Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Drittes Kapitel.

Es ist Mai – Frühling. Und wenn in warmer Nacht das helle Blattgrün am Kanalufer säuselt und das schwarze, dumpfe Wasser das gelbe Licht der Gaslaternen funkelnd zurückwirft, dann träumt auch Berlin von Lenz und Blühen und wogenden Wohlgerüchen. Die weißen Rispen der Kastanien leuchten, von den Akazien strömt süßer Hauch. Man glaubt an den Frühling, man atmet ihn ein in solcher Nacht. Dann kommt der Tag mit seinem Pferdebahngeklingel, seinen Menschenströmen, seinen Miasmen. Ein falscher Frühling grüßt von den Hüten und Toiletten, wohl auch aus Frauenaugen, aber es bleibt bei der Vorstellung, beim Reflex. Den wahren Frühling kennen sie nicht und wollen ihn auch nicht kennen. Ich kenne ihn auch nicht, aber ich möchte ihn doch kennen. Dieser Wunsch trennt mich eigentlich schon von tout Berlin.

Dabei wandle ich gerade durch den Tiergarten, der grünt und glitzert vom Wasser des Sprengschlauches. Jetzt, wo der Lustpark Berlins am frischesten aussieht, erscheint er mir am tristesten – eingeengt, atemberaubt, ein armer Gefangener, umschlungen von den Wellen des Häusermeeres, die ihn hätscheln, pressen und ihm die junge 157 Freiheitsluft aussaugen mit Staub und Rauch und ewigem Tosen. Neben mir schlendert auch so ein falscher Berliner Frühling: die blonde Ethel. Sie hat mich nach der Rousseau-Insel bestellt und ist merkwürdigerweise auf die Minute zur Stelle. Aber ehe sie mich begrüßt, umschleicht sie langsam und argwöhnisch das Raubtier Carén.

»So sehen also Leute aus, die gemordet haben! . . . Und Sie läßt man ganz frei 'rumspringen? Ich habe mir Mörder immer ganz anders vorgestellt . . . Ach, machen Sie deswegen kein ernstes Gesicht, Graf; Sie sind ja wieder 'raus aus Ihrer Festung und sollten sich der jungen Freiheit freuen . . . Sie sehen nicht mal viel anders aus als früher, jedenfalls nicht wie ein entlassener Sträfling – aber auch nicht mehr so hyperelegant. Früher habe ich immer geglaubt, Herr Graf, Sie gingen regelmäßig mit dem Monocle ins Bett, jetzt kann ich Sie mir ganz gut ohne Monocle vorstellen, ja sogar in einem fleckigen Anzug und ohne durchgezogenen Scheitel . . . Es ist mir jetzt überhaupt ein Vergnügen, die Leute nach meinem Belieben aus- und anzuziehen. Ich finde, wenn man die Löwen gewöhnlich anzieht, sehen sie auch gewöhnlich aus. Ich hatte immer einen Hang für das Gewöhnliche, das wissen Sie ja – und mit den Jahren wird das immer stärker.«

»Aber gnädiges Fräulein sind noch nicht neunzehn!«

»Das macht's doch nicht etwa!«

Darauf biegt sie ganz ruhig mit mir in die Charlottenburger Chaussee ein. Die Kleine ist noch hübscher geworden, pikanter, aber mich dünkt trotzdem, sie hätte auch eine Festungshaft hinter sich. Meine eigenwillige kleine Freundin ist sie geblieben. Sie sieht mich immer von der Seite an mit ihren blauen Augen, an denen die langen Wimpern mattgoldig glänzen.

158 »Sie können auch nicht mehr plaudern, Graf, und zum Plaudern habe ich Sie doch eigentlich bestellt . . . Ich kann nämlich selbst nicht mehr plaudern. Man verlernt so schnell . . . Sie sind eigentlich doch ein schlechter Mensch, erinnern Sie sich noch?«

»Sie meinen wegen der Bomulundergeschichte, gnädiges Fräulein?«

»I wo! Da meinten Sie's ja gut mit mir . . . Uebrigens bin ich selbst schlecht! Ich fühle mich auch nicht mehr wohl zu Hause, ich möchte weg . . .«

»Von Berlin auch?«

»Um Gottes willen nicht! Berlin bleibt Berlin. Aber ich möchte hier allein sein, vielleicht als Konfektioneuse oder so etwas, wo ich wirklich frei bin. Zur Kindergärtnerin bin ich zu leichtfertig, zur Gouvernante zu dumm – fremde Bälger zu erziehen, erscheint mir überhaupt so widersinnig. Jedoch vor allem möchte ich arm sein.«

»Danken Sie doch Gott auf Knieen, gnädiges Fräulein, daß Sie es nicht sind.«

Ethel zuckt gelassen die feine, runde Schulter. »Das sagen Sie so! Die Phrase steht Ihnen nämlich nicht mehr, Herr Graf . . . Was haben Sie übrigens von Ihrem Reichtum gehabt, wenn ich fragen darf? Daß Ihnen zu guter Letzt kein Wein und keine Zigarre teuer genug war, daß Sie sich einbildeten, alle hübschen Mädchen wären nur für Sie da – und daß Sie auch noch einen unschuldigen Menschen erschossen. Das kommt alles vom Reichtum und vom Genießen. Wenn Sie Straßenkehrer gewesen wären und er auch, und Sie hätten Händel gehabt, so hätten Sie ihm eins mit dem Gummibesen gegeben und er Ihnen eins wieder. Dann hätten Sie sich vertragen. Und wenn Sie ihn in der Wut doch zu scharf getroffen hätten und er 159 wäre daran gestorben, so hätte man Sie in ein Gefängnis mit gemeinen Verbrechern gesteckt. Aber so sind Sie Graf, waren reich – und weil Sie jemand kaltblütig abgemurkst haben, gelten Sie vor Ihresgleichen und vor dem Gesetz eigentlich weit mehr als früher. Das ist eine schöne Gerechtigkeit! . . . Sehen Sie, ich habe eine sehr elegante Frühlingstoilette an, und jedes arme Mädchen würde sich kindisch über das Kostüm freuen und es täglich hundertmal streicheln, weil's so teuer ist – und ich empfinde ganz entgegengesetzt. Ich könnte mich hier auf der Charlottenburger Chaussee hinstellen und den Rock aus reiner Zerstörungslust von oben bis unten aufreißen – ja, das könnte ich!« – Das sagt die blonde Person so ruhig und überlegt, daß eine solche Moral aus solchem Munde mir gar verwunderlich scheint. Und sie hat recht! . . . »Wissen Sie, was uns beiden fehlt, Herr Graf? Die wirkliche Arbeit und die wirkliche Sorge! Das habe ich in den drei Vierteljahren herausbekommen, wo wir uns nicht gesehen. Man behandelt mich nämlich zu Hause schlecht; freilich, es macht sich immer so, daß ich das schwarze Schaf bin. Aber weg läßt man mich nicht! . . . An Ihrem schlechten Rate von damals laboriere ich noch. Und doch war mir dieser schlechte Rat sehr gut. Ich hätte ohne Sie den Bomulunder wo möglich doch geheiratet und wäre eine brave Tochter und eine sehr schlechte Frau geworden. Ich hätte ihm ganz sicher in den ersten vier Wochen Hörner aufgesetzt, riesengroße, wie er sie verdient – aber darunter hätte niemand gelitten wie ich selbst. Nun that ich's nicht, blieb anständig. Sie ahnen nicht, was mir das gekostet hat! – Meine Eltern . . . Ja, . . . ja . . . – alle beide! Denn ich bin gerissen genug, um jetzt das ganze Kartenhaus zu durchschauen, ja, ich möchte es sogar 160 zusammenblasen, um mir und meiner Schwester zu helfen, meiner guten, vornehmen Schwester, die alles in sich hineinfrißt und gar nicht weiß, daß man auch mit ihr eine häßliche Komödie spielen wollte. Mein Vater und meine Mutter haben es mir sehr übelgenommen, daß ich mich nicht für das Geschäft opferte. Deshalb bin ich auf einmal verlogen, undankbar, kaum besser als ein Mädchen von der Straße. Gesagt wird nie ein Wort – aber ich fühle jeden Nadelstich haarscharf . . . Wenn ich in den Kanal ginge, thäte ich ihnen einen Gefallen – meinem Vater auch. Dessen Leben ist das Geschäft, und seine Kinder sind vom Geschäft, und deshalb müssen sie auch etwas für das Geschäft thun. Ich habe dem Geschäft Unglück gebracht – das Geschäft geht nicht mehr! Die Kohlenstaubverbrennung hat irgend einen wunden Punkt, deshalb muß immerfort gereist werden, bald nach Frankreich, England, Rußland, um Patente zu verkaufen – eines immer mindestens eine Million teurer als das andre! Das ist aber gelogen. Ich habe einen Brief von einer großen Gesellschaft in Lüttich an meinen Vater gelesen. Darin bedankt man sich ironisch für diesen kostbaren Kohlenstaub, der eine Explosivkraft hat, um alle Kessel zu sprengen, und der, wenn ein Schiff in Adelaide Kohlen einnehmen wollte, erst in Berlin geheimnisvoll präpariert werden muß. Der schwedische Ingenieur hat eben meinen Vater 'reingelegt. Natürlich, das ist zu ändern und würde auch geändert werden, wenn nicht Bomulunder unser rücksichtslosester Feind wäre, und wenn die Börsen noch wie früher das riesige Plus brächten. Sie bringen's nicht mehr! Sonst steckten Papa und Mama nicht halbe Tage zusammen und sprächen ausschließlich englisch wegen etwa horchender Dienstboten. Ich horche, wenn's irgend geht! . . . Sehen 161 Sie, ich bin so schlecht geworden, daß mich jeder Mißerfolg in der Händelstraße freut. Mögen sie alles verlieren, mögen sie arm werden, mir soll's recht sein! Mich hat der verwünschte Reichtum so maßlos unglücklich gemacht, daß ich den Tag wie eine Befreiung begrüßen würde, an dem man mich auf die Straße wirft, weil man mich nicht mehr ernähren kann . . . Und Asta ahnt nichts; wie sollte auch gerade sie durchsehen, sie, die so wahnsinnig geliebt wird!«

Ich höre alles – und doch interessiert's mich kaum. Hat uns alle die kurze Spanne Zeit so viel älter und härter gemacht, daß wir egoistisch nur für uns zu empfinden vermögen? Die Blonde empfindet auch nur noch für sich selbst. Das Hasten und Jagen nach dem eignen Glück – darüber hinaus ist die Grenze unsers Verstehens. Sie war mir fast unheimlich, die Kleine mit dem prickelnden Jugendreiz und der kühlen Freude am etwaigen Unglück andrer.

Der Tiergarten blüht und duftet, wie's diese arme, gequälte Natur vermag. Auf den Reitwegen trabt's und galoppiert's, Pferde schnauben, der feuchte Hals glänzt, unter blitzenden Hufen wirbelt der gelbe Sand auf. Die Lebewelt kehrt vom Vormittagsritt heim. So viel schlechte Reiter und so viel gute Renner! . . . Funkelnde Uniformen, chike Toiletten, frische Farben, jeder Frühjahrshut ein kleines Blumenbeet. Es ist alles so elegant und fesch und lebensfreudig, und die dicke Judenmadame auf dem langtrabenden Hunter ist auch an ihrem Platz, – die Schusterjungen müssen doch eine Zielscheibe haben für ihren grünen Witz. Die goldene Siegesjungfrau strahlt im lichten Glanz, die Kuppel des Reichstags flimmert, der Rauch aus den Schornsteinen wirbelt gar lustig. Alles grüßt und glitzert 162 und freut sich. In den sonnigen Laubgängen schlenkern die Schulmädchen ihre Taschen und lachen, die Kinder trippeln und jauchzen, echte Vögel singen, hinter dem Sprengwagen zieht der Wasserdunst wie weicher Wohlgeruch her. Die Eindrücke überhasten sich, allen Sinnen strömt's zu, jung und freudig – es ist ja Frühling in Berlin. Ja, Frühling! Man kennt ihn so lange, so intim, man hat ihn jedes Jahr lebenstoll begrüßt als die reizendste Offenbarung der Weltstadt. Und jetzt? Es ist mir ein kranker, nervöser Frühling, der zu viel des Guten thut – das unvergleichliche, bethörende Zerrbild des echten Frühlings. Der echte liegt mit süßer Schwere in den Gliedern und blinzelt so verführerisch, daß man sich ins Gras streckt und träumt – der falsche hier macht gar nicht müde, regt an, und man beschließt den Tag immer am genußreichsten mit einem guten Souper bei Hiller.

Wie bin ich doch auf einmal so klug und skeptisch und vermag die Edelsteine von den Glasflüssen zu scheiden.

Auch der blonden Ethel sagt der Frühling nichts, obgleich sie keinen andern kennt.

Wir sind am Brandenburger Thor. Da quillt es heraus, bunt, vielgestaltig, Droschken, Menschen, die frühlingstoll sind. Wie ein alter Gaul will ich den alten Weg nach den Linden weitertrotten. Da tippt mir die Blonde auf den Arm.

»Wir wollen lieber fahren.« Ich bin sofort bereit und rufe einem ziellos des Weges bummelnden Schwarzlackierten zu. Da tippt der weiße Handschuh wieder. »Nicht Droschke! Hier kommt ein Omnibus . . .«

»Wie gnädiges Fräulein befehlen.« Wir klettern in das abscheulich ratternde Gefährt. Ich glaube, es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich Omnibus 163 fahre. Und wie die knirschenden Wagenfedern so zwischen den engen Riesensäulen des Brandenburger Thors durchwanken, die Fontänen auf dem weißen weiten Pariser Platz die glitzernden Wasserfluten über den Sammetrasen hinstäuben und die hellgrünen Linden im Frühlingswind beben – ist es der plebejische Omnibus, ist's dies letzte nicht verlorene Jahr? – die vornehme, glänzende, buntwimmelnde Avenue sagt mir absolut nichts. Es sind Puppen, wohlgekleidete Puppen, die Puppengefühle spazieren führen, reiten oder fahren. All den Leuten gilt die Haarfrisur mehr als was darunter, der anständige Rock mehr als die anständige Gesinnung. Auch hier dieselbe Erfahrung wie bei Gräfin Lagrange. Wo ist das Intime, Prickelnde, das mich doch entzückt haben muß, wenn ich nicht der absolute Laffe war? Es muß da sein! Eine meiner viel kolportierten, häßlichen Redensarten von früher, wenn jemand sich über ein schönes Gesicht ereiferte, hieß: ›Ziehen Sie doch, bitte, Ihrer Beauté nur das Fell von der klassischen Nase und behaupten Sie dann noch, die Nase sei klassisch. Bei einer Frau hängt eben alles von einem Atom ab.‹ Es sollte ein Witz sein und ist nicht mal einer; darum gefiel er wohl so gut. Hier wäre die Prozedur eine unnötige Grausamkeit! Man braucht diesen Leuten nicht das Fell abzuziehen, nur die Kleider. Man braucht diesen großen Geschäften nur die Auslagen zu stibitzen, und keine Demaskierung könnte häßlichere oder wertlosere Wirklichkeiten ergeben.

Aber ich suche doch wenigstens nach dem Intimen, ärgere mich, daß ich das Gegenteil finde; die Achtzehnjährige neben mir sucht nicht und wundert sich schon längst nicht mehr. Sie sieht mit blauen, kalten, gleichgültigen Augen nach rechts und links – nach den stummen Ministerien, wo mäßige Staatsweisheit mit Schmerzen geboren wird, nach den 164 Botschaften, wo sie Diplomaten meiner Geistesrichtung erziehen, nach den lauten Cafés, wo die Fremden wähnen, sie seien mitten drin in tout Berlin. Mir versinkt mal wieder eine Illusion – ihr zerflattert nur ein leichter, leichter Schleier. Auch als die Hohenzollernschlösser auftauchen – das historische Eckfenster, bar des Kaiserprunkes, aber erfüllt von der großen Tradition des preußischen Königtums, das historische Eckfenster, wo mir immer die Hand nach dem Hute zuckt, weil ich das ehrwürdige Greisenantlitz Wilhelms des Gütigen schimmern sehe; als sich die Linden an dem Denkmal Friedrichs des Großen weiten und bis zum Koloß des grauen Schlosses hinunter aus jedem Stein, aus jeder Säule das königliche Brandenburg schaut und selbst die Bäume des Kastanienwäldchens, die dunkel flutende Spree das eherne Preußentum umwittert – da möchte ich auch gern in den blauen Mädchenaugen den historischen Schauder zittern sehen, die Ehrfurcht vor dem einzig Echten, das diese Avenue des Scheins enthüllt. Aber die Augen gleiten nur mit kindischer Neugier nach dem neuen Kaiserschloß, dessen graues Riesenquadrat das Kaiserdenkmal am Wasser zu einer kleinlichen Dekoration herabdrückt. Die Blonde ist eben eine Fremde; die neue Herrlichkeit, die aus der Tradition rücksichtslos heraustritt, interessiert sie allein. Wann trennten Weiber vom Wesen den Schein!

Aber auch das Schloß versinkt. Der rasselnde Omnibus ist ein erbarmungsloser Realist. Und wenn es überhaupt je in den Frauenaugen aufflackerte, so war es ein schnell erloschenes Flackern. Wir sind jetzt mitten drin im arbeitenden Berlin, wo die Mietskasernen zum Himmel steigen, der große Laut den kleinen Ton verschlingt und eine übermächtige Zahl die einzelne Eigenart ertötet. Jetzt zittern erregt Ethels feine Nasenflügel, die Augen glänzen.

165 »Kommen Sie, Herr Graf, wir wollen aus diesem häßlichen Omnibus heraus! . . . Gefällt es Ihnen in der Gegend nicht? Mir gefällt's!«

Und mit Befremden sehe ich, wie die reinen, roten Lippen den faden Schmutzgeruch der Straße wollüstig aufsaugen. Das ist in der That moderner Geschmack! Aber ich mag der Blonden wohl unrecht thun. Es ist vielleicht das große Mitleid des Weibes, das diese schmutzige, graue Menschenhorde liebt, weil sie elend ist und verkommen.

»Es ist Ihre Gutmütigkeit, gnädiges Fräulein,« sage ich.

Sie sieht mich lächelnd an. »Gutmütigkeit – wieso? Ich liebe Gutmütigkeit gar nicht. Gutmütigkeit ist Schwäche. Aber diesen Dunst, diese Menschen, dieses Leben liebe ich von Herzen. Sie denken wohl auch, das paßt schlecht zu dem eleganten Kostüm und zu den weißen Handschuhen und zu meinem Vergißmeinnichthut? War ich vielleicht früher anders? O nein! Ich habe gar keine Wandlung durchgemacht, ich habe mich nur auf mich selbst besonnen. Zu denen da gehöre ich – zu denen, denen, denen! Sehen Sie mich nur erstaunt an, Graf und Edler Herr von Carén zu – auf – bei! . . . Das mit dem Le Fortschen Reichtum ist Unsinn und das mit der Vornehmheit erst recht! . . . Solange ich lebe, bin ich elegant, verwöhnt – und dennoch unglücklich gewesen, weil's eben Lüge ist, weil ich nicht in die Sphäre gehöre . . . Können Sie das Fenster im vierten Stock da sehen in dem Hause, wo es unfehlbar so viele blinde Fenster giebt wie Tage im Jahr? Ein Vogelbauer ist draußen festgebunden und ein Schwamm, wahrscheinlich ein Kinderschwamm. Da möchte ich wohnen, genau dasselbe wie die Frau oder das Mädchen dort, von der ich keine Ahnung habe, wie sie aussieht und 166 was sie ist. Aber Sorgen und Arbeit wird sie haben und auch einen Mann und Kinder. Einen Mann und Kinder möchte ich nämlich auch haben, wenn's auch ketzerisch klingt. Einen Mann natürlich, den ich liebe – nicht die Liebe, die in den Büchern steht, an der man stirbt und doch nicht stirbt! So eine Liebe braucht Asta, sie ist ja so altmodisch! Aber ich will einen Mann haben, der arbeitet und nichts hat wie ich . . .«

»Jaromir?«

»Ja – nein . . . warum eigentlich nicht? Den oder einen andern. Und ist es nicht hübsch von ihm, daß sein Vater kommandierender General war, und daß der Sohn doch arbeitet und sich der Arbeit nicht schämt? Selfmademan! Das war mein Vater ja auch und überdies ein ausgezeichneter Kaufmann, der all die andern in die Tasche steckte. Aber es bestraft sich immer, wenn einer heraus will aus seiner Sphäre. Dann bekommt er die unersättliche Gier nach dem Reichtum oder nach Stellung, so daß er am liebsten die ganze Welt betteln sehen möchte oder jeden Minister am Galgen, weil der nicht freiwillig abtreten will und doch sein Vordermann ist. Ich verstehe das nicht, ich bin gewöhnlich, darum werde ich meinen Weg machen wie Millionen, nicht wie die eine. Meine Mutter ist anders und Asta auch, die sind nicht gewöhnlich, Asta nun schon gar nicht, und die Mutter will's wenigstens um keinen Preis sein. Ich würde aber auch dafür nie in die Versuchung kommen, nur die eine Tochter maßlos lieben zu können und die andre höchstens zu hassen, weil es das einzige Gefühl ist, das ich noch übrig habe . . . Da schwatze ich wieder! Jedenfalls wird Herr von Jaromir nie ein ausgezeichneter Kaufmann werden, und vorläufig denke ich auch noch nicht im Traum an die Heirat mit ihm! . . . Aber als 167 Frau möchte ich Kinder haben, viel Kinder, mit denen ich mich quälen und ärgern müßte Tag und Nacht. Frauen ohne Kinder, die haben nichts zu thun und klatschen an allen Korridorthüren und beneiden jede Mutter in der Etage um ihren skrofulösen Bengel. Ich glaube, gewöhnliche Leute erziehen auch ihre Kinder am richtigsten. Wenn sie halbwegs flügge sind, dann 'raus und nicht mehr gegängelt! Wirst du was Rechts, dann freue ich mich, wirst du nichts, dann ist's auch gut, wirst du schlecht, dann habe ich dich doch so unsinnig lieb, daß ich dir immer wieder verzeihe. Das nenne ich freilich auch Affenliebe, aber es ist doch wohl das Richtige. Die reichen Leute erziehen ihre Kinder nach einem Prinzip. Wenn sie einschlagen, dann heißt's: ›Der Junge macht uns keine Sorgen‹; hapert's aber schon beim Lernen, dann heißt's großartig: ›Ja, als dein Vater so alt war – welches Muster . . . und nun gar erst die Mutter!‹ Und gewöhnlich waren die Alten auch faul und thaten nicht gut und hatten nur Glück. Der Apfel fällt ja nie weit vom Birnbaum . . . Ach ja, arbeiten und sich sorgen! Wenn man abends so müde ist, daß man ins Bett fällt . . . Und da muß auch alles vorzüglich schmecken, das Schinkenbrot und das Weißbier und jede Minute freie Zeit . . . Sie lächeln schon wieder überlegen, Herr Graf. Sie denken an die schmutzigen Hände und die zerzauste Haarfrisur. Ihre übertriebene Accuratesse ist auch nur Luxus. Weil Sie nichts zu thun haben, waschen Sie sich hundertmal die Hände, und weil Sie sich sonst totlangweilen würden, kommt täglich zweimal der Friseur. Leute, die arbeiten, die sehen all solche Kleinigkeiten gar nicht mehr. Und wollen Sie wetten: wenn mein Mann hungrig und müde nach Hause kommt, dann küßt er mich mit demselben Genuß auf die Stirn, 168 wenn auch die Haare darüber nicht frisch gebrannt sind. Gewöhnliche Leute lieben sich und nicht den Anzug, wie Sie's bei Ihrer Frau Gräfin geruhen würden. Wenn die Tausendmarkrobe dem Grafgemahl nicht gefällt, dann ist die Zankerei da. Leute wie Sie, die müssen verheiratet entweder nebeneinander her leben oder sich zanken. Wenn Sie Ihrer Frau wirklich treu sind – was Sie aber nie sein werden –, dann haben Sie ja auf Gottes weiter Welt nichts zu thun, als am Aussehen zu nergeln. Und Sie sind noch lange nicht der Schlechteste, Herr Graf! Ihnen fehlt auch nur die Arbeit, die Ihnen all Ihre häßlichen Kavalierspassionen verleidet . . . O, man lernt in Berlin und auf Reisen so viel verstehen, so viel! Gerissen bin ich nämlich sehr . . . Aber, was Sie nie haben und haben können und um das Sie gewöhnliche Menschen doch beneiden, das ist der Sonntag. Höchstens von der Schule her haben Sie noch so ein vages Gefühl davon. In Wahrheit ist er Ihnen der überflüssige Tag, an dem man gähnt und sich langweilt und empört ist über die geputzten Menschen auf der Straße. Und ich denke es mir reizend, mit einem Kinderwagen und einem Bengel vorn und hinten am Kleid in den Grunewald zu ziehen. Sie sehen, wie gewöhnlich ich bin – viel gewöhnlicher, als es Ihrem Jaromir recht wäre, der ab und zu doch noch recht gern seinen Lieutenant auskramt und trotz aller Gutmütigkeit so ziemlich alle Leute unter sich für Rekruten hält. So ganz tief möchte ich ja auch nicht hinabsteigen. Man braucht ja nicht unbedingt selbst zu waschen und zu kochen, obgleich ich es furchtbar gern thäte, – aber sechs Tage ordentlich arbeiten und den siebenten sich amüsieren, wie's in der Berliner Bibel steht . . . Und in Berlin bleiben! Mitten drin in dem Gewimmel, von dem man sich 169 kaum unterscheidet, weil man zu ihm gehört. Dies Gewimmel wird mich auch schützen, wenn's mal ernstlich losgeht. Und es geht bald los, – horchen Sie mal, wie das tost und wogt! Hören Sie nicht den einen, bestimmten, unheimlichen Ton heraus, der eigentlich der Grundton ist, obgleich ihn so viel andre Töne verschlingen möchten? Hören Sie wirklich nichts?«

»Genug, gnädiges Fräulein, das versichere ich Ihnen.«

»Nun, warum stecken Sie nicht lieber Ihr Monocle ein? Es kann Ihnen nichts nützen in diesem Kampf. Aber da sind wir Aristokrat! Wenn's denn gestorben sein muß, nur mit dem Monocle und dem eleganten Anzug. In einer Bluse zerrissen zu werden, das ist gemein . . . Wenn jetzt der Tanz losginge, den Arm könnte man dem Lebendigen ausreißen, das Monocle nur dem Toten. So ist Ihre Art Ehre. Wenn sie jetzt allesamt, wie sie da anständig angezogen sind und nichts thun, von schmutzigen Fäusten angefaßt würden und blutend über das Pflaster geschleift, um sie an dem Laternenpfahl dort aufzubaumeln oder in dem dumpfen Keller hier zu erdrosseln, – meinen Sie, ich würde eine Hand für einen aufheben, wenn ich's auch könnte?«

»Das würde ich auch nie verlangen.«

Da lächelt sie, und der süße Charme ist ihr getreuer Schildknappe überall. »Ich würde doch die Hand für Sie aufheben, ich würde noch viel mehr thun . . . Warum sind Sie eigentlich so schlecht, Graf Carén, und warum habe ich Sie doch gern? Liegt's am Reichsgrafen, oder liegt's an Ihnen selbst? Mit Ihnen könnte ich durch den dicksten Wald in stockdunkler Nacht gehen und würde bei diesem gefürchteten Lebemann sicherer sein als irgendwo anders.« Dann pressen sich die Lippen wieder fest 170 aufeinander. »Wär's Bomulunder oder ein andrer als Sie, ich rührte für ihn nicht ein Glied meines Fingers. ›Aeh, äh, Klaviermamsell! . . . Pfui, dieser Sonntag! Nicht mal eine Kutscherzigarre bekommt man.‹ . . . O, wenn ich an diesen Ekel denke! . . . Herr Graf, daß Sie mich von dem befreit haben, die Dankesschuld werde ich niemals los . . . ›äh, äh!‹ . . . Und eigentlich ist er doch mein Freund! Er will uns durchaus pleite machen, damit er sich hernach sagen kann: es war doch im Grunde sehr gut, daß ich das Mädchen nicht heiratete. ›Nicht wahr, Kleine, jetzt möchtest du, aber ich will nicht!‹ . . . Er sollte mich doch allein hassen, weil ich ihn ganz allein in die Kohlenstaubverbrennung gelockt habe. Aber da er ein sehr anständiger Mensch ist, läßt er es uns alle entgelten. Papa verwünscht ihn. Denn erstensmal ist die ganze Kohlenstaubsache mäßig, und dann soll auch noch Papa die Summe bar einzahlen, die er nur gezeichnet hat. Das thut man bei solchen Gesellschaften sonst nie, sondern überläßt es den neu eintretenden Dummen; aber Bomulunder hält sich nun einmal an den Buchstaben. ›So viel hast du gezeichnet, so viel will ich auch bar sehen!‹ Und er weiß ganz genau, daß Papa es im Augenblick nicht hat – und deshalb drängt er. Er soll nur drängen – unerbittlich! Mögen sie pleite machen, alle, alle! Und wenn dann der Bomulunder so recht schadenfroh in seinem Golde wühlt, während die Kohlenstaubbrenner betteln, dann gehe ich zu ihm und sage: ›Mein Herr, Sie sind wohl recht zufrieden mit sich? Ich bin's nämlich auch. Und Ihnen danke ich's. Sie haben mich glücklich gemacht!‹ . . . Das Gesicht, das Gesicht!«

»Aber Ihre Angehörigen, gnädiges Fräulein? Es giebt doch Personen, über die man nicht hinwegsehen kann.« 171 Ethel zuckt die runde Schulter. »Sie denken an meine Schwester? Meinen Sie, die würde ich in meinem Egoismus vergessen? Meinen Vater und meine Mutter – ja; meine Schwester nie! Sie würde mich auch nie vergessen. Nehmen Sie an, ich brauchte zu meinem Glücke eine Million und Asta hätte gerade diese Million, aber auch nicht einen Pfennig mehr, das Geld würde mir ohne Wimpernzucken, ja ohne einen Schatten des Bedauerns gegeben werden. Denn vornehm ist Asta – zu vornehm! Alles oder nichts! . . . Ach, sie ist so ganz anders wie wir alle! . . . Kennen Sie sonst meine Schwester, Herr Graf? Ich kenne sie ebensowenig. Ich weiß nur, daß sie einen Knacks weg hat. Aber von wem? Vielleicht würde ihr auch die Armut sehr recht sein. Sie könnte dann barmherzige Schwester werden im Augustahospital. Aber sie wird nicht arm. Und soll's nicht werden! . . . Was jetzt kommt, ist übrigens unser Geheimnis, Herr Graf. Ich hab's jemand herausgelockt, dem ich allein etwas herauslocken kann, und der mich steinigen würde für den Verrat. Wir Frauen werden ewig hinterlistig bleiben, und klatschen werden wir auch immer. Nämlich der Onkel hat im vorigen Winter sein Leben sehr hoch versichern müssen. Erst wollte er nicht recht 'ran, aber Mama hat ihm so lange zugeredet, bis er es doch that. Das Geld soll später für Asta sein, die er sehr liebt, und der es mal sehr schlecht gehen kann. Es giebt keine Sache, für die meine Mutter nicht tausend Gründe fände, und sie lebt immer in einer bebenden Angst, Asta könnte einmal ohne Batisthemden auskommen müssen. Asta liegt daran nichts. Sagen Sie das aber, bitte, nicht Mama! Da hört ihr Verständnis vollkommen auf. Die ältere Tochter soll ja nicht etwa verschachert werden – um Gottes willen nicht! 172 Für Asta könnte meine Mutter betteln gehen. Aber sie soll glücklich werden. Und glücklich kann man doch nur werden, wenn man reich und vornehm ist . . . Ist das nicht auch Ihre Ansicht, Herr Graf?«

Das Mädel ist eine süße Hexe – und mir doch so fremd, so fremd geworden! Wo ist der Backfisch geblieben, dessen feuchte Lippen mich immer zum Küssen reizten? Im Grunde ist sie genau so, wie sie war – nur was früher bizarre Laune schien, hat sich zur Eigenart ausgewachsen. Ist sie die Rasse der Zukunft? Fast möchte ich's glauben, wie ich überhaupt an diese Riesenstadt glauben möchte, die mir dann etwas andres sein würde als früher der große, warme Sumpf, in dem ich meine Lebenskraft ließ – und später das eiternde Riesengeschwür am Völkerleibe. Und doch sind die hier schon etwas andres, sind die Zukunft – und die Menschen, die sie verstehen, haben die Zukunft. Manchmal will mir auch ein Verständnis aufgehen, dazu aber muß ich weit vom Schuß sein, muß die Weltstadt sehen, rauchumflossen, qualmbeladen, durchleuchtet von einem gelben, schmutzigen Lichte, das schon auf Meilen und Meilen die Fernzüge lockt, daß sie rasseln und fauchen, nur um schneller dem reinen Lichtherd, dem leuchtenden Kern näher zu kommen, der wunderbar stark sein muß, weil er selbst diese schmutzdurchsetzte Luft zu durchdringen vermag. Abends Unter den Linden hat man wohl auch das Gefühl – sobald man aber dem arbeitenden Berlin nahekommt, da stockt das Begreifen, die grauen Häuserkarrees werden zu der undurchdringlichen Wand, die tout Berlin von Berlin scheidet. Unsereiner hat da nichts zu suchen, verliert sich besten Falles selbst . . . Auch jetzt . . . Es ist Frühling – er liegt in der Luft, auch in der Luft, – er möchte gern den Augiasstall dieser unbeschreiblichen Gerüche reinigen und ist doch 173 machtlos . . . Ach, der Frühling! . . . Ich sehne mich hinaus, ich möchte den echten Frühling sehen, den ich als Junge in meiner östlichen Heimat so gut kannte und so liebte. Ich hatte ihn, glaube ich, wohl schon vergessen, mich an den falschen Frühling in Berlin gewöhnt. Aber etwas von der wahren Jugend kommt doch immer wieder als getreuer Eckart zu uns geflogen und möchte uns mitziehen. Heute zieht es auch wirklich! – und daran ist die kleine Ethel schuld.

Ich tippe leise an. »Es ist doch eigentlich eine Sünde, in diesen Straßen umherzuirren, wenn eine halbe Stunde Wagenfahrt einen ins richtige Grün bringen kann.«

»Die Luft ist schlecht, Herr Graf?« fragt die Blonde lauernd.

»Miserabel! Ich ertrage sie kaum noch.«

»Jetzt auf einmal so empfindlich, Graf Carén? War die Restaurantluft, in der Sie ein halbes Menschenleben zugebracht haben, besser? Besser keinesfalls, aber jedenfalls fader! Und Sie haben in der dicken, schweren, abgestandenen Luft sich so wohl gefühlt! Wenn's aber endlich geschieden sein mußte – und es geschah immer mit einem Seufzer –, dann murmelten Sie wohl regelmäßig auf der Straße draußen ingrimmig: ›Pfui, wie ekelhaft!‹ – genau wie Bomulunder am Sonntag. Den andern Tag kamen Sie jedoch unfehlbar zurück, weil Sie's ohne die schlechte Luft nicht vierundzwanzig Stunden aushalten konnten. Jene Luft war viel schlechter als diese hier. Hier riecht's nach Arbeit – und den Geruch lieben Sie nicht. Der Müßiggang kann einen noch so empörenden Odem aushauchen, das geniert Sie nie . . . Aber ich bin gefügig. Sie haben mir mein Vergnügen nicht gestört, darum sollen Sie auch Ihr's haben. Der Bahnhof Jannowitzbrücke 174 kann nicht weit sein . . . Ich habe übrigens eine Idee! Wir fahren zum Onkel frühstücken, die Oberspree 'rauf. Eine reizende Tour, die Sie natürlich nicht kennen, weil sie mehr für gewöhnliche Leute ist. Und der Onkel wird sich riesig freuen! Er behauptet zwar, er liebe Ueberraschungen nicht – und er liebt sie in Wirklichkeit sehr. Alte Junggesellen müssen ja immer brummen! Sie sind auch bald so weit, Herr Graf . . .«

Darauf versuche ich abzuwiegeln. »Ich kenne ja Ihren Herrn Onkel so wenig, gnädiges Fräulein . . . Und dürfen Sie selbst so lange von Hause wegbleiben?«

Darüber will sich Ethel totlachen. »Gerade weil Sie den Onkel so wenig kennen, müssen Sie mit! Und Formalitäten bei ihm? Er wird uns schon keine Hummern vorsetzen! Vielleicht giebt's nur Schwarzbrot und rohen Schinken. Meinetwegen, bitte, beunruhigen Sie sich nicht, Herr Graf! Ich könnte Nächte wegbleiben, und Mama würde nur lächelnd bemerken: ›Ethel hat ihre besonderen Passionen‹ – keine Silbe mehr! Ich kenne meine sogenannte Mutter ja entsetzlich gut. Mich als rettungslos Verlorene mit einer geringschätzigen Fußbewegung wegstoßen zu können – das wäre so ein Genuß! Ich thue ihr jedoch den Gefallen nicht. Wenn mich der gewöhnliche Leichtsinn nicht so anekelte, wenn mir nicht vor gewissen Berührungen und Dingen graute, – es mag ein rein physischer Widerwillen sein – jedenfalls kann ich nicht über ihn hinaus, und das ist meiner Mutter so schmerzlich! . . . Kommen Sie schnell, schnell, Herr Graf, da liegt schon unser Dampfer!«

Ich lasse mich natürlich nicht bitten. Ich sehne mich ja nach dem echten Frühling. Es ist ein Uhr nachmittags. Der kleine, prustende Dampfer hat 175 wenig Passagiere – den Wirt eines Oberspree-Restaurants, der in den Markthallen eingekauft hat und jetzt in einem schmierigen Notizbuch die Posten noch einmal durchgeht, ein Pärchen, das schüchtern und verliebt bei unserm Anblick sich sofort in die Kajüte verkriecht – sonst nur Marktweiber, die über ihren leeren Spankörben stumpfsinnig duseln, und einen schmierigen Herrn mit schwarzen Nägeln und einem Wappenring, der gern eine Unterhaltung anknüpfen möchte, was ihm aber nicht gelingt. Wir selbst gelten wohl auch als etwas unerlaubtes Verhältnis. Denn der Kapitän zeigt freundlich grinsend den einsamen, gelben Unterzahn, sobald er uns ansieht, und der Oberspreewirt unterbricht zuweilen seine Berechnungen, um verschmitzt lächelnd anzudeuten, daß es in seinem Restaurant gut und verschwiegen sei. Ethel, die das sofort 'raus hat, macht die Situation einen diebischen Spaß. Sie sitzt ganz dicht neben mir und äugt mich schalkhaft an. Sie kann sich den Luxus schon gestatten, denn trotz aller markant gewöhnlicher Passionen, in dem einen Punkte ist sie eine Le Fort, das heißt nicht gewöhnlich. Mir ist die Fahrt allerdings neu. Ich kenne den Wannsee, Potsdam. Aber die Havel ist weiter, grüner, verschwiegener – die Spree schmaler, gelber, gewöhnlicher. Wenn man an dem Schwedischen Pavillon sitzt, vor sich die beim Sonnenuntergang unbewegliche Wannseefläche, und wenn das rote Licht funkelnd auf den glacierten Ziegeldächern dieser neuen, bizarren Millionärsvillen spielt, die riesigen Schatten sich wohlig in die warme Flut strecken, die geschorenen Sammetbosketts der Parks noch einmal hellgrün aufleuchten, dann überkommt einen ungewollt das wohlige Behagen des Reichtums. Oder wenn man im Wald von Glienicke sich abends 'rumtreibt und die stumm flutende Havel so tiefgrün und 176 heimtückisch schimmert, dann träumt man den traditionellen Uniformtraum, dessen Höhepunkt ein kaiserlicher Händedruck auf dem Tempelhofer oder Bornstedter Paradefelde ist . . . Auf der Oberspree träumt sich's nicht! Und ob auch die Sonne gar freundlich auf dem warm glitzernden Spreewasser spielt und die kleinen Boote sich seelenvergnügt in unsrer Kielwelle schaukeln – das Gesicht dieses Flusses ist zu ernst, zu unheimlich . . . Noch herrschen wir. Der Luxus ist wahnwitziger als je, die Vergnügungssucht toller, und ohne Lackschuh und feste Manschette heißt man kaum noch ein anständiger Mann. Aber entspringt diese ungesunde, unmotivierte Steigerung des Genießens, dieses Unersättliche, Hastende nicht vielleicht einer heimlichen Angst, dem fin de siècle-Gefühle, das vor allen riesigen Umwälzungen das Bestehende in einen wilden Cancan des Genusses hetzt, – dem Gedanken: ›Nur schnell noch alles genossen! Man weiß ja nicht, wie lang die Herrlichkeit dauert – sie dauert gewiß nicht lang!‹ Das Bestehende jagt sich nach alter Erfahrung regelmäßig selbst so schachmatt, daß es des Todesstoßes der Revolution gar nicht bedarf . . . Dieses verwünschte, arbeitende Berlin! Es ist mein Feind, unser Feind; etwas von seiner Größe beginnt mir aber doch zu dämmern. Mit dem Verstehen wächst auch das Feindesgefühl. Wir gleiten durch das häßliche, graue Häusermeer mit seinen schreienden Plakaten an jeder schmutzigen Mauer, mit seinen kranken Fetzen von jungem Grün über dem Fluß, mit seinen verräucherten Gartenrestaurants. Die hammerbewehrte Riesenfaust vermochte diese hundert und aber hundert Essen aus dem Boden zu zaubern, die Mietskasernen, die Fabriken, die Vergnügungsgärten für Hunderttausende; sie verstand eine Menschheit zu züchten, die in diesem Brodem sich wohl fühlt wie der Büffel im Sumpf, 177 – die Rasse der Zukunft, das neue Geschlecht ohne Heimat, ohne Vaterland. ohne Gott schon längst! Ich sehe sie an den Ufern, in den Volksbädern wimmeln, am Uebungsplatz der Pioniere frech gaffen – ich sehe sie über uns an den Geländern stehen und auf uns herabspucken, während der Dampfer unter verräucherten Ziegelgewölben hinwegrauscht, vor neuen, turmgekrönten Brückenbauten den Schornstein senkt, an faulenden Holzpfählen sich reibt. Ich sehe mich um, weil ich an dies vorüberziehende Berlin nicht glauben will – und ich sehe nur den Rauch der Schlote, der wie eine graue Decke sich über die Häuser breitet, die Flächen gelb beizt, die weiße Wäsche beschmutzt . . . O, es liegt etwas ganz Großes, Schreckliches in diesem qualmbeladenen Häusermeer, das die Rasse der Zukunft unter seinen Dächern ausbrütet! Das Herz schlägt schwerer, die Nase empört sich. Mußten wir denn das großwachsen lassen, riesengroß? Mußten wir das Gesindel hier zusammenpferchen, wo es die Macht seiner Masse erst erkennt und seinen Raubtierinstinkt? Ich bin ehrlich. Solche Caréns, die im gemeinen Müßiggang Geld und Kraft vergeudeten, die einem dumpfen Gefühl kaltblütig ein Menschenleben opferten, die haben's mitgeschaffen. Darf ich eigentlich über die zerstörenden Instinkte der Massen moralisieren, wenn ich dem zerstörendsten selbst Raum gebe?

Dieses Berlin ohne Maske thut mir weh. Ich bin der Laffe nicht mehr, dem der übertünchte Westen noch etwas sagen könnte, aber darum will ich ganz hinaus, will den reinen Luftstrom weit, weit draußen einsaugen. Jetzt schau' ich krampfhaft vorwärts nach dem grünen Sumpflande mit den weichen Linien und dem weichen Lichte, das aus der Weltstadtumklammerung sich löst – so lenzeshell, so duftig, umspielt von den stummen Wassern, in denen 178 tiefhängendes Laubwerk sich zitternd spiegelt. Die Sonne zaubert ein weitmaschiges, goldiges, schillerndes Netz auf die Flut, Wasserpflanzen treiben mit dem Fluß, der weißlackierte Kiel eines Motorbootes blitzt; es ist noch nicht die freie Natur, aber es ist ihr Hauch, der durch den lichtgleißenden Mittag wogt . . . ›Nur nicht mehr zurück, niemals mehr zurück!‹ . . . Man wird so feige angesichts des qualmbeladenen Schicksals, das die Weltstadt für unsereinen doch bedeutet.

Die blonde Ethel schaut nur zurück, den reizenden Kopf auf der Brüstung, ungeniert, graziös wie ein träumendes Kind, die Nüstern dehnen sich, suchen den Rauch, das Berliner Parfüm, und wie in Ekstase murmelt sie: »Ist das nicht schön? Ist das nicht groß?«

Aber ich empöre mich gegen dies neue Geschlecht, dessen Instinkt ich wohl nie verstehen werde. »Nein, nicht groß, nicht schön – sondern ekelhaft häßlich! . . . Sehen Sie doch nach der andern Seite, gnädiges Fräulein! Da ist Natur, da ist Wahrheit, freilich eine halb gefesselte Natur, aber eine, die im Frühling der leichten Fessel spottet. Freilich eine halb vergiftete Wahrheit, die sich dennoch durchringen wird, wenn's überhaupt einen Gott und eine Vernunft giebt!«

Die Kleine sieht sich gehorsam um, etwas zögernd, ungern, dennoch. Sie starrt auch lange auf das junge Grün, das in Wiesen glänzt, von Büschen flattert . . . »Das ist für den Sonntag! Aber am Alltag sagt es mir wenig, nichts. Ich will den Kampf. Wo ist der?«

»Aber ich will nicht den Kampf, ich will die Ruhe, die Klarheit, die mir das Draußen allein geben kann.«

Darauf moralisiert sie weiter. »Kampf wird's 179 wohl überall geben, wo's Jugend giebt. Vielleicht führt ihn die Natur viel erbarmungsloser als Berlin. Denken Sie doch, Graf Carén, eine Welt, in der immer etwas Altes sterben muß, damit etwas Neues lebe! . . . Sie sind im Grunde doch ein Phantast. Vom Weltstädter keine Spur! Waren Sie das überhaupt je? Da sind Sie wie meine Schwester. Sie haßt auch im Grunde die Städte, liebt das Land. Das Land ist aristokratisch und schwerfällig wie die Scholle, die im Herbst immer braun glänzt, im Frühling immer grün. Mir ist's zu einförmig. Draußen giebt's keinen Fortschritt, nur Wandel, und wenn Sie auch eine neue Blumenart züchten, so hat sie etwas Gezwungenes, Ungesundes. In der Natur erscheint eigentlich alles nur natürlich, was man schon hundertmal sah. Aber in den Riesenstädten ist's anders! Da giebt's noch Fortschritt, Werden, nicht immer dies ewige Ablösen von Sein und Nichtsein, von Leben und Tod. Die Natur kann mehr als jede Maschine, und was wir haben, das nahmen wir ihr – aber sie ist auch so langweilig und hochmütig und neidisch! Alles, was wir schufen, möchte sie zerstören, weil sie in uns den Feind sieht, der sie eines Tages doch aussaugen und beherrschen wird. Wie kann man übrigens Berlin mit der Natur vergleichen? Die Natur ist dumm und dumpf. Mich hat zum Beispiel der Ameisenhaufen immer mehr interessiert als der uralte, stumme Baumriese, an dem die emsigen schwarzen Dinger unablässig auf und ab laufen . . . Wissen Sie übrigens, warum gerade Sie, Herr Graf, das Land lieben und Berlin hassen, warum das überhaupt so viele Ihresgleichen heimlich und öffentlich thun? Weil Sie Drohnen sind und von dem leben, was ein stummer Sklave für Sie arbeitet . . . Ja, ja, Drohnen! Sie selbst sind eine von den schlimmsten. 180 Sie könnten arbeiten, und Sie wollen's nicht, Sie rechnen immer auf die, die sich abrackern, damit's Ihnen an nichts fehle. Das ist auch viele Jahrtausende so gewesen, und wenn's nach der stumpfen Gesellschaft auf Ihrer geliebten Scholle ginge, dann bliebe es ewig so. Aber das ändert sich gerade jetzt! Und weil Sie das sehr gut fühlen, hassen Sie mein Berlin, das grollt und wogt und für sich arbeiten will – nicht für Sie allein. Darum flüchten Sie in die Natur. Bleiben Sie doch! Kämpfen Sie doch . . . Aber nicht mal für das, was Sie haben, wollen Sie kämpfen. Sie sind eben eine Drohne, Graf Carén!«

Drohnen? Der Ausdruck ist jetzt Mode. Ich habe meine Gräflichkeit im moralischen Jammer schon oft mit dem Schmeichelnamen belegt – hier aber wirkt's anders. Das arbeitende Berlin ruft es mir verächtlich zu – nicht das vergnügte. Du roter Mädchenmund, was hast du an Wahrheiten heut nicht schon alles 'rausgesprudelt! Die Wahrheit von Frauenlippen ist doch die bitterste. Der Hieb sitzt . . . Ja, eine Drohne bist du in der That, mein Freund! Es nicht mehr zu sein, fehlt dir der große Zug. Und wenn ich es nicht mehr bin? Ist dann das Berlin, das ich erst jetzt zu verstehen beginne, auch mit einemmal mein Freund geworden, oder sind und bleiben wir die ewig Getrennten? Darüber hilft kein Grübeln, dazu hilft nur die That.

Wir sind ausgestiegen. Ein kurzer, sonniger Weg durch den Wald, den wir stumm zurücklegen. Der Onkel ist zu Haus. Tiny, mein neuer, unbestechlicher Freund, der im Grunde die Plebejer genau so haßt wie ich – er hält nur in begreiflicher Sinnestäuschung alle gut Angezogenen dafür –, meldet uns mit wildem Geheul. Der Onkel hat längst 181 gefrühstückt und arbeitet in seinem Garten. Der gute Mann hat von der Gartenkunst keine Ahnung. Er schleppt in der Mittagsglut schweißtriefend zahllose Gießkannen aus der Spree und überschwemmt die braunen Beete, die das Naß gierig einziehen, um sich fünf Minuten später mit einer zähen, rissigen Schmutzkruste zu panzern, die keinen Halm durchläßt. Ethel sieht interessiert zu. Ich aber muß bei dem Bemühen des weißhaarigen Kindes lächeln, das seinen Blumen so viel Gutes thun möchte und so viel Uebles thut.

»Diesmal muß es wachsen, Herr Graf! Die früheren Jahre wollte es nicht recht vorwärts, ich hatte wohl nicht genug gegossen. Solch körperliche Arbeit ist übrigens was Ausgezeichnetes. Mir flimmert's schon vor den Augen.«

»Und du rauchst noch dazu, lieber Onkel? Du sollst es doch nicht,« rektifiziert die kleine Sozialistin.

»Ach, Kind, etwas muß man haben! Ob es mit dem Herzen nun ein Jahr länger oder kürzer dauert . . . Aerzte geben immer sehr gute Lehren und befolgen sie nie selber.«

»Aber, Onkel, wenn ich dich bitte?«

»So lass' ich es jetzt, mein Kind, und entschädige mich hinter deinem Rücken durch eine doppelte Portion.«

»Dann will ich dir noch was sagen, Onkel.« Und sie verzieht schmollend den Mund. »Wenn man Gäste empfängt, was thut man zuerst?«

»Man heißt sie herzlich willkommen, wenn sie einem nämlich willkommen sind.«

»Und dann, lieber Onkel?«

»Fragt man, ob sie Hunger haben. Das hatte ich vergessen. Die Wirtschafterin ist nämlich in Berlin . . .«

Die Blonde und ich haben allerdings einen nagenden Hunger, den zu befriedigen wir auf der 182 Terrasse die halbe Speisekammer zusammenschleppen, was übrigens nicht aufregend ist, da Herrn Listers Proviantmeisterin, wie ich fürchte, das reichlich bemessene Wirtschaftsgeld aus Vergeßlichkeit in ihre eigne Tasche steckt. Aber reizend ist dieses ländliche Mahl doch! Manchmal glaube ich, die Anlage zum Jungsein und Jungempfinden sei mir doch nicht gänzlich abhanden gekommen. Die Beete duften nach frischer Erde, die Bienen summen, die Spree lächelt. Und wir faseln von allem möglichen, namentlich von diebischen Gärtnern und einer gequälten Natur. Der Onkel quält sie mit seinen Wassergüssen zur Unzeit am meisten. Aber ihm das sagen, dem guten Menschen? Mögen tausend Samenkörner dahinsiechen, nur dem Mann nicht die Freude verderben! . . . Und lehrreich ist mir der Tag auch wieder. Wenn dieser wirklich vornehme Realist, der so viel erfahren und gearbeitet hat, so innig am Kleinen hängen kann, an diesem harmlosen Vergnügen, Blumen zu züchten, das bei Philistern mir Achselzucken abnötigt, dann sage ich mir: der Mann wird wissen, warum. Vielleicht liegt in dem Kleinen das Geheimnis des Glückes überhaupt . . . In dem Kleinen liegt's auch! Das ist mir wie eine Beruhigung. Diese meine Natur hat demnach auch ihr gutes Recht . . . Und wie so wieder die Zillen vorübergleiten, diesmal im Sonnenlicht, freundlich, fast schmuck anzuschauen, der mißtrauische Spitz neben der flickenden Schifferfrau, ein Bild der Gemütlichkeit – da begreife ich auch noch etwas andres. Ich verstehe, warum der Onkel die Schiffe immer nur in den Schlund Berlin hineingleiten sieht, sehnsüchtig, wissend die einen, harmlos, gezogen die andern, und warum er nie einen Kahn zurückkehren sieht. Auch diesem Mann ist Berlin der Abgrund, der das beste von draußen Kommende auf Nimmerwiedersehen 183 verschlingt. Aber warum quält er sich eigentlich selbst? Warum hat er sich nicht auf das wirkliche Land zurückgezogen, wo die Natur allein lacht und grollt und kein Berlin die junge Kraft zerreibt? Er sitzt an der Pforte zum Riesenbabel, ohne Macht zu hemmen, mit dem milden Bedauern des Alters, und sieht zu . . . Geht's ihm vielleicht wie mir, der diesen Osten haßt und fürchtet, und den's doch immer wieder hinzieht? Was habe ich eigentlich in dieser Villa zu suchen, wo ich, umfächelt vom Frühling, mit zwei guten, aber mir völlig fremden Menschen, thatenlos zusehe, wie die Zillen ohne Unterlaß nach Berlin hineingleiten? Ich bin doch noch jung! Wer jung ist, kämpfe. Das ist keine Drohnenmoral mehr . . . Wenn mich aber ein Dämon hierherzöge, etwas Geheimnisvolles, das mit dem erschossenen Serner zusammenhängt . . . Auch am stummen, brütenden Mittag giebt's Gespenster, die nicht jeder sieht. Ich sehe eins . . . das hat grüne, tote Augen und im braunen Haar eine weiße Strähne . . . Warum diese weiße Strähne? . . . Das kranke Frauenhaar verfolgt mich auch im Traum. Für wen erblich es? . . . Für das frühreife Karlchen? . . . Ja, wer mir das sagen könnte! 184

 


 


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