Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Drittes Kapitel.

Der Kork schwämme also wieder mal oben! Ein diskreter Flor um den Sommerüberzieherärmel – ein schwarzgerahmtes Riesenplakat in der Kreuzzeitung – ein fürstliches Leichenbegängnis: mehr verlangt kein Mensch von mir, und wenn er es verlangte, ich könnte beim besten Willen nicht mehr geben. Ich habe in der Not nicht über Mangel an Freunden zu klagen gehabt – jetzt erdrückt mich fast die Ueberfülle. Das Testament ist zwar noch nicht eröffnet (das soll auf Grund einer ganz letztwilligen Verfügung erst drei Wochen nach der Beerdigung stattfinden), und was könnte es mir für Ueberraschungen bringen? Selbst wenn ich enterbt wäre, was auch der galligste Schwarzseher nicht annehmen kann, würde ich nur freundlich verdutzt sagen: »Ach was! Da hätte sie die Gnädige doch überlistet . . .« Als Mann von Zartgefühl kümmere ich mich um die Tiergartenvilla vorläufig nicht. Aber die Alte muß schwer reich gewesen sein, denn ein Direktor von der Ritterschaftsbank, der ich früher auch meine Zechinen anvertraut habe, pfiff mir eine halbe Stunde in den höchsten Tönen. Der Schlußrefrain: klotzig. »Wenn Sie nur nicht noch wegen Steuerhinterziehung drangekriegt werden, Herr Graf.«

6 Auch die übrige Welt teilt diesen blinden Glauben an mein Glück. Ich lasse schon alle die Vermittler gar nicht vor, die mir Karossiers, Equipagen, Preisteckel anschmieren wollen. Selbst das Carénsche Familiengut ist zu haben – billig, ganz billig. Sein zeitweiliger Besitzer brennt mit Gemütsruhe kalt ab, die unglücklichen letzten Hypothekengläubiger wehren sich jetzt aber mit allen vieren gegen eine übereilte Subhastation; ihnen scheine ich der lederne Rettungsball, an den ihre Hoffnungen sich klammern. Ich bin jedoch noch keineswegs im klaren über den Gutskauf. Was soll ich mit dem arg verwirtschafteten Ding, das, nebenbei gesagt, mein Urgroßvater für ein Butterbrot einem geächteten polnischen Edeln zu Zeiten der famosen ersten Teilung etwas wucherisch abgenommen hat? Es zum Majorat machen, was mein Vater versäumte? – Ich werde kaum je heiraten . . . Vielleicht zahle ich doch den erhofften Liebhaberpreis. Dann habe ich wenigstens eine Krähenhütte, nach der ich mich als müder Lebegreis zurückziehen kann, wenn die Gelder glücklich verjuxt sind . . . Was weiß ich überhaupt von der Zukunft!

Am meisten Spaß macht mir mein Wucherer – ein kleiner, kahlköpfiger Kerl aus Tirschtiegel oder Birnbaum, der mit Händen und Füßen mauschelt, aber sein Halsabschneiderhandwerk mit einem gewissen Idealismus betreibt. Der Kerl wittert Geld und ist nicht los zu werden! Sitzt auf meinen Koffern, die ich noch nicht vollständig habe auspacken lassen, zappelt mit den Beinen, Fußspitzen nach innen, und will mir partout die unterschiedlichen Zehntausende jetzt für fünf Prozent aufdrängen, die ich ihm vor Monaten noch mit zweihundert verzinst hätte und doch nicht bekam.

»Nehmen Se, Herr Graf, nehmen Se!« Ich 7 seh' immer, wie die Zungenspitze zwischen den gelben Zähnen tanzt. »Es ist mer nur um de Ehre, wo ich doch schon gemacht habe 'n G'schäft mit dem Herrn Grafen, was nicht jeder gemacht hätte – nur um in Verbindung zu bleiben mit den Herren vom alten unbezweifelten Adel! 's sind noch drei Wochen bis zur Testamentseröffnung . . . und der Herr Graf weiß noch nicht, ob ausbezahlt werden können sofort die Interessen vom Kapital . . . Wollen Se, Herr Graf?« Und das immer mit der Hand in der Brust, aus der die schmierige Ecke seiner Brieftasche guckt. Der Kneifer rutscht dem Menschenfreunde dabei bis auf die äußerste Nasenkrümmung.

Aber ich bin kühl oder verhöhne seinen Eifer. »Lieber Herr Eliassohn, wenn ich nun enterbt bin?«

»Der Herr Graf sind nicht enterbt.«

»Wenn ich's nun aber bin?«

Da fährt er sich mit den Fingern wie mit einem Rechen durch den grauen Bart. »Gut! Seien der Herr Graf enterbt . . . Wie haißt enterbt? . . . Wozu sollen Se enterbt sein?« lispelt er verächtlich.

»Ich habe bis zu meinem achtundzwanzigsten Jahre 1 800 000 Mark und einige Pfennige verbraucht, nicht etwa, um eine große Entdeckung zu machen, sondern lediglich, um mich zu amüsieren. Das nennt der Jurist unentschuldbaren Leichtsinn, auf dem Kuratel oder Enterbung steht – je nachdem.«

Eliassohn steigt bedächtig von meinem Koffer und wühlt in den Hosentaschen. Schließlich macht er wühlend vor mir Halt. »Wollen der Herr Graf die Meinung hören von 'nem einfachen Geschäftsmann? . . . Wenn's die verstorbene Gräfin haben verantworten können vor ihrem Gewissen, zu enterben so 'nen Neffen, so wird sie's doch nicht verantworten können vor dem Gesetz, vor dem wir sind alle gleich. Der Herr Graf werden haben zur rechten 8 Zeit 'nen findigen Mann mit Gesetzeskenntnis, der wird überzeugen die Gerichte, daß der Herr Graf haben verbrauchen müssen das Geld für 'nen patriotischen Zweck . . . Lassen Se bringen 'nen guten Geschäftsmann 'ne schlechte Ware auf den Markt, da wird er nicht knausern, damit er gleich hat Leute, die schreien, bis se blau sind. ›Die Ware ist gut! – Die Ware ist sehr gut! – Die Ware ist ausgezeichnet! – Kaufen Se!‹ – Und se kaufen . . . Und wenn ein Diplomat, der soll vertreten später 'n Reich, wie das Deutsche eins ist, das 'nen Mann hat wie den Bleichröder –, so muß er studieren das Leben tief und hoch und lang und breit. Das Studium kost't Geld, viel Geld! . . . Das muß Ihnen zugeben jeder Amtsrichter, der gewartet hat zehn und mehr Jahre auf seine lumpigen neunhundert Thaler Gehalt. Dadurch sind Se in de Gewohnheit gekommen, auszugeben viel und einzunehmen wenig. Aber gelernt haben Se dabei, Herr Graf . . . Se haben's . . . Se haben's! . . . Ist der Anwalt gut, so verlassen Se sich auf mein Wort: das Testament hat 'nen Wert wie 'n Wechsel vom Strelow – Makulaturwert! Soll ich 's Formular ausfüllen über zwanzig oder dreißig zu fünf Perzent und ein Perzent Provision, weil ich 's Geld muß ziehen aus 'nem ganz sicheren Geschäft?«

»Ziehen Sie das Geld lieber nicht aus dem Geschäft, Eliassohn.«

Darauf rennt er im Zimmer auf und ab wie ein frischgefangener Löwe im Zellengefängnis. Zuletzt ein rascher Griff in die Brusttasche – schwupp! Da liegt sein schmutziges Portefeuille vor mir auf dem Tisch. »Nehmen Se's, Herr Graf, nehmen Se's ohne Sicherheit als ein Darlehen von Ihrem Freunde Eliassohn, das Se können verzinsen, wie Se wollen. Ich weiß nicht, was drin ist . . . 9 Se sollen nur nicht sagen, daß 'n Geschäftsmann wie ich wäre kleinlich gegen 'nen so großen Herrn.« Klettert dann wieder auf einen Koffer; dem alten Trödler ist er behaglicher als ein Stuhl, weil ihn die Unordnung meines Zimmers anheimelt wie seine verflossene Althändlerbude in Schrimm oder Schroda.

Schließlich nehme ich auch zehntausend Meter aus reinem Jux, und weil man nie ahnen kann, wie Hase läuft. Nun will er aber noch wissen, ob meine Tante ungefaßte Steine oder Antiquitäten hinterlassen hat, und ob er für sie höchste Preise zahlen darf; da schiebe ich ihn glimpflich mit Schulterklopfen zur Thür hinaus. Durch den Thürritz guckt er noch zurück. »Wenn's sein sollte, wie der Herr Graf vermuten, so kann ich Ihnen empfehlen meinen Neffen, 'nen sehr klugen, jungen Menschen, der sich niedergelassen hat als Anwalt am Alexanderplatz . . . Es ist mer nicht wegen meinem Geld – sondern nur wegen dem Herrn Grafen.«

Nu aber 'raus!

Diese authentische Auslegung meines Leichtsinns ist nicht »ohne«.

Wenn ich nur wirklich Lebensweisheit gekauft hätte! Mein Schädel ist so leer, daß die dümmsten Gedanken mit dem Gepolter großer Wahrheiten drin herumkollern.

*

Es dämmert. Döse ich noch länger, schlaf' ich ein. Wiederholen wir den Versuch, einen Trauercylinder aufzusetzen und spazieren zu bummeln. Ich hatte vor dem Todesfall immer das Schuljungengefühl, die Welt müßte mir nachher so festlich vorkommen, wie einem Quartaner beim Aufstehen der erste Weihnachtsfeiertag. – Wahrscheinlich! Aber der Wilhelmsplatz liegt noch genau so dunstig vornehm mit seinen ehernen Preußenhelden und seinen 10 klatschenden Dienstmädchen. Das häßliche Riesenkarree des Kaiserhofs, das ihn beherrscht, flammt nicht urplötzlich als Riesenfanal auf, sobald der aufgebackene Millionär aus der Thür der Dependance tritt; im Palais Borsig öffnen sich noch immer nicht die seit Jahrzehnten geschlossenen Jalousien zu meiner Ehre; Pleß daneben beantwortet mir noch immer nicht die geistreiche Frage, ob das wunderbare Pariser Schmiedeeisen seiner Portale eine geistvolle Fürstenlaune war oder das kleine, bizarre Ziegelchateau dahinter eine geistlose. Wenn ich die Wilhelmstraße hinabäuge: noch immer die verstaubt ernsten Ministerien, die grauen Prinzenschlösser, das bunte Banquierhaus und die anständige Langeweile der breiten, toten Avenue – nur von der Pickelhaube der Ehrenposten und dem hallenden Tritt des Kommißstiefels belebt. Am Ende der Straße freilich, Unter den Linden, beginnt die Menschheit zu wogen; verschwommen, gestaltlos zieht's vorüber, genau wie an jedem dämmerigen Sommerabend. Berlin hat sich über den armen Grafen Carén nicht sonderlich aufgeregt – über den reichen nicht sonderlicher. Die Millionenstädte haben kein Herz; die Parole heißt Nivellement für alle und jeden. Selbst die historischen Kolosse tauchen nieder im Strom. Ich schlendere gerade am Auswärtigen Amt vorüber. Es ist doch ein kahles,. zopfiges Ding: Moder und Staub. Wird denn wirklich hier wie einst die Politik des Weltballs gemacht? Es heißt so. Die Ausländer, die nach der amerikanischen Kaiserstadt kommen, beglotzen es wohl noch – halb ehrfürchtiger Schauer, halb Verachtung. Der Koloß von Eisen befahl mal hier; jetzt ist er abgedankt. Aus einem andern Grunde interessiert die Fremden das Auswärtige Amt nicht mehr. Ich finde das nur natürlich – gerecht – nützlich . . . Schmeißt Bomben, 11 sprengt mich selbst in die Lüfte; ich werde mit niemand wetten, daß ich am höchsten fliege, aber ich werde sehr hoch fliegen, denn ich bin sehr leicht. Ich bin mit allem einverstanden. Auf dieser Erde herrscht überhaupt eine wunderbare Logik. Niemand hat sich von dieser Wahrheit weniger überzeugt als ich, und niemandem ist sie einleuchtender. Vive le roi... Vive la révolution... Vive... Vive... Ich würde bei allem mitschreien, was befohlen wird. Dem Klavier ist es ja auch gleichgültig, wer seine Tasten schlägt. Ich wünschte, das wäre teuflische Ironie, und es ist nur Thatsache. Faustisches habe ich nicht an mir, aber der Greis wird trotzdem bald im Sand liegen, nachdem er dem Augenblick zugerufen hat: Verweile doch, du bist so schön!

Zufrieden, mild! – Ja, liebe Wilhelmstraße, sieh dir den Louis Carén nur recht freundlich an, er paßt zu dir: lange diplomatische Noten, kurzer Inhalt und eine bebende Angst vor großen Aufregungen, weil er die wirklich nicht mehr verträgt.

Bums! Da hätten wir glücklich vor Strußberg einen angerannt. Griff an den Hut – Augen geradeaus – wozu soll man die Leute bei dem dummen »Pardon!« auch noch ansehen? Ein blauer Interimsrock schimmerte, ein Sporn klirrte – wenn der Mann was will, kann er sich ja melden . . . Fühl' auch richtig einen Offiziershandschuh auf meiner Schulter.

»Donnerwetter, Carén, uniformblind?«

»Verzeihung, Herr Oberst.« Ausgerechnet mein früherer Eskadronchef, höllisch schneidiger Hund, der mich aber aus zwei sehr verschiedenen Gründen glimpflich behandelte: weil ich die Pferde schonte und die Kerls schund. Jetzt soll er in der Konduite das bekannte S.S.S.S. = sauft sehr stark Schnaps 12 haben. Ich wünschte, ich thät's auch, da thäte ich doch wenigstens etwas!

Heute ist er riesig aufgekratzt, kehrt mit mir um, henkelt mich ein. »Mein aufrichtigstes Beileid, lieber Carén . . . Na, beinahe dreiundsiebzig Jahre, schönes Alter! Da ist man schon abkömmlich . . . Bißchen Geizdrache – was? . . . Fuhr ja ein Paar Schinder – was Unglaubliches! . . . Sind wir also wieder mal ganz oben, lieber Freund? Und wie lange wird's vorhalten? Fünf Jahre? . . .« Er kneift mich freundschaftlich dabei in den Arm. »Nun seien Sie aber verständig! . . . Machen Sie doch das Manöver beim Regiment mit!«

»Zum Rittmeister üben? Ein bißchen früh. Habe auch keine rechte Lust.«

»Ja, weiß Gott! Sie sind schon zehn Jahre Offizier! Für mich sind Sie immer noch Fähnrich . . . Wollen Sie die Linden mit lang bummeln?«

Mir ist es so gleichgültig, an welchem Leitseil und wohin ich geführt werde. Hat übrigens ein Falkenauge, der olle Oberst. »Da kommt auch Ihr frühreifes Karlchen durchs Brandenburger Thor gewankt. Ein merkwürdiges Gestell! Ich erinnere mich noch damals im Manöver – Sie wissen, als wir bis: Schrimm, da ist's schlimm! – gehetzt wurden. Da lagen wir ja auch mit Infanterie zusammen: wissen Sie noch, Regimentsadjutant Soda, gen. v. Seiden, den sie ›Excellenz‹ schimpften, weil er nicht reiten konnte. Höchster Stolz von ihm, sonst in drei Jahren Kriegsakademie hier kein Zivil getragen zu haben. Lernt's später noch. Das sind so die Leute, die den Furor adjutanticus todsicher bekommen . . . Also in irgend einem Quartier jeuten wir. Serner war Fähnrich bei ›Königin von Saba‹. Springt auf einmal auf. Ich sage: ›Wohin, Fähnrich?‹ – ›Geld holen!‹ – ›Das ist recht.‹ – Nach fünf Minuten 13 wieder da. ›Was haben Sie mitgebracht, Fähnrich?‹ – ›Fünfzig Mark!‹ – Ein Heidenradau. Und der Bengel begriff nicht mal. Es ist nicht Geiz, sondern Naivität. Mit sieben Rittergütern fünfzig Mark! Ich bitte, einen Menschen zu grüßen . . . Da waren Sie, Carén, doch eine gröbere Nummer. Wenn ich noch denke, wie Sie den wundervollen Fuchs zu Schanden ritten . . . ein Jammer! . . . Trotzdem, schadet nichts. Wenn's darauf ankommt, nur keine Sentimentalitäten!« Schon zieht Serner näher. »Sagen Sie mal, haben Sie auch was gehört? Er soll sich ja gegen eine bildschöne und schwer reiche Ausländerin verloben wollen?«

»Das kann stimmen, Herr Oberst.«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Nun sehen Sie ihn sich genau an: ganz hübsch, bescheiden, macht ein Gesicht, als wenn er nicht bis drei zählen könnte – und kann's auch nicht. Was soll an dem ein Mädel anders heiraten als den Reichsgrafen?«

Ich kann nicht mal zustimmen, so gern ich möchte. Die Liebe hat hier thatsächlich Wunder gethan.

Der Oberst mochte ihn freilich nie. Murmelt auch noch was von einem Wutanfall, der Serner zum Abschied verholfen hätte. Ich glaube nicht recht daran. Karlchen hatte den Kommiß satt – konnte ja auch keine Schwadron über den Rinnstein führen . . . Mit dem Wutanfall, was könnte das eigentlich gewesen sein? Auf der Ritterakademie ulkte ihn allerdings Twesten wegen einer Familiengeschichte an, da ging er auf den mit dem Messer los wie ein wahnsinniger Sträfling . . . Ich muß mir doch mal überlegen, was das war.

Jetzt fehlt die Zeit. Serner deckelt bereits. Kurzer Aufenthalt, mit einigen Höflichkeiten gewürzt. Dann bekommt der Oberst kalte Füße und steuert auf ein Kasino los. Karlchen ist völlig verwandelt, 14 sobald wir allein sind: liebenswürdig, beinahe freundschaftlich. Kommt eben von der Händelstraße, teilt mir als Riesenneuigkeit mit, daß Ethel nicht mehr gezeigt wird. Die hat ihre Sommerfrische! »Haben Sie schon zu Abend gegessen, Carén?«

»Ja. Warum?«

»Kommen Sie mit zu mir.«

Ich habe keine Ahnung, wie ich zu der Ehre komme. Er wohnt Mohrenstraße, ich Kaiserhofdependance, also gegenseitig fast auf der Nase – wir hätten das Vergnügen unsrer Gesellschaft bei mir oder bei ihm jeden Abend haben können und haben es doch stets vorgezogen, allein zu sein. Aber ich acceptiere die Einladung. Möchte doch sehen, wie's bei Serner auf der Bude aussieht. Vielleicht hat sich die Grünäugige für ihn in Lebensgröße photographieren lassen, oder er besitzt sie, als Meduse frisiert, in Carraramarmor. Wundern sollt' es mich nicht – und an schönen Frauenkörpern hatte ich immer ein gewisses ästhetisches Wohlgefallen. Wir werden ja sehen.

Unterwegs redet er unaufhörlich auf mich ein . . .

*

Aufregend sind die gräflichen Appartements nicht. Vier Zimmer in einer Flucht (auch hierin war er sparsam) – darüber das zurückgebliebene leichte Bouquet einer russischen Zigarette. Es ist ein Chambre garnie wie jedes andre, nur daß die Eichenmöbel seine eignen sind. Erst als das Glühlicht aufleuchtet und der Diener die cremefarbenen Stores an den Fenstern zusammenzieht, bekommt das Ganze ein Gesicht. Ein charakteristisches? Auch das. Der ganze Serner liegt wie ein aufgeschlagenes Buch vor mir . . . Er war immer pedantisch, gewissenhaft, so auch in seinen Triumphen. Kein Glied fehlt in der stolzen Kette. An den Wänden, auf den 15 Etageren – Weiber, wieder Weiber, zarte Andenken, geschmackvoll und geschmacklos, wie es die Konfektioneusennatur gerade gab. Viel Zeug – ich hätte mehr! Mir ein Museum daraus zusammenzustellen, das fiel mir nie ein. Die Geschichte der Thorheiten steht einem ja auf dem Gesichte – warum sich ein Duplikat in der eignen Wohnung halten? Mich könnte es nur ärgern oder langweilen. Beim frühreifen Karlchen aber interessiert mich die Galerie. Ich gehe langsam vom einen zum andern, lasse nichts aus; Karlchen geht mit, etwas gedrückt zwar – die Galerie paßt nicht mehr zu seinen Liebesgefühlen. Die Dame dort mit dem Reitcylinder und dem harten Auge – schlanke, chike Figur – zog ihm eins mit der Peitsche über und ging davon: getäuschte Hoffnungen wegen eines Colliers. Die mit der schönen Schulter – breites, blasses Gesicht, direkt aus dem Sumpf – scheint ihn am längsten gefesselt zu haben: hier ist sie als Mondaine mit aufdringlicher Eleganz, dann als Novize im rosa Gazeröckchen, wie er sie wohl im Pall-Mall-Keller entdeckte, zuletzt in einer Hängematte ausgestreckt, kokett lächelnd, mit fabelhaft gemeiner Fessel . . . Es sind ihrer so viele: jung und alt, Provinz und Ballett, und immer derselbe Typus – leeres und hartes Gesicht zugleich. Sie wollten alle ausbeuten und kamen bei dem gewissenhaften Karlchen sehr an den Unrechten. Wie viele mögen ihn geschaßt haben, wie wenige er! Aber Serner läßt sich auf keine Erklärungen ein, obgleich ich mich bei unbekannten Schönen umsehe und fragend auf die Fratze tippe. Antwort: Achselzucken, hat vergessen. Natürlich gelogen: will nicht mehr kennen. Es thut ihm fast leid, daß er mich mitgeschleppt. Aber nun muß er mit durch alle vier Zimmer bis ins Schlafgemach mit dem Bett à la duchesse, dessen Messingkugeln funkeln. Platz ist hier an der Wand 16 noch genug, die Galerie hört aber plötzlich auf mit einem faden Gesicht.

»Wann haben Sie die zum letztenmal gesehen, Serner?«

»Vor vier Monaten.«

Kunststück! So lange kennt er gerade Asta Le Fort. – Wir schlendern zurück. Auf einem Nippestisch fesselt mich eine Photographie: die Saphirkönigin! – Serner war mal bei ihr heißer Favorit, aber mein Leichtsinn gewann das Rennen im Canter. Seitdem beehrt er die Glückliche mit seinem Haß; es ist, glaube ich, das einzige Weib, das er haßt. Das heißt, der Haß gilt eigentlich mir. Wir hatten immer so eine freundschaftliche Abneigung gegeneinander, von der besonderen Art, die solche Freunde ganz unerwartet zu einer kühlen Auseinandersetzung auf Leben und Tod treiben kann. Karlchen lächelt. ›Du die Saphirkönigin – mir; ich die grünäugige Statue – dir!‹ Sind wir endlich so weit, Karlchen? . . .

Ich thu' ihm übrigens unrecht, er denkt freundschaftlicher.

»Wollen Sie die Photographie, Carén?«

Ich setze das Bild behutsam wieder auf seinen Platz. »Danke wirklich.«

»Oder wollen Sie gleich die ganze Galerie?«

»Warum? Möchten Sie Schluß machen?«

»Ich dächte, Carén! Ich verbrenne morgen oder übermorgen den ganzen Krämpel. Das Zeug ekelt mich an, ich versichere Sie, ekelt mich positiv an.«

»So? . . .«

Serner hatte vorhin seinem Diener einen Wink gegeben, jetzt steht der mit einer silbernen Tablette wartend im Salon – wird nach einer Ecke hin dirigiert.

»Haben Sie geerbt, Serner?« frage ich verwundert.

17 »Das nicht! Aber ich möchte ganz gern mit Ihnen einen vernünftigen Becher Sekt trinken. Moët – Ihnen ist er doch nicht zu süß?«

»Ganz und gar nicht. Es ist ja der Le Fortsche Sekt.«

Karlchen räuspert sich und schweigt.

Da sitzen wir nun in einer gemütlichen Ecke. Heiße, trockene Luft, der Sekt perlt, meine Bismarck kohlt. Karlchen sieht mich zuweilen argwöhnisch an – er will was sagen. Wirklich kein übler Platz, mit türkischen Shawls drapiert, das Sofa weich, ich blinzele schläfrig. Von der Straße unten das ungewisse Tosen – so ein beruhigender Laut, bei dem man sich einbildet, es wäre um einen und in einem alles still, träumerisch. Vor mir steht eine bronzene Kartenschale. Ich ziehe gedankenlos Karten heraus, sehe sie an, schnippe sie wieder hinein – eine will nicht – muß! Serner guckt zu, ein rosiger Hauch erscheint an seinen Schläfen. Es ist albern, wenn ein Mann mit einem Monocle Tischkarten studiert und ein andrer Mann mit einem Monocle plötzlich dabei errötet. Merkwürdiger Zufall! Die Karte, die nicht heraus wollte, stammt von der ersten Gesellschaft bei Le Forts . . . Und mit dieser Karte in der Hand fange ich an zu dösen. Es war doch eigentlich ein mäßiges Debüt für Madame wie für mich. Lange ist's auch her, sehr lange. Ein ganzer Berliner Sommer liegt dazwischen, inhaltlos, schwül – daher die Länge . . . Ich bin wohl anders geworden, sonst säß' ich nicht hier. Und das Mädel? Auch 'ne hohle Nuß. Asta ist die einzige, die mir nicht kondoliert hat. Ich werde höflicher sein und ihr von Herzen gratulieren. Warum soll sie auch den Serner nicht heiraten? Er will ja alle seine Erinnerungen verbrennen . . . Ob sie ihn liebt? Als wenn das zur Ehe gehörte! Werde ich vielleicht aus Liebe 18 freien? . . . Rätselhaftes Geschöpf! Allen hätte ich die kluge Berechnung zugetraut – dir nicht. Mußte dein königlicher Nacken lügen? . . . Oder ist es das große, königliche Mitleid, dem du dich opferst? Oder willst du dich betäuben durch diesen Sprung in das Alltägliche? . . . Ich möchte gern gerecht sein. Du springst, weil du willst, du springst, weil du mußt, springe denn in Gottes Namen! Und wenn auch jetzt im Augenblick dein tiefgrünes Auge wie damals durch das Rosengewirr mich anblitzt, und wenn es auch schwermütig fragt wie im Walde von Klein-Machnow, und wenn es mich auch flieht wie vor den vertrockneten Rosen der Potsdamerstraße – ich verstehe es nicht, ich habe das Lesen in Frauenaugen verlernt. Bin ich alt? . . . Schicksal, ich frage dich zum letztenmal: Wann kommt der Orkan?

Karlchen äugt den Träumer an. Ein hübscher Karton ist es in der That, den ich da unschlüssig halte: zwei Rokokoherrschaften, die sich graziös verneigen. Eine Männerhand hat mit Bleistift etwas darunter gekritzelt. Ich entziffere mühsam: A. v. S. – daher also das Erröten! Die Sünde eines verliebten Quartaners. Karlchen, Karlchen! . . . Ich sehe auf. Serner lächelt verlegen . . . »Sie gezeichnet?«

»Ich.«

»Darf man gratulieren?«

»Beinah, aber noch nicht ganz.« Und er drückt die Hand, die ich ihm lässig über den Tisch weg reiche. Was er doch für 'nen lebhaften Puls hat, meinen fühlt er nicht.

»Na, nun beichten Sie mal, Serner!«

»Es wird Sie langweilen, Carén.«

»Wenn Sie nicht wollen . . .« Und ich nehme die Karte wieder auf.

»Sie mokieren sich nicht, Carén?«

»Ich habe kein Recht dazu.«

19 Da schwindet das letzte Mißtrauen. »Ich habe Sie eigentlich deswegen gebeten, heute mein Gast zu sein, Carén, weil ich mich gerade Ihnen gegenüber gern aussprechen möchte . . . Also . . . daß ich für die Dame von Anfang an viel übrig hatte, wissen Sie . . . daß ich Sie in dem Hause nicht gerade gern gesehen habe, wissen Sie auch . . . lieber Carén, das war menschlich! . . . Der angenehmste Rivale sind Sie nie gewesen. Und das eine Mal . . .«

»Handelte es sich um die sogenannte Gräfin Lagrange,« unterbreche ich.

»Trotzdem . . . Sie standen stets in dem Ruf, andern die Weiber abzujagen, koste es, was es wolle.«

»Sie sehen den Erfolg, Serner.«

»Ja, eben – weil ich wußte, daß Sie übel daran waren, hatte ich Angst vor Ihnen – gestehe – ehrlich – Angst! Ein reiches und schönes Mädel konnten Sie sehr gut brauchen.«

»Habe ich etwa Anstalten gemacht, Sie aus dem Sattel zu heben, Serner? . . . Wenn ich gewollt hätte, wirklich gewollt hätte . . .«

»Das war mir eben das Unheimliche. Sie kamen, gingen, thaten nichts. Aber ich habe nicht umsonst gegen Sie ein Rennen geritten, nicht umsonst dabei eine fast lächerliche Rolle gespielt. Sie konnten uns allen damals vom Start weg einfach davonlaufen – das war Ihnen zu gewöhnlich – Sie wollten uns nur lieber hart an der Lunte haben, wie der Fuchs die Meute, und ganz zuletzt gelassen als erster durchs Ziel gehen. Die Spielerei kostete Ihnen ein Pferd, das eine Wellgunde zu werden versprach. Sie wollten früher immer alles im Finish machen, darum habe ich Ihnen auch hier mißtraut wie meinem ärgsten Feinde. Jetzt glaube ich Ihnen ohne Versicherung, daß Sie bei Asta nichts 20 beabsichtigt haben, obgleich ich Sie nicht ganz verstehe. Heute würde es auch zu spät sein – ich bin nämlich des Jaworts sicher.«

»Haben Sie's?«

»Noch nicht offiziell . . . Ich hätte es vielleicht schon weit früher haben können – aber Sie kennen mich: immer ein bißchen ängstlich und in dem Falle, wo mir alles daran lag, doppelt. Sehen Sie, Asta ist ein sonderbares Ding, viel ungleichmäßiger, als sie scheint. Ich habe Höllenqualen durchgemacht. Immer auf dem qui vive: jetzt erklärst du dich! – und dann sieht sie mich an mit ihren grünen Augen: unmöglich! . . . Sie haben's selbst manchmal gemerkt. Carén . . . Ich weiß auch noch heute nicht, ob sie mich eigentlich liebt, ich weiß nur, daß mir plötzlich die grünen Augen ja sagten, ohne daß ich eigentlich fragte. Mag sie mich nun nehmen, als was sie will: als Reichsgrafen, als Majoratsherrn, als mich selbst – sie macht mich fabelhaft glücklich. Um gewissen Falschdeutungen vorzubeugen, sage ich Ihnen das jetzt, und weil ich mich meines Mißtrauens doch etwas schäme . . .«

»Und die Alte? Sie interessiert mich naturgemäß dabei.«

Karlchen atmet schwer. »Die Schwiegermutter will mir nicht recht in den Kram passen, nicht etwa, weil sie Le Fort heißt und die Frau eines Börsianers ist. Aber weiß der Teufel, was sie gegen mich hat – am Ende bin ich doch selbst in unsern Kreisen eine beste Partie – ich wette, sie versucht, mir noch in der letzten Minute einen Possen zu spielen. Glücklicherweise kann sie es nicht. Denn was Asta will, geschieht.«

»Dann also prosit, Serner!«

»Prosit!« Karlchen gießt seinen Becher mit Todesverachtung hinunter, mir rutscht der Moët nicht 21 recht, so daß ich absetzen muß. Nicht etwa aus Rührung – ich weiß nur nicht, was mit mir los ist. Dieser Ausgang hat eigentlich für mich etwas Befriedigendes. Ich bin wieder mal an die Seite geschoben, überflüssig. Es thut mir nicht weh – ich finde es so selbstverständlich, natürlich . . . Was ich mir gern vorstellen möchte – wie sich die beiden wirklich abknutschen –, bringe ich nicht fertig.

Warum bleibe ich eigentlich noch in der gemütlichen Ecke sitzen? Weil Serner den Beichtkoller hat und mich nicht weglassen will – oder weil ich mir langsam klarmachen möchte, daß die beiden sich verdienen, daß ich sehr weise prophezeit habe? . . .

Wenn doch an mir auch solche Wunder geschähen! Ich muß mir den Mann immer ansehen. Das macht also aus unsereinem die Liebe! Sie schärft sogar den Verstand, rasiert die Vorurteile. Karlchen darf mir freundlich die Achsel klopfen und lächelnd sagen: »Ja, ja, die dummen Standesideen haben wir nicht mehr . . . Neunzehntes Jahrhundert! . . . Wir brauchen frisches Blut in unsern alten Familien – wird schon höllisch dünne. Merk's an mir . . . Machen Sie mir's nach, Carén! Aber Sie waren ja immer der Blaublütigere. Unter einer Gräfin – undenkbar. Ich sage Ihnen, alter Freund, es geht! . . . Hören Sie mal, hätten Sie nicht Lust, mein Schwager zu werden? Ethel ist so hübsch wie Asta, nur ganz anders – Sie nehmen mir doch den Scherz nicht krumm? Ich hatte nämlich eine bebende Angst vor dem Schnapsonkel! Wer mag aber der Kleinen diese infame Taktik angegeben haben? Ich glaube immer, die Alte war's . . . Eine bodenlose Gemeinheit! Wenn wir erst miteinander warm geworden sind, wir zwei beide, geig' ich's ihr auch . . .« Karlchen Serner mit der blechernen Stimme sagt das – er sagt noch viel 22 Anständigeres, viel Weiseres. Die Liebe gab ihm den Funken, mit dessen Hilfe das Räderwerk seines Geistes so emsig schnurrt, als hätte es nie stillgestanden; derselbe Funke, der Jaromirs leicht erregtes Gehirn total verbrannte. Früher hätte ich bei solcher Auseinandersetzung verächtlich geknurrt: ›Das Tier, der Serner, wird plump vertraulich.‹ Jetzt sage ich bloß: ›Du hast recht, ganz recht, du Auferstandener‹ . . . Warum mußte nur gerade die grünäugige Asta das Wunder thun?

Und plötzlich muß ich laut auflachen, daß Karlchen, der in langen, bedächtigen Schritten das Zimmer mißt, mißtrauisch wird, schweigt. Ich lachte doch nur über Louis Carén! Es bedarf vieler Versicherungen, bis ich Serner wieder vertraulich habe. Er soll noch mehr von sich erzählen, von der Zukunft, von dem Glück überhaupt, das er in einem Rokokosalon fand, und das ich zeitlebens vergebens auf der Straße oder im Monde suchen werde. Ach, er malt sich alles so hübsch aus: im Winter werden sie zwei Weltreisende sein, im Sommer patriarchalische Gutsherrschaft spielen. Vom Majoratserben spricht er nicht, aber er sieht ihn im Geiste deutlich – die Gräflichkeit vom Vater, die Schönheit von der Mutter. Er ist schon weit vorausgeeilt mit seinen Gedanken, während ich mir immer noch nicht vorstellen kann, wie sich die beiden küssen. Ich möchte es wohl sehen, weil glückliche Menschen in dem Trupp der Mißvergnügten und Blasierten doch was andres sind, selbst wenn sie Sernersche Vogelaugen haben. Ich möchte die Liebesscene aber doch nicht sehen! . . .

Serner erzählt; er könnte noch Stunden erzählen. Mich schläfert das Glück ein. Ich möchte am liebsten gar nicht mehr aufstehen, so gemütlich ist's nur bei Serner . . . Wenn ich ihn bitten würde, auf einer Chaiselongue »pennen« zu dürfen wie ein betrunkener 23 Student? Der Gedanke kam mir wirklich. Endlich reiße ich mich zusammen. Einmal muß doch geschieden sein! Er begleitet mich bis zur Hausthür unten, weil er ein viel zu dicker Freund von mir ist, um das dem Bedienten zu überlassen. Er hat sogar noch etwas auf dem Herzen: will erklären, warum er mir seine Hilfe nicht angeboten hätte, während ich noch »unter dem Schlitten« war . . . »Ich wagte es nicht recht, Carén. Sie konnten empfindlich werden. Aber wenn Sie vielleicht jetzt wünschen . . . Es ist ja nur eine Form . . . Sie sind durch den glücklichen Todesfall nun wieder ganz oben.«

Und ich habe die Erwiderung schon auf der Zunge: ›Es ist ja nur Form . . . aber geben Sie mir fünf Groschen, bloß damit Sie überzeugt sind, ich hatte und habe nichts gegen Sie.‹ Doch irgend etwas lähmt mir die Sprache. Ein guter oder ein böser Geist flüstert mir zu: Wart ab, bis sie sich küssen! . . .

Ich habe die Asta ja in Grund und Boden verderben wollen aus Liebe zu mir. Das fällt mir jetzt unvermittelt ein. Welch lächerlicher Vorsatz! Er war lange vergessen, und ich ging doch regelmäßig in dies Haus, in dem ich sonst nichts zu suchen hatte . . . Louis, wenn dich die Greisenmilde doch belügt?

*

Auf der Straße natürlich: Adieu, Müdigkeit! Ich kenne das in Berlin. Zwar ist's spät, die Gassen leer, aber die Friedrichstraße winkt. Und wenn's nur die paar hellerleuchteten Zigarrengeschäfte sind und die Streichholzweiber, die wie Posten regelmäßig auf und ab schleichen – es ist nun einmal die Weltstadt, die anregt. Was mir von Elend vorwinselt, findet heute meine Hand geschlossen. Arme Teufel sind gutmütig. Millionäre haben's nicht nötig. Ich möchte noch nach der »Hütte« 24 bummeln, ein Pilsener auf den Schrecken setzen. Ich thu' es nicht.

Plötzlich keucht etwas hinter mir, atemlos – das flüchtige Gleiten eines leichtbeschuhten Frauenfußes, das Knistern eines Seidenrockes. Ich will mich umdrehen. Da schiebt sich auch schon ein Arm in den meinen . . . »Herr Graf!« . . . Ein junges, verschminktes, fieberndes Gesicht, graublaue Augen, vor Todesangst ganz leer . . . »Herr Graf, retten Sie mich!« In demselben Moment eine Männerstimme, markiert, leise: »Polizei!«

Da läßt das Mädchen mich los, stürzt über den Fahrdamm, wo drüben die Droschken zweiter stehen und die alten Kutscher in ihren Mänteln duseln: »Kutscher, fahren Sie mich nach Haus, fahren Sie mich nach Haus!« schreit sie gellend. Einer zuckt auch schlaftrunken mit der Leine. Doch beim dritten Sprunge mitten auf der Straße hat sie mein Mann in Zivil von hinten um die Taille mit beiden Armen gepackt. Sie wehrt sich, will sich losreißen – ein schlanker, kraftloser Körper. Wie sie die Fußspitzen aufstemmt, erkenne ich sie an einer eigentümlichen Bewegung des Knöchels: unsre Ballettfee aus Serners Séparé damals. – Ein scharfer Pfiff. Der Polizist packt sie fester, die Pfeife zwischen den Zähnen – noch ein Pfiff, langgezogen, schrillend. Da will sie zurück aufs Trottoir, wo ich noch unthätig stehe. »Herr Graf, retten Sie mich!« – Was geht's mich an, was die heilige Hermandad mit ihr abzumachen hat! Die Dame wird einen Kavalier bemaust haben. Reif für den Alexanderplatz ist sie schon lange. Aber der schrille Pfiff, das helle Geschrei gehen einem durch und durch. Der Geheimpolizist hat die Straße mobil gemacht. Vom Café National her stumpfblinkende Schutzmannshelme, klappernde Lederscheiden – die bewaffnete 25 Macht hat's eilig. Einer faßt Serners Freundin auch gleich untern Arm, ein andrer beruhigt: »Man sachte, du! . . . Komm, komm, Kleine, mach keine Dummheiten, wir packen dich in die Droschke . . .« Und während sie noch schreit und sich windet, hat ein Kutscher seinen Weißbierschädel endlich gefechtsklar gemacht. Tapp – tapp – der Kasten quietscht heran, sie schieben das Geschöpf hinein in die Thür, das Pferd sieht sich auch neugierig um. Dann rattert der Kasten ab. Durch die Droschkenwände zittert noch das sinnlosgellende: »Kutscher, fahren Sie mich nach Haus! – Herr Graf, retten Sie mich!« bis es in einem röchelnden Laut erstirbt . . . Wieder mal ein Menschenschicksal besiegelt . . . Die Polizei hat recht. Ich rege mich wohl eines Ziehhundes wegen auf – nicht wegen eines Menschen. Aber den Bierappetit verliert man.

Zum Heil kommt ein Kehrwagen bedächtig daher. Ich bleibe ihm zur Seite. Es hat so was fabelhaft Charakteristisches, wenn der feine Staub unter der knarrenden Bürste aufwirbelt, im Laternenlicht rötlich glänzt und das lose Eisen des alten Schimmels vorne gleichmäßig dazu klappt. Man wird von den fade riechenden Atomen umwogt, eingehüllt. Weltstadtschmutz – man hat ihn nötig wie das Leben. Der Fuhrmann sitzt zusammengekauert, die Peitsche nickt . . . Bis zur Mauerstraße begleite ich das Gefährt. Dann grüßt der Kaiserhof. »Adieu, Kehrwagen, wann kehrst du mich aus?« Und ich dreh' mich noch mal um. Die rötliche Wolke wirbelt, die Peitsche nickt, das Eisen klappt . . . Zuletzt verschwimmt's wie ein Phantom. Nur der fade Schmutzgeruch bleibt. Warum schimpfe ich nicht über die zudringlichen Miasmen? – Ich bin heute so milde, so milde . . .

Sollte ich doch Anlagen zur Tugend haben? 26 Die Tugend ist langweilig – und das bin ich auch.

Zu Hause angekommen, in der geflissentlichen Unordnung meines Wohnzimmers, sehe ich mir neugierig das Tugendgesicht auf seine Heilsarmeequalität an. Louis, Louis, wenn's innen aussieht wie auf dem Gesicht! Da ist nämlich nichts von Güte. Carénsche Eigenart bis zur Häßlichkeit scharf: der maßlos hochmütige Zug um den Mund herrscht. Seit wann hast du auch das Erbteil angetreten? Und die warmen Augen deiner Mutter? Nicht mehr vorhanden. Das sind ruhige, kalte Augen, die nicht zucken werden, selbst wenn der kühlentschlossene Kopf ein Verbrechen befehlen sollte. Ich ahne nicht, was er jemals befehlen wird, aber ich weiß, daß ihm das Herz keine weichmütigen Aenderungen macht.

Der Schuljunge Carén ist so erschrecklich lange artig gewesen, daß ihm diese Artigkeit selbst zu denken giebt. Dem Schuljungen steht eine kalte Teufelei auf dem Gesichte geschrieben . . . Irre ich mich? 27

 


 


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