Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Ich irre mich nicht!

An meiner Knipskrankheit hat der Tod nichts geändert. Dreimal mindestens wöchentlich wird früh morgens gen Köpenick gedampft, ob's regnet oder schneit. Heute hat mich der scharfe Knall besonders erfrischt. Es ist elf Uhr. Um den Lunchappetit zu stärken, könnte ich eine Stunde die Spree entlang bummeln. Es ist meilenweite Forst, die von den Müggelbergen imponierend heranzieht, den Fluß begleitet bis fast nach Berlin. Bei Köpenick heißt sie Wuhlheide, nach dem trägen, schilfigen Rinnsal, das verborgen-stumm sich bis zur Spree schlängelt. Geweihte Rothirsche sollen hier noch in den Dickungen schreien, und der heimtückische Wilddiebsschuß hallt allnächtlich durch die Baumkronen. Also ein poetischer Wald! Früh am Tage ist er ohne lichtscheue Gestalten, die kreuzenden breiten Chausseen sind von Bierwagen belebt und ehrlichen Arbeitern, zuweilen lugt aus den Schneisen eine forstgrüne Uniform. Heute ist Sirokkoluft – trübe, regengesättigt, schwül. Ich liebe es, wenn die schweren Wolken langsam die Kiefernwipfel langziehen und über die Schonungen feuchtwarmer Dunst wallt. Die Atmosphäre verschlingt mürrisch jeden Laut. Aber auf dem dürren, gelben Sandboden sprießt's. Der mageren Heide thut die 28 Treibhausluft wohl; die Stämmchen recken sich, und was sonst die Sonne verbrennt, bewuchert geschäftig graues Moos. Ich bin schon lange gebummelt; mir ist heiß. Zwischen hohen Stämmen sieht ein weißes Haus hervor, dahinter gleißt verschwiegen die Spree. Der Osten ist die Weißbierheimat, und ich denke an eine »kühle Blonde«, die mir inkognito sehr munden soll. Hoffentlich ist es eine Kneipe. Ich schleiche um das Holzstaket des Gartens herum, den Eingang zu erspähen. Plötzlich dumpfer Anschlag, dem wütendes Gekläff folgt. Einen undefinierbaren Köter – Mops-Pudel-Dachs – reizen meine gräflichen Waden. Als Begrüßung ein Hieb mit dem Stock. Antwort wildes Geheul – habe ihn erst recht scharf gemacht – er will jetzt in langen Sprüngen höher hinaus an die Kehle. Die große, plumpe Bestie wird mich umwerfen und gurgeln. Nach jemand rufen, wäre verständig, jedoch feige. Kämpfen wir weiter! Das Tier rast blutdürstig. Jetzt ein kurzer Ruf: »Tiny!« Aufknurrend voltigiert der Höllenhund mit einem Satz über den Zaun. Ich gedenke die Pause zu maßvoller Flucht zu benutzen – es ist doch wohl eine sogenannte Villa. Eine Hinterthür quietscht, und neben einem Herrn mit Schlapphut erscheint mein schwarzer Peiniger, schuldbewußt wedelnd, außerhalb der Umfriedung.

»Hast du wieder einen anständigen Herrn nicht zufrieden gelassen? Du!« Tiny duckt sich und schielt nach mir. Die Stimme sollte ich übrigens kennen. Der schwarze Schlapphut wird gleich darauf höflich gezogen. Ein vornehmer, weißer Kopf. »Ich bitte um Verzeihung, mein Herr!« – Das sehr freundlich . . . »Wenn ich nicht irre, Graf Carén?« – Dies kühler.

Ich erinnere mich an Augenblicksbekanntschaften sonst nie – an diese leider sofort. Der fabelhafte 29 Onkel. Unter indischer Sonne scheint wahllose Gastfreundschaft zu gedeihen. Ich muß mit ins Haus. Tiny leckt mir heimlich die Hand . . . Ich habe aber gegen Mann und Hund ein Vorurteil. Darum gebe ich dem Hunde einen Klaps und sehe verbindlich lächelnd auf den Mann.

In dieser mäßigen Oberspreevilla frühstückt man um diese Zeit. »Man« ist Herr Lister und sein Hund und sehr überflüssigerweise noch ich. Kalte Küche, jedoch vorzüglich gekühlter Mosel und so ein warmer Schimmer von Junggesellengemütlichkeit, dem ich wahrscheinlich unterlag. Dieses Frühstück hat mit meinem Schicksal sehr viel und sehr wenig zu thun . . .

Während ich dies schreibe, ohne einen Schatten von Sentimentalität, aber verwundert, weil sich mein Geschick mal wieder so albern sprunghaft, ungeahnt entwickelt, frage ich mich doch: War es denn nötig, daß dich der Fixköter ankläffte, daß dich sein Herr gewissermaßen zur Buße dafür zum Frühstück einlud? Ich bedaure nichts. Vielleicht mußte es so kommen. Der Steinadler, der aufflatternd die winzige Flocke Firnschnee löst, die als Lawine niederdonnernd den Weiler zermalmt, begräbt, erfüllt wahrscheinlich auch ahnungslos ein Stück unwandelbarer Vorsehung. Der Steinadler bedauert nichts; der Höllenhund hier ebensowenig.

Das Frühstück könnte in zwanzig Minuten beendet sein, denn es giebt wenig und keine Delikatessen. Aber dem Manne mit dem Schlapphut genügt's nicht, mir Hunger und Durst zu stillen, er will auch höflich beweisen, daß unsre gegenseitige Abneigung falsch ist, unberechtigt. In Bezug auf mich gebe ich das zu. Er ist ein so eigenartiger, ja fascinierender Mensch, daß ich die Vorliebe der grünäugigen Asta mit stummer Verbeugung anerkenne. Er ist ein 30 guter Mensch. Und so wenig ich die Sorte liebe, in der sich zu einem Atom Güte die Riesenportion Dummheit mischt, so sehr imponiert mir diese Spezies, die nur wenige Vertreter haben kann. Für mich ist er jedenfalls der erste: ein außerordentlich guter und außerordentlich kluger Mensch. Ich mag mich täuschen, die Fassung für den Stein nehmen. Dennoch eine angenehme Täuschung. Ich fühle mich nach den ersten fünf Minuten in dieser Villa zu Hause, ich fühle nach den ersten fünf Minuten, daß ich zu dem Manne aufsehen muß. Und die wunderbare Feinfühligkeit dieses Menschen erkennt das sofort, sieht mich durch – und hat mich gern. Letzteres ist mir ein Rätsel. Er hat so viel gesehen und ist bescheiden; er hat so viel gedacht und drängt's nicht auf. Wie er es gemacht hat, weiß ich nicht, aber er hat mich positiv bezaubert. Ich möchte unsre Unterhaltung nicht wiedergeben, überhaupt den Eindruck nicht vertiefen. Wir haben uns gesehen und sehen uns nach dem, was vorgefallen, kaum je wieder.

Als ich mich nach einer genußreichen Stunde rasch verabschieden wollte, warum ließ Herr Lister das nicht zu – warum führte er mich noch zur Terrasse, den Blick auf die waldgerahmte, ruhig fließende Spree zu begutachten – warum vergeudete er noch Zeit, mir eine Maréchal Niel abzuschneiden und zuletzt entschuldigend zu sagen: »Komm, Tiny, gieb dem Herrn die schwarze Pfote! Mehr kannst du zur Satisfaktion nicht thun, mein Hund« . . .? Ich klopfe den Köter. Sein Herr nickt befriedigt. »Um seine Abneigung zu verstehen, müssen Sie seine Geschichte kennen, Herr Graf. Er ist nämlich sein Lebtag unter einem grünen Seiltänzerwagen angebunden gewesen und kannte, bevor ich ihn kaufte, nur das Lumpengesindel und den Hunger. Die 31 Erinnerung hat er sich bewahrt. Wenn elegant gekleidete Menschen zu mir wollen, rast er – die verkommensten Strolche wedelt er an. Können wir Menschen unsre Jugenderfahrungen, ob schlecht oder gut, vergessen?« Herr Lister hat recht. Die Aristokratie beugt sich herab, mit der Plebs ihren endgültigen Frieden zu machen . . . Der ganze Abschied dauerte höchstens zehn Minuten – aber sicher eine zu viel oder zu wenig. Denn diese eine Minute entscheidet, lächerlich genug, ein Menschenschicksal und noch mehr.

An der nächsten Landungsstelle erwische ich einen Dampfer. Ich verkrieche mich in die Kajüte, weil ich da allein bin. Wenn man so was ganz, ganz andres von Menschen als das Alltägliche kennen gelernt hat, will man der Erinnerung nachhängen. Dabei fällt mir ein, daß der Name Le Fort zwischen uns überhaupt nicht genannt wurde, obgleich er unsre erste, feindliche Bekanntschaft vermittelte. Wir beide scheinen in letzter Zeit an den Trägern dieses Namens wenig Freude erlebt zu haben.

*

Jannowitzbrücke! Ich steige aus. An einer Straßenecke streift mich Dösenden fast eine Gabeldeichsel an der Brust. Elegantes Gig – schäumender Traber – ein Offizier kutschiert, während auf dem Rücksitz der Diener schaukelt. Dies verwünschte Jagen in Verkehrsstraßen! Wär's ein Vierkutscher, könnte er passieren; doch anständige Leute sollen vorschriftsmäßig fahren.

»Himmeldonnerwetter, sehen Sie sich vor!« ruf' ich dem Gefährt nach.

Der Offizier sieht sich um, pariert sofort. »Naa . . . naa . . . mach mir nur nicht meinen Gaul scheu, Louis Carén!«

Das ist ulkig. Twesten, mein alter Pennal- und 32 Kriegsschulkamerad. Wir drücken uns gerührt die Hand. »Wie geht's sonst, Georg?«

»Gut, gut!« antwortet er eilig. »Nu aber fix heraufgeklettert! . . . Der Fuchs steht nicht . . . Los, los! . . .«

»Wohin denn?«

»Das erzähl' ich dir beim Fahren.« Twesten rückt zur Seite, ich springe zu ihm hinauf. Der Gaul trabt weiter, fabelhaft ausgiebig, der Schritt weit, federnd wie ein Galoppsprung.

»Willst du mich nach dem Schlesischen Busch bringen und da abwürgen?« frage ich lachend.

»Weil die Olle nun glücklich tot ist und du infolgedessen sehr schwer? . . . Nein, nein. Ueberlege lieber, was mich plötzlich nach Berlin führen kann?«

»Rennen?«

»Allerdings. Du lebst wohl überhaupt nicht mehr mit, daß du das Beste vergißt? Zum Rennen wirst du geschleift . . . Aufgepaßt!« Ein Arbeiter springt auf den Straßendamm und schimpft. Es ist auch keine Gegend für Orlofftraber und Grafen. Lange, trübselige Straßen mit schmierigen Kellerläden und johlenden Bengels . . . »Ich komme direkt vom Souper,« trällert Twesten greulich falsch. »Das heißt, direkt aus dem Speisewagen eines Harmonikazuges – Nacht durchgefahren. Buchen hat sich gestern das Bein gebrochen. Gemein. Die Knochensplitter sollen ihm durch den Reiterstiefel geguckt haben, wenn er in seinem Telegramm nicht gelogen hat. Gaul wohl . . .« Plötzlich unterbricht er sich wieder. »Schockschwerebrett, daß einem die Lümmels immer vor dem Pferde herumtanzen! Du hast noch gerade einen abgekriegt, mein Junge . . . Ich muß nämlich in einer knappen Stunde umgezogen und gewogen sein, aufgesattelt haben, Louis . . . Ich hätte dich vom Rennplatz antelephoniert, um mit dir den Abend 33 zusammen zu sein. Eher unmöglich. Gestern um Mitternacht kriege ich Buchens Wisch. Ich konnte ihn auch nicht in der Patsche sitzen lassen. Es ist zwar nur ein Trostrennen . . . Frag mich um Gottes willen nicht, was für einen Schinder ich kaput reiten soll! Ein einziges Mal flüchtig vor Jahren gesehen: für die Flachbahn nicht schnell genug, als Steepler unbrauchbar, am Doppelrick regelmäßig refus – darum zum schlechten Hürdenpferd degradiert . . . Du sollst den Gaul im übrigen selbst taxieren, dazu wirst du mitgenommen.«

»Menschenkind, ich habe seit Jahrzehnten in keinem Sattel mehr gesessen.«

Er will das nicht wahr haben. »Nur keine diplomatischen Blasiertheiten! Du hast doch nie eine Remonte gedrückt trotz deiner fünfundsiebzig Kilo, das steht Numero bombenfest. Testorff opponierte neulich in Frankfurt dagegen und behauptete, du hättest weiter nichts als eine so böse Schnauze, daß alle Bekannte dich vorsichtig mieden. Reiten hättest du nie können. Der scheinheilige Hund! Darauf hab' ich ihm natürlich die Wahrheit gegeigt. ›Testorff,‹ sage ich, ›bei Ihnen wird jedes Pferd nach einem halben Jahre lose vorn. Das liegt immer am Reiter. Und Ihren Freunden sagen Sie doch auch gerade genug Gemeinheiten nach . . .‹ Nannte mich beim Abschied dann beinahe: Herr Graf.«

»Er muß auf Reputation halten, Georg, weil sein Schwiegervater eine Dampfmöbeltischlerei gehabt haben soll,« begütige ich.

»Scheint mir auch so . . . Ist übrigens das frühreife Karlchen noch auf seinen Gütern?«

»Ueberhaupt nicht weg gewesen.«

»Ihr beide, du und Serner, allein hier geblieben? In dem Schwitzbade? Wollt ihr euch denn auf eure alten Tage noch zu Rennen trainieren? . . . 34 So was hat nun die Freiheit und benutzt sie nicht! Ihr verdientet, an den Beinen aufgehängt zu werden– wenn nicht irgend etwas dahinter steckt. Die Gräfin Lagrange kann's nicht sein. Sie scheint jetzt die Rennplätze abzugrasen. Wenigstens sah ich sie voriges Jahr in Iffezheim mit deinen Saphiren traurigen Angedenkens Aufsehen erregen. Setzte gerade hundert Mark auf den Fürstenbergschen Hengst. Nebenbei gesagt, für zwanzig Meter sechshundert zurück. Solche Bande hat immer einen Riesentorkel! . . . Aber Karlchen muß ich unter allen Umständen sehen. Wird beim Rennen sein? Gott, wenn das so gravitätisch seine Doppelkrone auf den Favoriten klotzte und dann höchst verwundert die Augen verdrehte, wenn es nur vierundzwanzig herausgab . . . Nein, nein – Karlchen machen wir betrunken, und dann muß er uns die neueste Acquisition in Freiheit dressiert vorführen . . . Unser Kriegsschuljahrgang war doch wirklich nicht von Pappe. Was seitdem alles geflogen ist! Wir drei beinahe die einzigen Säulen noch . . .«

Wir vertiefen uns in Erinnerungen. Er mit der Peitsche wippend, die grauen Augen scharf auf seinen Traber – ich nach ihm schielend, halb neidisch, halb befriedigt. Wie der lange, sehnige Kerl so krumm dasitzt – schlotterige Ulanka, hundemager und das bartlose Mehlsuppengesicht bronzefarben, unter der tiefgezogenen weichen Uniformmütze eigentlich nur Nase und am eckigen Kiefer ironisch spielende Muskel. Jung sieht er auch nicht aus! Aber er hat's in sich, wie all die Rennkerls. Hat sich stark verändert seit der Ritterakademie, wo wir drei Grafen auf einer Bude lagen: Carén, genannt der Reiche, Twesten, genannt der Weiche, Serner, genannt die Leiche. Der die geistreichen Benennungen ausgeheckt hatte unter uns Bengels, glaubte einen 35 Kapitalwitz gemacht zu haben. Ich möchte ihn jetzt mal fragen, ob er das noch aufrecht erhält. – Twesten und ich waren immer eng befreundet, wollten auch in dasselbe Regiment eintreten; aber meine Mutter wünschte mich durchaus mit den Gardelitzen zu sehen, während er beste Linienkavallerie vorzog. Seine Familie ist wohl etwas morganatisch, mäßig wohlhabend. Er schlägt sich als Herrenreiter so durch mit Gewinnprozenten und Ehrenpreisen. Für etwas andres hat er kaum Interesse – nur Sport! Daher für Mensch und Tier die ungutmütige Kritik eines praktischen Mannes. Die Leute kommen viel herum, haben keine Zeit zu Ausschweifungen. Glücklich, wem so eine enggezogene Passion die Scheuklappe gegen alle Versuchungen ist! Mich regt die Rennerei noch gerade an . . . Mit Twesten verbindet mich außerdem meine erste und letzte Rennerinnerung, bei der ich aktiv mitthat. Hatten damals beide kein Glück. Ich werde ihm heute auch keins bringen. Er ist nicht abergläubisch – zu nüchtern; aber mir liegt das Wetter in den Knochen. Nicht etwa die wunderbaren Ahnungen, bei denen ich mich so unsterblich blamiere!

Wir sind jetzt glücklich aus dem Häusermeer heraus. Rechts und links erheben sich noch zerstreute Fabrikkasernen und Schlote und Baracken – das graue Arbeitselend, das seine Pioniere weit in den Osten schickt. Der Osten hat so ein andres Gesicht: grau, räucherig und abgerackert wie die schmutzigen Menschen, die ohne Bewunderung zu unserm eleganten Gig aufschauen. Die Felder liegen gelb, unordentlich, die Wiesen sind sumpfig, in den Gärten Bretterbuden, welkendes Kartoffelkraut, schwindsüchtige Blumen. Der Kiefernwald am Horizont mißmutig, monoton – Sirokkoluft, wo der Himmel farblos-matt sich niedersenkt; atemraubende Schwüle ohne 36 Staub, wo der Vogelsang einschläft. Es geht jetzt durch Wald. Der Traber legt aus, sein nasser Bug schimmert. Die Chaussee ist unbelebt, die Kiefernnadeln hängen schlaff an den Zweigen . . . Fern aus dem Grünen schauen die Tribünengebäude flaggengeschmückt – doch die bunten Wimpel flattern nicht lustig. Es ist wie die Bretterburg eines improvisierten Jahrmarktsvergnügens inmitten eines schwarzen Chaos von Equipagen, Droschken jener Welt, die sich amüsiert und ruiniert. Die Volksbelustigungen haben schon lange begonnen. Twesten wird etwas nervös, sieht kopfschüttelnd nach der Uhr und schnalzt seinem Pferde zu, das die lange Strecke fast fliegt.

Endlich! – Wenn mich das Rennen langweilt, kann ich in einer Stunde querfeldein die Onkelvilla erreichen. Denn wir sind fast in derselben Richtung zurückgefahren. Der Mann interessiert mich, und deshalb thu' ich's vielleicht.

Und fünf Minuten später denke ich nicht daran! Niemals hat man den Grafen und Edlen Herrn mehr poussiert als an diesem Renntage. Wäre ich dumm, würde ich darauf stolz sein. Jetzt lächle ich nur über die Thatsache, daß mein Trauerflor tout Berlin ebenso unfehlbar anzieht wie der Magnet das Eisen.

Ich befinde mich auf dem Sattelplatz, den ich als einstiges Klubmitglied fast ausschließlich beehre. Die Jugend des Klubs hat sich um mich versammelt, all die exklusiven Bekannten sind freundschaftlich, gerührt. Der lebendig Begrabene ist auferstanden – und Auferstandene sind immer ein angenehmes Wunder. Ich bin dabei weder liebenswürdig noch erfreut. Wenn eine Gesellschaft zu zeigen wünscht, daß sie ebenso gemein wie jede andre – sollte ich ihr's übelnehmen? Ich betrachte sie mir nur kühl. ›Betet den Erfolg an, bitte . . . Ganz wie ehedem 37 bin ich aber doch nicht, meine Herren!‹ Etwas lernt man nämlich aus der Langweile und der Armut: verachten. Verachtung thut der Menge mit und ohne Monocle stets wohl, wenn sie ihr nur lächelnd, glatt kredenzt wird. Jeder muß bei dem Händedruck seines Nebenmannes denken: ›Na, du bist doch auch ein netter Gentleman, kriechst vor dem Gelde, obgleich du es gar nicht nötig hast . . . Bei mir ist's was ganz andres! Ich habe Carén immer gern gehabt . . .‹

Auf den Moment habe ich mich vielleicht auch gefreut. Ist's eigentlich eine Genugthuung, achtundzwanzig Jahre lang mit zehntausend Kletteraffen durch den Sumpfwald des Vergnügens glückselig geturnt zu sein, um am Schluß die Wahrheit zu erkennen, daß es nämlich wirklich Kletteraffen sind? Mich kann, glaube ich, nichts mehr aufregen. Testorff hält mich am Arm – er hat mich so lieb – er will das beweisen . . . »Carén, kommen Sie doch mit auf unsre Tribüne!« Er zieht mich förmlich.

»Um mich den Leuten zu zeigen im Trauerflor, weil sie die Kreuzzeitung vielleicht nicht gelesen haben?«

»Sie sind kurios, Carén!« Er trollt sich.

Enfin seul. Twesten, der eben von der Wage kommt, rechne ich nicht mit zu dem Gesindel. Sobald der gute Georg im Dreß ist, zeigt er sich schweigsam, ohne Nerven. Der Sattelplatz ist ziemlich leer. Auf dem Geläuf drüben galoppieren sie ein Flachrennen herunter. Wir treten an die Barriere: Twesten, den Plan vor dem Gesicht, studiert Rennen Nummer vier, wo er mitthun wird, und fährt die schwarzen Linien seiner Bahn langsam, argwöhnisch entlang. Was für ein graues, hartes Auge der Kerl doch jetzt hat und was für eine sehnige, verbrannte Hand! . . . »Da haben sie noch eine Doppelhürde eingelegt . . . die kenn' ich noch 38 nicht. Wenn ich nur erst über die verdammte scharfe Ecke hinaus wäre!«

Ich sehe ihn verwundert an.

»Du meinst, Louis, die Bahn sollte ich doch kennen? Ich sage dir, man kennt nie eine Bahn genau genug. Am liebsten gehe ich das Geläuf noch eine Stunde vorher Schritt für Schritt ab. Es rentiert sich. Denk an unsern Wettkampf!« Dann stiert er wieder argwöhnisch auf den grünen Rasen . . . »Wird naß in den Stall kommen, der Hengst.«

»Deiner?«

»Wahrscheinlich,« antwortet er trocken . . . Eine Weile scheint ihn das Jockeyreiten vor uns zu fesseln. Das seit Beginn zerrissen galoppierende Feld zieht eben in weiten Abständen an einer Baumgruppe vorüber. Eine goldgestickte Kappe führt.

»Macht er's?« frage ich.

»Nee, der Blaugestreifte da ganz hinten vielleicht, hat aber seinen Gaul eine Sekunde zu spät ins Rennen gebracht . . . Nummer eins treibt schon, siehst du?« Darauf schläft sein Interesse ein – meines auch. Wir bummeln zurück nach dem Sattelplatz, obgleich das dumpfe Dröhnen der Pferdehufe und das Tosen des dritten Platzes drüben ein scharfes Endgefecht verkünden . . . Jetzt tobt's hinter uns. Ein halber Blick der Neugierde, wer zuerst einkommen wird. Die goldgestickte Kappe liegt noch vorn – aber der Favorit kommt mächtig auf. »Ho, ho, ho!« Die Jockeys streben mit aller Macht nach Hause. Die goldgestickte ist fertig; ich hör's an dem schweren Schnaufen. Und der Reiter zieht ihm immer die Peitsche über, hart an der Ganasche . . . Roher Schuft!

Twesten schielt mich von der Seite an. »Denkst du an was, Louis?«

39 »Allerdings, ich denke an einen, der noch weit roher ritt.«

Auf einmal lacht er kurz auf. »Der Lümmel macht's doch! Einen halben Kopf . . . Mir soll mal noch einer Prophezeiungen herauslocken! . . . Komm, du! Wir wollen den Hengst sehen.«

Ich gondele mit voll mäßiger Neugier. Ich bin ja so milde, finde alles selbstverständlich, nichts kann mich aus der Ruhe bringen. Und wenn mir jetzt jemand sagen würde: »In einer halben Stunde werden Sie, Carén,« – – – – ich möchte ihn für wahnsinnig halten.

Auf dem Rasen des Platzes werden derweil die Pferde im Kreise herumgeführt. Müdes, gelbblasses Licht bricht durch den grauhangenden Himmel und malt träge Schatten ins Grüne. Die Vollblüter werden warm schon im Schritt und schlagen nach dem Geschmeiß, das sie quält; Stallknechte fluchen, und Trainer schauen besorgt darein. Twesten winkt den seinen heran.

»Herr Graf!« Ein hellbrauner Hengst, von einem Gnomen geführt, löst sich aus der langschreitenden Schar, tanzt heran. »Steh!« – Ein scharfes, herausforderndes Wiehern mit seitwärts gebogenem Kopf und geblecktem Gebiß. Es ist ein schönes Tier mit funkelndem, bösem Auge; die Sonne glänzt auf dem feinen, trockenen Hals. Twesten sieht's, den Blick gekniffen. »Kaufen? – Viertausend. Du kannst ihn auf der Stelle nach Haus reiten.« Wir gehen langsam um das Tier herum. Die Nieren sind wundervoll angesetzt, die Sehnen klar – nur in der Schulter ist er ein Atom zu steil. Für die Flachbahn also kaum, freilich sah ich ihn noch nicht in Aktion – aber der geborene Steepler! Mit seinem reinen, mächtigen Sprunggelenk muß er über die Hindernisse fliegen. Auch ist er groß, geschlossen, 40 mit nicht zu viel Wind zwischen Bauch und Erde, wie der Engländer sagt. Jetzt keilt der Hengst aus, der blitzende Huf wirft uns Sand ins Gesicht; die Adern an den aufspringenden Muskeln straffen sich . . . »Wird schlecht vom Start kommen,« sage ich, um etwas zu tadeln.

Twesten lächelt, macht eine zweifelnde Handbewegung. »Ein herzloser Jockey wird ihn bei der Arbeit verdorben haben.«

Der Gnom schüttelt entrüstet den Kopf. »Sonst tadelloser Gaul,« sage ich.

»Aber setze lieber keinen Goldklumpen auf mich und ihn,« rät Twesten leise.

»Augen?«

»Ruhig! – Satteln Sie ihn auf, John.«

Die Logen strömen wieder zum Platz – ein fade-elegantes Gewimmel, das sein aristokratisches Parfüm der scharfen Ausdünstung des Stalles beimengt. Weich glänzende Spitzen, herausfordernde Farben, kecke spanische Jacken – schlanke Mädchengestalten, die sich drängen, lebhaftes Augenspiel, helles Lachen. Auch vornehme Damen giebt es, die sich kühl aufrichten, verächtlich umschauen, weil sie instinktiv das halbe Lichtscheue wittern, aus den starken Düften der Haarfrisuren, den diskret geschminkten Wangen, den knarrenden Lackschuhen. Ihr Gefühl empört nicht etwa das Zweifellose, das seine Fäulnis aufdringlich lackiert, frech parfümiert hat, um sie noch sichtbarer zu machen, das den Seidenrock hebt, um die Fessel zu zeigen, den gepuderten Nacken beugt, weil er üppig ist – nein, das Zweifelhafte wollen sie von sich abwehren, das sich hart neben ihnen drängt, gleichgültig, elegant wie sie, das den schmalen Saum des schwarzen Spitzenrocks preisgiebt, die kokette Fußspitze, den halben, matten, verstohlenen Augenaufschlag. Die Juwelen sind echt, 41 die Perlen gleißen unaufdringlich, das ganze Veilchen duftet bescheiden – aber diese Bescheidenheit ist falsch, diese Echtheit ist gefährlicher als Straß und Moschus. Auch wohlerzogene Gänse tummeln sich, die hochmütigen Dämchen unsrer Kreise, die einen vergnügungssüchtig-kokett, die andern stumm-dumm, obgleich beide Sorten sich eben erst von der Larve zum Schmetterling entwickelt haben: die anständigen Backfische, die überlegen von Vollblut sprechen, weil der Bruder Infanterie-Adjutant ist und nicht reiten kann, wie Soda, gen. v. Seiden, oder allwissend die Chancen der berühmten Herrenreiter abwägen, weil sie mit dem einen oder andern in einer Quadrille getanzt haben. Dazwischen wimmeln die blitzenden Uniformen, der leise klirrende Sporn auf weichem Grunde neben dem hellgelben Juchtenschuh des Zivildandy, der zur Abwechslung wie ich den weißen Strohhut jetzt mit buntem Bande trägt. Die Gardekavallerie, wie immer nachlässig-chic das Rennglas am Degengefäß der Kürassiere baumelnd, ganz saloppe Eleganz, die neueste Londoner Mode ins Militärische übersetzt – zum Abscheu und Neid der Infanterie, die niemals die Dressur und den langsamen Schritt ganz vergessen wird. Wie die alten Generale das Dandytum mit und ohne Uniform hassen! Ich weiß auch nicht, ob die Mode zum preußischen Lieutenant paßt; die alten Herren werden immer behaupten, sie seien schneidiger gewesen, der Nachwuchs aber anspruchsvoller . . . Es ist ein interessantes Gewoge auf dem Sattelplatz, bunt, vielgestaltig – dennoch niemals international. Das müssen wir Baden-Baden überlassen, das die Franzosen in den letzten Tagen des August wie eine französische Dependance ansehen. Paris gönnt der Rheinebene dann seine abgeblühten Schönheiten und seine in Longchamps 42 nicht plazierten Pferde, aber international ist's doch, und ich habe nie herauskriegen können, ob Französisch, Englisch oder Oesterreichisch die Sprache der Eleganz für die große Woche von Iffezheim ist. Berlin ist Weltstadt – die Physiognomie seiner Rennen bleibt preußisch.

Die Bekannten werden nicht alle. Es ist thatsächlich ein Tag, wo einem auch die unmöglichsten Freunde nicht erspart bleiben. Testorff führt mich seiner Braut zu. Sie hinkt gehörig und wird ihn sicher unter den Pantoffel bekommen. Von der Möbelfabrik merkt man ihren Opalen nichts an. Hält mich noch gerade für ihresgleichen, die Dame – eine zukünftige Freifrau, so sicher und selbstbewußt, daß ihr der Kürassier später für seine Extravergnügungen höchstens ein Taschengeld herauspressen wird. Die Schwiegermutter ist auch da, in lila Seide, beharrlich schweigsam; sie thut wohl daran, denn die kupferige Maschine stammt sicher aus einem Grünkramkeller mit »Ick« und »Dat« und klappernden Holzpantinen. – Darauf ödet mich die braunäugige Schwägerin eines süddeutschen Dragoners an; sie tadelt sämtliche Gäule laut und erzählt endlose Geschichten von einem Regimentsrennen, bei dem eine namenlose Stute unter ihrem Schwager siegend dem zerrissenen Feld nach dem Pfosten vorauszog. Ein kluges Ding, diese Siebzehnjährige, mit starkem Dialekt und in Sachen der Politik hoffentlich nicht so starke Partikularistin wie in Sachen der Pferde, von denen sie nichts versteht – sonst wäre es um das einige Deutschland schade! – Von ferne dienert mein Wucherer. Noch ferner führt Jaromir einen neuen Sommeranzug und verratene Liebesgefühle langsam und finster an einem Plankenzaun spazieren. Ich glaube wirklich nicht, daß auch nur eine meiner zweifelhaften Bekanntschaften heute fehlt. Der Satan 43 ist wohl auch unter uns, unsichtbar oder kostümiert – aber da ist er!

Die süddeutsche Pferdeverständige und ich begutachten Twestens Gaul, ehrfurchtsvoll umgeben von einem Knäuel Berliner, die ja immer überzeugt sind, es müsse etwas ganz Besonderes los sein, wenn ein Junge in die Spree spuckt. Die Pferdeverständige bemängelt den Hengst, weil sie Publikum hat – namentlich die schlanke und edelaufgesetzte Halsung reizt ihren Widerspruch; sie wünscht den starken Hengsthals eines hannoverschen Carrossiers. Schönes Kind – der Hals ist an dem schönen Pferde gerade das Schönste! Jetzt Gewisper, das von weither kommt, sich verstärkt – verstummt. Die Menge teilt sich. Ein schweigender, weiter Kreis zieht sich, Männlein und Weiblein, Uniform und Zivil bezaubert, baff. Eine ganz große Dame schleift ihre echten Spitzen nachlässig über den Rasen. Eine Prinzessin von Geblüt – eine Königin der Mode? – Die reizende Süddeutsche stockt mitten im Satz, sieht scheu zur Seite. Auch Twesten, der für nichts Augen hat als für seinen Hengst, dem eben der Sattel aufgelegt wird, mit äußerster Vorsicht, ja mit Liebe, damit der berühmte Herrenreiter zum sicheren Siege getragen werde, läßt den Gurt los, in den er prüfend den Finger gesteckt, fährt mechanisch nach der Mütze, besinnt sich im letzten Augenblick und streicht sich über die grauen Augen, die mich anzwinkern. Die ganz große Dame steht dicht neben mir. Ein gewisses Räuspern – ein gewisses Parfüm – etwas Internationales ist das allerdings: Gräfin Lagrange. Ihr Blick sucht mich in einem verstohlenen Aufleuchten, das keinen Reflex hervorruft. Darauf sieht sie sich, ohne das blasse, regelmäßige Gesicht zu verziehen, Zoll für Zoll den Hengst an. Bei der Schulter angekommen, ein unmerkliches Achselzucken; 44 sie versteht freilich Menschen und Tiere kühler zu taxieren als meine Nachbarin. Nun wendet sie sich ab, vornehm-lässig, in dem Ohr blitzt ein fabelhafter Brillant auf – ihr einziger Schmuck. Der Kreis schließt sich wieder. Twesten hüstelt. »Haben Sie eine Ahnung, wer das war?« fragt die Kleine. »Wundervolle Robe . . . wohl Ausländerin . . .«

»Keine Idee, gnädiges Fräulein.« Ich wünsche auch Gräfin Lagrange nicht mehr zu kennen.

Das Glockensignal zum Aufsitzen ertönt.

Die Herren reiten gemächlich im Kreise herum, die Pferde träge mit hängendem Kopf, von Stallleuten geführt; nur der hellbraune Hengst hebt die Hinterhand und feuert aus. – Es ist ein starkes Feld – alles Uniform, ein einziger Dreß – magere, geschmeidige Gestalten, ohne Brust, ausgedörrt wie die Jockeys, die Mütze über die Ohrenspitzen gezogen; der Oberschenkel in der Pluderhose liegt unbeweglich geschlossen bis zum Knie, während die herabhängende Fußspitze in den Bügeln spielt. Sie reiten in die Bahn, Twesten als zweitletzter, dürr, lang, aber Muskel – noch immer der markigste in der wenig versprechenden Schar – ein lungernder Wolf oder ein Heckenreiter des Dreißigjährigen Krieges, in etwas abgetragener Uniform, auf einem verschabten Fünfpfundsattel mit dünnen, rissigen Bügelriemen. Von dem Sattel will er sich nicht trennen, obgleich ich es ihm riet. Hat zweiunddreißig Sieger auf ihm durchs Ziel geritten, und darum betrachtet er ihn fast wie einen Freund. Ich habe wieder den alten Platz an der Barriere. Ich will nicht zu den Logen, weil da die Grüßerei erst anfängt. Hier bin ich allein, verlassen von meinen Freunden, wie ich's jetzt liebe . . . Mag das Logenpublikum überhaupt nicht mehr. Das liegt vielleicht an der Sirokkoluft, oder weil ich etwas wittere, dem ich da 45 drüben bei meinesgleichen entgehen möchte und doch nicht entgehen kann.

Während die Reiter aufgaloppieren, den Oberkörper vorgebeugt, die Schenkel fest, beäugt Twesten heimlich, aber scharf einen Artilleristen vor ihm mit riesigem Monocle und Stupsnase. Der scheint der Gefährliche zu sein, obgleich er schlecht zu Pferde sitzt.

Ich sehe heute scharf, unerbittlich: das ist das einzige. Von dem angenehmen Nervenbeben früherer Tage kein Schatten! Die riesige Bahn liegt in schwüler Ruhe . . . Endlich ein leises Fächeln, das die Flaggen bewegt. Das grau lastende Gewölk zerreißt – die Sonne bricht durch in breiten, fahlen Lichtwogen, über das stumpfgrüne Gras ziehen sie kraftlos ohne Wärme, auf den Baumgruppen in der Mitte glänzen sie melancholisch; der See glitzert kalt, die weißen Hürdenstangen leuchten . . . Das Fächeln erstirbt. Ein letztes wehmütiges Aufflammen in dem Köpenicker Forst drüben, das die Kiefernstämme vergoldet, zu den dunkelgrünen Wipfeln aufzuckt – einer leuchtet in purpurner Glut. Dann ziehen die trägen Wolkenschatten dem fliehenden Lichte nach, legen sich mürrisch, stumm über den Schimmer. Es ist eben Herbst. – Wieder die thatenlose Ruhe, zu der das schwere Tosen der Menschenmassen stimmt wie die ferne Brandung zu einer einsamen Düne. Hart an dem Geläuf dampft ein Güterzug schwerfällig vorüber – und weit, weit hinten dehnt sich Berlin mit seinen tausend Essen, seinem kriechenden Rauch – dunstumzogen. verschleiert. Die Weltstadt ist's, ohne Hast, ohne Leidenschaft, ja ohne Laut inmitten eines brütenden Herbsttages der märkischen Ebene.

Die letzten Reiter galoppieren auf. Der Artillerist voran, mein lungernder Wolf folgt zögernd . . . Der Rasen dröhnt leise. Die Erschütterungswellen dringen 46 bis zu meinen Nerven, wecken einen sehr thörichten Gedanken: dieser nervös galoppierende Hengst mit dem dunkelblauen Lanzenreiter auf dem Rücken bist du – der Ritt dein Leben. Wie wird's ausgehen?

Mir gerade gegenüber ist der Start. Die Uniformen tauchen dort auf – unruhig tretende Pferde, verhaltener Galopp.

Der Artillerist geht im Aufgalopp eben über die nächste Hürde, leicht, aber schlechter Sitz. Twestens Hengst kürzt vor dem Hindernis den Galoppsprung, legt sich auf die Seite, will nicht. Leicht gekitzelt, stutzt er dann, setzt sich auf die Hinterhand, dreht – einmal – zweimal wie toll; im rasenden Galopp zurück, angstvoll schnaubend, als entfliehe er dem Tode. Wieder an den Tribünen vorbei. – Twesten ist unbeweglich in den Bügeln; er weiß, was er unter sich hat. An der nächsten Hürde Halt. Twesten rührt nicht die Hand. Plötzlich kurzer, hoher Sprung. Der Gaul rast weiter in Durchgänger-Carriere. Eine Hürde wird im Flug passiert, aber unnötig langer Sprung. Noch eine . . . noch eine – und immer der Sprung unregelmäßig, zu kurz oder zu lang, als sähe der Hengst das Hindernis zu früh oder zu spät. Der Sattelplatz grollt, die Tribünen werden unruhig. Ein Gaul, der durchgehend vor dem Rennen eine halbe Hürdenbahn in falscher Richtung durchmißt, kommt ermüdet oder nie zum Start. An einer Doppelhürde scheint sich endlich mein Hengst zu beruhigen, fällt in Handgalopp. Twesten klopft ihm den nassen Hals, bringt ihn mühelos herum. Jetzt dasselbe Spiel dem Start zu, aber weit ruhigerer, ausholender Galopp, als hätten sich Mann und Pferd verständigt. Der Hengst hat noch viel auszugeben, wenn ihn Twesten richtig anfaßt. Dennoch beunruhigt mich der unregelmäßige Sprung. Die auf diese Nummer gesetzt haben, geben wohl meistens 47 ihr Geld verloren. Ich hoffe. Mein Gaul muß doch als erster durchs Ziel!

Jetzt ist Twesten drüben angelangt. Das Feld kommt in Bewegung. Die Flagge fällt. Natürlich ist es der verwünschte fliegende Start der englischen Jockeys, wo sich das Rennen abenteuerlich genug aus dem regellos galoppierenden Feld entwickelt. Hinterher schimpfen sie alle und erklären sich für bemogelt . . . Twesten ist schlecht losgekommen – wenigstens scheint's. Er liegt zwei gute Längen hinter dem letzten. Aus dem Gewimmel vorn erkenne ich nur den dunkeln Artilleristen, der sich auf den viel beneideten zweiten Platz gelegt hat, hart an dem führenden Rappen, aber scharf gedrängt, eingekeilt von dem dichten Knäuel; löst sich der nicht frühzeitig, kann er seinen Fuchs im Finish schwer herauswickeln. Das Tempo ist mittel, scheint jedoch schnell, weil der Rappe vorn mit seinem sehr schnellen, sehr kurzen Galoppsprung über die Pace täuscht . . . Einen Augenblick sind mir die Reiter entschwunden, jetzt tauchen sie wieder bei einer Baumgruppe auf. Zwei haben den Boden geküßt, ihre Pferde galoppieren mit fliegenden Bügeln abseits. Der Knäuel hat sich noch dichter geballt. Twesten hinten in unverändertem Abstand. Er reitet wie der steinerne Gast, ohne Bewegung und scheinbar ohne den Gedanken an Sieg . . . Die Reiter kommen im Bogen näher. Wenn sie über ein Hindernis gehen, immer dasselbe Bild: beim Sprung in den Sattel zurückgeworfen, nach englischer Manier (die armen Pferderücken!), nur Twesten, der letzte, immer vornübergebeugt, als wenn er sich nicht in den Bügeln rührte. Er versteht doch sein Handwerk am besten. Und jetzt verstehe ich auch seine Taktik und den Platz – er verhält, obgleich ihn der Gaul beinahe aus dem Sattel pullt . . . Nach hinten bröckeln sie ab, einer 48 bricht aus, ein andrer bleibt zurück. Der Hengst führt noch immer, und der Knäuel bleibt krampfhaft geballt . . . Jetzt schiebt sich Twesten vorsichtig heran. Bei der Hürde sah ich ihn fliegen, immer unbeweglich, als ginge ihn die Sache nichts an. Ratsch, der Bügelriemen ist in dem Sprunge geplatzt . . . Ich murmele einen Fluch, wie so das Lederzeug an dem Schenkel baumelt. Ein schlechter Reiter wäre hier mit seiner Kunst zu Ende . . . Sie sind an der letzten Hürde. Im Knäuel treiben sie schon, der Artillerist will mit Gewalt heraus aus der Umklammerung, um dem Rappen die Führung zu nehmen. Unmöglich! – Und nun wird mein Mann mobil. Auf einmal geht der hellbraune Hengst an das Feld heran, an ihm vorüber, ganz ruhig, ganz frisch. Sieg! Der Rappe streckt sich unter der Peitsche, was er kann. Verlorene Liebesmüh'! – Auf dem Sattelplatz schreien sie: »Twesten macht's!« Aber wie der Hengst die letzte Hürde nehmen will, allen voran – wieder der unregelmäßige Sprung, diesmal zu früh. Verflucht! Ich seh' es sofort, auch wie sein Reiter sich im Sattel zurücklegt, die Zügel gleiten durch, er giebt Kopf, was er kann – und der Hengst streckt sich mächtig, den Fehl gut zu machen. Er macht ihn gut – »Bravo! bravo!« Die Tribünen klatschen, der zweite Platz rast . . . Dann bange Stille. Twesten hat das Pferd anhalten müssen, gleitet vom Rücken, der Knäuel stampft an ihm vorüber. Mein Hengst hätte den Sieg spielend gewonnen – und vor dem Ziel klappt er zusammen. Verstauchte Sehne, gebrochenes Bein, was kümmert's mich. Ich sehe gleichgültig, wie der Rappe, brutal angefaßt, doch noch den Kopf als erster am Pfosten vorbeistreckt und im letzten Moment der Artillerist seinen sicheren zweiten Platz einem aufkommenden Outsider abgeben muß . . .

49 Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich einen Wink des Schicksals an diesem Ausgange sehen. Schicksal? Thorheit! Das giebt's ja gar nicht.

Der Hengst steht noch auf derselben Stelle, wo er angehalten wurde, den linken Vorderhuf gehoben, den Kopf gesenkt. Gestikulierende Stallleute sind um ihn herum, einer faßt den Zaum. Twesten macht eine verdrießliche Handbewegung und kommt über das Geläuf zum Sattelplatz zurückgeschlendert, die Peitsche unter dem Arm, zwei Finger in der Hosentasche. Etwas mißgestimmt ist er.

»Gratuliere mir doch, Louis! Stark getrieben. Letzter!« stöhnt er trocken. »Buchen wird mich verfluchen. Was giebt er mir auch so 'nen halbblinden Schinder! . . . In fünf Minuten knallt's. Wir wollen vorher ein Glas Sekt trinken im Restaurant, denn morgen werde ich Droschkenkutscher.«

Ich sträube mich – er schleppt mich ohne Umstände mit. »Was fehlt dir eigentlich?«

Das Publikum weicht uns ehrfurchtsvoll aus, nur ein jovialer Bäckermeister greift an den Hut. »Aber jut haben Se doch geritten, Herr Jraf, det muß Ihnen der Neid lassen!«

»Wenn er's mir man läßt . . .« Twesten ist nicht zu Späßen aufgelegt.

Ich noch weniger. In dem Weitergehen höre ich noch eine andre Stimme: »Wat jeht dir denn der Herr an, oller Freund . . . Kiek dir lieber mal dem andern an! Ick hab' 'n jleich wieder erkannt. Det ist der, von den et damals in unsre Zeitung stand: en hochjeborner Tierquäler! . . . Der in die Jardekluft war et, weeßt de, der uf den jroßen Fuchs. Ick habe mein schönet Jeld an 'n verdient – du hatt'st dir dafür in den Twesten verliebt. Aber der hat keen Jlicke, wenn er mit dem andern zusammen 50 is, denn der versteht det Pferdeschinden noch ville, ville besser, weeßt de . . .«

Daß doch diese ekelhafte Rennerinnerung nicht einschlafen will!

Die Logen empfangen uns ziemlich vollzählig. Man weiß, daß der Hengst erschossen werden soll, und von hier sieht man's am besten. Die Instinkte sind doch in allen Gesellschaftsschichten die gleichen: ein bißchen Neugier, ein bißchen Bedauern und ein sehr angenehmer Grausamkeitskitzel. Man drängt nach den Barrieren und hegt dabei einen unglückseligen Frosch ein, der sich wohl vor den erbarmungslosen Pferdehufen unter die mitleidigen Menschenfüße geflüchtet hat. Besser ist er da auch nicht daran. Er huppt und huppt – eine nervöse Dame schreit bei seinem Anblick auf –, aber er huppt in seiner Todesangst immer verkehrt. Weil ihn ein Stiefelschatten ängstigt, springt er gegen den Stiefel selbst. Tot getreten wird er ohne Frage. Es handelt sich nur darum, wie lange er seine verzweifelten Sprünge fortsetzen kann. Warum strengt er sich eigentlich so unnötig an? . . . Hupp – eine ahnungslose Sohle streift ihn, hupp – jetzt fliegt er gegen meinen Stock. Ich rette dich ganz gewiß nicht. Bleib sitzen, ergieb dich in das Unwandelbare und wechsele nicht immer aufspringend die Richtung, so daß man den häßlich hellen Amphibienbauch sieht! . . . Quatsch – endlich hat dich doch das Schicksal plattgedrückt. – Unter diesen Menschen allen ist mir der Frosch hier das interessanteste Problem. Genau so kopflos wie ein Mensch, genau so mitleidslos unter die Füße getreten. Vielleicht wünschte ich deinen Untergang nicht – aber dein tolles Hüpfen machte mir Spaß. Es ist Sirokkoluft! Die zeitigt perverse Gedanken und perverse Gefühle.

Twesten sucht indessen die Logen ab – einige 51 höfliche Honneurs mit der braunen Reiterhand, ein mokantes Lächeln, ein ironisches Hüsteln. Plötzlich stößt er mich an. »Du – Karlchen!«

Der einzige Bekannte, der noch fehlt. Ich sehe nach einer andern Richtung. Das ärgert meinen Ulanen. »Mensch, hast du denn keine Augen? Karlchen Serner mit dem hübschesten Weibe auf dem ganzen Platz!«

»Laß ihm doch das Vergnügen, Georg.«

»Du kennst sie also?«

»Ich glaube wohl.«

»Anständig?«

»Tadellos.«

»Reich?«

»Auch das.«

»Und du läßt sie ihm?«

»Du hältst mich wohl für einen Schweißhund, der jede Fährte aufnehmen muß. Die Dame ist mir nun zufällig gleichgültig.«

Twesten zuckt die Achseln und sieht mich geringschätzig von der Seite an. »Da wäre es also thatsächlich wahr, was alle unsre gegenseitigen Bekannten behaupten: du würdest alt, Louis?«

»Merkst du das erst jetzt?«

»Ich muß – wohl oder übel.«

Bis zu diesem Augenblick habe ich über die Köpfe meiner Nebenleute hinweggeschaut – jetzt seh' ich auf. Mein guter Freund hat recht. Unter der glänzenden Schar, welche die Logen füllt, unter den hübschen, kecken, aristokratischen Damen, die mit dem Schirm spielen, durch das Rennglas schauen, Ganz- und Halbwelt, gelangweilt oder interessiert – ist Asta Le Fort das einzige Weib von Geblüt. Der klassische Kopf ist blaß, der königliche Nacken starr, die grünen Augen bohren sich ins Leere, die schmalen Lippen sind fest geschlossen. Glückliche Menschen sehen anders aus . . . Was geht mich auch ihr Glück 52 an? – Ich will wieder wegsehen. Keine stolze Erinnerung verbindet mich mit dieser Frau, erniedrigende viele. Das freut einen nie. Aber Karlchen, der Liebestaumelnde, hat uns bemerkt, er grüßt, er winkt mit der Hand. Wir grüßen steif zurück. Er winkt wieder . . . wieder . . . Warum winkst du mir, Thor? – Ich will ja deinen Wink nicht verstehen, ich will ihm nicht folgen – dennoch folge ich ihm wie von einem unsichtbaren Strick gezogen. Das Schicksal zieht uns immer nach sich, wir das Schicksal nie! Twesten ist zurückgeblieben, will tadellos uniformiert zurückkommen, weil auch ihn diese Schönheit reizt. – Ich steige ohne Eile die Holzstufen zur Loge hinan; ich will nicht, aber der Strick zieht.

Serner streckt mir beide Hände entgegen. »Das ist ja riesig . . .« Unsre Blicke begegnen sich. und da fällt er ins Stottern.

Die Damen, Madame und Tochter, empfangen uns mit liebenswürdiger Kühle.

»Graf Serner war so freundlich, uns Plätze zu besorgen . . .« Die Gnädige sagt's ohne Freude. Die charakterlose Linie macht sie heute alt.

»Wenn doch der Gaul endlich hinüber wäre! Fräulein Le Fort regen die Vorbereitungen ordentlich auf . . . Würden wir nicht besser hinunter ins Restaurant gehen, gnädige Frau?«

Die Gnädige zuckt die Achseln. »Wir brauchen ja nicht hinzusehen, Graf Serner – den Knall hören wir unten auch.«

Die Leute haben sich lange bei dem Gaul besonnen. Das häßliche Schauspiel so dicht bei den Tribünen gönnt man den Feinden des Sports ungern. Sie haben auch versucht, den Invaliden am Zaum fortzuziehen. Der Hengst sträubt sich; auf drei Beinen hinken, ist qualvoll. Endlich öffnet sich 53 der Kreis. Der die Zügel hielt, läßt sie los. Der Hengst beugt den Kopf nach dem Boden, das kurze Gras zu erhaschen, er will ganz friedlich weiden – dabei baumelt das gebrochene Bein wie bei einer ausgerenkten Puppe. Ein dicker Mann tritt näher, etwas Glitzerndes in der Hand, fährt dem Tier über den Hals. Ein Wink, der Kopf des Hengstes wird hoch gezogen, bis der Braune bewegungslos mit geblähter Nüster dasteht. Das glitzernde Etwas hebt sich zum Ohr. Ein schwacher Knall, eine winzige Rauchwolke, der Hengst zuckt leicht – steht – bricht auf dem Fleck nieder. Ehe sich der Körper streckt, zappeln noch einmal die Glieder, die Nüster röchelt. Dann liegt der dunkle Kadaver starr und steif auf dem grünen Rasen.

Die Gnädige hat ruhig zugesehen, den Ellbogen leicht auf die Brüstung gestemmt – es fließt ja kein Blut.

Asta zittert, wendet den Kopf weg. In dem Augenblick schiebt Madame den Ellbogen lässig zur Seite – sie weiß vielleicht, warum. Ich sehe Astas Hand und wie ihr Serner beruhigend, liebevoll über den Handschuh streicht . . . die Hände ruhen ineinander – fest, beinahe gekrampft . . .

Mir rieselt es eisig den Rücken herunter – ein Strom, lähmend, schrecklich; bis in die Augen fühle ich die Eiseskühle. An den Schläfen brennt's, als wenn mich tausend Nadeln stächen. Und ein Gefühl! . . . Es ist zum erstenmal, daß ich so fühle. Ahnungslos überkommt's mich – und dennoch mußte es kommen. Es lag sicher schon lang auf der Lauer, heimtückisch, mir selbst verborgen. Der Orkan ist da!

Jetzt endlich weiß ich, was ich will: Karl Maria Ignaz Joseph Graf von Serner stirbt. 54

 


 


 << zurück weiter >>