch einmal zurückzuschauen, wo ihre Peinigerin vor Entsetzen sprachlos in der Thüre stehen geblieben war. Dieselbe wußte nicht, ob sie sich in ihre Höhle zurückziehen, ebenfalls fliehen oder dem bereits in der Dunkelheit entschwundenen Flüchtling nachstürzen sollte. Als sie aber endlich ihre Fassung zurückerlangte, da begriff sie, daß Anna sich längst außerhalb des Bereiches jeder Verfolgung befand und ihr weiter nichts übrig bleibe, als dem an Raserei grenzenden Zorne ihres Sohnes zu begegnen.

»Nun, morden kann er mich nicht,« murmelte sie verdrossen, indem sie die Thür geräuschvoll zuwarf und sich in den feuchtkalten Wohnungsraum zurückbegab, »und er ist so klug, er wird sie schon auffinden, und dann wollen wir die Sache gescheidter anfangen,« tröstete sie sich weiter, »auf alle Fälle habe ich einen warmen Mantel profitirt.«

Dann versteckte Sie Anna's Hut hinter ihr Bett, den Mantel breitete sie unterhalb der zerlumpten Decke über ihr Lager aus, und nachdem sie aus der in ihrem Bettstroh verborgenen Flasche einen tiefen Zug gethan, legte sie sich zum Schlafe nieder.

Längere Zeit blieb sie indessen noch munter; für sie gab es nur noch ein einziges Mittel, sich dem Bewußtsein ihres Elends, ihres verbrecherischen Daseins und allen damit verbundenen Drangsalen und Entbehrungen zu entziehen und den Mißhandlungen eines unnatürlichen, entmenschten Sohnes gefühllos zu begegnen, und diese Mittel zog sie zu ihrem Beistande heran, so lang und so nachdrücklich, bis von dem Menschen an ihr weiter nichts mehr vorhanden war, als ein in dumpfe Betäubung versenktes, gräßlich verkörpertes Laster. –


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