Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.

Ich habe einen sehr oberflächlichen Bekannten, der auf den Tod seines Onkels wartet. Dieser Onkel ist Majoratsherr und mein Freund »sein Erbe«. Die gegenseitigen Gefühle sind klar. Neulich abends bei Kempinsky erhielt er das erlösende Telegramm: Graf Gottern auf Gottern soeben verschieden. Das Telegramm platzte wie eine Bombe mitten in eine soziale Unterhaltung hinein. Ich sehe diesen »Freund« genau vor mir mit seinem hübschen, dummen, schläfrigen Gesichte. Dies Gesicht hatte bis dahin sehr mißmutig in die Zukunft geschaut, wie immer, wenn der polierte Nagel nicht die Jeukarte hielt, aber etwas von den schweren Schatten der großen Gesellschaftsfrage spielte doch auf der tausendfach gefälteten Haut des Halbalbinos. Bei dem Worte »verschieden« zuckte der elektrische Funke im toten Auge – und wich nicht. Das Telegramm ging von Hand zu Hand. Auch das mokanteste Lächeln übersetzte sich bei keinem zur taktlosen Gratulation – wir schwiegen –, aber der Händedruck des Beileids war Glückwunsch genug. Eine Flasche Pommery ist in solchen Fällen Regel. Le roi est mort - vive le roi! Majoratserben haben durchaus Thronfolgergefühle. Aus dem Pommery wurde 295 aber nichts. Mein »Freund« lud uns mit etwas belegter Stimme ein, ein Glas Rotspohn auf den Abgeschiedenen zu leeren. Das war, gut deutsch gesagt, »ruppig«. In diesem notorischen Verschwender erwachte urplötzlich der Geizhals. Wir wollten später abgekühlt das politische Gespräch fortsetzen. Der neugebackene Majoratsherr litt es nicht. »Meine Herren, das ist ja alles leeres Stroh! Die soziale Frage giebt's gar nicht.« Für ihn war die soziale Frage mit dem Majorat erledigt. Das war natürlich unsagbar thöricht. Und ich erwiderte ihm hohnlachend: »Lieber Gottern, Sie sind und bleiben – ein Realpolitiker.« Ich wollte selbstverständlich Schaf sagen. Und es gab auch nicht einen in unsrer Tafelrunde, der dieses »Schaf« nicht herausgehört hätte. Gottern kniff die Ohren an und ging. Er hatte heute keine Lust, sich von mir aufziehen zu lassen – er hatte, was er wollte, und war glücklich.

In diesem Falle bin ich auch ein wenig. Dem Glücklichen sind die großen Fragen klein, unnötig. Er möchte den Frieden – und ich möchte ihn auch. So sitze ich jetzt am liebsten abends allein, Astas Photographie vor mir; die übrige Welt kümmert mich gar nicht.

Sie muß mich aber kümmern.

Heute bei meiner Schwiegermutter. Es war doch ein eigen Gefühl, als ich diesmal die teppichbelegten Treppen emporstieg, nicht überschwellend beglückt, nein, in Beklemmung. Das hat die Händelstraße nun einmal an sich. Madame läßt mich auch keine Sekunde warten.

». . . Graf Carén!« Die Flügelthüren fliegen weit auf.

»Sind gnädige Frau von der Reise wohl zurückgekommen?«

»Ich danke, Graf, sehr wohl.«

296 Dann stockt die Unterhaltung. Mir will das selbstverständliche Wort nicht über die Lippen, und sie lächelt mühsam. Es mag an diesem kalten Rokokosalon liegen, den ich seit Jahresfrist zum erstenmal wieder betrete. Der Kaminspiegel blitzt, das Gold der Möbel glänzt. Es ist eine lackierte Herrlichkeit, die Lüge eines Reichtums, an den ich nicht mehr glaube. Und wir beide allein, stumm, in Fauteuils zurückgelehnt. Kurios, daß wir zwei Gesellschaftsmenschen comme il faut das einfachste Wort nicht finden! Wir schämen uns wohl des Gefühls.

Endlich. »Gnädige Frau erraten wohl . . .«

»Mein lieber Graf . . .«

»Ich komme, gnädige Frau, um die Hand Ihrer Tochter Asta zu bitten . . .«

»Ich weiß, Graf, ich weiß . . .«

»Gnädige Frau, sollten irgend welche Gründe . . .«

»Lieber Graf, nein, nein!« Da steht sie auf. Ein langer Blick auf den Tiergarten, wo das Blättermeer im Herbstwinde wogt, dann sieht sie mich an, etwas unsicher, scheu. »Sie kommen spät, Graf . . .«

»Gnädige Frau, ich verstehe nicht . . .«

»Ach, Sie verstehen sehr gut! Sie hätten vor anderthalb Jahren kommen sollen.«

»Kann sein, gnädige Frau.« Ich erhebe mich auch. Einen wärmeren Empfang hätte ich allerdings erwartet.

Madame winkt hastig. »Ach, Graf, seien Sie doch nicht empfindlich! Ich habe so große Aufregungen hinter mir, ich hatte so wenig Hoffnungen in letzter Zeit, ich muß mich erst an den Gedanken gewöhnen, daß auch mir einmal ein Herzenswunsch in Erfüllung geht. Kommen Sie, geben Sie mir Ihre Hand, mein lieber, lieber Graf Carén! Nicht küssen, wenn 297 ich bitten darf! Ich bin alt geworden in der letzten Zeit, nicht wahr?«

»Ganz und gar nicht!« Aber um die Schläfen sind tausend und tausend Fältchen eingepreßt, um den Mund liegt ein erschlaffter Zug; nur das blaßblaue Auge glänzt. Die charakterlose Linie ist's doch noch.

»Schmeicheln Sie nicht, lieber Graf! Ich bin alt, wirklich alt. Sehen Sie, wenn ich das thun würde, was ich fühle, so würde ich Ihnen um den Hals fallen und sagen: ›Gott sei Dank, daß mein Kind doch noch glücklich wird!‹ Und sehen Sie, ich kann es nicht! Daran merke ich, daß ich alt werde. Wir wollen uns aber wieder setzen und gemütlich plaudern. Ich habe ja mein Kind so lieb und wußte lange, daß nur Sie allein meine Asta glücklich machen könnten. Jetzt wünsche ich auch eigentlich nichts mehr! Ich möchte weiter sprechen, ich könnte Ihnen noch so viel sagen, das ist aber der Fluch aller Menschen, die so lange Komödie spielen mußten, daß ihnen die Wahrheit dann fast wehe thut. Wenn man einen Menschen so liebt wie ich meine Tochter, und wenn man diese Tochter dann glücklich sieht . . . Ich könnte Ihnen sagen, dies Glück sei mir sehr teuer zu stehen gekommen, teurer, als irgend ein Mensch ahnt. Aber das mußte so sein! Und wenn noch mehr nötig ist, so muß es wiederum sein! Es ist eigentlich schon zu viel gesagt. Ich bin nämlich so glücklich in dem Gedanken, daß Sie beide sich gefunden haben, daß ich nicht recht daran zu glauben wage. Ich habe auf Gottes weiter Welt für niemand Interesse als für meine Tochter. Ich würde für sie alles thun, jeden Stein aus ihrem Lebensweg räumen, und ich würde auch nichts bereuen, was ich auch thun würde . . . Asta . . . Ach, wir wollen von etwas anderm sprechen!«

298 Sie ist wirklich erschöpft, obgleich ich das nicht recht verstehe.

»Ja, gnädige Frau, ich muß auch noch zu Ihrem Herrn Gemahl gehen und ihm meine Aufwartung machen.«

»Hat Zeit, lieber Carén. Sie werden sich gegenseitig nicht übermäßig aufregen.« Jetzt ist Madame wieder kühl geworden und sicher, die Unterhaltung fließt. Daß zwischen uns beiden immer nur die leeren Unterhaltungen fließen! Auch der Auftrag des Doppeldoktors fällt mir ein, er war so dringlich.

»Ich habe noch eine andre Sache auf dem Gewissen, gnädige Frau. Sagen Sie, wie steht es mit der Kohlenstaubverbrennungsaffaire? Jetzt, wo ich Ihrer Familie liiert bin, darf ich doch ein gewisses Interesse haben.«

Madame lächelt. »Seit wann, lieber Carén, sind Sie Geschäftsmann geworden? Die Patentgeschichte geht.«

»Nein, gnädige Frau, sie geht nicht!«

»Wieso?« Das sehr gedehnt, während sich die Augen etwas zusammenziehen.

»Gnädige Frau, es ist so viel über diese Patentgeschichte gesprochen worden, daß es mir geradezu zur Pflicht wird . . .«

Madame rückt vorsichtig auf dem Stuhl und schweigt.

»Ich meine das Zusatzpatent, gnädige Frau.«

Darauf sieht sie mich feindlich an. »Mit wem sprachen Sie darüber, Graf?«

»Mit einem, der es weiß.«

»Warum wollen wir uns eigentlich diese Stunde verbittern, lieber Carén?«

»Einmal muß doch davon gesprochen werden, gnädige Frau – und ich bin direkt beauftragt.«

»Vom Doktor Leßmann. Ich höre das heraus. 299 Nun, wenn Sie also wünschen – die Kohlenstaubverbrennung geht nicht. Sie sind zu genau orientiert, wie ich sehe. Das thut übrigens nichts zur Sache. Es handelt sich um eine gewisse Krise. Wir leben überhaupt im Zeitalter der Krisen.«

»Und könnte Ihnen diese Krise nicht gefährlich werden, gnädige Frau?«

»Uns wohl, Ihnen nicht. Aber wozu, wozu das alles, lieber Graf? Kaufleute gewinnen, Kaufleute verlieren, das wird ewig so sein! Und wie mein Mann steht, darüber machen Sie sich, bitte, keine Sorge.«

Mir genügt diese Beruhigung nicht. Es ist der peinliche Moment, vor dem ich mich etwas graute und der doch kommen mußte – das sogenannte Geschäftliche: meine Schulden. Der Wucherer wird etwas drängen. Ich kann diese Schulden dem guten Lasis nicht aufbürden, jetzt, wo ich mit einem reichen Mädchen verlobt bin. Und ich sage auch ganz ehrlich: »Gnädige Frau, ich habe nämlich nicht einen roten Dreier, meine Frau zu ernähren.«

Madame winkt überlegen. »Das ist auch gar nicht nötig. Sie werden sogar weniger als nichts, Sie werden große Schulden haben . . .«

»Rund hunderttausend Mark.«

»Das ist weniger, als ich erwartete. Sie wünschen, daß diese Summe auf der Stelle bezahlt wird?«

»Nein, das gerade nicht, gnädige Frau. Ich bemerke es nur zur Orientierung. Ich muß das sagen! Ich bitte Sie, gnädige Frau, mich nicht für zudringlich zu halten, aber das, was Leute wie Bomulunder offen über die Le Fortschen Geschäftsverhältnisse zu sagen wagen, ist derart, daß ich an die Möglichkeit denken muß, mich selbst durchzubringen.«

»Und wie dächten Sie sich das? Ich frage nur scherzeshalber, selbstverständlich . . .«

300 »Ich kann mich mit meinem Vetter Lasis arrangieren, der vielfacher Millionär ist; ich kann mich dann auf eines seiner böhmischen Güter setzen und warten, bis mein Prozeß entschieden ist.«

Madame verzieht das Gesicht, die Nerven regen sich wieder. »Ach, Ihr Prozeß, Ihr Prozeß! Sprechen Sie mir von allem, nur nicht von diesem Prozeß! Verlieren Sie ihn, gewinnen Sie ihn – das ist mir egal. Aber sprechen Sie mir nicht von ihm, ich flehe sie an! . . . Wir wollen lieber alles andre kühl, geschäftlich durchnehmen! Die Krisis in meines Mannes Geschäft ist da, aber sie wird vorübergehen. Deswegen waren wir ja in England. In diesem Augenblicke kann schon aus Kanada das Telegramm abgehen, daß die Bohrungen auf die Bleierzlager gestoßen sind, die meinen Mann und mich seit Monaten nicht schlafen lassen. Dann könnten Sie sehr unbesorgt sein, mein lieber Schwiegersohn! Eine ähnliche Ueberraschung erwarten wir von afrikanischen Goldminen. Die eine oder die andre kommt! Sie sehen also, das Schiff Le Fort liegt nicht bloß an einer Ankerkette . . . Dann aber kaufen wir uns den Bomulunder, der uns jetzt kaufen möchte. Es handelt sich um diese einzuzahlende Million. Mein Mann wird sie zahlen, und Herr Bomulunder wird sehr zufrieden sein, wenn er selbst in dem Unternehmen bleiben darf. Doch nehmen Sie selbst an, daß alles, alles verloren ist –, für Asta ist so viel festgelegt, daß Sie beide nicht zu hungern brauchen. Seien Sie also ganz ruhig, lieber Carén! . . . Mein Mann erwartet Sie in seinem Zimmer. Was ich noch sagen wollte: Sie bleiben doch im diplomatischen Dienst?«

Das ist wieder ein peinlicher Punkt. Ich habe nämlich den Gedanken, Diplomat zu bleiben, aufgegeben. Ich werde als Botschafter die Welt nicht 301 aus den Angeln heben. und ich möcht's auch nicht mal. Ich möchte viel lieber aufs Land.

Als ich das Madame erkläre, sieht sie mich ungläubig an. »Sie haben den großen Namen, die großen Konnexionen, den Verstand, das Geld. Ja, auch das Geld!«

»Aber ich bin nun einmal der großen Welt müde, gnädige Frau!« Sie versteht nicht, daß ich anders fühlen könnte als früher, aber sie fühlt auch den zähen Widerstand, dem sie sich als kluge Frau beugt.

»Sie denken an ein bestimmtes Gut?«

»Ich möchte wenigstens daran denken. Der Subhastationstermin für mein väterliches Gut ist ausgeschrieben. Man wird den Preis nicht übermäßig treiben. Ich fühle nach all dem Berlin und so weiter eine solche Sehnsucht nach Ruhe, nach wirklicher Sammlung, die man nur auf dem Lande findet! In mir steckt doch noch der Junker. Entweder der Degen oder die eigne Scholle! Ich glaube auch, daß es Asta so am liebsten sein würde. Kennen Sie, gnädige Frau, dies Ruhebedürfnis nicht, diesen Wunsch, mal mit sich selbst allein zu sein?«

Madame schüttelt den Kopf.

»Asta und ich fühlen den Wunsch wohl gleich stark.«

»Sie denken natürlich an ein Majorat, lieber Carén?«

»Daran vorläufig nicht.«

Das klingt Madame etwas ketzerisch. Sie hat ihre aristokratischen Instinkte für Fideikommiß und Selbstherrlichkeit. Aber sie streift mich auch trotzdem nur im leichten Vorwurf. »Sie verscherzen sich allerdings viel mit dieser Idee, und später werden Sie das alles wohl bedauern. Gleichviel . . . das Geld wird da sein. Geld . . . Geld! Es ist 302 eigentlich so thöricht, sich von so etwas an so einem Tage zu unterhalten . . . Und nun wollen wir zu meinem Mann gehen! Oder gehen Sie auch lieber allein. Sprechen Sie nichts vom Geschäft, wenn er nicht von selbst anfängt, er könnte nervös werden . . . Aber von mir lassen Sie sich noch einmal sagen, daß ich Sie immer lieb, sehr lieb gehabt habe, mein lieber Schwiegersohn! Sie lieben mich aus Dankbarkeit dafür gar nicht! Das wird sich geben oder nicht geben. Wenn meine Tochter aber glücklich wird, bin ich mir selbst so gleichgültig! Adieu . . . Ich bin wirklich etwas angegriffen!«

Matt war sie in der That.

Das Nilpferd, mein Schwiegervater, erwartet mich. Ich kenne den Mann nicht, ich will ihn nicht kennen, mir ist er das Nilpferd, und damit holla! Aber der Gang durch die glänzende Zimmerreihe thut mir wiederum wohl. Die Zweifel schwinden angesichts dieser wirklichen Eleganz, dieses soliden Reichtums. Das Millionenparfüm kommt wie eine schwere Woge gezogen, die mich einhüllt, mitreißt, – und den Leuten wollte ich lumpige zweihunderttausend Mark anbieten zum Arrangement? Ich bin beinahe beruhigt über alle Zukunft. Der Empfang bei dem gefürchteten Spekulanten beruhigt mich ganz.

Ich brauche kein Wort zu sagen. Le Fort hält mir beide Pranken hin und preßt sie mir. »Mein lieber Graf, Sie sind mir sehr willkommen. Eine Zigarre?« Aus alter Protzengewohnheit will er nach der Rothschildkiste greifen, besinnt sich aber im Moment. »Nein, die kleine Kapitana . . . Ich weiß, ich weiß . . .« Madame hat ihn gut dressiert.

Dann spricht er selbst vom Geschäft, immer mit der großen, charakteristischen Armbewegung, die gleich ganze Häuserkarrees umfaßt. Er ist auch fraglos 303 ein ganzer Kerl in seinem Fach, etwas Phantast vielleicht, der, immer den Riesencoup vor Augen, den kleinen Stein übersieht, an dem er strauchelt. Aber man kommt gar nicht auf den Gedanken, daß er je straucheln könnte. Goldhungrige muß diese Ruhe, mit der seine Millionen spielen, geradezu fascinieren. Und wo das Bild übertrieben scheinen könnte, da wirkt das knurrende, gebrochene Deutsch wie eine Beruhigung. Den großen Börsensündern fließen die Lügen wohl leichter von den Lippen, der aber will andre gar nicht belügen – er belügt sich höchstens selbst. Wenn er gerade darum einer der gefährlichsten wäre? . . . Ich habe nicht das Gefühl. Wie er so, den schweren Ellbogen auf den Riesenstuhl gestützt, dasitzt, die qualmende Schifferpfeife im Munde, die ganze, schwer kostbare Einrichtung der passende Rahmen zu diesem Bilde – da wirkt er auch auf mich ermutigend. Ich sehe förmlich den Bohrer, wie er in die Bleilager sich einwühlt und prustet und rasselt; ich sehe die riesigen Häuserkomplexe aus dem Boden wachsen; ich sehe die hageren Goldgräbergesichter schweißtriefend über ihren Flußsand gebeugt, die winzigen, blinkenden Körner auswaschend, und den Koloß Le Fort daneben in brutalem Schweigen, wie er eben einen Schacht abteuft, in dessen Goldquarz die hundert und aberhundert Millionen gleißen . . . Kleiner Verdienst, die Arbeiterhände – Unsinn! Es muß immer der große Zug sein, die millionenschwere Idee, wo man, die Fäuste tief in den Taschen, unbeweglich dabeisteht und mitleidslos zusieht, wie sich das halbnackte Gesindel in den Tiefen der Erde im Frondienst des Kapitals aufreibt. Es liegt freilich ein grausamer Zauber in dem Gedanken, diesem Gedanken, der dem Jahrhundert das Gepräge gab. Ich möchte auch so gelassen bei einem großen Werke stehen, 304 denselben großen Egoismus in dem kalten Herzen. Und dennoch würde ich aus dem Sickern der Grubenwasser, aus dem Summen der Maschinen, aus dem dumpfen Laut der Erdhacke, ja, aus dem Ruße dieser fahlen, sonnenentwöhnten Gnomen den einen unheimlichen Laut heraushören – die Zukunftsmusik, die mir alle Freude am Reichtum verbittern würde. Ich tauge zum Verschwenden, nicht zum Reichsein. Ich kenne gar nicht die Freude am Besitz. Und in dem Gedanken freue ich mich, daß Asta diese Freude auch nicht kennt, daß sie sich nach der Heimatscholle sehnt, mit der man verwächst, auf der man stirbt.

Und als ich endlich gehe, wieder mal betäubt von diesem Goldregen, unsicher geworden in meinem Gefühl, da frage ich mich doch: Warum ist diesem großen Spekulanten die lumpige Million nicht flüssig, die Bomulunder tot macht? Ein einziger gekritzelter Namenszug auf einem lappigen Check . . .

Da ist der Alp wieder da und die nervöse Unruhe. Ein Ziel habe ich jetzt, und Sorgen habe ich auch, die mir Ethel wünschte.

*

Unsre Verlobung ist vorläufig heimlich. Es war meine Idee. Als einfacher Nichtsthuergraf auf einem Riesenplakat zu figurieren ist nicht mehr mein Geschmack. Das Familiengut kommt im nächsten Monat zur Subhastation. Graf Carén auf Lasczowo. Da guckt der ruinierte Attaché doch nicht mehr so schamlos heraus. Ich möchte Asta den Verdacht ersparen, sie habe mich des Namens wegen geheiratet, und mir das Achselzucken wegen der Geldehe. In nächster Woche steht mir die Anzahlungssumme zur Verfügung. Madame versprach es bestimmt. Dann mag kommen, was will. Ich dachte keineswegs, die Familie mitzuheiraten, als ich mich mit der 305 Tochter verlobte . . . Ob wir beide, Asta und ich, da draußen ganz glücklich sein werden? Ich glaube es fest.

Meine Sehnsucht ist nun einmal der Osten, die Ebene. Das Schloß war eine alte Ordensballei der Deutschherren, und ein Carén lag mit unter den Ordensrittern, die das Blachfeld von Tannenberg deckten – ein wenig gottseliger Herr, wie die Chronik sagt, aber dem Banner bis zum Tode getreu. Später wurde der deutsche Name der Ordensburg in wilden Zeiten vergessen, ein fremder fand sich bald, aber die deutschen Mauern trotzten wenigstens polnischer Verwüstung. Jetzt ist der Boden wieder deutsch, das heißt der polnische Name blieb . . . Wird bei Asta die Liebe zur kleinen Heimat, die sie nur ahnt, auch unter dem wüsten polnischen Volke dauern? Mir wird sie dauern, das weiß ich, aber sie . . . sie . . . Sie ist im Grunde ein schwerblütiges Geschöpf, und ich bin auch ein schwerblütiger Mensch trotz allen Leichtsinns. Die uferlose Ebene, der lastende Himmel – es ist da draußen alles so schwer, so brütend, selbst wenn die Sonne sengt. Vielleicht, daß sie sich da doch nach den Bergen sehnt, nach dem reinen Licht, nach der leichten Luft, oder nach der Stadt, nach dem Gewühl und dem Tosen, das die Größe birgt und das Gift auch . . . Ich bin kaum verlobt, ich besitze sie endlich, die ich so sehr liebe, und sie liebt mich auch. Aber glücklich sind wir nicht! Wir möchten es sein, der Hauch des Glückes streift uns – und es ist ein kühler Hauch. Haben wir beide noch nicht genug miteinander erlebt, noch nicht genug füreinander geblutet? Wenn das Schwerste noch vor uns läge, das Schicksal, das endlich den Abschluß giebt . . . Ich habe so manchmal das Gefühl. Es ist nicht der Tod, der immer zwischen uns steht – es ist die Mutter . . . Ich habe keinen Grund dazu, nicht den Schatten eines Verdachtes, es ist ein unberechtigter Instinkt, aber er ist. Wenn wir dann ganz allein sein werden, wenn diese hergebrachte Lüge der Brautzeit aufgehört hat und das Gefühl sich nicht mehr vor dem Anstand zu schämen braucht, da wird sie auch warm werden in meinen Armen. Schicksal, ich bin undankbar! Du gabst mir, was ich wollte, und für die ewige Seligkeit möchte ich nichts von dem Geschehenen zurück – aber glücklich bin ich nicht. In der Ehe wird's anders sein. Ich hoffe auf das Kind, ich sehne mich nach ihm. Dann wird sie nicht mehr zittern, wenn ich sie küsse, dann wird sie nicht mehr sagen: »Sei gut! . . . Laß mich . . . Sieh, er hat mich auch geküßt, und wenn du mich küssest, dann muß ich immer an ihn denken. Gieb mir deine Hand, bleib! Ich habe dich ja lieb, wirklich lieb . . .«

Sie lügt niemals, das weiß ich. Aber mir geht's immer wie ein Stich durchs Herz. Wir haben uns beide am liebsten, wenn wir uns nicht sehen . . . Und ich küsse ihr Bild so oft, und sie küßt mein Bild wohl auch. Darum flüchten wir uns zu den Menschen, weil uns allein immer etwas trennt – der Tote sie von mir, die Angst vor dem Kommenden mich von ihr.

In der Oberspreevilla ist jetzt eitel Freude.

»Guten Tag, Frau Gräfin!«

»Aber Ethel . . .«

»Wie befehlen gnädigste Gräfin?«

Es ist eine so liebenswürdige Ironie, eine so reine Freude an dem Glück der Schwester.

Auch Jaromir ist gesprächig, regt sich unnötig auf. »Die sozialen Verhältnisse New Yorks sollen viel ungesunder sein als bei uns, liebe Ethel, die Geldaristokratie mitleidsloser, die Armut elender . . .«

307 »Du sprichst, wie du es verstehst, Fritz! Wir beide werden schon durchkommen. Und was kümmern dich dann die andern?«

»Aber, liebe Ethel . . .«

So streiten sich im Ernst und im Scherz die beiden und streiten sich doch niemals wirklich, weil sie sich wirklich verstehen. Mein Schwager und meine Schwägerin sind so gute, tüchtige Menschen, daß ich mich meiner etwas schäme, und wenn die Majoratsidee auftaucht, dann komme ich mir sogar lächerlich vor mit dieser eingebildeten Vornehmheit. Die werden schon ihr Glück machen. Madame wünscht sich ihrer so bald als möglich zu entledigen, darum hängen sie schon lange aus. Dieser Wunsch ist häßlich, aber er trifft niemand. Höchstens dem Onkel zuckt hie und da ein weher Zug um den Mund; er weiß auch sonst nicht recht, mit welchem von den beiden Brautpaaren er es halten soll. Caréns sind rettungslos Halbe, der absterbende Ast; Jaromirs der grüne, wilde Zweig.

Die ganze Familie ist jetzt oft zusammen, trotzdem will ein Familiengefühl bei uns nicht aufkommen. Es liegt etwas Ungewisses über jeder Unterhaltung . . . Ich möchte, Asta und ich wären auf einer wüsten Insel und ganz allein.

Freitag ist die Jaromir-Hochzeit. Frühstück bei Dressel. Dann reisen die Neuvermählten irgendwo hin.

Heute ist Montag. Mir wird der Tag unvergeßlich bleiben. Wir sind sämtlich in der Oberspreevilla versammelt, das Nilpferd auch, und zwar knurrt es.

Wir bummeln spazieren. Der Herbst neigt sich mit Macht. Es geht diesmal schneller als andre Jahre. Der Tag ist kühl und doch schwül. Das Licht ist grau und doch hart. Die Luft lastet. Wir bummeln nach Stralau zu – eine schweigsame 308 Gesellschaft. Die Landstraße kriecht erst träge durch absterbendes Grün, die Spree blinkt schläfrig dazu. Dann wird's dörfisch, kleine, alte Häuser, ein moderndes Strohdach, sogar ein echtes Storchennest auf einem geschmacklosen Gebäu; weiterhin Gartenrestaurants mit fadem Biergeruch, eine rote Riesenbrauerei. Mörtelwagen klappern, ein karmoisinvergnügter Polizist geht vorüber, zuweilen zuckt der bleifarbene Wasserstreifen des Flusses zwischen alten Bäumen auf, und am jenseitigen Ufer springt ein Fetzen vom Treptower Park hervor, helles Sumpfgras und flatternde, bunte Blätter. Ein Dampfer pfeift hohl. Mit dem weißen Staub der Dorfstraße zieht Modergeruch dahin. Man hört das Rollen von Eisenbahnzügen, die man nicht sieht. Der Onkel will zum Stadtbahnhof hinauf; er liebt den Blick von da über Berlin. Jetzt biegt ein Seitenweg nach rechts. Noch ein paar riesige, uralte Weiden, wie ich sie kaum je sah. Jaromir klopft gewissenhaft mit dem Stock an jede, der Stamm klingt hohl; nun ein Stück Wiese, auf dem sich schmutzige Jungen wälzen; das dürre Gras verdorrt, und der Geruch von Kartoffelkraut zieht durch die Luft, die Eisenbahnarbeiter haben ihre kümmerlichen Gemüsegärten. Unter unserm Schritte wankt der Grund, es ist hier alles Moor. Ueber uns rollt die Stadtbahn. Der Onkel führt, wir trotten nach. Auf dem Perron oben bleiben wir lange.

Es ist wahrlich ein großes Bild. Berlin zieht um uns seine gewaltigen Kreise. Während wir vorhin noch auf einer Dorfstraße zu wandeln glaubten, erkennen wir jetzt, daß wir schon mitten drin waren im Riesennetz. Im Osten, im Westen, im Süden, im Norden – Berlin. Das unlösbare Gewirr der himmelhohen Häuser, weiß und häßlich neu die einen, grau und verwaschen die andern, halbfertiges 309 Mauerwerk dort, eine eingezwängte Kate hier. Und den Horizont entlang überall die schlank aufsteigenden Essen, die Festungswände der Fabriken, spitze Kirchtürme, Erker, Nischen in dem Häuserwall. Eine Wüste, so unregelmäßig und doch wieder so eintönig! Ganz hinten der Koloß des Kaiserschlosses, starr, leblos. Ueber dem allem der mißfarbige Rauch, der gelbe Dunst, der lastende Herbst. Berlin ist wie ein Luftsumpf; was sein Bannkreis zwingt, das läßt er nie mehr frei. Neben uns gleiten unaufhörlich die Stadtbahnzüge, die dritten Klassen überfüllt, Arbeiter und wieder Arbeiter; die zweite Klasse leer, nur zuweilen ein besseres Gesicht. Unter uns rasselt der Fernverkehr – die langen Linien der Durchgangszüge, die schwerfälligen Gütertrains. Es ist Feierabend. Da drückt Berlin mit seinen ausgespieenen Menschenmassen am meisten.

Der Onkel steht unbeweglich, nur seine Nasenflügel zittern. Er liebt dies Berlin und haßt es. Es ist ihm das Leben und der Tod zugleich. Auf einmal fängt er an zu sprechen, abgebrochen zuerst, als wär's ein Monolog für niemand, dann wird die Dichterader flüssig. Und er ist ein Dichter!

Wie ich so gefangen zuhöre, gebannt von seiner Rede und von Berlin, da sehe ich das Riesennest zum erstenmal ganz, leibhaftig. Ich sehe die Menschheit von allen Enden in den Sumpf hineinziehen, gierig, ohne Unterlaß. Ich sehe die Kinder, schmutzig, grauweiß, in den Höfen die verdorbene Luft einatmen; die Augen glänzen trügerisch, die Körper siechen; ich sehe die halberwachsenen Bengels auf den Straßen die billige Weisheit auflesen, ich sehe die Männer in den Fabriken sich abmühen. Ich sehe die Bazillen zahllos in der stagnierenden Dunstatmosphäre wallen, ich sehe sie mit der Spree treiben. Ich sehe die Hängeboden, die Schlafstellen – ich weiß, was 310 die Luft solcher Nächte gebären muß. Aber auch die Größe wird mir klar. Der gewaltige Daseinskampf der zusammengedrängten Menschheit, der neue Gesetze schafft, neue Werte wertet. Ich höre das Hohngeheul der Massen, wenn ihnen von alten Zeiten gesprochen wird, von harter Entsagung, von blinder Setbstverleugnung. Das sind abgebrauchte Münzen für Berlin. Die aufgeklärte Menschheit will andre. Sie will nicht leben, aber sie will genießen. Sie will nicht beherrscht werden, sie will herrschen; sie hat unsre Disciplin gestohlen, sie verlacht unsre Gesetze, sie verseucht unsre Heere, sie verseucht uns selbst. Arbeit und Genuß: das ist die Devise. In diesem Gewimmel kann der einzelne nichts gelten, er muß niedergetreten werden, und keine Thräne netzt ihn. Aber dort unter diesen Massen wird auch die große, uferlose Menschenliebe geboren, die wir nicht verstehen und die sonst nur die Prediger in der Wüste predigten. Ich weiß nicht, ob das alles so kommen muß, ob es Entwicklungsphase ist oder kranker Auswuchs. Vielleicht schafft das sinkende Jahrhundert wirklich das neue, rettende Gesellschaftsgesetz, vielleicht ist es mit seinen Riesenstädten das große Massengrab, in dem sich die Menschheit schneller begräbt, weil sie schneller ausgelebt hat. Und in dem Zittern von Herrn Listers Stimme tönt es wie Angst für die Zukunft dieser Menschheit heraus und auch wieder wie große Liebe für das kranke, große Geschlecht. Ihm, dem Arzt, ist's längst entschieden. In den Riesenstädten siechen die Generationen ruhmlos dahin. Keine Schlacht – nur langsames Sterben! Das macht dem großen Menschenfreunde so viel Qual. Er möchte den Kranken helfen und sieht doch wieder mit machtlosem Grauen die neuen Blutströme nach Berlin hineinfließen, um demselben unerbittlichen Gesetze der Zerstörung zu unterliegen. 311 Wie er das sieht, ist nicht immer klar; ich folge ihm schwer, aber ich fühle das Schrecknis. Das Gespenst der Entartung, das wir vom alten Blut so oft und so unheimlich vor uns aufstehen sehen, das schwebt auch über Berlin. Das alte und das schlechte Blut: beide sind dem Untergang geweiht. Eine nette Zukunftsmusik! Ich verstehe es und will es nicht verstehen; die Entartung eines Geschlechtes – meinetwegen; die Entartung einer ganzen Menschheit – schrecklich!

Wir haben genug von diesem Aussichtspunkt, es treibt uns alle fort. Aber noch auf dem Rückweg grollt das aufgerührte Meer weiter. Herrn Listers Steckenpferd sind ja die Degeneration und die Vererbung. Mir läuft's kalt über den Rücken, wie ich das Gespenst hier wiedersehe, das immer unsichtbar neben uns hockt, dessen Nähe wir zuweilen lähmend in allen Trieben fühlen, so daß wir es mit hohler Stimme fragen: Stammt das von den Eltern, von den Großeltern oder aus noch fernerer Zeit, dieser verbotene Instinkt? Immer kam mir dieser Gedanke geschlichen, wenn ich etwas verbrochen hatte, was ich eigentlich nicht verbrechen wollte; er beugte sich über mein Bett und raunte mir zu: Mein Junge, du kannst ja nichts dafür, das ist Vererbung. Gerade das Nichts-dafür-können, das ist ja das Furchtbare, dies Geknebeltsein an Händen und Füßen, während die Natur ihr Minierwerk an dem Wehrlosen vollendet. Du selbst kannst den Trieb vielleicht noch dämpfen, aber der nach dir kommen wird, der Unglückliche?

Ich fühle, wie Astas Arm in meinem zittert. Sie hört so genau zu. Der Onkel hat dem Mädchen schon immer so schwere Ideen eingeimpft. Diese verfluchte Vererbung jedes schlechten Triebes, die durch Generationen ruht und sich niemals erschöpft! Wer denkt an die Vererbung guter Triebe? Ich muß 312 wieder an das Kind denken, und was ich ihm nach diesem Leben an Kraft vielleicht noch mitgeben kann, und wie viel ich ihm an Schwäche mitgeben muß! Sie, die Reine, hat diesem Kinde so weit mehr mitzugeben – und sie zittert vielleicht auch bei demselben Gedanken.

Es ist gut, daß wir uns beide bald von der Gesellschaft trennen. Aber das Gesprochene wirkt doch noch fort, indem wir durch den herbstlichen Wald schlendern.

»Glaubst du an diese Vererbung, Louis?«

»Ja, mein Schatz! Ich muß daran glauben.«

»Weißt du, ich habe Angst . . .«

»Vor was?«

»Ich weiß nicht.«

Wir sind zwei so schwerblütige Menschen, die sich gefunden haben, daß wir eigentlich gar nicht glücklich werden können.

»Liebe Asta, wir wollen bald heiraten. Wir wollen fort. Dir ist Berlin auch nicht gut, die Oberspreevilla erst recht nicht. Dein Onkel ist alt, und wir sind jung.«

»Ach ja, wir sind jung! Küsse mich!«

Und ich küsse sie.

Heute ist der Herbst nicht befreiend, sondern er lastet schwer auf uns. Es liegt eben noch etwas in der Luft – nicht ein reinigendes Gewitter, sondern etwas Unheimliches, Verschwiegenes. Ich bin wahrhaftig wie ein altes Weib mit dieser Angst um die Zukunft!

Am Abend waren wir bei den Schwiegereltern. Es war ein exquisit einfaches Souper, auch lustig. Madame kaschierte ihre Gefühle für Ethel sehr gut und wurde auch uns mit ihrer Mutterliebe nicht lästig. Hinterher war ich mit den Alten noch einen Moment allein. Von Geld wurde nicht geredet, 313 obgleich der Subhastationstermin in weniger als vierzehn Tagen stattfindet. Ich werde das Geld haben. Madame setzt es durch, und wenn dafür irgend ein Gleichgültiger über die Klinge springen müßte. Weiß der Teufel, was aus der glatten, charakterlosen Linie ihres Gesichtes in den letzten Wochen geworden ist! Das Gesicht wird furchtbar alt.

Ob dieses Tagebuch je zu Ende geschrieben werden wird? Ich will mir Mühe geben.

Heute die Hochzeit der Amerikaner. Trauung in der Kaiser Friedrich-Gedächtniskirche, zugegen die Familie, die Zeugen Doktor Leßmann und ich. Der Prediger eilig, die Kirche leer. Der Tiergarten schüttelt die letzten bunten Blätter – es ist eben Herbst.

Zum Frühstück bei Hiller sind wir ganz unter uns. Ein vorzügliches Frühstück! Aber wem schmeckt's? Wir geben uns nicht mal Mühe. heiter zu sein, keiner thut's. Le Fort sagt kaum ein Wort, nur die roten Nackenfalten zittern unaufhörlich. Wenn der Kellner unter der Portiere durchschlüpft, sieht sich mein Schwiegervater jedesmal argwöhnisch um. Es ist der Blick eines Menschen, der auf alles gefaßt ist. Er erwartet noch ein Telegramm . . .

Das Telegramm kommt. Le Fort öffnet's langsam, die Hände wollen nicht recht. Dann knifft er es wieder sorgfältig zusammen. Er und sie sehen sich an. Kein Wort, nur Madame lächelt öde. Darauf nimmt Herr Le Fort seinen Sektbecher, leert ihn langsam. Ein Tropfen ist drin geblieben, darum setzt er noch einmal an. Er hat so gar keinen Sinn, dieser letzte, fade Tropfen! . . . Herr Le Fort beginnt jetzt zu reden – ein unglaubliches Deutsch, wie ich es von diesem sehr versierten Internationalen niemals hörte. Er möchte uns lustig haben . . . gelingt aber nicht. Es ist das traurigste 314 Hochzeitsmahl, von dem ich je hörte. Jeder ist mit seinen Gedanken wo anders. Die Kellner gehen ohn' Unterlaß. Sanft klirrendes, echtes Porzellan, der nachzitternde Krystallklang der feinen Gläser. Dazwischen ein gleichgültiges Wort, dessen man sich in der bangen Stille fast schämt. Zum Braten giebt's sogar einen Toast. Herr Le Fort hält ihn. Ein wundervoller Toast!

Im Eingang des Lokals sitzt Testorff. Wir nicken uns durch die zurückgeschlagene Portiere zu, und die hinkende Baronin orientiert sich darauf genau über unsre Gesellschaft und starrt die Mädels mit feindlicher Reserve an. Beim Eis kommt der Oberkellner und flüstert sein wohlerzogenes: »Fräulein Asta Le Fort? Jemand wünscht gnädiges Fräulein am Telephon zu sprechen.« Asta wird blaß.

»Wohl ein Rendezvous . . .« scherze ich.

Madame, die das letzte Wort auffängt, erklärt ruhig: »Es wird wegen meines Bruders sein. Er fühlte sich in den letzten Tagen nicht ganz wohl. Sie wissen ja selbst, lieber Carén . . .«

Ich wußte das allerdings, hatte es aber längst wieder vergessen. »Schlimm?« frage ich.

»Nein, nein!« beruhigt Madame. »Bei Leuten mit Herzgeschichten sieht's nur so aus . . . Asta ängstigt sich wieder mal unnötig.«

Der Bräutigam sieht mich darauf an, als wenn er sagen wollte: Ist so was überhaupt ein Hochzeitsfrühstück?

Nach zwei Minuten kommt Asta vom Telephon zurück, hastig, noch blasser. »Ich muß gleich fort. Verzeih, arme, kleine Ethel! . . . Ihr fahrt um sechs Uhr von der Friedrichstraße? Wenn ich nicht hierher zurückkommen kann, bin ich jedenfalls zum Zuge da.« Wie der Kellner Asta den Mantel umgiebt, streift sie in nervöser Bewegung ein 315 halbgeleertes Burgunderglas. Das Glas schwankt, fällt, zerbricht mit stumpfem Klange auf dem Teppich, der weiße Damast der Tischdecke saugt die rote Flut gierig ein; es sieht aus wie ein großer Blutfleck. Der Kellner bückt sich, die Scherben aufzulesen, ich bücke mich auch nach einer. Dabei ritzt die scharfe Glaskante mir den Finger – ein lächerlicher Ritz, aus dem ein winziger Tropfen echten Blutes sickert. Madame beißt die Zähne zusammen und zittert. »Thun Sie den Finger weg, Graf, ich kann's nicht sehen!«

Jetzt erst merke ich, wie furchtbar nervös Madame ist – der ganze Körper bebt. Herr Le Fort lächelt. Um einen Blutstropfen dieses Zittern – es ist wahrhaft komisch.

»Wollen wir nicht etwas früher gehen, Fritz?«

»Ja, wenn du willst, wenn alle wollen . . .«

»Ach ja, wir wollen alle gehen!« pflichtet die Gnädige bei.

»Was ist Ihnen, gnädige Frau?« frage ich. Die glatte Linie schien mir nie so krank.

»Nichts, gar nichts, lieber Carén . . . Ich möchte noch eine Stunde ruhen . . . Ja, ruhen . . .«

Mein Schwiegervater wirft die blauen Lappen auf den Tisch, ohne überhaupt hinzusehen. »Well, well!« Der Kellner verbeugt sich tief. Das Trinkgeld war fürstlich. Draußen pfeift der Piccolo nach einer Droschke. Wir wollen uns alle noch an der Bahn treffen, unbedingt treffen. Ich aber bin überzeugt, daß die Eltern nicht kommen werden.

Das Brautpaar und ich stehen fast unschlüssig auf der Straße. Es ist ein klarer, heller Oktobertag. Ethel sieht mich wehmütig-schalkhaft an. »So heiratet man bei Le Forts!«

Jaromir räuspert sich. »Sollten wir nicht noch einen Tag bleiben, Ethel? Bei euch zu Hause ist 316 doch was vorgefallen, oder es fällt noch was vor. Das merkt jedes Kind!«

Doch Ethel schüttelt entschlossen den Kopf. »Nein, wir fahren! Und wenn uns niemand das Geleit giebt, wir fahren doch! . . . Geh ein paar Schritte voraus, ich habe Carén noch etwas zu sagen.« Als Jaromir aus der Hörweite ist, nimmt sie meinen Arm. »Haben Sie Asta wirklich lieb?«

»Aber, liebe Ethel . . .«

»Sehen Sie mich doch mal an! . . . Ja, Sie haben sie lieb, das sehe ich, und Sie müssen sie auch lieb haben, sehr lieb!«

»Hegen Sie irgend eine Befürchtung?«

»Ja. Ich habe meine Eltern noch nie so gesehen, meine Mutter ganz gewiß nicht! Seien wir also auf das Schlimmste gefaßt.«

»Das wäre?«

»Die Armut.«

»Die schreckt mich weniger.«

»Das ist gut. Uns schreckt sie ja schon lange nicht mehr . . . Wollen wir nicht noch einmal zum Abgewöhnen etwas durch die Straßen bummeln? Der Abschied von Berlin wird mir doch schwer, wenn ich es auch nicht wahr haben will.«

Und wir bummeln. Berlin hat wieder das starre, gewaltige Gesicht, das einen doch schrecken kann. Als wir nach dem Bahnhof gehen, hält mir vor der Pepiniere ein Blumenmädchen seinen Rosenkorb entgegen. »Herr Graf – eine Rose!« Es ist das Mädchen, das uns nach der Le Fortschen Gesellschaft Unter den Linden anbettelte. Ich habe sie seitdem oft gesehen, das Geschäft geht gut. Ich zögere einen Moment. Eine Rose von der da, meiner Schwägerin zum Abschiede? . . . Dann wähle ich doch zwei blutrote Knospen.

317 »Einen Gruß von Berlin, vom echten Berlin, Frau von Jaromir!«

Ethel zieht langsam den Wohlgeruch ein. »Ein blutiger Gruß, wenn Sie wollen . . .«

Dann steigen wir die Treppen zum Fernperron empor. Dort beginnt schon das internationale Gewimmel – die Kurierzüge dröhnen. Der Kölner Durchgangszug wird gerade aufgezogen. Jaromir sieht nach der Uhr und sagt finster: »Noch ist niemand da; es dürfte auch wohl niemand kommen.«

»Asta kommt unbedingt!« erklärt Ethel eifrig.

Wir warten. Der Minutenzeiger an der elektrischen Uhr springt so unheimlich schnell.

»Zurücktreten!« Die Bahnbeamten laufen den Bahnsteig ab. Da späht Ethel noch einmal scharf nach der Eingangstreppe, wo sich Verspätete an dem Billetknipser vorbeidrängen. Astas hohe Gestalt ragt aber nirgends über dem Volke. Sie hätte doch kommen können! Ein fremder Mann, der einzige bei solchem Abschied, – das ist nicht hübsch.

Jaromir fragt noch einmal zögernd: »Wenn wir doch blieben, Ethel?«

Die junge Frau wirft einen letzten scharfen Blick zurück nach dem Eingang. Niemand kommt. Eine helle Röte steigt ihr den Nacken herauf. »Wir fahren, Fritz! . . . Daß die andern nicht da sind, meinetwegen . . . es wäre ja doch nur eine Farce. Aber meine Schwester . . . Freiwillig war sie nicht unpünktlich, das weiß ich. Es könnte mit dem Onkel schlecht stehen . . . Dennoch . . .«

»Die Herrschaften einsteigen!« mahnt der Schaffner. Die Coupéthür klappt.

Ethel lehnt sich aus dem Fenster, meine roten Rosen in der Hand.

»Leben Sie wohl, leben Sie wohl!« Eine große Thräne tritt ihr ins blaue Auge. Jaromir steht 318 hinter seiner Frau – auch sein Auge glänzt feucht. »Grüßen Sie mir auch den Stammtisch! Ich habe mich von den Herren nicht verabschieden können.«

Die Wagenfedern beginnen zu schwanken, der Zug dampft langsam aus der Halle. »Viel Glück, viel Glück!« Noch ein grauer Reisehut, ein hastig wehendes Taschentuch, ganz zuletzt sehe ich noch einmal scharf die roten Rosen.

Ob wir uns je wiedersehen? In vierzehn Tagen müssen sie ja noch mal Berlin passieren. Wozu eigentlich der wehmütige Abschied, wenn man sich so bald wiedersieht? – Ich sehe sie doch nicht wieder . . .

Ich wandle noch eine Viertelstunde nachdenklich den Perron auf und ab. Es ist gerade eine Pause im Fernverkehr. Dann will ich auch gehen, es kommt ja keiner mehr. Auf der Treppe ruft mir der Stationsvorsteher nach: »Sind Sie vielleicht der Herr Graf Carén?«

»Ja, warum?«

»Es ist ein dringendes Telegramm für Sie hier.«

Ich reiße den Wisch auf. Es ist eine Depesche von meiner Schwiegermutter: »Mit meinem Bruder geht es einigermaßen. Kommen Sie aber nicht etwa nach der Villa. Ihr Besuch könnte ihn aufregen.

Claire.«

Wozu eigentlich dieses Telegramm? Ich bin doch wahrhaftig nicht aufdringlich! Das sind die kleinen Taktlosigkeiten, über die man sich mehr ärgert als über die großen. Es ist übrigens ein angebrochener Tag . . . ich könnte an den Stammtisch gehen und die Grüße ausrichten. Vielleicht sind auch die Kohlenstaubbrenner da, und ich erfahre, wie es mit Le Fort steht.

Solch einen Hochzeitstag hätte ich nicht für möglich gehalten.

319 Das Bierlokal ist mäßig bevölkert; nur in der Nische des Stammtisches drängen sie sich. Die Boxer, die Kohlenstaubbrenner, die verabschiedeten alten Militärs, innig gemischt. Es wird erregt verhandelt. Als ich näherkomme, stockt das Gespräch. Auf einzelnen Gesichtern scheint mir eine gewisse angstvolle Feierlichkeit zu ruhen.

»Meine Herren, ich habe Ihnen Grüße von Herrn von Jaromir zu bringen, der soeben mit seiner jungen Frau abgereist ist.«

»Danke sehr – danke sehr – äußerst liebenswürdig.« Aber kein etwas leichtfertiger Witz, wie's in solchen Fällen üblich, sondern sofort wieder Schweigen. Dies Schweigen bedrückt mich.

»Was haben Sie eigentlich, meine Herren? In der großen Politik was passiert?«

Die Boxer lächeln diskret, die Kohlenstaubbrenner zucken die Achseln. Der Doppeldoktor, der, die Hand am Glashenkel, dasitzt, sagt, ohne aufzusehen, tonlos: »Wir erwarten Herrn Bomulunder.«

»Und wenn er nun nicht kommt?«

»Verlassen Sie sich drauf, Graf, – er kommt!«

Auf eine Erklärung läßt sich niemand ein. Die Kohlenstaubbrenner stieren in ihre Rauchringe, einige verzagt, andre trotzig. An den Nischenpfosten steht der aufgeblasene Wirt in der weißen Weste und nickt feierlich. Diese Nische in ihrer schweren Ruhe wirkt geradezu lähmend. Zuweilen hebt einer sein Bierglas. »Prosit!« – »Prosit!« Aber das fade Getränk rutscht heute keinem vom Geschäft. Nur der Hannoveraner lächelt auf einmal pfiffig und sucht nach seinem »Zehntausendmarkschirm«. »Vor jeder Geldanlage besehe ich mir diesen . . .«

»Seien Sie ruhig!« knurrt der Doppeldoktor. »Zu albernen Späßen sind wir heute nicht hier.«

»Na, lieber Leßmann . . .«

320 »Soll ich's Ihnen noch deutlicher sagen?«

Der hagere Kaufmann mit den Balletterfahrungen zieht die Uhr: »Wann wollte doch Bomulunder kommen?«

»Wenn er da ist!«

Es scheint, die vom Geschäft sitzen alle auf einem Vulkane, der ihnen die Füße heiß macht und nervös. Mir werden die Füße auch heiß und nervös, und eigentlich bin ich doch an der Kohlenstaubverbrennung gar nicht beteiligt.

»Wie ist 's Wetter draußen, Graf?«

»Schön!«

»Davon merkt man hier drin allerdings nichts.« Der Chor wiederholt die letzten Worte murmelnd. Jetzt sieht der Doppeldoktor nach der Uhr: »In fünf Minuten werden wir um eine Erfahrung reicher sein – oder auch nicht, Graf Carén.«

»In fünf Minuten? Wissen Sie das so genau?« fragen belegte Stimmen.

»Ja, meine Herren, in fünf Minuten; ich sprach doch deutlich genug!«

Kopfschüttelndes Schweigen. Mir ist, als wenn sich all die Leute immer ansehen und doch nicht sehen könnten. Als wenn dieser Schnapsbaron Tod und Leben mit seinem Kommen in der Hand hielte, so schwer kommt jede Minute, so schwer fließt sie. Der alte Major mit seinem Zigarrenspitzenwahnsinn sucht den Kneiptisch ab, ein stumpfes, graubärtiges Gesicht, das in seiner blöden Manie nichts von der schweren Entscheidung wittert, die allen in der Luft liegt. Der alte Kerl ist mir gräßlich . . . Wenn doch das Gespenst, der Bomulunder, erst käme!

Und er kommt!

Ich sitze mit dem Rücken dem Nischeneingang zu. Ich sehe Herrn Bomulunder nicht, ich sehe nur die andern. Jetzt steht er hinter mir. Der 321 Lackschuh knarrt, die aufdringliche Neuheit duftet. Es ist ein Augenblick von einer Schwüle, einer Last! . . . Ich möchte in den Gesichtern der andern das Le Fortsche Schicksal, mein eignes Schicksal lesen. Aber diese Gesichter mit dem schielenden, trotzigen, ängstlichen, dummen Ausdruck verschwimmen, nur der alte Kerl mit seinem Stumpfsinn, wie er murmelnd nach Zigarrenspitzen sucht, hebt sich scharf wie eine Silhouette aus dem Kneipendunst.

»Kellner, ich will ein Chateaubriand mit pommes frites, englisch, nicht zu scharf gebratenes Zeug!« Es ist mir wie eine Erlösung, daß Bomulunder endlich ein Wort sagt mit der näselnden Stimme eines Pseudo-Elegants.

Auch die Kohlenstaubbrenner erwachen mählich aus ihrer Erstarrung. »Na, wie stehen die Sachen, Bomulunder?« Die »Rs« rollen dem Doppeldoktor voller als je von den Lippen.

»Wie befahlen Sie, Herr Doktor Leßmann?« Der Spinathusar ist ganz Form, ganz Sicherheit.

»Na, wie es mit Le Fort geht? Lesen Sie es nur laut vor, was Ihnen auf dem Gesicht geschrieben steht, Sie Gemütsathlet, Sie!« Der Doppeldoktor sagt's fast brutal.

»Wie's Herrn Le Fort geht?« Ich sehe das Achselzucken des Schnapsbarons nicht, ich fühle es. »Herr Le Fort ist pleite.«

»Pleite?« Der ganze Tisch giebt dies Echo von dumpfem, heißem Klang zurück.

»Ja, pleite!« wiederholt Bomulunder ruhig, aber mit Genuß.

Die Kohlenstaubbrenner möchten sich am liebsten auf den Unglücksboten stürzen, ihn mit den Fäusten bearbeiten, vielleicht auch mit dem Absatz, aber wir sind im Grunde alle keine antiken Charaktere an diesem Stammtisch.

322 »Der Schuft!«

»Hund . . .«

»Das war ja von Anfang an klar.«

»Natürlich, diese Engländer – Obergauner!«

Die Woge der Empörung brandet mächtig auf, zerschellt matt. Zum Schimpfen langt's und zum Knurren, aber weiter nicht.

Ich sehe mich halb nach dem Schnapsbaron um. Er hebt gerade die mißvergnügte Nase schnüffelnd, als wenn er mich erst jetzt witterte. »Verzeihung – Bomulunder.«

»Graf Carén.«

Das ist so unsre Art von Feindschaft. Ich erhebe mich sehr gelassen; in dieser Gesellschaft bin ich wirklich überflüssig. Den Kerl, den Bomulunder, traf nicht einmal mehr mein Blick; die Hand könnte mir locker werden oder die Zunge spitz. Ich möchte das nicht . . . Als ich vor dem Spiegel am Büffett den Ueberzieher anziehe, so umständlich, als interessierte mich nur der Toilettenkram, muß ich über mich selbst lächeln. Der Johanniter baumelt mir noch zum Halse 'raus, ich legte ihn Jaromir zu Ehren an; einer von dem halben Dutzend Frühstücksorden, die ich ohne mein Zuthun, bloß für mein dressiertes Gesicht erhielt, verheddert sich in dem seidenen Futter. In dem Lokal, an dem Tage der Trödel! Ich hatte wahrhaftig die Maskerade in den Tod vergessen, und der Spiegel muß mich erst darüber aufklären, daß ich noch aller Welt der Narr bin, der ich nicht mehr bin.

»Viel Vergnügen, Herr Graf!«

»Danke, gleichfalls viel Vergnügen.«

Ich schlendere hinaus. Wohin, weiß ich wirklich nicht. Unter der Stadtbahnüberführung sehe ich mir die bunten Reklamebilder an, da schiebt sich ein Arm unter den meinen. »Wir wollen zu 323 Le Fort gehen, Herr Graf!« Es ist der Doppeldoktor.

»Muß das gleich sein?«

»Ja, gleich! Ich kann die Kerls da drinnen nicht mehr ertragen, eine gemeine Luft!«

»In der Händelstraße wird sie noch stickiger sein.«

»Und wenn . . . Wissen Sie, ich habe an den Mann wirklich geglaubt . . . Nun ist er doch futsch! Da möchte ich ihm wenigstens beruhigend auf die Schulter klopfen und sagen: ›Alter Herr, Kopf hoch! Sie werden schon wieder auf die Beine kommen . . . Ich liege ja auch bis über die Ohren drin, durch die Canaille von Bomulunder.‹«

Ich bin bereit. Ich möchte aber gern die Friedrichstraße lang gehen, die Linden 'rauf und durch den Tiergarten. Das ist so eine Stimmung, wo man Menschen sucht, gleichgültige Menschen und Flitter, durchsichtigen Flitter. Doch der Doppelte liebt große Menschenströme nicht, so wenig wie bekannte Verkehrsstraßen; er sieht dann immer die Gespenster der Manichäer, die den Offenbarungseid heischen, und die Gestalten von Bekannten, die durch rollende »Rs« nicht mehr einzuschüchtern sind. Im aufgeklappten Taxameter geht darum die träge Fahrt.

In der Händelstraße ahnt noch niemand etwas. Der Portier lehnt an dem Gitter des Vorgartens und döst. Der Doppeldoktor klopft ihm kräftig aus die Schulter. »Herr Le Fort zu Hause?«

»Herr Jott, wie ick mir aber erschrocken habe! . . . Ach, Sie sind's, Herr Doktor? Ick halte heute alle Leute für Telejraphenboten. Seit heute morjen ein ewijes Jeküngle. Wat doch so an enen enzijen Menschen telejraphiert wird! Denken Sie doch mal, alleene det Jeld, wat det kostet, alles von England direkt . . . Det muß doch een kolossal reicher Herr sind, der Herr Le Fort! Zu Hause ist er übrijens. 324 Ihnen wird er schon annehmen, Herr Jraf, aber Ihnen, Herr Doktor . . . Der Schwarze von oben meint, der Olle hätte 'ne Pike uf Ihnen . . . Die Damens, Herr Jraf, sind aber nich zu Hause. Erst is Fräulein Asta weg, Droschke; denn die Jnädige, ooch Droschke. Et soll mit den ollen Doktor in Treptow nich zum besten sind.«

Wie der Mann so gemütlich Berlinerisch redet, bekomme ich fast wieder Hoffnung. Auch das vornehme Treppenhaus mit seinem summenden Gaslicht und seinen verschwiegenen Plüschläufern hat nicht das verwüstete Bankerottgesicht. Wenn sich Bomulunder doch getäuscht hätte.

Der Doppeldoktor, der meine Gedanken zu erraten scheint, zuckt die Achseln. Der täuscht sich ganz gewiß nicht!

Die Glocke schrillt. Der wahrscheinlich angewiesene Diener erkundigt sich noch einmal, wen er melden dürfe. Nach einer ziemlichen Pause kommt er etwas betreten zurück. »Herr Le Fort lassen den Herrn Grafen bitten, – der Herr Doktor Leßmann möchte die Güte haben, morgen wiederzukommen.«

Der Doppeldoktor pfeift durch die Zähne. »Das sieht dem guten Mann allerdings ähnlich. Hübsch ist's nicht gerade . . . aber ich nehm's ihm auch nicht besonders krumm. Zwei Leute, die Beileid jammern kommen, sind immer etwas lästig, einer genügt, zumal, wenn es ein Graf ist. Sehen Sie niemals trübe in die Zukunft, Herr Graf! Wenn Standesunterschiede selbst solche Krisen bestehen . . . Und mit meinem Beileid bin ich doch eigentlich noch nobler als Sie, der Sie ja nichts verloren haben . . . Sieht man Sie wohl noch mal im Leben?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

»Na, dann lassen Sie es sich gut gehen! Auf 325 einer Treppe sich fürs Leben zu trennen – es liegt doch was drin.« Und er steigt, die Fäuste in den Ueberziehertaschen vergraben, die Stufen hinab, ohne sich noch einmal umzusehen.

Nun zu Herrn Le Fort!

Herr Le Fort sitzt an seinem Riesenschreibtisch, die Schiebfächer sind geöffnet, Papierberge türmen sich auf dem grünen Tuch, ein einziges Licht flackert daneben. Er sieht sich bloß mit einer halben Kopfwendung nach mir um. »Darf ich sitzen bleiben, Herr Graf?«

»Aber selbstverständlich!«

»Haben Sie einen dringenden Wunsch?« Er nimmt nicht einmal die dampfende Schifferpfeife aus den Zähnen.

»Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Ihnen ginge . . . Die Herrschaften sind so früh aufgebrochen.«

»Danke. Es ist ja noch alles da.«

»Ich komme auch . . .«

»Ach so! . . . hm . . . Wollen wir nicht gleich deutsch sprechen! . . . Sie kommen, um mir auf Umwegen zu sagen, daß Sie auf die Ehre verzichten, mein Schwiegersohn zu werden.«

»Herr Le Fort? . . . ich weiß zwar alles . . .«

»Das sehe ich . . . Was haben Sie sonst auf dem Gewissen?«

»Ich komme, Ihnen zu sagen, daß es mir herzlich leid thut und daß, so Gott es will, das Unglück an unsern Beziehungen nichts ändert.«

»Hm . . . ich bin aber thatsächlich bankerott – hm . . . Ich verstehe Sie nicht, ich verstehe Sie wahrhaftig nicht . . . Ist's Ihnen wirklich Ernst mit dem, was Sie sagen? Ein Graf, der nichts hat, und eine Frau dazu, die nichts hat: das ist ein schlechtes Rechenexempel. Wie Sie es auch anfassen, es kommt immer Minus heraus . . . Ist übrigens Ihre Sache, 326 Familienangelegenheiten . . . mische mich grundsätzlich nicht 'rein. Was heißt überhaupt Familie? Ich habe wohl nicht das richtige Verständnis dafür. Die Ethel heiratet einen Habenichts – Passion. Sie machen es nicht besser, Graf. Sie verstehen nichts von Geld, auch nicht von Arbeit. Sie haben nie das Gefühl gekannt, mit knurrendem Magen aufzustehen, mit knurrendem Magen zu Bett zu gehen, aber dabei zu arbeiten, scharf zu arbeiten, wochen- und monatelang. Versuchen Sie das erst mal, und dann kommen Sie wieder . . . Das Hungern führt nämlich zu nichts . . . Ich war freilich nicht immer so dick, aber mager war ich auch nicht. Wenn ich jemand mit einer Idee kam, sah er mich immer erst mißtrauisch an. Darauf sagte er sich meistens: ›Die Ideen scheinen bei dem ja gut anzuschlagen.‹ . . . Bei Ihnen ist es mir sehr fraglich, ob Sie diese Zeit so durchhalten könnten. Bei mir ist's übrigens mit dem Hunger auch lange her, werde es wieder lernen oder auch nicht lernen . . . Ich habe für Sie kein besonderes Interesse, Herr Graf, aber es war nett, daß Sie kamen. Darum geben Sie die Sache auf! Zu zweien hungert's sich noch schlechter.«

Ich schüttle als Antwort nur ganz leicht den Kopf. Dem Mann werde ich doch nie klar machen, daß ich mit der Frau, die ich liebe, auch hungern kann.

Herr Le Fort qualmt weiter. »Jeder schläft, wie er sich bettet. Wollen Sie sich mal ansehen, wie ich schlafen könnte und wie ich schlafen werde?« Dabei wühlt er zwischen den Papieren. »Alles große Geschäfte, aber man muß Glück haben. Die Idee und das Glück! Jedes weitere Wort ist Unsinn . . . Die in ihrer Gründerperiode rechtzeitig verkauften, sind jetzt schwer reich, die andern, die noch klüger sein wollten, haben die schön gestochenen 327 Aktien jetzt als Andenken. Glück . . . Glück! Die andern hätten ebensogut das Glück haben können . . . Früher hatte ich das Glück unmäßig, und die Ideen waren nicht halb so gut; jetzt habe ich gar keins, aber die Ideen sind besser. Es war eine Dummheit mit der Kohlenstaubverbrennung. Die Sache sah nach viel aus und ging vom ersten Augenblick an nicht; hätte die paar Hunderttausend schießen lassen sollen, hätte mir gar nichts geschadet! Alte Erfahrung – Geschäfte, die nicht gleich ziehen: weg damit! Hätte die andern 'reinfallen lassen sollen . . . Nach der ersten Pleite werden solche Sachen erst recht gut. Hätte gewonnenes Spiel gehabt, jetzt hat's der Bomulunder . . . Man hat eben seinen Ehrgeiz, Herr Graf! Was man anfaßt, muß Gold werden. Und wir, die wir in London und Paris unsre Coups machten, wir müssen's ja natürlich besser wissen, wie's gemacht wird, als ihr hier in Berlin! Dabei seid ihr genau ebenso schlau . . . Ich habe mich eben vertaxiert, namentlich in dem Bomulunder. Ganz heller Kopf! Wußte, daß ich gerade 'n bißchen viel im Gange hatte, alles große Sachen, bei denen man steinreich werden kann und auch bettelarm, je nachdem. Das sind nun einmal meine Geschäfte. Das andre, die kleinen Sachen, das lohnt sich ja gar nicht! Was war die Kohlenstaubverbrennung für mich? Bagatelle! Und gerade über diese Bagatelle bin ich gestürzt . . . Der Bomulunder wartete ganz ruhig ab, bis ich an der Börse etwas kurz wurde – hätte es genau ebenso gemacht –, dann zog er mir die Krawatte zu. Vor einem Jahr hätte ich die Million mit Leichtigkeit einzahlen können . . . wollte nicht – in so ein Lumpengeschäft! Diesmal mußte ich und wollte ich – und konnte nicht, da kam er nämlich erst mit seinem Zusatzpatent. Entweder zahl, oder 'raus! Jetzt bin ich draußen, ganz 328 draußen. Es ist eben dies Jahr nichts gegangen. Bei den Bergwerken die Schachte versoffen, oder die Aktionäre bissen nicht an. In der Differenz ganz verrechnet. Solche Schläge hält der Teufel aus! Sehen Sie hier . . .« Er zieht einige Papiere aus dem Berg und hält sie mir hin.

Ich verstehe von Finanzfragen nichts, aber bei den Summen, die in Frage kommen, schwindelt mir allein schon. Ueberall der große Zug, der gewaltige Vorstoß. Alles oder nichts! . . . Es gehören Nerven wie Taue dazu, um solche Aufregungen dauernd zu ertragen. Selbst das Gewinnen würde mich wie ein elektrischer Schlag berühren. Und nun gar erst das Verlieren . . . Herr Le Fort muß in der That vorzügliche Nerven besitzen. Jetzt, wo alles vorüber ist, kann ich den Koloß fast bewundern. Kein Stöhnen, keine Verwünschung, nur die kalte Ruhe des großen Geschäftsmannes. Wie er sein Schicksal trägt – es liegt was drin! Freilich, er denkt auch nur an sich und mit keiner Silbe an die andern, die er mit in den Schlund riß. Denn, was da mit ihm zusammenkracht, mit Wechseln, Darlehensscheinen, unerfüllbaren Verpflichtungen sitzen sie bis an den Schopf drin, die Schakale der Kohlenstaubverbrennung. Sie hatten alle wenig oder nichts, sie sollten ja auch nur Leben in die Bude bringen, und dabei stecken sie überall drin – bei den Bergwerken, den Differenzen, den Häuserspekulationen, in all den großen Le Fortschen Unternehmungen, die ihnen wenigstens den Fetzen gebracht hätten, während das Millionenraubtier die blutigen Riesenstücke verschlang. Jetzt verschlingt der große Krach sie genau so mit, wie er ihn verschlingt.

Mein Schwiegervater gönnt ihnen auch nicht ein Quentchen Mitleid. »Sie wollten durchaus gewinnen und begriffen nicht, daß man dabei auch 329 durchaus verlieren kann. Den Mund gestopft habe ich ihnen wahrhaftig! Darüber kann wohl keiner klagen. Noch die letzten hunderttausend Mark – es war nicht mal nötig! Die Leute wollten eben reich werden. Und beim Essen kam ihnen der Appetit immer mehr . . . Die Narren! So was gebraucht man und schmeißt's weg. Und wenn sie sich vielleicht einbilden, sie hätten auch nur einen Augenblick eine Ahnung von dem wirklichen Geschäft gehabt? Mir lag es doch wohl am Stimmungmachen, an den Kapitalisten, die sie mir verschaffen sollten und nachher nicht verschafften. Zum Beispiel der Doktor Leßmann! Er hat die ganze feine Nase für das Geschäft, aber zu faul, zu verbummelt. Sobald er einen Anteilschein in der Hand hatte, sofort verkümmelt. Wenn er einen Brief schreiben mußte, schrieb er eine Postkarte. Wenn er depeschieren mußte, schwieg er lieber ganz. Damit sind heute keine Geschäfte zu machen. Vielleicht sehe ich ihn auch noch mal als Millionär, vielleicht aber auch als ganz was andres. Beides würde mich nicht besonders aufregen. Aber er ist der einzige, an dem was dran ist, das will ich ihm lassen. Er hat nämlich Mut, persönlichen Mut. das ist nicht zu bezahlen, und dabei wieder so eine Art Idealismus. Ich bitte Sie: Idealismus! . . . Wie all die andern schon feige wurden, da wankte und wich er nicht. Noch vor zehn Tagen. Ich sage: ›Herr Leßmann, wir wollen abrechnen; bei mir ist nichts mehr zu verdienen, höchstens noch zu verlieren. Machen Sie, daß Sie wegkommen!‹ – Darauf die Antwort: ›Ich stehe und falle mit Ihnen, Herr Le Fort!‹ . . . Was heißt so etwas? Das imponiert mir gar nicht. Zur Unzeit den Corpsstudenten hervorholen, das wird nie ein Geschäftsmann. Da ist mir Bomulunder tausendmal lieber. Der biß den 330 Reservelieutenant nicht heraus, als er den Kaufmann brauchte. Solche wie der sind freilich nicht die Leute, die ich brauchen kann, aber sie brauchen mich auch nicht. Ich habe eine große Achtung vor solchen Leuten.«

Er erzählt das alles in fließendem Deutsch. Für ihn ist die Affaire jetzt abgethan und der Kopf wieder klar. Dann erhebt er sich schwerfällig aus seinem Lutherstuhl und verbrennt einige Papiere. »Vor einem Konkurs verbrennt man immer einige Papiere, lieber Graf! . . . Ja, Glück, Glück! . . . Die Ideen habe ich noch heute . . . So, nun ist genug geredet. Kommen Sie, wir wollen in allen Zimmern das Gas anstecken lassen, möchte noch mal den reichen Mann spielen!«

Wir wandeln auch wirklich durch die lange, vornehme Flucht, die in hellstem Licht glänzt. Herr Le Fort tippt hier und da an eine echte Vase, streichelt eine Antiquität. Durch Astas Zimmer gehen wir auch. Er nimmt den Elfenbeinyatagan von der Wand und besieht die zierlich geschnitzten Figuren. »Spielerei! – das ist erst ein Idealist, mein Schwager! Es muß auch solche geben . . .«

Im gotischen Eßzimmer ist der Tisch gedeckt, der goldene Kopf einer Pommery schimmert aus schwerem Eiskübel. »Wir wollen zu Abend essen, Herr Graf! Noch einmal das Beste vom Jahr. Morgen ist alle Herrlichkeit futsch. Schmecken soll es mir darum doch!«

Ich thue mit, obgleich ich bei jedem Bissen würgen muß, so trocken ist meine Kehle. Herr Le Fort bricht mit Gleichmut die Hummerscheren. Plötzlich hält er inne. »Hm! Dummheit! . . . Denken Sie, ich habe an dem ganzen Reichtum etwas? Der Luxus gehört zum Geschäft und die elegante Gesellschaft auch, aber ich bin doch am liebsten allein mit meiner Schifferpfeife und meinen Ideen. 331 Hummern? Hummern? Was heißt Hummern? Man wird sich die ebenso leicht abgewöhnen, wie man sie sich angewöhnt hat! Ueber den wirklichen Wert der Dinge täusche ich mich nie. Dies Souper ist selbstverständlich Galgenhumor . . . Dabei bin ich nicht etwa sehr niedergeschlagen. Fort ist fort, hin ist hin . . . Heute, bei Hiller, als ich die Depesche bekam – es war mein Todesurteil –, da fürchtete ich einen Schlaganfall. Jetzt fürchte ich ihn nicht mehr, aber ich fürchte mich jetzt vor dem Wiederanfangen. Unsereiner, der gewöhnt ist, mit einem Druck auf den elektrischen Knopf alles zu regieren, der soll auf einmal wieder Commis spielen. Zum kleinen Kaufmann fehlt mir nicht mehr als alles. Unsereiner braucht die großen Aufregungen, ich habe sie immer gebraucht. Ich könnte ein schwerreicher ruhiger Mann sein . . . wer das ruhig sein kann! . . . Ich muß eben mit Millionen spielen können, und wenn ich mit ihnen nicht spielen kann, haben sie für mich auch gar keinen Wert. Die Aufregungen, die großen Aufregungen! Ja, das werde ich wirklich vermissen, aber nichts andres . . . Ist die Flasche leer? Trinken wir noch ein Glas? Der Pommery ist wirklich gut . . . Also: Die Zukunft!«

»Die Zukunft!«

Dann verfallen wir beide in ein brütendes Schweigen. Ich fühle, daß meine Gesellschaft lästig wird. Es ist halb elf Uhr. Ich fühle mich auch so sehr als Fremder in diesem Hause . . . »Wann kommt eigentlich Asta?«

»Früh genug, lieber Graf. Sie könnten allerdings schon da sein.«

»Weiß Frau Le Fort, was ihr bevorsteht?«

»Die? . . . hm! , , . wußte es eher als ich . . . Vor drei Tagen haben wir uns noch über Sie gestritten. Ich habe gesagt: Bin ich bankerott, so 332 wird aus der Grafenehe bestimmt nichts. Meine Frau aber war klüger und sagte das Gegenteil. Kommt's mir eigentlich nur so vor, oder ist sie wirklich alt geworden in den letzten Tagen? Sie hat was vor. Daß man so furchtbar schnell altern kann! . . . Hm . . . Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, lieber Graf: Ich lasse die Rappen an den Jagdwagen spannen, und Sie fahren selbst nach der Oberspreevilla. Heute kann ich Sie noch zu dem Vergnügen einladen, morgen nicht mehr.«

Als wir uns zum Abschied die Hand drücken, zittert seine Pranke doch etwas, auch in dem Auge flimmert ein unsicherer Ausdruck. Es geht ihm wohl näher, als er zugiebt. »Sie sind ein komischer Kauz, lieber Graf! Aber bleiben Sie es! Bei dem andern kommt auch nichts Besseres 'raus.«

Unsre Blicke streifen sich bei dem letzten Wort noch einmal flüchtig. Es sind zwei absolut Fremde, die sich trennen. Er begleitet mich auch nicht mal bis zur Korridorthür. Während ich mit dem Bedienten durch die hell erleuchteten Zimmer gehe, kommt mir die kleine Ethel in den Sinn und die schreckliche Unterredung mit der Mutter, die ich belauschte. Sie scheint recht zu behalten, die Blonde. Heute höre ich den Wurm nicht mehr im Holze picken, sein Werk ist ja vollendet.

Draußen steht der Wagen. Die geschliffenen Laternengläser werfen ihre grellen Reflexe auf die weiße Straße, trockenes Laub wälzt sich.

»Wollen der Herr Graf selbst kutschieren?« Ich nehme dem Kutscher, der steif dasteht, die Leine aus der Hand. Der Portier ist vor die Thür gekrochen und sieht uns neugierig nach.

›Es müssen doch kolossal reiche Herrschaften sind, die da oben,‹ mag er denken. Ich glaube, viele Portiers Berlins denken so, und viele irren sich.

333 Die Trakehner traben gut. Welch Genuß, mal wieder auf dem Bock zu sitzen, die Hände ganz voll! Was man in der Jugend übte, das verlernt man doch nie. Die reine, scharfe Luft thut mir wohl nach so viel stickiger Atmosphäre heute. Berlin fliegt vorüber – ein glänzender Schemen. Solang das Wagen- und Menschengewirr der Straßen die Kunst des Fahrers verlangte, war ich ruhig. Jetzt liegt das Riesennetz hinter mir. Die Waldlinie des Ostens zeigt sich dunkel und eintönig. Ich werde unruhig. Die Hand mit den Leinen zuckt. Schneller! Die Rappen schnauben und legen sich aus – es ist wohl ihr bester Trab. Meine Nerven verlangen aber mehr. Schneller! Die Peitsche schwirrt, wechselnder Hufschlag. Sie strecken sich zum Galopp. Carriere wäre mir lieber. Doch da lägen sie nicht so fest in der Hand, und ich bin ein verständiger Mann. Wir sind im Wald. In den Bäumen braust der Wind, ein Stück blutroter Mond schaut aus dem dunkeln Gewölk. Daß ich heute alles blutrot sehe! Es ist eine kurze Fahrt durch die Forst, aber gespenstisch. Jeder Kiefernschatten hat das stumm Drohende, die Kilometersteine leuchten fahl. Auch die Pferde stutzen und schnauben; als an der Spree Lichter aufblinken, zerbricht mir das Leinenpferd, scheuend, fast die Deichsel. Sieht es schon jetzt Gespenster?

Weit von der Villa steige ich ab. Die Läden sind alle geschlossen, aber durch die Ritzen bricht dämmerige Helle. Tiny, der schwarze Unhold, streicht in den Gartenbüschen umher und heult dabei den Mond an. Auf der Terrasse eine unbewegliche Gestalt, ohne Tuch, ohne Hut; sie starrt in die tiefe, stumme Spree. Es ist Madame. Die suche ich nicht. Als ich behutsam die Hausthür aufklinke, leckt mir der Hund still wedelnd die Hand. Die 334 angebundene Glocke schlägt gedämpft an – es ist ja ein Kranker im Hause. Herrn Listers behäbige Wirtin, die neugierig aus der Küche guckt, macht eine Bewegung mit der Hand. »Ich glaube, er ist wieder bei Besinnung, Herr Graf. Das Fräulein ist allein drin,« erklärt sie leise. »Gehen Sie nur hinein, ohne anzuklopfen. Ich glaube, er erwartet Ihnen schon lange.«

Ich trete leise ein. Asta, die am Bett sitzt, lächelt ein wenig. Das Schlafzimmer des Arztes ist einfach, fast ärmlich. An der hellen Tapete das Feldbett, in den Ecken ein paar Stühle, dann ein Waschtisch. Die gewisse Krankenatmosphäre liegt über dem Raum, die herabgeschraubte Lampe verstärkt sie. Als ich auf Fußspitzen näher will ans Bett, knarrt eine Diele. Der Kranke rührt sich. »Ist's deine Mutter, Asta?«

»Nein, Onkel, mein Bräutigam.«

»Siehst du, daß er doch kommt!« Herr Lister streckt mir seine Hand entgegen – eine kühle, matte Hand ohne Fieber. Aus den schneeweißen, etwas zerwühlten Kissen schaut das geschärfte Profil, die Augen sind etwas müde. Weiße Bartstoppeln beginnen durch die grünliche Haut zu stechen. Er ist wohl sehr krank, und das gütige Lächeln macht ihn in meinen Augen noch kränker. Von der Tragik bei Le Forts weiß er nichts, auch Asta weiß nichts.

»Geht es Ihnen einigermaßen, Herr Lister?«

»Augenblicklich, ja, wenn's nicht eine Pause ist. Der verwünschte, leere Kopf! Ich werde nicht recht draus klug, was es ist. Es kann mit dem Herzen zusammenhängen. Ja, ja, immer die eine Zigarre zu viel gegen Ethels Rat! Uebrigens, jetzt, wo ich Sie sehe, fällt mir noch etwas andres ein, ich muß an Ihre verstorbene Tante denken und an unsre Unterhaltung neulich. Hüten Sie sich, je einem Arzt 335 unbedingt zu glauben – ich bin doch selbst einer, habe mir auch die Diagnose zu stellen gesucht, den Spiegel vor dem Gesicht, das Thermometer in der Achselhöhle. Ich war wieder in der Versuchung wie damals, zu sagen: Akute Morphiumvergiftung! Es sieht auf ein Haar so aus. Doch wer sollte ein Interesse daran haben, gerade mich zu vergiften? Morphinist, wie berühmte Kollegen, war ich auch nie.«

»Herr Lister, Sie grübeln zu viel!« beruhige ich, doch ich selbst empfinde plötzlich ein vages Angstgefühl. Wenn ich den Kranken scharf ansehe, – eine gewisse Aehnlichkeit zwischen ihm und meiner Tante auf dem Totenbett ist vorhanden; aber dort das egoistische, fette Gesicht, hier dieses schmale, gute . . . Nein, ich irre mich unbedingt.

Wir sprechen von diesem und jenem, bis mir Asta mit den Augen winkt. Die Gedanken fangen an, unklar zu werden, die Rede stockt. »Es ist nicht so schlimm.« Das sagt er noch abgebrochen zum Trost, aber wie ich ihm die Hand drücken will, merke ich, daß meine Gegenwart dem Kranken schon zu verblassen anfängt.

Ich küsse Asta auf die Stirn und flüstere ihr dann in das Ohr: »Holt doch einen Arzt!«

»Ich soll nicht. Mama will es auch nicht.«

»Dann hol' ich ihn.«

»Ja.«

Während ich im Korridor den Ueberzieher anziehe, kommt Madame aus dem Garten. Sie erschrickt leicht. »Ich hatte Ihnen doch telegraphiert?«

»Jawohl – aber nach dem, was vorgefallen ist –«

»Kommen Sie ins Wohnzimmer, lieber Carén.«

Dort brennt die Hängelampe hell, eine Uhr tickt. Draußen wühlt der Wind in entblätterten Sträuchern. 336 Kaltes Abendbrot steht auf dem Tisch. Jemand hat zu essen versucht und es bald aufgegeben.

»Ich will einen Arzt holen, gnädige Frau.«

»Ist das nötig?« Sie sieht mich dabei nicht an. »Ich kenne seine Natur, und Sie kennen sie nicht.«

»Dennoch werde ich es thun.« Da treffen mich die blassen Augen scharf, fast drohend. Eine ganz leise Stimme sagt: »Sie werden keinen Arzt holen!«

»Wenn Sie meinen.«

Es ist nicht der überlegene Wille allein, der mich bannt, es ist noch etwas andres, etwas ganz andres! Ich hätte dennoch gehen sollen, gehen müssen.

Jetzt, während ich schreibe, was ich in der Nacht erlebte . . . Ich muß ja schweigen . . .

Ich will die Augen schließen und mit zusammengebissenen Zähnen immer wieder murmeln: »Louis, du bist wahnsinnig!« Leider bin ich's nicht.

Ich habe ihn noch einmal gesehen, noch einmal gesprochen – es war viele Stunden später. Asta sitzt am Bett . . . Ich muß es mir noch einmal wiederholen, das großherzige: Tout savoir, c'est tout pardonner, das sein Leben ausmachte. O mein Gott! Der eisige Schweiß steht mir auf der Stirn. Ich ahne, ich weiß. Jetzt käme der Arzt zu spät. Ich habe eine Hand in meiner Hand und fühle den elenden Puls eines Sterbenden. Diese Augen – das sind ja dieselben Augen, die ich an einem andern Totenbette sah. Das sind die zusammengezogenen Pupillen, diese gleißenden Stecknadelköpfe. Herr Gott, erbarme dich meiner! Das ist ja das Schicksal – das ist ja der Tod – das ist ja der Mord! Ich könnte vor Grauen schreien wie ein Kind, das die Gespensterfurcht jagt. Dieses schreckliche, kahle Zimmer, dies gedämpfte Totenlicht, dieser 337 gelbgrünliche Sterbende in seinem Lazarettbett. Ob der großherzige Narr doch noch etwas geahnt hat? Mir kam die Wahrheit wie ein Blitz, der die Glieder lähmt, den Geist nicht tötet.

Die Natur ist so grausam! Und ich muß schweigen, ich muß dabei sitzen, die Lippen fest aufeinander gebissen, bis mir das Blut das Kinn herunterläuft. Sie darf ja nichts ahnen – niemals! Und sie sitzt da, stumm, starr, eine Statue, die grünen Augen tot. Und dann beginnt das Röcheln des Todes. Die Thür wird leise geöffnet – ich will mich nicht umdrehen, und ich dreh' mich doch um. Ich möchte 'rausstürzen und kann's nicht. Und unsre Augen bohren sich ineinander – Madames und meine. Dies Gesicht sah ich ja noch niemals, diese tödliche Leere des Gesichts auch noch niemals. Die glatte Linie ist zur dämonischen geschliffen. Ist das Weib wahnsinnig, oder bin ich es? Auf einmal kann ich aufstehen, ich gehe auf sie zu, die Hand krallt sich, weil ich dies Weib erdrosseln möchte. Da kommt der Duft von Peau d'Espagne gezogen, dieser schwere, süße, scheußliche Geruch, den ich erst setzt verstehe. Ich witterte ihn immer, wo es Verbrechen gab, Todsünde. Peau d'Espagne! Die Hand sinkt mir. Ich mordete ja auch!

Ich gehe. Ich kann das Ende nicht abwarten, und ich darf's auch nicht. Mir ist, als wenn ich selbst neben mir wandelte, mein eigen Gespenst. Die Gartenthür knarrt. Drinnen im Zimmer heult der Hund auf einmal langgezogen auf, dann ein schrecklicher Schrei aus Frauenmund. Asta stieß ihn aus. Aber ich fliehe. Und wenn sie selbst sterben würde in diesem Schrei, ich könnte doch nicht mehr zurück in das Haus.

Ich gehe weiter, immer mein Gespenst neben mir. Ich sehe mich durch den Wald wandeln und wie der 338 Staub der Landstraße meinen Lackschuh blind macht. Ich gehe ganz aufrecht. Ich pfeife durch die Zähne. Die wenigen Menschen, die mir begegnen, bleiben stehen und sehen mir nach. Auch Nachtgestalten sind dabei, die Freibeuter aus der Wuhlheide und dem schlesischen Busch. Es wagt sich aber keiner an den Mann, der ohne Ueberzieher, den Cylinder tief im Gesicht, seines Weges geht. Ich bin noch im Hochzeitsfrack, der Johanniter baumelt; die Frühstücksorden klirren leise. Wenn mich die Menschen auch für einen Wahnsinnigen halten, was thut's? – So weit davon war ich nicht!

Und dabei bin ich ganz ruhig, klar, meine Sinne sind geschärft.

Ich bin längst wieder in Berlin, an meiner Wohnung vorüber, immer dem Westen zu. Ich muß gehen! Es dämmert. Die Laternen in der Leipzigerstraße sehen fahl aus und übernächtig.

An den Wachthäusern des Potsdamerplatzes reißen sie den Asphalt auf. Der Hammerschlag dröhnt, der rote Wiederschein der Fackeln fällt auf die Pferdebahnschienen. Die halbnackten Arbeitergestalten haben etwas Wildes, die braunen Gesichter zeichnen sich düster und unheimlich in der Glut. Das ist Berlin. Ich möchte über mich selbst lachen. Das Berlin schreckt mich nicht – aber das andre, das andre . . .

Auf dem Potsdamerplatz mache ich Halt. An den Kandelaber in der Mitte gelehnt, stehe ich lange und schaue zurück auf Berlin. Ich bin nicht müde und kann doch nicht weiter. Die Nacht flieht. Ueber dem Spittelmarkt zieht der Morgen auf. In tiefblauer Dämmerung liegt das Häusermeer. Die Straßenlinie drückt noch das nächtliche Dunkel. Die gelben Laternenreihen schauen schläfrig umflort. das grüne Licht eines Nachtomnibus schwankt hin und her. Aber in der Höhe wölbt sich eine so 339 wunderbar tiefe, mystische Dämmerung, durch die es zuweilen violett zuckt. Dann bekommen die Häuser am Leipzigerplatz ein weißes, ungesundes Gesicht – wie von einer Leiche. Die Fensterläden sind alle geschlossen, die Etagen tot, die Dächerlinien zeichnen sich scharf. Ueber einem Kirchturm im Osten gleißt der erste zitternde Reflex der Morgensonne. Die Sonne, ja, die Sonne!

Und jetzt gebe ich mir noch einmal Rechenschaft über den Tag. Wenn ich alles für einen bösen Traum hielte, meine Verlobung auch? Niemand könnte es mir verdenken. Aber nein, nein! Der letzte Schwertstreich des Schicksals war schwer, doch traf er keinen Schuldlosen. Im Morgengrauen hat man immer so simple Gefühle, die der leuchtende Tag dann verlacht. Meine wird der Tag nicht verlachen. Jetzt, wo alles um uns zusammengebrochen ist, fühle ich erst ganz, wie echt meine Liebe zu ihr ist! 340

 


 


 << zurück weiter >>