Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant - Teil 1
Balduin Möllhausen

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Drittes Capitel. Die Erzählung einer Waise.

Der Schlagbaum war längst, längst nicht mehr zu sehen; der Sonnenschein hatte sich allmälig von der Chaussee zurückgezogen und nur noch die höchsten Wipfel der hervorragendsten Bäume schwammen in der von dem feurigen Westen ausgehenden rothen Beleuchtung.

Anna schritt rüstig neben ihrem vierschrötigen Freunde dahin, ohne daß die geringste Spur von Müdigkeit an ihr zu entdecken gewesen wäre. Hatte sie doch sogar mit einer gewissen Geringschätzung zu dem Hauderer hinübergeschaut, als derselbe sie einholte, und endlich auf die Post selber, die ihr, trotz des prahlenden gelb und schwarzen Anstrichs und des weithin schallenden Hornsignals, im Vergleich mit dem mächtigen Frachtwagen schrecklich unbedeutend und langweilig erschien. Wer in einem der beiden ringsum geschlossenen Wagen hätte ihr auch wohl eine so anregende Unterhaltung geboten, wie sie in der Gesellschaft ihres stattlichen Begleiters mit dem prächtigen, sonnverbrannten Gesicht und dem so wohlkleidenden feuerrothen Bartkragen genoß? Und dann erst das Gefühl der Sicherheit, dessen sie sich in dem endlosen Walde erfreute, seit sie sich unter dem Schutze eines Mannes wußte, der sich, nach ihrer Ueberzeugung, an Kräften mit jedem einzelnen seiner drei Holsteiner messen konnte! Selbst Hechsel erschien ihr plötzlich als ein höchst zuverlässiger Freund und Beschützer, und mit innerer Befriedigung gewahrte sie, daß weit über die Hälfte der Anziehungskraft aus den blaugestreiften Magneten in ihr schwarzes Kleidchen übergegangen war und das närrische Thier mehr in ihren Spuren, als in denen seines Herrn folgte. Und dann, wie mußte die Luft in dem geschlossenen Wagen beschaffen sein, während jetzt der kühle Abendwind ihre Schläfen erquickend umfächelte, so daß sie sich bewogen fühlte, das Strohhütchen über ihren Arm zu hängen und der thauerfüllten Atmosphäre ihr ganzes Haupt preiszugeben? Wie aber die lieben hohen Bäume mit ihren schattigen Laubkronen unter der Wirkung der sich auf ihre Blätter senkenden Feuchtigkeit aufzuleben begannen, wie die Immortellen, die wilden Federnelken und die rothen Glöckchen der Haidekrautbüsche auf der Rasenwand des Chausseegrabens sich emporrichteten, so athmete auch sie freier und ihre Brust dehnte sich weiter aus, daß sie hätte mit einstimmen mögen in das Concert, welches die kleinen Heimchen ihr auf dem ganzen Wege gaben, und die großen, grünen Heuschrecken, die, auf den Bäumen sitzend, ihre Triller bis in die Ewigkeit hinein schienen ausspinnen zu wollen. Doch wenn sie auch nicht sang, so tönte das Entzücken, welches sie empfand, dafür um so deutlicher aus dem Tone ihrer süßen Stimme hervor, indem sie ihre Worte und Fragen an den biedern Kärrner richtete und ihn bald über Dieses, bald über Jenes um Belehrung bat. Der alte Braun aber ertheilte herzlich gern jede verlangte Belehrung, um so mehr, da die Fragen vorzugsweise solche Gegenstände betrafen, welche ihm am nächsten lagen und mit denen er schon von Kindesbeinen an vertraut gewesen.

So waren sie denn noch keine halbe Meile gewandert, da kannte sein holder Schützling nicht nur die ganzen Lebensgeschichten der drei Holsteiner, sondern auch die Bestimmung aller Geräthschaften, die rings um den Wagen und unter ihm ihren Platz angewiesen erhalten hatten; und Alles war ihr neu und für Alles verrieth sie Theilnahme, am meisten jedoch für Hechsel's Lagerstätte in dem schwingenden Gerüst, welche aus einem Bündelchen weichen, duftenden Heu's bestand und noch einen Sack mit Hafer als besondere Rücklehne erhalten hatte.

In die weitere Umgebung schweiften ihre Blicke und Gedanken ebenfalls: in den dämmerigen Wald, der sich so geheimnißvoll zu beiden Seiten der Straße ausdehnte und in welchem hundertjährige Stämme so anmuthig mit jungen Schößlingen abwechselten, gerade so, wie sie sich entsann, in früheren Jahren im Geiste sich ein Bild von den verzauberten Forsten entworfen zu haben, wenn sie die Schilderungen solcher in wunderbaren Märchen las. Denn in einen wirklichen großen Wald war sie heute zum ersten Male gekommen, und erst seit sie in der Gesellschaft des riesenhaften Kärrners reiste, hatte sie hinlängliche Ruhe gefunden, an etwas Anderes, als an ihre Vereinsamung und ihren bevorstehenden Eintritt in die Welt zu denken.

Dann führte die Chaussee wieder an kleineren und größeren Waldwiesen vorbei; auf manchen standen runde Heuhaufen, während auf andern zerstreute Erlenbüsche sich erhoben. Die bei Annäherung des Abends diesen grasigen Niederungen entsteigenden Dünste lagerten in geringer Höhe über dem feuchten Erdboden, so daß die Spitzen der Heuschober und Büsche, wie aus einem milchigen See, über der ebenmäßigen Nebelschicht emportauchten. Wäre Anna aber allein gewesen, allein und einsam in dem großen Walde, dann würde sie durch die weißen Nebelschichten an Leichentücher erinnert worden sein, an Leichentücher, wie sie deren schon so manche in ihrem jungen Leben gesehen. Ihr armes Herz hätte dann wohl schneller gepocht, und scheu und die Blicke abwendend, wäre sie vorüber geeilt an den unheimlichen Stellen. Jetzt dagegen, in der Gesellschaft des freundlichen Kärrners, kannte sie weder Furcht noch Scheu, und auf die geheimnißvollen Nebelstreifen schaute sie mit reger Theilnahme hin, als ob unter denselben ein Heer von Blumengeistern seinen Reigen aufgeführt und verschwenderisch zahllose Thauperlen auf Halme und Blätter und sogar oben auf die plumpen Heuschober hinaufgestreut hätte.

Aber auch nützlich wußte sie sich zu machen, denn während ihr riesenhafter Begleiter den fast schwarzen Maserkopf seiner schön bequasteten kurzen Pfeife aus dem strotzenden Tabacksbeutel füllte und demnächst ein blaues Rauchwölkchen nach dem andern links und rechts um den rothen Borstenkragen warf, trug sie ihm die Peitsche.

Der alte Braun hatte zwar unzählige Male seine Pfeife gestopft, ohne dabei durch die unter den linken Arm geklemmte Peitsche gehindert zu werden, allein heute war ihm plötzlich eingefallen, sich wie ein Herr bedienen zu lassen. That es seinem ehrlichen Herzen doch so unendlich wohl, zu beobachten, wie es dem lieblichen, dienstfertigen Wesen an seiner Seite so große Freude gewährte, sich ihm gefällig zu zeigen. Ja, wenn sie ihm nur nicht zu schwach vorgekommen wäre, dann hätte er, um ihre Freude zu erhöhen, ihr auch noch den feuer- und wasserfesten Hut sammt seinem ganzen Inhalte zum Tragen dargereicht, unbekümmert darum, daß dann der kalte Thau auf die handgroße Fläche seines Hauptes gefallen wäre, auf welcher er nur nothdürftig mittels einiger Bürstenstriche etwas Haar zu erheucheln vermochte.

Und so wanderten sie dahin, immer weiter und weiter. Der letzte Tagesschimmer versank, aber freundlich lugte über die hohen Bäume fort der beinahe volle Mond zu ihnen nieder. Der Wagen knirschte, rasselte und klapperte; unabänderlich, wie von einem künstlich geregelten Mühlenwerk belebt, stampften die schwer beschlagenen Hufe den festen Boden, daß zuweilen die hellen Funken unter ihnen hervorstoben. Schon mehrfach hatte der Kärrner seine jugendliche Begleiterin aufgefordert, den Wagen zu besteigen, in welchem sie gleich vorn über der Deichsel ein bequemes Plätzchen gefunden hätte, aber jedesmal erhielt er eine abschlägige Antwort.

»Ich bin nicht müde,« betheuerte Anna heiter, »der Abend ist so schön und dabei fühle ich mich so frisch, daß ich die ganze Nacht hindurch gehen und plaudern möchte; ich fürchte nur, Ihnen durch meine vielen Fragen lästig zu werden.«

»Lästig, Schätzchen?« fragte der Kärrner wie beleidigt zurück, jedoch das Grimmige im Tone seiner Stimme nach besten Kräften zu mildern, legte er die schwielige Hand auf das üppige, seidenweiche Haar seines Schützlings.

»Ja, lästig, ich meine successive lästig,« bekräftigte Anna, in einer Anwandlung von Muthwillen das Lieblingswort des Kärrners schärfer betonend.

Die schwielige Hand glitt leise von dem holden Haupte niederwärts bis auf den schlanken Hals, und nachdem sie dort einigemal so leicht geklopft, als ob sie das feinste Spinngewebe berührt hätte, zog sie sich ganz zurück. Dann aber lachte die alte biedere Haut, zwar nicht sehr melodisch, dagegen so herzlich und wohlwollend, daß es seiner Begleiterin wie die schönste Musik in die Ohren schallte.

»Schätzchen!« rief er aus, und wie um den Anfall von Heiterkeit niederzukämpfen, paffte er mehrere Male geräuschvoll den Tabacksdampf aus dem niedergezogenen Mundwinkel, »Schätzchen, Du bist ja so lustig, wie ein zweijähriges Füllen, welches in seinem Leben nichts weiter, als schönen, reinen, vollwichtigen Hafer gesehen hat! Ei, ei, successive! Und ich dachte schon – ich meine, Schätzchen – ja, von wegen des schwarzen Kleides und des schwarzen Bandes auf Deinem Hütchen?«

»Es ist wahr, ich sollte eigentlich nicht so frohsinnig sein,« versetzte Anna plötzlich ernst, »allein ich hatte meine gerade nicht sehr viel versprechende Lage ganz vergessen – ja, ich traure um eine entfernte Verwandte oder wohl mehr Freundin meiner Mutter, bei welcher ich die letzten Jahre zubrachte. – Aber auch meine Eltern habe ich schon betrauert und noch heute beweine ich sie mit tiefem Schmerz; sie sind seit Jahren todt, allein ich werde sie nie, nie vergessen.«

Der Kärrner räusperte sich verlegen; drei Rauchwolken stoben geräuschvoll in die Nachtluft hinaus, und dann hob er mit wunderlich gedämpfter Stimme an:

»Sprechen wir von etwas Anderem, denn es hat wahrlich und successive nicht in meiner Absicht gelegen, Dich traurig zu stimmen; weiß selber zu gut, wie 'nem Menschen zu Muthe ist, dem's Herz zermorschte, als ob meine Holsteiner den befrachteten Wagen darüber hingezogen hätten, – hm, Schätzchen, und darum denke lieber an etwas Anderes.« –

»Und ich glaubte wieder, es wäre Ihnen recht, meine Vergangenheit kennen zu lernen,« fiel Anna zutraulich ein, und sie trat so nahe an ihren Begleiter heran, daß Hechsel ganz unentschieden war, ob der blaugestreifte oder der schwarze Magnet eine größere Anziehungskraft auf die gußeiserne Doppelnase ausübte.

»Hm, wenn ich die Wahrheit gestehen soll, Schätzchen,« erwiderte der Kärrner zögernd, »so möchte ich wohl Näheres über Dich wissen, das heißt, nicht aus Neugierde, sondern – nun, weil Du mir successive gefällst. Hast Du also Lust und schneidet es nicht zu tief in Dein liebes kleines Herz ein, so erzähle immerhin, und wenn ich Dir dann irgendwie von Vortheil sein kann, Schätzchen, so weißt Du: mein Name ist Christian Braun.«

Bevor Anna eigentlich wußte, was sie that, hatte sie des Kärrners Hand ergriffen, um sie dankbar zu drücken; die harte, schwielige Faust aber schloß sich sanft um das zarte Händchen, um es nicht mehr loszulassen, und Hand in Hand schritten sie neben dem klingenden und klirrenden Dreigespann auf dem staubigen Sommerwege einher, wie wohl Kinder thun, die sich gegenseitig lieb gewonnen haben und glauben, Einer ohne den Andern nichts mehr unternehmen zu können.

»Meine Eltern sind schon lange todt,« begann Anna ihre Lebensgeschichte, nachdem sie wohl hundert Schritte schweigend zurückgelegt hatten; »ich war erst acht Jahre alt, als mein guter Vater starb, und ein Jahr später folgte ihm meine arme Mutter nach. So lange mein Vater lebte, ich entsinne mich dessen noch sehr genau, fehlte es uns nie am Nothwendigsten; wir hatten eine größere Wohnung und wie die Mutter mir später erzählte, verdiente er immer noch etwas mehr, als wir zu unserem Lebensunterhalt gebrauchten. Er unterrichtete nämlich im Klavierspiel –«

»Was sagen will: auf dem Pianum?« schaltete der Kärrner halb fragend ein.

»Auf dem Pianoforte,« bekräftigte Anna ernst.

»Richtig, richtig, Schätzchen; Pianum fortum; erzähle nur weiter – wollte eben nur meiner Sache gewiß sein,« entschuldigte sich der Kärrner, und Anna, die den Fehler in der Aussprache nicht beachtet hatte fuhr fort:

»Nach dem Tode des Vaters versuchte die Mutter wohl noch eine Zeit lang, selbst zu unterrichten, denn auch sie war sehr musikalisch, allein ihre Kräfte waren einer solchen Aufgabe nicht gewachsen. Sie mußte es sehr bald wieder einstellen; kaum, daß sie bei ihrer zunehmenden Schwäche im Stande war, den Unterricht, welchen ich bereits bei meinem Vater genossen hatte, fortzusetzen.

»Obwohl wir uns in unsern Ausgaben auf alle erdenkliche Weise einschränkten, neigten sich die Ersparnisse meines Vaters und die geringe Summe, welche wir aus dem Verkaufe unserer überflüssigen Sachen lösten – wir hatten nämlich eine kleinere Wohnung bezogen – doch bald ihrem Ende zu. Es war ja so wenig, was meine kranke Mutter mit Sticken und Nähen verdiente, und wenn ich auch bereits die Fähigkeit besaß, Anfängerinnen im Klavierspiel nachzuhelfen, so erschien ich den Leuten doch wohl zu jung, als daß sie mir durch Uebertragung von Stunden hätten zu Hülfe kommen mögen. Eine traurige, eine unbeschreiblich traurige Zeit war es, welche wir damals verlebten, doppelt traurig für mich, weil ich trotz meiner Jugend einsah, daß nicht nur das bitterste Elend uns unwiderruflich erwartete, sondern daß auch sie, an der ich mit meiner ganzen Seele hing, dem Grabe langsam entgegensiechte. Was aber muß meine arme Mutter gelitten haben, wenn sie meiner Zukunft und zugleich Derer gedachte, die ihr in die Ewigkeit vorangegangen waren; denn außer ihrem Gatten, meinem so heißgeliebten Vater, hatte sie noch drei Kinder durch den Tod verloren, von welchen ich indessen keins kennen lernte. Meine Geschwister waren nämlich schon gestorben, lange bevor ich geboren wurde, ich glaube, sie hatten jedesmal ein Alter von nur wenigen Tagen erreicht. Es läßt sich daher denken, daß meine armen Eltern mich nie ohne heimliche Besorgniß ansahen, und dennoch mußten Beide vor mir hinübergehen. Woher ich damals die Kraft nahm, vor meiner Mutter heiter und sorglos zu erscheinen, ist mir jetzt fast unbegreiflich; viel mag aber mit dazu beigetragen haben, daß die häuslichen Obliegenheiten eine nach der andern in meine Hände übergingen und endlich sogar der Broderwerb einzig und allein auf meinen Schultern ruhte. Mit Hülfe menschenfreundlicher Leute war es mir nämlich dennoch gelungen, in mehreren Häusern mit der Nachhülfe junger Klavierspieler betraut zu werden, wofür ich freilich ein nur sehr geringes Honorar bezog, welches indessen nothdürftig für unsern wenig kostspieligen Lebensunterhalt ausreichte. Erst als meiner armen Mutter Zustand sich in so hohem Grade verschlimmerte, daß sie das Bett nicht mehr verlassen konnte und ich kaum von ihrer Seite weichen durfte, waren wir genöthigt, uns in Schulden zu stürzen.«

Hier schwieg Anna; das Haupt auf die Brust geneigt, schritt sie neben dem Kärrner hin. Es war ersichtlich, ihr Geist weilte in jenen längst entschwundenen Zeiten, in welchen sie schmerzerfüllt die im Tode erkaltende Hand der Mutter mit ihren zarten Fingern umschloß, während jetzt – sie blickte seitwärts zu ihrem Begleiter empor, dessen schwarzer Hut sich ebenfalls nah vorn neigte und der ihre Hand so sanft hielt und sie so behutsam führte, als sei seine schwerfällig wiegende Hünengestalt nur ein Traum gewesen, der sie wie ein Schutzengel umschwebte.

»Was ich litt, als sie endlich meine arme, treue, unvergeßliche Mutter in die Gruft senkten,« nahm Anna plötzlich ihre Erzählung wieder auf, »was ich empfand, als Erde und Steine dumpf rasselnd auf den Sarg fielen, der meine Mutter, mein Einziges und mein Alles umschloß, ich kann es nicht beschreiben. Doch ich behielt nicht viel Zeit, mich dem Gram um die Dahingeschiedene gänzlich hinzugeben, denn kaum war der kleine Hügel über ihrer letzten Ruhestätte aufgeworfen, da stellten sich auch Diejenigen ein, die noch Forderungen an uns hatten. Mein Vormund stand mir freilich in dieser schweren Zeit hülfreich zu Seite, allein er konnte nicht hindern, daß alle unsere Sachen, selbst unser Instrument, verkauft wurden, er drang sogar darauf, daß alle Diejenigen, die noch gerechte Ansprüche an die Hinterlassenschaft hatten, möglichst schnell befriedigt wurden. Gewiß meinte er es gut und redlich, allein ich glaube, hätte mein einziger Freund, ein junger Mann, welchen ich seit meiner frühesten Kindheit kenne, in meiner Nähe geweilt, wäre Manches anders gekommen. Das aus dem Verkaufe der Sachen gelöste Geld reichte leider nicht aus, die Gläubiger abzufinden, und zwei Jahre hindurch mußte ich noch arbeiten und sparen, bevor ich so weit gelangte, frei von der mich quälenden Last mich zum Schlafe niederlegen zu können.

»Eine alte einzelne Frau, die in demselben Hause wohnte, in welchem meine Mutter gestorben war, hatte mich, sobald ich gänzlich verwaist war, zu sich genommen, theils um sie zu pflegen – denn auch sie war kränklich –, theils, um, in Ermangelung eines Dienstboten, ihrem kleinen dürftigen Hauswesen vorzustehen. Daß ich überhaupt ein Unterkommen bei ihr fand, betrachtete ich als ein großes Glück, um so mehr, als sie mir täglich einige Stunden Zeit gönnte, welche ich zum Unterricht-Ertheilen verwendete. Sie miethete sogar ein Instrument, auf welchem ich ihr vielfach, zuweilen sogar des Nachts, wenn sie vergeblich den Schlaf herbeisehnte, vorspielen mußte. Mir gereichte dies indessen noch besonders zum Segen, indem ich dadurch nicht nur Gelegenheit fand, mich selbst aufzuheitern, sondern auch mich auszubilden und befähigter für die Stellung einer Klavierlehrerin zu machen.

»So gingen also die zwei Jahre dahin, und der letzte meiner Gläubiger hatte sein Geld empfangen, als meine Wohlthäterin – und meine Wohlthäterin war sie ja, trotzdem sie mir gewöhnlich nur wenig frohe Stunden bereitete – schwer erkrankte, wodurch ich gezwungen wurde, das Unterrichten auszusetzen und meine Zeit ihrer Pflege zu widmen. Ich that es gern, wenn ich auch mit schwerem Herzen und tiefer Besorgniß daran dachte, daß ich durch die lange Unterbrechung meiner künstlerischen Thätigkeit meinen Broderwerb untergrub.

»Wiederum verstrichen fünf oder sechs Monate, als der Tod plötzlich und unerwartet den Leiden meiner Wohlthäterin ein Ziel setzte. Es sind seitdem sechs Wochen verflossen, ein Zeitraum, welchen ich nothgedrungen noch im Hause der Verstorbenen zubringen mußte und nach dessen Ablauf mir die Erben, nach Theilung der ärmlichen Hinterlassenschaft, anheimstellten, mich anderweitig nach einem Unterkommen umzusehen.«

»Und mit einem einzigen halben Thaler in der Tasche!« schnaubte der Kärrner so geräuschvoll und grimmig, daß die Pferde, in der Meinung, der Zornausbruch habe ihnen gegolten, ihre Schritte beschleunigten.

»Immer successive!« ertönte es gleich darauf gedehnt und beruhigend aus der breiten, rauhen Brust. Die Pferde verfielen wieder in ihren alten Schritt, der Kärrner aber, nachdem er die das warme Händchen umschließende Faust geöffnet, nahm seiner Begleiterin die Peitsche ab und knallte in rascher Folge ein halbes Dutzend Mal nach rechts und links in den Wald hinein, als hätte er mit jedem wohlgemeinten Hiebe einen der nach seiner Ueberzeugung entsetzlich undankbaren Erben getroffen. Anstatt aber die kleine zarte Hand wieder zu ergreifen, behielt er die Peitsche, sie im rechten Arme tragend, ähnlich einem Kavalleristen, welchem bei gezogenem Säbel »rührt Euch!« commandirt wurde.

»Wie viel ich noch besaß, wußten die guten Leute nicht,« entschuldigte Anna, sobald Braun sie zu Worten kommen ließ, »und ich wieder sah keinen Grund, ihnen dieses noch besonders mitzutheilen. Hatte ich doch mein Gutes im Hause der Verstorbenen genossen, so daß ich an Niemand mehr Forderungen stellen durfte; dagegen bedauerte ich tief den Verlust meiner Stunden, in Folge dessen mir nicht vergönnt war, länger im heimatlichen Städtchen, in der Nähe der Gräber meiner Eltern und Geschwister zu weilen. Ich mußte fort, fort, so schnell als möglich und so lange ich noch nicht durch neue Verpflichtungen gebunden war; denn bevor ich die zu meinem Lebensunterhalte nöthige Beschäftigung gefunden hätte, wäre ich, wer weiß wie tief verschuldet gewesen. Mein Vormund, dem meine Rathlosigkeit jedenfalls lästig wurde, pflichtete meinen Ansichten bereitwillig bei. Ich entschloß mich daher kurz; meine geringen Habseligkeiten waren schnell gepackt, und nachdem ich allen Bekannten Lebewohl gesagt hatte, begab ich mich auf den Weg, um möglichst bald in die Hauptstadt zu gelangen. Daß meine Geldmittel bis auf einen halben Thaler zusammengeschmolzen waren, sagte ich bereits, und dennoch bin ich der Vorsehung recht dankbar dafür; denn hätte ich genug besessen, um den Hauderer benutzen zu können, wäre mir nie die Freude zu Theil geworden, mit Ihnen bekannt zu werden.«

»Hm, eine schöne Freude,« murmelte der Kärrner zweifelnd, und der nächtliche Schatten verbarg, daß der die Pfeife tragende Mundwinkel bis über das halbe Kinn hinabsank. Dann räusperte er sich einige Male, als ob er recht verlegen gewesen wäre, dem Räuspern folgte ein tiefer Bückling nach, welcher den Lederhut in seine Hände brachte, und nachdem er sehr umständlich den Staub von seiner Stirne entfernt hatte, führte ein neuer Bückling den glanzledernen Tresorkasten auf die gewohnte Stelle zurück.

»Sie wollen also nach der Hauptstadt?« fragte er darauf, noch immer zweifelnd, seine junge Begleiterin, »haben Sie aber auch successive überlegt, was es bedeutet, so jung und dabei ohne Geld und ohne Freund sich unter so und so viel Hunderttausend Menschen zu wagen, die im allgemeinen Einer für den Andern nicht mehr Freundschaft hegen, als Hechsel für die geweißten Chausseesteine hier?«

Anna sah überrascht empor; es befremdete sie, daß ihr treuherziger Gefährte sie plötzlich mit »Sie« anredete, doch in der Meinung, sich verhört zu haben, antwortete sie nach kurzem Sinnen freundlich:

»Ja, ich will nach der Hauptstadt; glauben Sie indessen nicht, daß ich leichtfertig und auf gut Glück und ohne jegliche Aussicht meinen Entschluß gefaßt habe. O nein, ich finde dort einen Anhalt, und zwar einen Anhalt, der mir von meiner sterbenden Mutter empfohlen wurde. Doch das muß ich Ihnen noch erzählen. Wenige Tage vor ihrem Tode händigte mir meine arme Mutter einen Brief ein – ich trage ihn hier bei mir in der Tasche – und unter heißen Thränen sprach sie zu mir folgende unvergeßlichen Worte: »Du armes, armes Herz, die Du dazu bestimmt bist, im zarten Jugendalter als elternlose Waise in die Welt hinausgestoßen zu werden! Die Trennung von Dir und die Unsicherheit Deiner Zukunft machen mir das, was mir in nächster Zeit unwiderruflich bevorsteht, allein schwer und bitter. Ich besitze nichts, das ich Dir hinterlassen könnte; Deiner Eltern einziges Vermächtniß besteht in Deiner Fertigkeit des Klavierspiels, an welcher beide vereinigt mit heiliger Pflichttreue gearbeitet haben. Unsre Nachbarin versprach mir, im Fall ich sterben sollte, sich Deiner anzunehmen; es steht daher zu erwarten, daß Dir dadurch später Dein Eintritt in die Welt als Musiklehrerin erleichtert wird. Unmöglich ist es aber nicht, daß meine innigen, bangen Hoffnungen sich nicht erfüllen, daß sich Hindernisse Dir entgegenstellen, welche nicht vorhergesehen werden konnten. Für solchen Fall gebe ich Dir diesen Brief; Du siehst, er ist dreifach versiegelt, ein Beweis, daß er Dinge enthält, welche ich selbst vor Dir als Geheimniß bewahrt haben möchte. Solltest Du in die Lage gerathen, – was Gott verhüten möge – daß Du keinen andern Ausweg mehr vor Dir sähest, dann nimm diesen Brief, reise nach der Residenz und übergieb ihn Demjenigen, dessen Namen und Adresse ich mit größter Sorgfalt und Genauigkeit niedergeschrieben habe. Es ist eine schwere Aufgabe für mich gewesen, diesen Brief abzufassen, allein nachdem es geschehen war, fühlte ich mich wunderbar getröstet und ruhiger werde ich von dannen gehen – weiß ich doch, daß da, wohin dieses Schreiben Dich führt, man Dir mit treuem Rathe hülfreich zur Seite stehen wird. Sollte indessen bis zu Deinem fünfundzwanzigsten Jahre die Ablieferung dieses Briefes sich nicht als nothwendig erweisen, dann, mein Kind, vernichte ihn, ohne ihn gelesen zu haben.«

»So sprach meine sterbende Mutter. Ich war damals erst dreizehn Jahre alt, allein ich begriff die volle Bedeutung der mir ertheilten Aufträge; kein einziges ihrer Worte habe ich vergessen, und getreulich hielt ich, was ich in jener ernsten Stunde versprach.

»Daß ich jetzt im Begriff stehe, den Brief an seine Adresse zu tragen, stört nicht die Ruhe meines Gewissens; bis zum letzten Augenblick habe ich mit diesem Entschluß gezögert, bis zu dem Zeitpunkte, in welchem ich wirklich keinen anderen Ausweg mehr vor mir sah, einer mir drohenden, entsetzlich elenden Lage zu entgehen, ohne andern Menschen lästig zu werden. Mit Ihnen zusammen getroffen zu sein, als ich mich von neuen Verlegenheiten umringt sah, betrachte ich als eine gute Vorbedeutung; ich bin seitdem viel, viel ruhiger und zuversichtlicher geworden, und wollten Sie mir gar noch behülflich sein, die Wohnung des Herrn, dem ich den Brief übergeben soll, aufzusuchen, dann würde meine Dankbarkeit –«

»Gewiß und wahrhaftig thue ich das,« fiel der Kärrner überzeugend ein, und die Faust mit geschulterter Peitsche schwang sich so regelmäßig vor und rückwärts, daß ein mit gezogenem Säbel vor seiner Compagnie einhermarschirender Schützenkönig dadurch beschämt worden wäre, »aber wie steht es? In welcher Gegend wohnt der Mann? Kennen Sie successive seinen Namen und die Adresse auswendig? Denn sie jetzt hier zu lesen, möchte es selbst für Ihre klaren Augen zu dunkel sein.«

Anna sah wieder überrascht empor. Dieses Mal hatte sie das förmliche »Sie« deutlich verstanden. Etwa eine Minute zögerte sie, dann aber, anstatt zu antworten, fragte sie mit kindlich zutraulichem Ausdruck:

»Habe ich durch meine Erzählung Ihr Mißfallen erregt?«

»Nein nein, mein liebes – Fräulein – keineswegs, nicht mit einem Buchstaben,« lautete die gedehnte Antwort, und wie der Dampf aus der Mündung eines abgefeuerten Terzerols, paffte der weiße Rauch aus dem gesenkten Mundwinkel.

»Warum nennen Sie mich denn nicht mehr ›Du,‹ Herr Braun?«

»Herr Braun? Pah! Ich bin Braun, Christian Braun, der Frachtfuhrmann, und von 'nem Herrn nicht die äußerste Spitze meiner Peitschenschnur! Und was das ›Du‹ anbelangt? Hm, da glaube ich successive ein recht grobes Versehen gemacht zu haben. Hm, nur daran zu denken, Jemand wie'n Kind zu behandeln, ich meine Jemand, der auf dem Pianum spielt und so wunderbar spricht und erzählt, als ob er Alles hinter einander aus einem gedruckten Buche ablese. Oh, das geht nicht, nein, durchaus nicht! Ich bin zwar nur ein einfacher Kärrner, und obenein der Sohn eines Kärrners –«

»Wollen Sie lieber Herr Braun genannt werden?« fragte Anna jetzt wieder mit einem Anfluge von Heiterkeit, welche eigentlich mehr, als die vorhergegangene ernste Stimmung, in ihrem Charakter lag.

»Braun, Christian Braun, und nicht anders,« antwortete der Kärrner entschieden, und wie um einen Punkt hinter seinen ernst ausgesprochenen Willen zu setzen, fügte er einen scharfen Knall seiner Peitsche hinzu.

»Gut also,« fuhr Anna darauf so herzlich, so innig fort, daß das alte Kärrnerherz, wie Wachs auf einer glühenden Ofenplatte, zerfloß; »Sie nennen mich entweder »Sie« und ich sage Herr Braun, oder ich bin nach alter Weise ihr Schätzchen, welches Sie mit ›Du‹ anreden, und ich sage Vater Braun.«

Dann der gern nachgebenden Riesenfaust die Peitsche mit Leichtigkeit entwindend und ihre Hand an deren Stelle legend, fuhr sie mit unbeschreiblich süßem, zutraulichem Wesen, wie es nur eben durch ein goldenes Gemüth, wie das des Kärrners, geweckt werden konnte, fort:

»Seien wir also wieder gute Freunde, lieber Vater Braun; ich trage Ihnen die Peitsche, und dafür halten Sie meine Hand; ich fühle mich auf diese Weise sicherer und werde nicht so leicht müde.«

Braun räusperte sich eine ganze Weile, und mehrere Ladungen Dampf mußten in die feuchte Nachtluft hinausgesendet werden, bevor er Worte fand.

»Schätzchen, wenn Du's nun einmal willst,« hob er stotternd an, und dabei riß er an den langen, rothen Borsten, als wären dieselben mittelst Draht an ein gefühlloses Bürstenholz befestigt gewesen, »so kann ich freilich nichts dagegen einwenden; bist aber ein seltsames Wesen, Schätzchen, ich meine, so etwas von 'nem Zauberer; ist mir doch, wenn Du mit mir altem Kerl sprichst, als sei ich wirklich Dein Vater, als liefe mir das Blut so recht warm über's Herz und von da successive bis in die Fingerspitzen hinein – habe so 'was noch nicht erlebt, und will ich Dir doch Alles zu Gefallen thun, und bis vor die Thüre des Herrn will ich Dich bringen, des Herrn – wie heißt er gleich, Schätzchen?«

»Rechtsanwalt Alvens,« antwortete Anna pünktlich.

»Rechts–an–walt?« fragte Braun, indem er erschrocken stehen blieb und starr auf seinen in dämmeriges Mondlicht gehüllten Schützling niederschaute.

»Alvens,« wiederholte Anna befangen und den Bewegungen des nunmehr wieder einherschreitenden Kärrners folgend, »Sie scheinen ihn zu kennen?«

»Hm, wenn ich ihn nicht kennen wollte, wer sollte ihn dann kennen?« grollte Braun in sich hinein, als hätte er mit sich selbst gesprochen, und fester drückte die Hand das Händchen, entschlossener und in weiteren Bogen schwangen die Schultern abwechselnd nach vorn, und herausfordernder wirbelten die dem schiefen Mundwinkel entströmenden Rauchwolken um den lackirten Tresorkasten und über diesen empor.

»Ist er ein freundlicher Herr?« fragte Anna ängstlich weiter.

»Mehr, als zu freundlich,« antwortete Braun in ernstem Protectortone, und dann fuhr er milder, jedoch noch bestimmter fort: »ich sagte wohl, Schätzchen daß ich Dich eigenhändig zu ihm begleiten würde, und Christian Braun ist der Mann, der sein Wort zu halten weiß, allein in diesem Falle, hm, nein, 's geht nicht – 's geht successive nicht, weil – nun – weil ich eben nicht will!« und hätte sich die Peitsche in seiner Hand befunden, würde er gewiß wieder den schallenden Punkt hinter seinen Ausspruch gesetzt haben.

Anna schwieg; sie suchte offenbar zu enträthseln, was ihren treuherzigen Gefährten zu der plötzlichen Sinnesänderung veranlaßt haben könne; dieser aber, der den Ideengang des jungen Mädchens instinctartig ahnen mochte, brach nach einer längeren Pause tiefen Nachdenkens das ihm drückend werdende Schweigen.

»Ich habe meinen Plan gemacht, Schätzchen,« begann er, und in der heiseren, knurrenden Stimme lag eine ganze Welt voll Zärtlichkeit, »ja, einen Plan, welcher, – ich bin zwar nur ein alter, einfacher Frachtfuhrmann – nichtsdestoweniger mit Recht successive genannt werden kann. Ich begleite Dich also ebenso wenig zu dem Herrn Alvens, wie ich Dich allein hingehen lasse –«

»Aber mein Gott, der Brief,« fiel Anna dem Kärrner klagend in die Rede, »bedenken Sie, was soll ich in der großen, mir völlig unbekannten Stadt beginnen, wenn ich den Rath des Freundes nicht in Anspruch nehmen darf, an welchen ich von meiner verstorbenen Mutter gewiesen wurde?«

»Beginnen, Schätzchen? Pah, das wird sich finden. Vorläufig bin ich Dein Freund, und den Brief soll der Herr Alvens auch haben, nur Du selbst sollst ihm denselben nicht zustellen. Du bist nämlich zu unschuldig und offenherzig, und der Herr Alvens ist ein viel zu kluger Mann, – habe nämlich so meine gewisse Meinung über ihn, denn ich kenne ihn schon lange – doch das sind Dinge, über die wir später vielleicht einmal sprechen – 's bleibt also dabei: Du schlägst vorläufig Dein Quartier in meinem Hause auf, und dann wollen wir weiter sehen, das heißt, wenn Dir so um's Herz ist und Du nichts dagegen einzuwenden hättest.«

»Bei Ihnen bleiben möchte ich wohl,« versetzte Anna sinnend, »aber Sie vergessen, ich bin ganz arm, wenn ich auch etwas gelernt habe und zu arbeiten verstehe, und dann, was würde Ihre Frau sagen, wenn durch mich Ihr Hausstand vergrößert würde?«

»Hm, Schätzchen, die Armuth wäre eben kein Hinderniß, und mein Haus ist groß genug, um ein ganzes Dutzend solcher Geisterchen von Deiner Art zu beherbergen – aber meine Frau! Verdammt! Das müßte doch successive wohl vorher etwas überlegt werden.«

»Nein, nein, lieber Vater Braun,« entgegnete Anna mit unverkennbarer Besorgniß, »ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre große Güte, allein es wäre doch wohl besser – ich meine, lieber, als daß ich Ihre gewohnte häusliche Ordnung störte – es giebt ja Leute, die nicht gern fremde Gesichter um sich sehen, und deren Herz dennoch –«

»Das Herz meiner Frau, Schätzchen?« rief der Kärrner aus, bevor Anna Zeit gewann, ihren Nachsatz zu beendigen, »das Herz meiner Kathrin? Ha, darüber wollen wir nicht lange streiten, wirst's schon selber herausfinden, sage ich Dir, aber wunderlich ist die gute Alte, sehr wunderlich, und sie hat auch Ursache dazu, denn was die schon Alles successive erlebt hat, Schätzchen, das ist genug, um meine drei Holsteiner mitsammt dem Fuhrwerk unter die Erde zu bringen! Ja, die arme Frau!«

Der Kärrner seufzte, daß es klang, wie das Schrammen eines ungeschmierten Rades, und dennoch drang es so innig, so klagend in Anna's Herz, daß sie kaum zu athmen wagte und unwillkürlich die harte, schwielige Hand mit ihren zarten Fingern zu drücken versuchte.

Der alte, treue Braun, daß er denselben Schmerz, denselben Kummer zu tragen habe wie Frau Kathrin, das sagte er nicht. Es lag nun einmal in seiner Natur, an sich selbst immer zuletzt zu denken. »Ja, sie ist sehr wunderlich,« wiederholte er nach einer längeren Pause trüben Sinnens, »sie will auf ihre Art genommen werden, und wer sie nicht genauer kennt, möchte zuweilen wohl nicht ganz gut von ihr denken. Doch Du wirst sie ja sehen, und wenn ich Dir sage, Schätzchen, laß Dich durch ihr Wesen nicht beirren, so reicht das hin, Dir successive einen Begriff von ihr zu geben, damit Du nichts für ungut nimmst.«

»Bestehen Sie darauf, daß ich mit Ihnen nach Hause gehe?« fragte Anna schüchtern und von einer unbestimmten Furcht erfüllt.

»Ja, ich bestehe darauf,« erwiderte der Kärrner entschieden, »und ich denke, es wird uns Beiden nicht leid werden. Doch gieb mir die Peitsche; das Licht da unten links von der Straße ist der Krug, in welchem wir übernachten. Rechts, wo die vielen Lichter auftauchen, zieht sich das Dorf hin; dort haben wir indessen nichts zu suchen – aber – da schlage doch – hm, im Krug ist Tanzmusik, und wird's daher mit dem Nachtquartier wohl schlimm werden. Schadet indessen nicht, Schätzchen, werde schon für Dich sorgen, sollst so warm und ungestört schlafen, wie in Abrahams Schooß, also hübsch munter und immer successive!«

Die Peitsche knallte, die Gäule schnaubten und beschleunigten auf den anfeuernden Zuruf ihre Schritte, und einige Minuten später hielt der Wagen seitwärts auf der Straße vor einem geräumigen Stallgebäude des ländlichen Gasthauses, aus welchem neben der Tanzmusik das tactmäßige Stampfen schwerer Füße und der verworrene Lärm heiterer Menschen herüberschallten.

Trotz des lustigen Lebens in dem Kruge, fanden sich gefällige Hände, die dem Kärrner beim Ausspannen, Abschirren, Unterbringen, Futtern und Tränken der drei Holsteiner behülflich waren, und kaum eine Viertelstunde war verstrichen, da saßen Braun und Anna auf der Bank vor dem Stalle, zwischen sich den geöffneten Kober und ein mächtiges Glas Bier, vor sich aber Hechsel, der bei jedem ihm abwechselnd von einer Riesenfaust und von einem schlanken Händchen dargereichten fetten Bissen sich die erdenklichste Mühe gab, mit seinem abhanden gekommenen Schweif zu wedeln.

Freundlich und gefällig leuchtete der Mond ihnen zu ihrer Mahlzeit.

Anna hatte auf dringendes Anraten des Kärrners, zum Schutz gegen die tauige Nachtluft, eine Pferdedecke um Haupt und Schultern geschlagen, so dass sie sich wie ein Madonnenbildchen ausnahm, auf welches der Mond verschwenderisch seine schönsten bläulichen Lichtreflexe ergoß. Sie aß und plauderte, sie betrachtete den Frachtwagen, den Mond und ihren riesenhaften Freund, und dabei äußerte sich in jedem ihrer Worte, ja, gewissermaßen in jeder einzelnen ihrer Bewegungen die glückliche Zufriedenheit welche sie beseelte. Das wilde Jauchzen, der schrille Ton der Klarinette, das unermüdliche Kratzen der beiden Geigen und das schmerzliche Grunzen des Kontrabasses beachtete sie kaum; um so aufmerksamer lauschte sie dagegen auf das dumpfe, mahlende Geräusch, mit welchem, nur wenige Schritte von ihr, die drei Holsteiner gemächlich den festkörnigen Hafer zwischen ihren breiten Zähnen zermalmten.

Nach Beendigung der Mahlzeit ordnete sie sehr sorgfältig den Inhalt des Kobers, während Braun eine kleine Blendlaterne anzündete und mit derselben über die Deichsel seines Wagens fort unter dem Leinwandverdeck hindurch in den Wagen selbst hineinkroch. Er arbeitete dort lange und angestrengt, Kisten wurden geschoben und gerückt, Tönnchen wurden gehoben und gerollt, Ballen mit weicherem Inhalte wurden nebeneinander hingelegt, und als er endlich eine ebene Fläche von beinah sechs Fuß Länge und zwei Fuß Breite hergestellt hatte, breitete er noch ein aufgerissenes Bund Heu und eine Decke über dieselbe aus. »So wird's gehen«, sagte er nach Beendigung dieser Arbeit vor sich hin, und das eine Auge schließend und den Mundwinkel begutachtend gesenkt, leuchtete er noch einmal die weiche Lagerstätte und deren Umgebung behutsam ab. »So wird's gehen«, wiederholte er zufrieden; dann stellte er das Laternchen auf die vorspringende Ecke einer Kiste, von welcher aus das Licht gerade auf das Lager fiel.

Immer mit derselben rührenden Sorgfalt und mit manchem ermutigenden Zuspruch, der von seinem Schützling mit kindlichem Lachen und den mutwilligsten Gegenbemerkungen beantwortet wurde, half er darauf Anna in den Wagen hinein, und erst als diese beteuerte, dass sie warm und bequem gebettet sei, steckte er den Kopf noch einmal unter der Leinwand hindurch, um seinen Tresorkasten zu verwahren und die Laterne fortzunehmen.

»Liegst Du auch wirklich gut, Schätzchen?« fragte er mit der Zärtlichkeit einer Mutter, und zugleich drückte seine derbe Faust noch einmal unbegreiflich sanft die kleine, schlanke Hand.

»Außerordentlich gut und bequem«, tönte es lieblich zwischen dem duftenden Heu und den schweren Pferdedecken hervor.

»Keine Ecken oder Kanten, welche dich drücken?«

»Alles weich und glatt, als ob ein Tapezierer sein Wesen hier getrieben hätte.«

»Hm, Schätzchen, fürchtest Du Dich auch nicht, auf offener Landstraße zu schlafen?«

»Vor wem sollte ich mich fürchten? Sie sind ja bei mir.«

»Richtig, Schätzchen, keine zehn Schritte weit von Dir; ich lege mich so zwischen die Holsteiner auf die Streu, dass ich durch die offene Tür den Wagen im Auge behalte. Und dann ist auch der Hechsel da, der schläft unter dem Wagen und läßt keine Maus zu Dir heran; also gute Nacht, Schätzchen!«

»Gute Nacht, lieber Vater Braun!«

»Schlafe recht sanft; morgen geht's früh weiter!«

»Schlafen auch Sie recht sanft und succesive.«

Der struppige Kopf, auf welchem nunmehr eine gestrickte blaue Nachtmütze thronte, die rothen Borsten und das runde Laternchen verschwanden aus dem Wagen, aber ein behagliches Lachen vernahm Anna noch, welches die sich nach dem Stalle entfernenden schweren Tritte begleitete.

In der Stalltüre blieb der Kärrner noch einmal stehen. Seine Blicke schweiften prüfend über den hoch gewölbten Wagen und blieben endlich auf dem Monde haften. Der alte Freund mit seinem bleichen Gesicht erschien ihm heute so zutraulich und zufrieden, wie noch nie in seinem Leben. Er betrachtete ihn lange; ob seine Gedanken sich in geordneter Reihenfolge aneinander schlössen, prägte sich in seinen Zügen nicht aus, aber sein Blut kreiste so ruhig, als ob sich bei jedem Pulsschlage etwas von dem Frieden, der in seinem Herzen wohnte, demselben mitgeteilt hätte.

»'s wird sich machen,« murmelte er endlich vor sich hin, »Hechsel, auf Deinen Posten,« fügte er etwas lauter hinzu, und gleich darauf versank seine Hünengestalt in der Dunkelheit des Stalles.

Hechsel riß die gußeiserne Doppelnase mit Gewalt von den gestreiften Magneten los und verfügte sich auf sein gewohntes Lager. Anna unterschied noch deutlich das knisternde Geräusch, welches der Hund im Heu erzeugte, indem er sich einige Male um sich selbst herumdrehte, bevor er sich in das durch diese Bewegung entstandene Nest niederlegte, dann aber senkte sich allmählig der Schlaf auf ihre Augen. Die Tanzmusik und das Jauchzen schallten wohl noch zu ihr herüber, aber es schlich sich in ihre Träume als das Klirren und Rasseln ein, mit welchem sie den befreundeten Frachtwagen auf der ebenen Straße einherrollen sah; auch das dumpfe Getöse, mit welchem die drei Holsteiner den Hafer zermalmten, erreichte ihr Ohr, aber in Form von liebreichen Worten, welche der Kärrner ihr in seiner biederen, treuherzigen Weise zuraunte. Zu drollig sah die alte, ehrliche Haut in ihrem wunderlichen Kopfputz aus, denn statt des steifen Tresorkastens und der blauen Nachtmütze, schmückte ein Kranz von den schönsten Feldblumen sein Haupt, während statt der bequasteten Pfeife eine riesenhafte Sonnenblume von seinem Mundwinkel niederhing, so daß Anna ihm in das Gesicht lachen mußte, gerade, als ob sie noch ein Kind von vier oder fünf Jahren gewesen wäre.

Wie Anna aber von dem Kärrner träumte, so träumte der Kärrner wieder von ihr, nur dass sich ihr eine jugendkräftige Gestalt zugesellte, eine Gestalt, die dem alten Braun schon so namenlos viel Herzeleid bereitet hatte und dennoch mehr, als sein eigenes Leben bedeutete.

Unruhig warf er sich auf seinem harten Lager hin und her. Die Pferde kauten ihren Hafer und bliesen schnaubend die unschmackhaften Strohteilchen zur Seite. Ein dummer Hahn, der sich unverantwortlich in der Zeit verrechnete, krähte; in Milliarden von Tautropfen spiegelte sich der höher steigende Mond. Im Tanzsaal hatte die tolle Laune ihren höchsten Grad erreicht; zwischen dem Stall und dem Frachtwagen vermittelten freundliche Traumgeister.


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