Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.

Und es muß bald sein – heute – morgen . . . Heute ist's besser. Nur mit den Entschlüssen nicht spielen, bis sie einem aus der Hand gleiten! Auch anständig soll es zugehen, den Grund niemand ahnen, Serner am wenigsten. Ein heftiger Wortwechsel wegen einer Lappalie in vorgeschrittener Souperstimmung, wie es der Zufall gerade giebt; ein Duell unter Kavalieren, eine unumgängliche Formalität, die der Ehrenkodex heischt, meinetwegen eine Farce, bei der sich die Sekundanten auf das Frühstück hinterher freuen und es gar nicht begreifen können, daß doch einer zur Strecke gebracht ist. Aber das Wie? – Während ich das Wie überlege, fühle ich wieder, daß es ein eisiger Orkan war, so kalt und berechnend bin ich.

Man läßt mir Zeit zum geschickten Einfädeln. Die heimlich verschlungenen Hände haben sich längst wieder gelöst, ich sah wohl auch allein den Druck. Madame wünscht die Verlobung überhaupt nicht zu kennen. Wir sind eben vier oberflächliche Bekannte, die sich zufällig in einer Loge getroffen haben, zusammen bleiben unter gleichgültigen Gesprächen, sich schließlich trennen werden mit einem gleichgültigen Gruß. Twesten wird vorgestellt, erzählt 55 Sportanekdoten. Ich lächle dazu, Serner lacht laut. Noch drei Rennen haben wir vor uns. Die Damen müssen etwas früher weg, weil sich die Gnädige mit dem Nilpferd irgendwohin verabredet hat. Doch schon vor dem nächsten Glockenzeichen bin ich mir klar. Serner darf nicht mit seiner Asta zugleich fort, und wenn ich ihn dazu knebeln müßte. Er soll bleiben, mit uns im Kaiserhof dinieren. Twesten kann das einfach verlangen, da sich die Kriegsschulkameraden ein volles Jahr nicht gesehen haben. Es dürfte ein toller Abend werden! – Bis dahin wollen wir uns gut unterhalten, geistreich sein, wenn es auch nur bei dem Versuch bleibt. Es ist ja so wunderbares Rennwetter! Die Damen brauchen die weiße Haut nicht vor der zudringlichen Sonne zu schützen, den Federhut nicht vor dem Regen. Kein Staub, nur weiche Schwüle. Die Rennen sind so gut bestritten, die berühmtesten Reiter steigen in den Sattel. Und das Publikum ist so interessant. Damenmoden, die zum erstenmal paradieren, Perlen, die man sonst nur beim Opernhausball zu sehen bekommt. In einer Loge drei Grafen! Was verlangt Le Fortsche Eitelkeit mehr!?

Vor meinen Augen schimmert's nicht rot, keine tanzenden Pünktchen in der Netzhaut, die den Blick trüben – nur Klarheit, Schärfe. – Die Flagge fällt, die Glocke bimmelt, die Felder galoppieren ihr Geläuf ab. Ich bin mit ganzer Seele dabei.

»Der Fuchs macht's.«

»Keine Idee! Das ist ja der verlorenste Außenseiter, den es giebt.«

»Wollen wir wetten, Georg?«

Dann Serner langsam: »Ich glaube auch, daß Twesten recht behält.«

Aber Twesten hat heute nun einmal kein Glück, prophezeit regelmäßig falsch. Die Außenseiter pflücken 56 mühelos die Palme, und die Pacemacher für Klasse I vermögen ihren ausgerittenen Stallgenossen gerade noch den dritten Platz zu retten.

Meine unheimliche Hellseherei ärgert unsern berühmten Reiter etwas. »Wahrhaftig, wieder ein Bock allererster und ein Pferd allerletzter Klasse – und mit einer ganzen Länge! Graditz hätte im Canter siegen müssen, wie Lehndorff auch angesagt hatte . . . Ich glaube, die Kerls mogeln hier alle, Herren wie Knechte. Sportsman heißt nämlich auf deutsch noch lange nicht Gentleman . . . Sieh dir den Gaul, bitte, noch jetzt an! Auf so was setzt man nach Wolkenbrüchen bei bodenlosem Geläuf, wenn die Wellgunden unter ihrem Meistgewicht nicht krauchen können und alles Hochklassige wie die Padden hinter den Hürden liegt . . . Ich werde doch Droschkenkutscher! Gnädiges Fräulein, darf ich die Ehre haben, Ihnen meine Dienste im neuen Berufe zuerst anbieten zu dürfen?«

Karlchen schüttelt nur verwundert über alles den Kopf.

Doch die Gnädige lächelt mir zu. »Sie sind ja ein vorzüglicher Prophet, Graf Carén! Von der Seite kannte ich Sie noch gar nicht. Haben Sie früher mitgeritten?«

»Danach fragen Sie ihn lieber nicht, gnädige Frau! Das sind traurige Erinnerungen für Louis,« höhnt Twesten.

Asta sieht kaum auf den grünen Rasen. Sie liebt das Auspumpen offenbar nicht – und das ist vielleicht edel gefühlt.

Endlich schaut Madame nach der Uhr. »Es ist höchste Zeit, Asta!«

»Aber, gnädige Frau, wenn Ihr Herr Gemahl auch wirklich fünf Minuten wartet . . .« Serner fleht um Aufschub.

57 Die Gnädige läßt's kalt. »Nein, Herr Graf. Mein Mann liebt das Warten nicht, und ich liebe es auch nicht. Meine Herren . . .«

»Ich komme mit.«

Dieser Entschluß Serners ist wieder nicht nach Twestens Geschmack.

»Willst du mich diesem Straßenräuber Carén hilflos überlassen, Karlchen?«

»Ich suche dich morgen bestimmt im Hotel auf, Georg,« tröstet Serner.

»Das Essen ist allerdings schon bestellt – das Couvert für Sie auch, Serner,« sage ich ruhig. Selbstverständlich ist kein Wort wahr. Was kommt es heute auf eine Lüge mehr oder weniger an!

»Sie bleiben natürlich, Graf Serner!« entscheidet die Gnädige. »Sie könnten uns doch nur bis in die Stadt begleiten. Denn nachher bei Heese Seidenstoffe zu besehen – das will ich Ihnen unter keiner Bedingung zumuten.«

Karlchen ist unschlüssig. Er kann doch nicht sagen: Eine Droschkenfahrt mit dir, grünäugiger Schatz, ist mir zehntausendmal lieber als hundert Diners mit denen da. Der leiseste Wink, die schüchternste Aufforderung zum Ritterdienst würde ihn glücklich machen. Er schielt auch zur Grünäugigen hinüber. Aber die Grünäugige sagt nichts.

Wir geleiten galant die Damen bis zum Wagen. Es ist ein bequemer Landauer, und Serner hätte noch so gut Platz. Wenn der Verliebte im letzten Moment doch tollkühn nachspringt? Halten kann ich ihn nicht. Ich könnte höchstens mitspringen. Und das sähe schlecht aus, sogar verdächtig. Ich will allerdings dem Hund an den Eisen bleiben, mir liegt alles daran – nur darf niemand die Absicht merken. Wenn er mir doch entwischte, ich Stunden, vielleicht Tage verlöre? Auf einen Eisorkan kann 58 unvermutet ein warmer, versöhnender West folgen. Und ich muß meine Zeit benutzen. Schicksal, du hast mir den Mann in die Hand gegeben – laß ihn mir auch jetzt!

Serner ahnt nichts. Er grübelt noch im Gehen nach einem plausibeln Vorwand zum Ausbrechen.

Wir sind am Wagen. Der Kutscher nimmt seinen Pferden die Decken ab, klettert auf den Bock. Ich halte den geöffneten Schlag. Die Damen steigen ein. »Sie bleiben doch, Serner?« frage ich noch einmal. Es kommt mir fast absichtslos über die Lippen und gefährdet alles. Vielleicht ist das schon der aufspringende Wind, der sich darin ankündigt, der Schatten sogenannten besseren Gefühls. ›Sag nein, Karlchen. Spring ohne Besinnen in den Wagen! Ich folge dir nicht. Es handelt sich um eine kostbare Sekunde, die alles ändern kann und nichts. Spring also, mein Freund!‹

Und da suchen die runden, braunen Vogelaugen ängstlich in den grünen nach einem verstohlenen Blick des Einverständnisses. Warum bleiben die grünen Augen stumm? Der Schlag klappt zu. Ich bin es, der die Pforte des Schicksals schließt. Le Forts verbeugen sich noch einmal. Und erst jetzt finden sich die Augenpaare, die sich heute immer gemieden haben – meine und Astas Augen. Es sind so schöne grüne Augen ohne Nixenglanz, aber meerestief! – Was trieb dich Unselige, den blassen Schemen neben mir zum Leben zu wecken, zum Menschen zu machen, zum Mann, so gut wie ich, ja besser? Meine Augen sind ausdruckslos, das weiß ich. Und doch verstehst du in ihnen zu lesen, du schönes, hohles Geschöpf – einmal nur – zum erstenmal. Du ahnst, was ich will, du weißt es! In dem rätselhaften Grün zuckt's auf, angstvoll, gequält. Du willst etwas sagen – mir oder ihm – ich will 59 es nicht wissen! Und du kannst es nicht einmal sagen, du darfst nicht . . . Und wenn du es doch sagtest, wär's Verrat – an mir oder ihm? Ich will das auch nicht wissen. Ich weiß nur, daß einer sterben muß. Die grünen Augen werden kalt, leer. Du fühlst das Unentrinnbare. Du vermöchtest es vielleicht abzuwenden – du vermagst es nicht! . . . Irgend etwas lähmt dir die Kraft, irgend etwas Geheimnisvolles, das mit dir sterben soll. Deine Hand will sich heben, sie hebt sich auch. Du willst ihm winken, du winkst ihm nicht.

Die Pferde ziehen an. Wir verneigen uns tief.

Du hattest ein Schicksal in der Hand, Asta – du hast es nicht mehr . . . Es mußte wohl so kommen.

Auf dem Rückweg zum Platz kommt uns Gräfin Lagrange entgegengeschlendert. Sie scheint außer Engagement zu sein und hat Wind von meinen Erbschaftsaussichten. Das macht eine so absolut erkaltete Freundschaft gemütlich wieder aufflackern. Twesten merkt sofort die Absicht. »Kümmerlich sucht sich das Eichhörnchen seine Nahrung,« murmelt er.

»Gott, sie war die Schlimmste noch nicht! . . . ein bißchen habgierig . . .« antworte ich milde.

Karlchens Tugend aber ist empört. »Wollt ihr euch von dem Frauenzimmer ansprechen lassen? Ich kenne sie nicht! Und wenn sie's doch riskiert, ruf' ich einen Schutzmann.«

»Lauf, lauf, mein Jungchen! Steck aber nur keine Bilder 'raus, weißt du . . . Ich habe mit so was in meinem Leben nicht halb so viel zu thun gehabt wie du – meine Uniform geniert's trotzdem nicht. Uns sieht ja keiner. Wir kommen auf den Sattelplatz nach.«

Twestens Ironie zieht hier nicht. Karlchen trabt davon, hart an der Saphirkönigin vorbei, sieht sie an, grüßt nicht. Jedenfalls hat er seine Galerie 60 schon verbrannt. – Mir ist meine alte Liebe gleichgültig, das heißt ihretwegen begeht Louis Carén keine Thorheiten mehr. Gegen ein verschwiegenes Wiedersehen habe ich jedoch nichts, vielleicht kann sie uns heute nützlich sein.

An einer Wegenge sind wir gestellt.

»Tag.«

»Tag.«

Die Wiedersehensfreude meinerseits ist mäßig. Gräfin Lagrange sieht darüber hinweg. Wir drücken uns englisch die Hand, weil's Mode ist, blasiert kühl. Die Manieren einer Dame von Welt hat sie, und Twesten gönnt ihr ein ironisches »Gräfin«, was Unschuldige leicht irreführen könnte.

»Ich habe keine Ahnung, daß du in Berlin bist, Ludwig . . .« Sie hat eine Abneigung gegen »Louis«, nur in Schäferstunden oder in der Wut nannte sie mich bei meinem schönen Namen. »Wohnst du wieder im Kaiserhof oder hast du deine eigne Wohnung?«

»Ich weiß nicht.«

»Nun seien Sie aber mal nett, Graf Twesten! Wohnt Louis überhaupt in Berlin?«

Twesten, der sich mit der Reitpeitsche den Staub von den Stiefeln abklopft, weiß natürlich auch nichts.

»Dann will ich's euch sagen. Ludwig wohnt in der Kaiserhofdependance.«

»Liebe Gräfin, warum lügen Sie eigentlich immer zuerst? Ich glaube Ihnen doch nie ein Wort.« Twesten weist sie ganz ruhig zurecht.

Gräfin Lagrange lacht. Sie hat sich in der Zwischenzeit ein recht gewöhnliches Lachen angewöhnt. Nun könnte sie uns eigentlich laufen lassen. Sie denkt nicht daran. »Sagt mal, war das nicht Karlchen Serner, der vorhin an mir vorbeiging? Das Schaf grüßt nicht. Ist wohl positiv blödsinnig geworden?«

61 »Das soll er gut machen, Gräfin . . . Wollen Sie mit uns im Kaiserhof essen? Sie sind hiermit feierlichst eingeladen, aber keine auffälligen Juwelen, wenn ich bitten darf.«

Sie sagt beglückt zu. Twesten, der wenig hat, noch weniger für solche Passionen ausgiebt, war immer ihre heimliche Liebe. Er behandelt sie als das, was sie ist. ›Mucks nicht! Sonst giebt's was – im übrigen begnüge dich mit meiner durchsichtigen Ironie.‹ Diese Art Achtung scheint der Saphirkönigin wohlzuthun. Darauf wird sie gleich verabschiedet, mit einem halben Gruß von mir, mit einer leichten Bewegung der Reitpeitsche von ihm. Der olle Oberst naht. Das macht solche Gräfinnen überflüssig. Der Satan ist sicher beim Rennen. Er arrangiert für mich alles so hübsch, natürlich. Ein Souper, wo wir drei Grafen unsre Erinnerungen tauschen, könnte sehr früh und sehr nüchtern ausgehen – ein Souper, dem Gräfin Lagrange präsidiert, ist endlos und macht heiße Köpfe. Das will ich gerade.

Aber wie die Diebe ihren Gott haben und meine Namensvettern, die französischen Ludwige, ehe sie einen Krieg vom Zaune brachen, immer erst inbrünstig ihre Schutzpatrone anflehten, so sehne ich mich heut nach einem besonders anständigen Menschen, einem Heiligen, wenn man will. Jaromir ist aus dem Rennen, ist anständig angezogen. Warum soll er nicht wieder nach langer Entsagung Sekt perlen sehen? Wer lange im Kasino lebte, bewahrt auch bis ins hohe Alter Matthäus Müller warme Gefühle. – Ich suche und finde meinen Mann sofort. Einige leichte Bedenken, die ich zerstreue. Er hat Stallluft geatmet, die leichtfertige Eleganz der Rennbahn auf sich wirken lassen, und er ist gern mein Gast. Meine gräflichen Freunde haben nichts gesehen . . .

62 »Also um sechs Uhr, Jaromir, nicht etwa in Schwarz, sondern so wie Sie sind!«

Und ich erledige das übrige durchs Telephon.

*

Vielleicht ist alles ein Traum?

Ein kleiner, gemütlich eleganter Salon, an den Wänden Gobelins, die diskrete Helle des Glühlichts auf den weißen Gedecken der Tafel schimmernd – das Sammetrot dunkler Rosen in den kunstvoll gefälteten Servietten, hellblitzende Sektkelche, matter Silberglanz. Draußen voller Tag, Droschken, Menschen. Dieses Gemach wird nur den Intimen des Kaiserhofes geöffnet. Man ist im Hotel – und ist doch bei sich. Das wirkt exklusiv pikant.

Karlchen blinzelt durch die kostbaren Vorhänge auf die Straße, ich spiele mit dem Menü. Daß einer von uns dem andern ans Leben will, wer ahnt es?

Twesten macht noch auf seinem Zimmer Toilette, natürlich Zivil, denn niemand weiß, wo und wie es schließlich endet. Die Gräfin Lagrange wohnt auch hier unter erdichtetem Namen. Wenn sie die Robe wechselt, wechselt sie stets die ganze Spitzengarnitur. Das kostet viel Zeit und noch mehr Geld, mein Beutel kann ein Lied davon singen.

Die Kaminuhr schlägt sechs. Jaromir erscheint militärisch pünktlich. Er und das frühreife Karlchen kennen sich zur Not noch. Dann Twesten mit weißer Weste und lappigem Batisthemd – er begrüßt den Versicherungsagenten völlig als seinesgleichen, die Rennbahn macht wohl scharfsichtig, aber nicht heikel. Eine halbe Stunde später erscheint Gräfin Lagrange, schwarz, chic, eine Art Reitkostüm, das mich einst an der sehr mittelmäßigen Schulreiterin bezauberte. Vielleicht soll auch diese Erinnerung bezweckt werden.

Serner berührt dieses Astaschwarz so unangenehm 63 wie mich. »Die auch? Das hättet ihr euch sparen können.«

Twesten erhebt sich langsam aus seinem Fauteuil mit ironisch tiefer Verbeugung.

Ich stelle vor: »von Jaromir – Gräfin X. X., sagen wir, eine Cousine von mir.«

Der ahnungslose Agent klappt mit den Absätzen zusammen, der Kopf versinkt zwischen den Schultern. Twesten lächelt, Serner hustet provozierend. »Nicht zu tief, Herr Kamerad!« sage ich. Die lächelnde Wut des edeln Geschlechts Lagrange gilt merkwürdigerweise nur dem »Frühreifen«, von dem sie nichts zu erwarten hat.

Die Gräfin präsidiert als Ehrendame zu meiner Rechten; sie hat es so gewünscht. Bis zum Sekt ein langweiliges Mahl. Das Rotwelsch des Sports, pikante Histörchen. Wenn die Herren bei den Pointen nicht so wiehernd lachten, könnte man es für ein Familiendiner halten. Karlchen schweigt und trinkt. Er sollte das nicht thun.

Sobald der Pommery in den Kelchen perlt, taut die Gräfin auf. Sie kam meinetwegen nach Berlin, das ist klar. »Du, den vorigen Winter war ich in London, Ludwig – schöne Stadt . . . Hätte mich brillant verheiraten können, wenn ich gewollt hätte.«

»So.« Es ist mir sehr egal.

»Ein Baronet . . .« Sie streicht sich dabei über das Kleid, als wenn ein solcher Bewerber gar nichts Besonderes wäre.

»Ein lebendiger?« fragt Twesten, der zugehört hat.

»Es wird wohl der Prinz von Wales gewesen sein.« Das ist Karlchen.

»Sprechen Sie doch mit dem Herrn da drüben, Graf! – Und Sie da habe ich überhaupt noch nicht gefragt.« Zuweilen fällt die Gräfin aus der Rolle 64 der großen Dame, und die Gepflogenheiten der Manege gucken heraus.

Dann spricht sie ruhig weiter. »Er hat ein Schloß in Schottland . . . Fuchsjagd . . . Ihr in Deutschland schießt immer noch Füchse – hetzen ist feiner . . .«

»Warum hast du ihn nicht genommen, Frida?« Das »Du« will mir nicht recht und »Sie« wäre lächerlich.

»Ich wollte nicht, Ludwig.«

»Warum?«

»Das wirst du am besten wissen, Ludwig.«

»Ich?«

»Ja, du! – Und solch einen Mann muß man nun lieben!«

»Was du nicht sagst, Frida!«

Sie nimmt jetzt ihren Schildpattfächer vom Tisch und giebt mir einen allerliebsten Schlag auf die Hand. »Du glaubst mir nicht, du süßes Scheusal, daß ich ordentlich Heimweh nach dir gehabt habe?«

»Nach mir oder nach meinem Gelde?«

»Pfui! Das durfte nicht kommen.«

Sie wendet mir den Rücken und kokettiert mit Twesten. Um mich eifersüchtig zu machen? Lieber Gott! Und so was hat einen nun fast ruiniert – so was möchte einen von neuem ruinieren! Was hat mich wohl an ihr jemals gereizt – ich frage, was? Sehr hübsch war sie, sie ist es sogar noch – gerade genug, um sich einmal zu vergessen. Ein regelmäßiges Gesicht, jetzt etwas scharf; ein schlanker Hals, setzt frisch gekalkt; ein harter, habsüchtiger Mund, ich habe ihn so oft geküßt. Ich studiere dies Gesicht förmlich, weil ich den intimen Reiz finden möchte, das unsagbare Etwas, das mich bezaubert haben muß. War's wirklich nur das »Gewöhnliche« dieser Cirkusdame? Denn in schwere, blonde, glanzlose 65 Flechten verlieben sich doch nur Sekundaner. Und eigenartig ist allein dieses jetzt von der Brennschere gequälte Haar. Ich könnte gemütvoll die sogenannte Gräfin mit dem Fuße wegstoßen, bis sie glücklich auf der Straße ist. Ich thu' es nicht, weil ich sie noch brauchen kann, brauchen werde, ich weiß nur noch nicht wie.

Und sie ahnt meine Gedanken nicht. Ein Vielliebchen, das sie mit Twesten gegessen hat, ein verführerisches Lächeln der graublauen Augen, das mir mein Ulan erst herübertelegraphieren muß, weil ich es wirklich nicht gesehen habe – nun werde ich wohl eifersüchtig genug sein.

»Na, Schatz, wieder vernünftig?«

»Sehr, meine teure Frida.«

»Also du hast mich noch ein bißchen lieb, Louis?«

»Unendlich!«

»Rück ein klein wenig näher, du leichtsinniger Kerl du! . . . Soll ich dir was anvertrauen? . . . Du bist doch der Nettste! . . . Sag übrigens, mir fällt da gerade was ein, hattest du nicht eine Tante?«

»Allerdings, Frida.«

»Lebt sie noch?«

»Wenn sie nicht gestorben ist.«

»Ist sie nicht gestorben, Louis? Mir ist doch so . . .«

»Nein.«

»Wirklich nicht?«

»Du hörst ja.«

»Aber dir geht's doch gut, Louis?« So fängt man Gimpel.

»Schlecht, Kind. Kein Geld.«

»Ach, das dumme Geld! Nach dem Geld hab' ich mich doch nicht etwa gesehnt! Ludwig, und wenn du keinen roten Dreier hättest! . . . Du, deine Tante lebt doch nicht mehr?«

66 »Sie befindet sich sehr wohl!«

»Nun wird mir aber dein Lügen langweilig, Ludwig! Sie ist am siebzehnten gestorben.«

»Wenn du das wußtest, Frida, warum das lange Examen?«

»Ich hatte an deine Tante gar nicht gedacht, nur an dich, und daß du mir immer so haarsträubend untreu gewesen bist.«

»Das ist sehr hübsch von dir. Traurig ist nur, daß mich meine Tante enterbt hat.«

»Enterbt? – Dich?«

»Ja, mich!«

»Armer Kerl! Das thut mir wirklich furchtbar leid . . . Ja . . . ja . . .« Das Interesse an Louis Carén entflieht seiner Geliebten wie einem Sterbenden die letzten Seufzer.

Da platzt Twesten, der seine Ohren überall hat, wo er sie nicht haben soll, los: »Die Gräfin ist wahrhaftig auf den Leim gegangen! – Louis ist nämlich wieder Großkapitalist, reicher und leichtsinniger als je. – O Gräfin, das letzte Ja war nicht diplomatisch! Und Sie sind doch so lange und so innig mit der Diplomatie liiert gewesen!«

Der ganze Tisch lacht, selbst Serner verzieht sauersüß den Mund.

Aber Gräfin Lagrange erwidert mit Haltung: »Louis weiß ganz genau, daß ich nie einen andern Mann geliebt habe und lieben werde. Nicht wahr, Louis?«

»Jawohl, mein Schatz.«

In der Tonart geht's weiter. Die Komödie dieser Zuneigung würde mich anekeln, wenn sie nicht in einem so tollen Gegensatz stände zu dem, was ich heute will.

Die Stunde verrinnt. Es ist doch wohl alles ein Traum.

Siestastimmung – der dicke, blaue 67 Importenrauch wirbelt in die Höhe. Die Herren sitzen in ihren Fauteuils vergraben, etwas abseits von der Tafel. Die Servietten liegen fleckig, zerknüllt zwischen den Desserttellern. In den abgestandenen Kelchen steigt zuweilen eine zögernde Perle auf. Wenn eine Hand wie aus Mitleid nach dem Weinrest hinübergreift, ist's eine rote Hand mit geschwollenen Adern. Der Geist des Alkohols ist über dem Raum. Das gemütliche Sich-gehen-lassen, die unnötige Erregung, das trunkene Mißtrauen spiegeln sich auf diesen grundverschiedenen heißen oder blassen Männergesichtern. Twesten liegt verkrümmt, das eine Bein weit von sich gestreckt, das andre über der Seitenlehne des Fauteuils baumelnd – er trinkt nie zu viel, nur die Backenmuskeln spielen ironisch. Der Agent spricht auf ihn ein, die Augen im roten Gesicht funkeln, und sticht mit einem Obstmesser in die Lüfte. Sie verhandeln natürlich Kommiß. Der rotbärtige Jägerhauptmann muß daran glauben . . . »Ich sage Ihnen, so ein gemeiner Schubiak . . . schrieb hinterrücks an meinen Vater . . . So ein Lump, der vor dem Major kroch und die Leute aufs gemeinste schimpfte. Zog die Kerls bei jedem Appell beinah aus, nie mit der Garnitur zufrieden, dabei er selbst der schmierigste von allen, die Aufschläge schwarz statt rot. Ich hätte meinen Burschen einstecken lassen für so einen Anzug . . . Und der Hund auf seiner alten braunen Liese, die beständig auf den Knieen lag! Bei den Attacken immer gerast: ›Schneller, ihr verfluchten Kerls, schneller!‹ Und als er beim Manöver mitlaufen mußte, da hieß es gleich: ›Kinder, rennt doch nicht so!‹ Auf 'nem Gaul da können sie Mannschaften schinden, aber zu Fuß da sind sie selber die schlappsten. Ich hätte ihn auch sicher noch gefordert . . . In unserm wunderbaren grünen Rock solch eine Giftkröte mit 68 Sommersprossen und schlechten Zähnen! Jetzt ist er Infanterist, hoffentlich bricht er sich da wenigstens den Hals . . .«

Es ist die blutdürstige Kasino-Unterhaltung, zu der Twesten lächelt, weil der fanatische Agent wild mit dem Messer fuchelt und alle Zigarrenasche auf den Teppich streut. »Morden Sie mich nur nicht: ich bin nicht Ihr Hauptmann!« Ja, der Sekt thut Wunder. Der Agent vergißt die Gegenwart, freilich nur, um sie plötzlich nach einem Blick auf die Bauchbinde seiner Zigarre kohlschwarz wiederzufinden. Wer kennt die Gedankensprünge benebelter Gehirnnerven? Die blonde Ethel erscheint ihm plötzlich mit verhülltem Haupte. Er möchte sie so gern hassen. Er haßt die Frauen überhaupt, die Ehe . . . »Sich auf die Dauer in eine zu vergaffen, ist das nicht dumm, lächerlich? Sagen Sie selbst, Graf! . . . Nur Narren, nur Narren thun das! Ich danke ergebenst.« Und er selbst ist ein solcher Narr mit seinen zitternden Comptoirhänden, seinen unruhig flackernden Augen, ein vornehmer Narr, dem wir alle nicht das Wasser reichen. – ›Man hat doch ein Gewissen!‹ – Jawohl, du hast eines, kleiner Mann, und ich werde dich auch zwingen, wieder aufzutauchen zu den anständigen Menschen, zu denen du gehörst. Ich bin ja wieder reich. Warum soll ich nicht bei dir mal Schicksal spielen? Du bist mir sogar lieber als der lange Twesten, der deine Schulter klopft und ironisch beistimmt: »Sehr richtig, Herr Kamerad. Die Ehe ist höchstens als Training zu betrachten – was meinst du, Karlchen?«

Karlchen knurrt. Karlchen ist überhaupt schweigsam, verstimmt. Und je mehr er trinkt, je stärker sich das Vogelgesicht rötet, um so mehr wächst irgend ein geheimer Groll. Ich weiß nicht, ob mir der Groll gilt oder der Alkohol die 69 Mißtrauensanwandlungen ruft, die so großmütig vergessen waren. Die Vogelaugen ziehen sich zusammen, die Monoclefalte markiert sich scharf. Vielleicht schwelgt er in Erinnerungen – mein Sieg bei Gräfin Lagrange damals war etwas leicht, etwas sehr leicht.

Ich könnte über die beiden lachen – über ihn, dessen schwimmende Augen mich durch den Zigarrenqualm suchen, über sie, die graziös im Fauteuil ruht, die Zigarette zwischen den Lippen, die feine Fessel entblößt, wie sie mir von der Liebe erzählt, die sie nie verlassen, und ihren Anbetern, denen sie immer entflohen – und das, während der Juchtengeruch dem schwarzen Kleide entströmt, die Augen kalt leuchten in Gedanken an neue Juwelen, neue Verschwendung, indes ich aus jedem Satz genau heraushöre, welche Ausdrücke und Gedanken sie mir stahl, und welche und wie viel mehr noch sie den tausend andern, vor oder nach mir, entlehnt hat. Ich lache nicht. Ich lächele – ein gekniffenes Lächeln. Der seltsame Entschluß von der Rennbahn steht fest, er macht mir kein Grauen. Nur das Wie? – Ich bin nüchtern, so viel ich auch getrunken habe, und der Nikotinrausch, der Alkoholdunst, die auf die andern Gesichter ein so befremdliches Licht werfen, thun mir so wenig wie einem von der Schlange Gebissenen der Cognac, selbst wenn er ihn literweise hinabgösse. Aber das Wie, die Komödie, die den Anlaß geben soll, kann ich nicht zusammendichten. Die Gelegenheit muß ein andrer machen. Und es darf auch nicht hier sein, ich will mehr Spelunke, mehr Gemeinheit, daß der eigne scheußliche Wunsch darin untertauchen kann wie in etwas selbstverständlich Gleichem . . .

Es ist doch wohl kalter Wahnsinn, eine Spielart der Geisteskrankheit, die meine Nerven zufällig strafft, andre vielleicht lähmt. Ich will – ich will! Ich bin ein Mensch, der mit Scheuklappen auf sein Ziel 70 losgeht . . . Neugierig bin ich nur, wenn alles vorüber ist, was dann das sogenannte Gewissen und der Verstand sagen werden? Karlchen Serner stirbt – und ich liebe nicht mal Asta Le Fort.

Endlich wird die Sitzung aufgehoben. Es ist Zeit. Der Agent schwankt leicht, Karlchen ist leichenblaß.

»Doch zu Lukas?« fragt Twesten, während ihm der kleine französische Kellner den hellen Sportpaletot anzieht.

»Selbstverständlich!« Die »Gräfin« bekommt an Vergnügen nie genug.

Aber Karlchen zaudert, murmelt etwas, sieht mich oder die Gräfin oder uns beide scharf an. Dann sagt er beleidigend laut: »Was gehen Sie eigentlich in Schwarz – Sie? Ueberlassen Sie das doch Damen! . . . Recht aufgedonnert, das stände Ihnen!«

»Menage, Menage!« warnt Twesten.

Die Gräfin, die sich erst an mich geschmiegt, läßt mich, geht fauchend auf Serner los: »Bekümmern Sie sich um sich, Outsider!«

»Outsider ist nicht schlecht, Karlchen. – Fortsetzung bitte erst vor der Thür, meine Herrschaften. Spektakel vor Kellnern liebe ich nicht.« Twestens ruhige Ironie wirkt. Wir passieren ohne Zwischenfall die teppichbelegten Treppen. Draußen weht's kühl, die Laternen flackern. ›Serner hat genug, wird nach Hause ziehen,‹ denke ich. Er rennt aber stiernackig in sein Geschick. Den kerzengeraden Gang hätte ich ihm nicht zugetraut – auch das verbissene Schweigen nicht. Es ist überhaupt eine schweigsame Expedition, deren Spiegelbild auf dem Asphalt in riesenlangen Schatten dahingleitet; nur einer wankt von Zeit zu Zeit, das ist der Mann mit dem neuen Sommeranzug.

Vor der Thür des Restaurants der deckelnde 71 Diener. Karlchen, der bisher geführt hat, macht Front. »Die Frau Gräfin und Gemahl zuerst, bitte!« Ich zucke die Achseln. Wünscht vielleicht auch er ein Rencontre? Mir ist die Bemerkung nicht albern genug als Anlaß.

Dies Lokal ist endlich das rechte. Gepreßte Ledersessel, Delfter Majoliken, auf dem Schenktisch ein brodelnder Wasserkessel und die seltsam geformten holländischen Liqueurgläser; davor auf Schemeln hockend zwei halblaut lallende Dandies, die sich stier umsehen. In der Luft liegt der heiße Dunst von Grog und süßlichem Alkohol. Hier amüsiert man sich nur nach Mitternacht. Gräfin Lagrange empfindet die schwerfällige Eleganz, das rote, verschwiegene Licht wie ein Lebenselixir – hier ist sie zu Hause.

»Gardeducorps!« Der Herr am Büffett präpariert die Mischung, der Aufwärter bringt ägyptische Zigaretten. Wir sind wohlbekannt um diese Zeit – einmal zu laut, einmal zu schweigsam. Heute das letztere. Twesten drückt sich in eine Ecke, kneift die Augen zusammen – »der Rauch beißt!« – sieht mich plötzlich groß an. »Weißt du, wie du aussiehst, Louis? Wie ein Verbrecher.«

»Danke.« Und ich fühle, daß er recht hat, daß diese verdorbene, schwere Luft den Raubtierinstinkt weckt, der schon schlummern wollte.

»Heute möchte ich gegen dich kein Rennen reiten, Louis!«

Karlchen, der stumm eine kleine Roulette surren läßt, sieht auf, blinzelt, thut, als wenn er schlafen wolle.

»Ach, erzählen Sie doch von dem Rennen, Graf! Wie war's eigentlich? Sie erzählen so gut,« bittet die Gräfin. Sie weiß, daß ich diese alte Geschichte nicht liebe – und daß sie Serner noch viel weniger liebt. Darum schließt der auch jetzt die Augen.

72 »Also . . . Wie war's doch? . . . Also . . . Ja . . . Carén hatte den wunderbaren Gaul, die Irina . . . todsicher erster! Es sollte über Hindernisse gehen, Preise waren sehr mäßig. Ich hatte mir Zoll für Zoll die Bahn angesehen. In der Mitte eine Art Sumpf, den man umreiten muß, wenn man nicht ersaufen will. Der verwünschte Sumpf . . . Mir fiel auch die berühmte Rosenbergsche Geschichte ein, wie der sich einen sehr verschmitzten Pfad mit Reiskörnern markiert hatte und den Favoriten mit Moßner im Sattel glänzend schlug, obgleich der herausholte, was er konnte. Und, weiß Gott, das Manöver geht auch hier! Ich trample mir einen Weg zurechte . . . Nur Carén nichts merken lassen! Es geht nämlich nichts über wahre Freundschaft . . . Wir gondeln also tags drauf beim Rennen los. Carén kommt vorzüglich vom Start, ich mit meiner Zicke bin ihm hart an den Eisen. Die Irina macht ihre Sache wunderbar. Carén zum Skelett abtrainiert, um das Maidengewicht auszunützen, liegt vorn, rührt sich nicht – hat sich in den Kopf gesetzt, erst im Einlauf vorzugehen. Karlchen ist ganz hinten, macht vor jedem Hindernis ein kleines Schläfchen –. aber sonst seelenvergnügt. ›Warte, Louis!‹ denke ich, ›dir werden wir den Zaum schon pinseln!« – Am Sumpf der Favorit links ab – großartiger Galopp – das Feld hinterher. Ich geradeaus auf meinem Schmuggelwege, mir nach galoppiert nur der kleine mißtrauische Lechow, der später so elend um die Ecke ging, kommt höchstens als zweiter an, geniert mich also weniger. Ich reite aber, was das Zeug hält, denn der Teufel traut dem Apotheker. Nicht zur Seite geschielt, nur nach Hause! – Die Irina konnte ja überhaupt nicht mehr in Frage kommen. – Und plötzlich treibt der Dragoner hinter mir scharf, schärfer. Den Kerl muß der Teufel reiten . . . 73 Dann kommt so ein dumpfer Laut von den Tribünen her, ein paar schreien. Es geht was vor. Ich bin auch glücklich durch, wieder auf dem Geläuf. Nun gieb her, was du hast, Gaul! . . . Die Tribünen toben. An der letzten Hürde bleibt der Dragoner zurück. Und da – ja da . . .«

Und da . . . Ich höre die schleppende, trockene Erzählung nicht mehr. Ich reite mein Rennen noch einmal selbst. Ich sehe mich an der verhängnisvollen Ecke abgaloppieren, den Preis schon in der Tasche – und eine Sekunde später den Twestenschen Braunen wie ein Gespenst mitten durch den Sumpf ziehen. Einen Moment mag ich wie versteinert im Sattel gesessen haben, während die Tribünen, die Hindernisse, selbst die strahlende Sonne vor meinen Augen tanzten – einen Moment nur! ›Der Gaul oder ich!‹ – und da reiße ich mich von dem verlorenen Felde los, das ich führte. Ich will siegen. – Ich habe sinnlose Tierquälerei stets verabscheut, das Pferd war mir der liebe Kamerad, aber in jenem Augenblick fühlte ich die kalte Raserei in mir aufsteigen, die ungemessener Eitelkeit entquillt und der jedes Mittel recht ist. Der Preis, die lumpigen zwölfhundert Mark reizen den Verschwender nicht, wohl aber der Platz, die sogenannte Ehre, das Beifallsgeheul, das diesem Gewaltritt doch nicht versagt blieb. Ich ritt die edle Stute ohne Wimpernzucken zu Schanden. – Die letzten tausend Meter mußte die unvergleichliche Steherin fliegen. Und sie flog. Irina war kein nervöses Tier, den ersten Sporendruck verstand sie darum nur halb. Wohl streckte sie sich schnaubend und ließ das Rudel weit zurück, aber noch immer war's der vornehme, lange Steeplergalopp, der scheinbar mühelos jede Entfernung maß. Das »Mehr«, das Ausreiten so weit vor dem Ziel, wie das Hohngelächter des zweiten 74 Platzes befahl, verstand sie nicht. Der erste Peitschenhieb lehrte es sie. Jetzt begriff sie. Und da gab sie her, was sie hatte. Die Tribünen verstummten langsam. Zuerst hatte die Leute der findige Twesten interessiert und die Schindmähre hinter ihm, wie der Trick immer die Menge begeistert – jetzt interessierte sie der tollgewordene Favorit, der die zweihundert Meter Umweg holen wollte, gleichviel, wie teuer bezahlt. – Und er holte sie! – Einige höhnende Rufe noch . . . dann vernahm ich keinen Laut mehr. Ueber die letzte Hürde ging ich im Flug, dann an Lechow vorüber, der wahnsinnig treibend das Tempo verschärfte. Twesten schielt zurück. Ich bin ihm an den Eisen. Und jetzt treibt er auch! Sein Pferd war noch frisch. Irina hatte nichts mehr. Die Tribünen ahnen es. Ein verschwommener Laut, ein höhnisches Murmeln, das wie eine Welle über den Rasen an mein Ohr dringt und mich treibt, das Unmögliche zu versuchen, während Twestens Brauner unter scharfer Peitsche in den Einlauf geht. Einem ausgepumpten Tier das herauszuholen, was es nicht mehr hat, ich brachte es fertig. Irina, an Kopf und Hals sehr empfindlich, fühlte den ersten schweren Hieb die Ganasche lang, als ihr der wütende Schmerz die entschwindende Kraft wiedergab. Und triefend, stöhnend kam sie auf, wie elektrisiert von der Raserei des Reiters . . . Gnatsch – gnatsch! . . . immer derselbe scheußliche Hieb, der sie dem Braunen endlich an die Gurten brachte . . . Gnatsch, gnatsch . . . Ich habe noch den Ton in den Ohren. Die Tribünen regen sich auf, reiten mit. »Feste, feste!« Die Bande packt der wilde Taumel, wo sie rot sieht – dazwischen nur wenige empörte Schreie, »Pfui, pfui, das arme Tier!« – aber die Begeisterungswelle verschlingt es sofort . . . Gnatsch – gnatsch! Ich haue ohne Pause. Ich sehe, wie 75 Twesten treibt, treibt und nicht vorwärts kommt; dann schimmert nur noch ein brauner, nasser Hals neben vor. Irina streckt den Kopf als erste durchs Ziel. Der Lohn dafür: Lachen, Toben, ein Sturm des Beifalls, denn auf das Mitleid besinnt sich die Masse erst fünf Minuten später. Als ich in Handgalopp fallen will, stolpert die Stute – bricht nieder – verendet . . .

Ich will die Erinnerung an diesen Tag nicht; sie gewöhnte mir meine Rennpassion glücklich ab. Aber wieder fühle ich das kalte Rasen über meinen Rücken rinnen, ein Strom, genau so mitleidslos, so eisig wie der, als ich heute den Händedruck der beiden sah.

Auch Twestens Erzählung scheint zu Ende. »Bravo, Outsider!« Das vernehme ich noch gerade, weil es halblaut gesprochen ist, vorsichtig. Aber der schlafende Serner zuckt leicht mit den Wimpern, und die Adern an der Schläfe spielen. Daran erkenne ich, daß es mit diesem Outsider eine besondere Bewandtnis haben muß. Mir dämmert auch etwas . . . Und da fühle ich stärker die Kälte über meinen Rücken rieseln. Während der sinnlose Ritt mir noch jetzt herzlich leid thut und kein Ruhmeskitzel den Ekel vor meinem Thun abschwächt, kann ich doch mit gekniffenen Lippen kaltblütig an das denken, was ich eigentlich hier will.

Twesten erzählt weiter: »Nach etwa zehn Minuten kam nämlich Karlchen ganz gemütlich angeritten, von ironischem Beifall überschüttet. Sieht sich höchst verwundert um, klettert von seinem Schinder. Auf dem Wege empfing ihn ein Kamerad mit einem faden Witz, nicht böse gemeint, so eine Schuljungendummheit, mit der wir Karlchen schon auf der Kriegsschule bis zum Wahnsinn ärgern konnten. Irgend ein Großvater von ihm soll nämlich stiller Socius von einem Cheviotfabrikanten gewesen sein, daher 76 die Moneten. Zu guter Letzt ist doch nichts dabei, aber Serner wird nun einmal rabbiat bei jeder Anspielung und ›huppte‹ als ausgewachsener Mensch noch mal darauf – direkt tobsüchtig, es war eine Scene, die ›jemand‹ unmöglich machte, obgleich sie vertuscht wurde. Jeder hat eben seinen Kanarienvogel, da hilft nichts – Carén hat wieder einen andern . . . Karlchen, du schläfst doch?«

Karlchen rührt sich nicht. Aber, wie ich scharf hinüberäuge, kann ich das Auge zwischen den Wimpern schimmern sehen, und die Schläfenadern liegen wie blaue Stricke in der blassen Haut. Er will nichts hören und hört alles.

Darauf fragt die »Gräfin« neugierig leise: »Was sagte eigentlich der Herr zu ihm?«

»I was! Eine Dummheit war es. Sie sind auch neugierig wie eine Elster.«

»Ach, sagen Sie, bitte, Graf! . . . mir ins Ohr. Seien Sie doch gut!« Und sie drängt sich an Twesten mit einem schadenfrohen Zucken um den Mund.

»Na, endlich auch angelangt, Tuchreisender? – Das war der ganze Witz,« flüstert er zurück.

»Tuchreisender,« wiederholt die Gräfin leiser. Und plötzlich hebt sie das Glas. »Na, dann Prost, Tuchreisender!« Das ist, laut gesagt, provozierend. Sie wollte auch nichts andres.

»Sind Sie denn ganz des Teufels!« knirscht Twesten.

Karlchen öffnet langsam die Augen, sieht uns der Reihe nach an. »Wer sagte eben Tuchreisender?« Die gezwungene Ruhe strafen die zitternden Lippen Lügen.

Die Gräfin schweigt.

»Wer sagte eben Tuchreisender?« fragt er wieder, diesmal ganz heiser.

»Ich!« antwortete die Gräfin schnippisch. »Schneider sind auch Leute.«

Karlchen sitzt mit offenem Mund, die Zunge 77 bewegt sich, ohne daß sie ein Wort herausbringen könnte. Er kennt sich kaum noch. Mein Augenblick ist da. Wer die nächste Thorheit sagt, ist geliefert. Ich zögere einen Moment und weiß dabei so genau, was ich will, bin so eiskalt, daß ich noch den Gedanken denken kann: ›Wir haben das Opfer in die Spelunke geschleppt, betrunken gemacht, jetzt rauben wir es aus‹ . . . Darauf bemerke ich ganz leichthin: »Tuchreisender? Wie kann man sich über den Ausdruck aufregen? Sie heißen doch nicht Isidor, und Ihre Vorfahren haben doch nicht in Galizien mit alten Hosen gehandelt. Die Gräfin meinte es wirklich nicht schlimm . . .«

Karlchen trinkt noch gewissenhaft seinen Gardeducorpsrest aus – die Hand ganz fest am Glase –, erhebt sich langsam und sagt, ohne mich anzusehen: »Nun, daß Sie, Herr Graf, weiter nichts sind als von dieser sogenannten Dame ein . . .«

Warum das häßliche Wort wiederholen? Es ist eine Beleidigung, so sinnlos, daß ich sie vergessen müßte, und so brutal, daß ich sie nicht vergessen darf.

Die Gräfin Lagrange schreit auf. Twesten zuckt die Achseln. Ich kann nur lächeln. Aber wie Serner zwischen unsern Stühlen durch hinaus will, springt ihm Jaromir entgegen, der bis zum letzten Wortwechsel geistesabwesend und schwermütig auf die klebrige Tischplatte gestarrt hat. »Sie dürfen nicht lebendig vom Fleck, Herr!« Er regt sich mal wieder unnötig auf.

Ich wünsche eine Prügelei nicht. Der Aufwärter guckt schon neugierig um die Ecke. »Ueberlassen Sie alles übrige mir, lieber Jaromir, wenn ich bitten darf!«

Jaromir sinkt die Hand, und Serner verläßt das Lokal. 78

 


 


 << zurück weiter >>