Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant - Teil 1
Balduin Möllhausen

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Fünfzehntes Capitel. Neue Stunden.

Der Nebel schien gar kein Ende finden zu können. Drei Tage waren verstrichen, und wenn es der Sonne wirklich zuweilen gelang, in der Mittagsstunde einen Blick auf die feuchte Erde zu werfen und zwischen den schweren Dunstwolken hindurch, wie durch eine Brille, die fahlen Wiesen, die frisch aufspringenden Herbstsaaten und die wunderbar grell gefärbten und zerzausten Laubmassen der Waldungen zu betrachten, so wurde ihr dieser Genuß sehr bald wieder verkümmert, indem die trägen Wolken nicht Energie genug besaßen, sich in den oberen Luftschichten zu halten, und immer wieder als Nebelmassen sich der Erde anschmiegten. Zeitweise verdichteten sich diese auch in so hohem Grade, daß ein des Weges wenig Kundiger sich nicht nur in den vor ihm liegenden Entfernungen leicht verrechnete und täuschte, sondern sich obenein verirrte, wenn er nicht eben, wie der alte Braun, der Chaussee nachfolgte, auf welcher ein Abirren beim besten Willen nicht möglich gewesen wäre.

Des alten Kärrners wegen hätte indessen die Chaussee, trotz Nacht und Nebel, immerhin ein krummer Waldweg sein können, ohne daß er dadurch in Verlegenheit gerathen wäre, kannte er doch zu genau die Schonungen, an welchen die Straße ihn vorüberführte und die mit ihm zugleich alt geworden, zu genau die Eichen und Buchen, in deren Schatten er so manches liebe Mal einhergezogen, zu genau die Feldmarken, auf welchen er so manches liebe Mal die Saaten hatte keimen, wachsen, reifen und endlich vor der unbarmherzigen Sichel fallen sehen. Die Bäume erschienen ihm zwar unter der Doppelwirkung von Nebel und Mondlicht in veränderter Gestalt, aber auch in dieser veränderten Gestalt hatte er sie schon zu oft beobachtet, um dadurch noch getäuscht zu werden.

Und so zog er dahin auf seinem langgestreckten Wege, welchen er schon mehr, denn hundertmal zurückgelegt hatte und der ihm trotzdem nicht langweilig oder widerwärtig wurde. Befand sich aber kein reisender Handwerksbursche in seiner Gesellschaft, der, gleichen Schritt mit den Holsteinern haltend, ein Stündchen mit ihm verplaudert hätte, oder ein hausirender Jude, dessen Packen er großmüthig in der Schwinge unter dem Wagen gerade auf Hechsels Lagerstätte duldete, oder eine heimwärts wandernde junge Milchverkäuferin, welcher er geschickt die ganze Leidensgeschichte ihres Herzens zu entdecken wußte, so beeinträchtigte das in keiner Weise seine Zufriedenheit. Gab es nichts zu plaudern, so gab es doch etwas zu denken, denn auch die einfachsten Kärrner denken, ohne daß sich ihre Gedanken ausschließlich um Frachtbriefe, Collis, Hufbeschlag und sonstige Kärrnerangelegenheiten zu drehen brauchen.

So überlegte auch Freund Braun, daß er schon früher einmal ganz in derselben Gegend ganz ähnliches Nebelwetter erlebt habe, und das war sehr schön. Dann erinnerte ihn eine Biegung der Chaussee, daß daselbst vor seinen sichtlichen Augen einmal ein Hirsch geschossen worden sei, was ihn zu mancherlei Betrachtungen über das lustige Jagdleben veranlaßte. Dann kam er an eine Stelle, wo ihn dreimal hintereinander eine Extrapost überholt hatte, deren Postillon ihm, zum Dank für das kunstgerechte Ausweichen, ein munteres Liedchen vorblies, was ihm so schön in die Ohren schallte, daß er glaubte, nie etwas Schöneres gehört zu haben. Bei dem Gedanken an die Hornsignale fiel ihm wieder Anna ein, die vor ungefähr sechs Wochen auf derselben Wegstrecke rüstig neben ihm einherschritt und ihn durch ihr verständiges Wesen in so hohem Grade ergötzte.

Ja, die Anna war ein rechter Segen für ihn geworden, noch mehr aber für seine Frau, die in ihrem Verkehr mit dem lieben Kinde gleichsam von Neuem auflebte und zu seiner großen Freude zuweilen sogar recht bitterlich weinte, was doch ein sehr gutes Zeichen war, indem seit einer Reihe von Jahren keine Thräne mehr ihre großen blauen Augen befeuchtet hatte.

Bei der Vergegenwärtigung der Thränen seiner Frau warf der alte Kärrner die Tabackswolken in schnellerer Folge über seine Schultern; die linke Faust entfernte mit einigen Strichen die großen Nebeltropfen aus dem feuerfarbigen Borstenkragen, und nachdem er durch einen leichten Doppelknall mit der Peitsche die drei Holsteiner zu vergrößerter Eile gemahnt, mäßigte er ihren Schritt wieder durch ein beruhigendes »Successive!«

»Wollen schon heim kommen,« fügte er freundschaftlich hinzu, »nur noch eine Nacht, und Ihr könnt wieder einmal in Eurem altem Stalle nach Herzenslust ausschlafen.«

Hechsel war eine Minute an seine Seite getreten, wie um ihn besser zu verstehen; die drei Holsteiner schnaubten behaglich; denn mochten Dunkelheit und Nebel sie hindern, weit um sich zu schauen, der Instinkt belehrte sie, daß sie sich dem Dorfe näherten, in welchem gewöhnlich das Nachtquartier aufgeschlagen wurde, demselben Dorfe, vor dessen geräuschvoll belebtem Kruge die freundliche Anna einst in dem Frachtwagen so sanft und gemächlich geschlafen hatte.

Heute war der Krug nicht so belebt, der Lärm hätte sonst bis zu ihnen dringen müssen; trotzdem täuschten sie sich nicht über die Lage der Stallräume, in welchen sie nach des Tages Last und Arbeit die willkommene Ruhe finden sollten. Waren ihre Sinne doch so scharf, daß sie längst einen einsamen Fußgänger entdeckt hatten, der etwa zweihundert Schritte weit vor ihnen hastig seinen Weg verfolgte und den zwischen ihm und dem Fuhrwerk bestehenden Zwischenraum zu vergrößern trachtete. Und dabei war er ihnen entgegengekommen, gerade, als ob er sie sehnsüchtig erwartet hätte, um sie demnächst im Kruge anzumelden und für eine gediegene und freundschaftliche Aufnahme zu sorgen.

Es hatte wirklich den Anschein, als sei es ihm mit der Anmeldung Ernst gewesen, denn das Fuhrwerk war noch lange nicht heran, da schlüpfte er schnell seitwärts von der Chaussee in den Stall hinein, dessen Thür er kurz zuvor im Vorbeigehen halb geöffnet hatte.

Im Stalle, welchen er nicht besetzt fand, trat er sogleich vor die Krippe hin, und eine Schachtel aus der Tasche ziehend, leerte er deren Inhalt in dieselbe aus, so, daß der ganze Boden mit einer dünnen Lage des weißen Pulvers bedeckt wurde. Dann trat er wieder auf die Chaussee hinaus, wo er den Frachtwagen ganz in der Nähe klappern hörte, und unverzüglich schlug er den Weg nach der Stadt ein. Niemand hatte ihn gesehen oder sein Thun bemerkt; selbst der getreue Hechsel, obgleich er sehr bedenklich im Stalle umherschnupperte, vermochte nicht zu errathen, was der Fremde, der eben erst dort gewesen, eigentlich gewollt haben könne. Noch weniger aber ahnte es der Kärrner. Nachdem er sich bei dem Knecht des Kruges erkundigt, ob keine kranken Pferde in dem Schuppen gestanden hätten, leerte er einen Eimer Wasser in die Krippe aus und dann erst führte er die drei dampfenden Holsteiner vor dieselbe hin. Der gute, alte Braun, er liebte seine Holsteiner zärtlich, und nur um den erhitzten Thieren nicht zu schaden, entzog er ihnen vorläufig den freien Genuß des Wassers, wogegen er ihnen den einen Eimer voll zur Theilung überließ, nachdem er den kleinen Labetrunk zuvor nach guter Fuhrmannssitte vorsichtig mit einer Handvoll geschnittenen Strohfutters und Hafer vermischt hatte. Die drei Holsteiner aber verstanden dergleichen Aufmerksamkeiten sehr wohl zu würdigen, denn das Wasser war sammt Hafer und Strohfutter aus der Krippe verschwunden, noch bevor der gute Braun zum zweiten Male zu seinem Futtersack gegriffen hatte, um nunmehr seinen Lieblingen in Hülle und Fülle aufzutischen. Und als diese dann munter darauf einhieben und den Hafer und die zwischen demselben verstreuten Erbsen und Gerstenkörner krachend zermalmten, da begab Braun sich in das warme Gastzimmer, um sich zu stärken und seine handfesten Speisen durch ein Gläschen oder zwei zu würzen. Hechsel, der unterdessen bei dem Wagen Schildwache saß, wurde ebenfalls nicht vergessen, und das verzogenste Schoßhündchen hätte sich der Speisen nicht zu schämen brauchen, welche der Kärrner ihm herausbrachte, nicht zu gedenken des schönen Knochens, welchen die Frau des Krügers der Mahlzeit beifügte, damit das getreue Thier sich vor dem Schlafengehen noch ein Stündchen angenehm beschäftigen möge.

So wurde für Alle gesorgt und Jedem wurde sein Recht, dem Kärrner aber zuletzt, indem es mit zu seinem Recht gehörte, eine Pfeife zu rauchen, bevor er sich unter der Krippe ins Stroh warf, um gleich bei der Hand zu sein, wenn die Zähne nicht mehr mahlten und behagliches Schnauben verkündete, daß die Teller leer seien.

Heute erschien es indessen, als ob die Pferde nicht mit ihrem gewöhnlichen Appetit, und wie sie angefangen hatten, ihre Mahlzeit beendeten. Die zweite Krippe voll, trotzdem Braun mehrfach aufgestanden war und höchst einladend mit beiden Händen in dem feuchten Futter gerührt hatte, wollte gar nicht leer werden; dagegen begannen die Thiere ungeduldig mit den schweren Hufen zu stampfen, gerade, als ob sie bei grünem Kleefutter des Guten zu viel gethan hätten, so daß dem Kärrner angst und bange dabei wurde. Als sie aber endlich lange vor der festgesetzten Zeit sich niederlegten, wieder aufsprangen und sich wieder stöhnend hinwarfen, da wußte Braun, daß nicht Alles mit rechten Dingen zugegangen sei und ihm zum mindesten eine schlaflose Nacht bevorstehe. Es war ihm zwar schon öfter ein Pferd auf der Reise erkrankt; allein alle drei auf einmal? Das war zu viel für seine Begriffe, das konnte unmöglich von selbst gekommen sein, es mußte durchaus, wie er wohl zwanzig Mal betheuerte: »successive seinen Haken haben.«

Und seinen Haken hatte es, und einen triftigen, schwerwiegenden Haken obenein, aber um den zu entdecken, da hätte der biedere Kärrner ein anderer Mensch sein müssen. Nicht als ob er nicht scharfsinnig gewesen wäre, nein, keineswegs; aber hätte man ihm den wahren Thatbestand mit allen nur denkbaren Eiden zugeschworen, so würde er ihn dennoch bezweifelt haben, hätte sein ehrliches Herz sich gesträubt, sich mit einem solchen Gedanken vertraut zu machen. Er hatte wohl schon von Mord und Brandlegung gehört, allein ein hinterlistiger Angriff auf harmlose Thiere? Nein, das ging in der That über seine Begriffe. –

Aufrecht und steif, wie eine Porzellanfigur, saß Frau Kathrin am Fenster vor ihrem Nähtischchen; ein beinah fertiger, weiß baumwollener Strumpf befand sich zwischen ihren Händen, und wer nur einigermaßen mit ihrem Wesen vertraut war, der erkannte leicht an den Bewegungen der Stricknadeln, daß heimliche Unruhe sie erfüllte.

Anna, die bereits am Vormittage bei dem Professor gespielt hatte, saß seitwärts von ihr. Auch sie empfand Besorgniß, doch äußerte sie dieselbe unverhohlen, indem sie von Zeit zu Zeit von ihrem wollenen Riesenstrickzeug aufsah und die Blicke auf die feuchte Straße hinaussandte.

»'s kann etwas am Wagen gebrochen sein,« bemerkte Frau Kathrin, und ihre Stimme klang viel weicher, als vor ungefähr sechs Wochen, »eins der Pferde hat vielleicht ein Hufeisen verloren, und Schmiede und Stellmacher sind nicht immer bei der Hand.«

»Ihm selbst wird doch nichts zugestoßen sein?« fragte Anna, und ihre klaren blauen Augen richteten sich zutraulich auf das ernste, bleiche Antlitz.

Frau Kathrin hob das Strickzeug empor, als sei eine Masche gefallen, welche sie mühsam aufzunehmen trachtete. Sie wollte sich durchaus nicht zu Gefühlsäußerungen hinreißen lassen, allein der zärtliche Ton der süßen Mädchenstimme war zu viel für ihren eisernen Willen. Sie zuckte einige Male mit dem Kopfe, wie zur Probe; plötzlich aber kehrte sie ihr Antlitz der lieblichen Gefährtin voll zu, und auf demselben ruhte ein zwar leichtes, dabei aber doch so herzliches Lächeln, als hätten zu gleicher Zeit Thränen der Freude und des verhaltenen Wehs in ihre Augen dringen wollen.

»Du hältst wohl ein großes Stück auf den alten rothbärtigen Kärrner?« fragt sie, ohne die Arbeit ihrer gewandten Finger einzustellen.

»Der gute Vater Braun,« antwortete Anna, und in diesen vier Worten äußerte sich ihre ganze Anhänglichkeit für den Abwesenden.

»Mit Recht: der gute Braun,« bekräftigte Frau Kathrin, »aber wenn du meinst, daß ihm etwas zugestoßen sein könnte, dann kennst Du den Christian schlecht. Der hat eine Natur, wie unsere drei Holsteiner zusammengenommen; aber sieh einmal an, Schätzchen, wie Du Dich um den Braun sorgst, 's klingt zwar, wie Kindergeplauder, und doch bist Du, wenn ich dich so ansehe, lange kein Kind mehr.«

»Ist das Eifersucht?« fragte Anna mit wunderbar lieblich neckischem Ausdruck.

»Nein, nein, Schätzchen, liebe Du meinen Mann so viel Du nur willst und kannst,« erklärte Frau Kathrin, als hätte sie Anna's Bemerkung für Ernst genommen; »'s thut seinem alten, treuen Herzen gar zu wohl, wenn er weiß, daß ihm Jemand gut ist, namentlich Jemand, an dem er seine Freude hat. Habe mich schon daran gewöhnt, daß Du ihm über Alles gehst – hast Du lange nichts von Deinem Freunde Johannes gesehen oder gehört?« »Seit er das letzte Mal hier war, nicht,« antwortete Anna schnell, und wie tiefe Wehmuth zog es durch ihre Seele, »es ist bereits acht Tage her. Ich möchte mich persönlich nach ihm erkundigen, allein er hat es mir untersagt. Der arme Johannes, er sah so traurig, so krank aus, – ich bin seinetwegen recht besorgt, wenn ihm nur keine ernste Krankheit droht.«

»Eine Krankheit? Nein, das glaube ich weniger, Schätzchen,« bemerkte Frau Kathrin, und sie senkte einen forschenden Blick in Anna's Augen, »freilich, sehr frisch sieht er nicht aus, allein das mag wohl von dem vielen Studiren herkommen. Wäre er nur nicht so eigensinnig, könnte ihm schon geholfen werden, und Eigensinn ist es doch nur, daß er sich nie mit uns zu Tische setzt. Wo drei satt werden, findet auch der Vierte noch zur Genüge; er könnte immerhin dreimal in der Woche bei uns essen –«

»Ach nein, Eigensinn ist es nicht, was uns die Möglichkeit abschneidet, ihn zu unterstützen,« fiel Anna traurig ein, »weit eher ein gewisser Stolz, für welchen ich keine rechte Erklärung finde; wird es mir doch nicht peinlich, mich von Ihnen mit Wohlthaten überhäufen zu lassen.«

»Kind, wer spricht hier von Wohlthaten?« grollte Frau Kathrin, und heftiger und unbarmherziger arbeiteten die Stricknadeln. »Du erhältst Wohnung und Kost, wofür Du mich redlich bezahlst, und damit fertig; wir sind keine reichen Leute, und Dir etwas zu schenken, liegt weder in meiner, noch in meines Mannes Absicht.«

Anna neigte sich tiefer über den Riesenstrumpf, um ihr Erröthen zu verbergen. Ihr war ja nicht fremd, zu wessen Besten regelmäßig das Geld von ihr eingefordert wurde.

»Dann hat er auch wohl aus Stolz des Professors Anerbieten, gegen Entschädigung dessen Bibliothek zu ordnen, zurückgewiesen?« fragte Frau Kathrin nach einer Pause.

»Ich glaube fast,« versetzte Anna nachdenklich, »mir gestand er, daß der Professor ihm, trotz seiner wunderlichen Laune, ausnehmend gefalle; daß er selbst aber nicht fähig sei, Bücher zu ordnen, die längst geordnet wären, noch weniger, Bezahlung dafür zu nehmen. Ich versuchte, seine Zweifel zu verscheuchen, allein er sah mich so freundlich bittend und zugleich so entschieden an, daß ich fürchtete, ihn zu verletzten; ich schwieg daher lieber.« »Merkwürdig, sehr merkwürdig,« bemerkte Frau Kathrin unzufrieden, »er ist und bleibt indessen jedenfalls der rechtschaffenste junge Mann, welchen ich je gesehen habe und dem ich das Beste wünsche. Nun, der Herr Professor entdeckt vielleicht andere Mittel, denn der Herr Professor ist ein grundgelehrter Mann.«

Anna blickte sinnend zum Fenster hinaus; eine Bemerkung über des Kärrners verlängerte Abwesenheit schwebte ihr wieder auf den Lippen, als ein Miethswagen vorfuhr und gleich darauf ein betreßter Diener eintrat, welcher sich nach Fräulein Anna Werth erkundigte.

Frau Kathrin musterte den Menschen mit bösen, argwöhnischen Blicken während Anna sich erhob und ihn freundlich fragte, was ihn zu ihr führe.

»Ich komme von dem Herrn Professor Mövius,« hob der Diener ehrerbietig an, »wohin ich von meiner Herrschaft geschickt wurde, um mich nach Ihrer Wohnung zu erkundigen. Meine Herrschaft hat sich wegen einer guten Klavierlehrerin an den Herrn Professor gewendet, und da meinten der Herr Professor, es wäre dem Fräulein vielleicht angenehm, gleich zu meiner Herrschaft zu fahren und Rücksprache mit derselben zu nehmen. Der Wagen draußen steht zu des Fräuleins Diensten und wird Sie nach beendigtem Besuch wieder hierher zurückbringen.«

Anna erröthete vor Freude über die neue Gelegenheit, ihre Zeit zu verwerthen, und sich halb nach Frau Kathrin umwendend, die für weiter nichts mehr in der Welt, als für ihren Strickstrumpf, Sinn zu haben schien, fragte sie schüchtern, wer die Herrschaften wären.

»Der Herr und die Frau Geheimerath Lester,« antwortete der Diener höflich.

»Wenn der Herr und die Frau Geheimerath was wünschten, hätten sie sich selbst herbemühen können,« bemerkte Frau Kathrin feindselig, ohne den Diener eines Blickes zu würdigen.

»Aber ich thue doch wohl gut, mich ihnen vorzustellen?« fragte Anna leise.

»Du mußt's am besten wissen,« ertönte es kalt und gleichgültig von den bleichen Lippen, denn der Diener durfte ja nicht ahnen, daß in der hageren Gestalt mit dem verschlossenen Antlitz ein Herz wohne. »Ist es weit von hier?« wendete Anna sich an diesen, sobald sie aus Frau Kathrins Worten deren Zustimmung glaubte errathen zu haben.

»Eine ziemliche Strecke,« hieß es zurück.

»Treffe ich die Herrschaft jetzt zu Hause?«

»Das Fräulein werden erwartet.«

»In höchstens einer Stunde könnte ich also wieder zurück sein,« sagte Anna heiter und aufmunternd zu Frau Kathrin, »und dann habe ich hoffentlich die Freude, unseren Herrn und Gemahl hier zu finden.«

»Das Fräulein wird gleich erscheinen!« herrschte Frau Kathrin den Diener so herausfordernd an, daß selbst Anna über den plötzlich veränderten Ausdruck erschrak, der Diener dagegen, kaum fähig, ein höhnisches Grinsen zu unterdrücken, sich schnell aus der Thüre und auf die Straße hinaus begab.

»Unverschämter,« grollte Frau Kathrin, »für 'ne Kärrnerfamilie ist's wohl gut genug, wenn ein Lakai sich heimisch bei ihr fühlt; aber für eine Klavierlehrerin?« – –

Sie hatte sich erhoben, und da Niemand anwesend war, der sie hätte beobachten können, scheute sie sich nicht, eigenhändig ihrem Schützlinge den Mantel umzuhängen, den Hut etwas nach ihrem eigenen Geschmack zurecht zu zupfen und ihr dabei streng an's Herz zu legen, daß sie durchaus keinen Grund habe, sich von den Leuten geringschätzig behandeln zu lassen, und daß sie augenblicklich umkehren möge, sobald man ihr auch nur mit einer Miene unfreundlich begegne.

Mit vor die Thüre hinaus ging Frau Kathrin schon der Nachbaren wegen nicht; aber vom Fenster aus beobachtete sie eifersüchtig, wie Anna mit Hülfe des Dieners einstieg und der Wagen davonrollte.

»'s ist nur Miethsfuhrwerk und ein aufgeputzter Lohndiener,« bemerkte sie mit dem geringschätzigsten Emporwerfen ihrer schmalen Lippen, »mag ein schöner Geheimerath sein.«

Dann blickte sie ernst auf ihre Arbeit nieder, wie um die verschwiegenen Nadeln zu Mitwissern ihrer verborgensten Gedanken zu machen, und nur gelegentlich spähte sie flüchtig durch's Fenster nach der Richtung hinüber, in welcher der hochgewölbte Frachtwagen mit den drei Holsteinern, der biedere Christian Braun und endlich auch der getreue Hechsel erscheinen mußten.

Doch die Zeit verrann und die mit so viel Gewißheit Erwarteten kamen nicht. Eine Stunde, zwei Stunden verstrichen, und Frau Kathrin saß noch immer an ihrem Fenster. Nicht nur die Straße abwärts, sondern auch aufwärts spähte sie, denn Anna blieb ihr ebenfalls schon viel zu lange, und vergeblich suchte sie sich zu erklären, weßhalb sie von den fremden Leuten bis in die Nacht hinein aufgehalten werde. Dunkle Nacht war es freilich noch nicht, aber die Dämmerung stellte sich ein und immer schwieriger wurde es für die großen blauen Augen, in weiterer Entfernung die Gegenstände auf der Straße zu unterscheiden. Wo nur die Anna bleiben mochte? Für den alten Braun war vorläufig noch kein Grund zur Besorgniß vorhanden, denn der wußte sich als erfahrener Kärrner in allen Lagen zu rathen und zu helfen, aber Anna, die noch so unbekannt in der großen, großen Stadt! Wenn man sie, anstatt nach Hause zu fahren, einfach fortgeschickt hatte und sie sich dann verirrte? Und dabei war sie so unerfahren, so schön, so leicht vertrauend, und wenn hundert Engel über sie wachten, so blieb sie doch immer den entsetzlichsten Gefahren preisgegeben!

Noch ein Weilchen kämpften die Stricknadeln mit verdoppelter Wuth unter einander, dann wanderten sie, nachbarlich in dem Knäuel steckend und liebreich von dem weißen Strumpf umschlungen, in den geräumigen Arbeitskorb, worauf Frau Kathrin einen altmodischen Hut und einen ebenfalls schon bejahrten Mantel aus dem Schrank nahm und sich reisefertig machte. Alles dieses verrichtete sie, ohne vorher Licht angezündet zu haben. Ihr, die genau wußte, wo jede Stecknadel lag, genügte die durch die Fenster hereinfallende Beleuchtung der Straßenlaterne. Als sie nach einigen Minuten bereit war, blieb sie mitten in der Stube stehen. Der Schein der Laterne fiel gerade auf ihr hageres Antlitz, auf welchem eine tiefe Besorgniß ausgeprägt war.

»Wohin zuerst gehen?« fragte sie sich leise, »wo treffe ich sie am schnellsten? Beim Professor,« beantwortete sie mit wachsendem Zorn ihre Frage, »er muß mir sagen können, wo die sauberen Geheimeraths wohnen, denn auf seine Veranlassung –«

Sie war auf den Hausflur hinausgetreten, wo sie den Namen der Magd nach der Küche hineinrief.

Diese kam eiligst zum Vorschein.

»Ich gehe fort,« sagte Frau Kathrin ernst und streng, »achte daher aufs Haus, und wenn mein Mann oder das Fräulein eintreffen, dann sorge recht pünktlich für sie. Kannst ihnen übrigens sagen, ich sei recht verwundert gewesen – recht sehr verwundert; ich hätte nur einige kleine unwesentliche Besorgungen und würde bald zurück sein.«

Oh! Wie Frau Kathrin wiederum einmal kaltblütig ihr freventliches Spiel mit der Wahrheit trieb!

»Recht verwundert,« wiederholte sie still für sich, als sie auf die Straße hinaustrat und aufwärts und abwärts spähend, weder von dem Kärrner, noch von Anna eine Spur entdeckte.

»Recht verwundert,« sprach sie abermals, indem sie die nach der Wohnung des Professors führende Richtung einschlug.

Hätte sie gesagt: »schrecklich besorgt,« so würde das weit besser zu dem zwar leisen, jedoch sehr ängstlichen Tone ihrer Stimme gepaßt haben, und zu der Unruhe, welche sich in ihren großen Augen, wie in jedem einzelnen ihrer Züge ausprägte. –


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