Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Zweites Buch.

Erstes Kapitel.

Der kreißende Berg gebar ein Mäuslein.

Durch zwölf Kapitel hat mich mein Tagebuch genarrt, um mir zu guter Letzt als Schlußweisheit die Bomulunderkomödie vorzuführen. Von der Komödie habe ich genug.

Jetzt sollte Kapitel dreizehn folgen. Der Jägerglauben sträubt sich gegen die Unglückszahl. Ich ziehe es vor, ein neues Tagebuch zu beginnen. Vielleicht fühle ich auch das »geheimnisvolle Ahnen« – vielleicht fühle ich auch gar nichts.

Für mich ist's schon ein Wunder, wenn überhaupt etwas geschieht. Eine Reise nach Mähren kommt mir so phantastisch vor wie eine Ballonfahrt nach dem Nordpol. Es ist mal was andres! – Schon daß man allein packt, was sonst immer der Diener besorgte. Und ich packe langsam, gewissenhaft wie ein Mann, der eine sehr lange Reise thun will. Den englischen Koffern nach bin ich ein recht vermöglicher Herr, und wer gar nach dem seidenen Futter meiner zahllosen Anzüge meine Grafschaft taxieren wollte, würde mir sicher die Thalermillion geben. Erst beim Auskramen begreif' ich meinen 316 Kredit bei den Wucherern. Ich bin doch der Verschwender und der Narr dazu. Ich halte gerade das alte, massivsilberne Reisenecessaire meines Großvaters mütterlicherseits in der Hand, es ist von niederziehendem Gewicht – tausend Mark unter Brüdern wert. Habe ich denn für das altmodische Zeug keine Augen gehabt, als ich ausging, die Tabatiere des alten Fritz – unsre Tradition – zu verschachern? Jetzt fällt es mir ein: die Dame mit den Saphiren wollte mich immer dieses Silberballastes erleichtern; und die hatte doch das untrügliche Spitzbubengefühl für alles Echte, Wertvolle. – Schleppen wir es also mit nach Mähren!

Es ist famos, daß ich reise. Wo bin ich morgen um diese Zeit? . . . Ich träume bereits von Rehen in einer hohen Schonung – und ich nicht weit, auf meinem Jagdstuhl in der Waldlisiere versteckt. Die Mücken ziehen in dicken Schwärmen und saugen gottsjämmerlich – ein köstliches Prickeln, wenn man dabei die Nase voll Fichtenduft hat! . . . Jetzt klappt das letzte Kofferschloß ein. Es war eine Heidenarbeit einen ganzen halben Tag. Ich bin noch nie so früh marschfertig gewesen. Ja, die körperliche Arbeit macht einen guter Dinge. Und hundemüde bin ich auch, zu faul zum Essen trotz meines Wolfshungers. Aber ich werde mir den Portier doch noch langen, damit er mich von diesem xmal neunzinkig gekrönten Kofferberg nach und nach befreit. Die letzte Nacht in Berlin werde ich vorzüglich schlafen . . .

Habe jetzt das ganz echte Reisefieber. Sei mir gegrüßt, schönes Mähren!

Ich dusele schon halb.

*

Kling kling! . . . Ist's denn schon so spät? – Keine Spur! . . . Acht Uhr . . . Dieser verdammte 317 Kellner! . . . Ich habe doch die gemessenste Ordre gegeben, mich nie vor elf zu stören . . .

Rohrpost. Also ist er unschuldig. – Natürlich irgend ein Bettelbrief des Inhalts, daß eine notwendig zwanzig Mark braucht und dann gerettet ist – im Weigerungsfall aber sich sofort Schwefelsäure literweise einpumpt und fortan mich armen Ludovico in den Träumen als Geist anödet . . . Früher war ich auch so dumm! . . . Aber wär's heute die Saphirkönigin selbst – meinetwegen könnte sie schlucken!

Fängt wieder an wie im Parodietheater.

Ich zerknittere den Wisch, torkele schlaftrunken ans Fenster. Die Jalousie quietscht. Verwünschtes Weiberzeug!

»Lieber Louis!

»Kome bite sovort zu mir . . .

Tante Jeannette.«

Fremde Hand – unorthographisch – widerhakige Malerei eines Beinahe-Analphabeten. Die Schildkröte ist scheinbar krank. Der Gedanke an irgend eine Teufelei der Gnädigen zuckt mir sofort durchs Hirn. Kann nicht sein! Ich habe ihr gestern vorgemogelt, ich reiste schon in der Nacht.

Weil die Gnädige ihre Hand nicht im Spiele haben kann – warum sollte ich eigentlich nicht hingehen? Es ist unkonsequent. Aber die Alte hört vielleicht wirklich schon die Engel von ferne singen. – Was trieb sie eigentlich zu diesem Brief? Der beschwerte Magen oder das beschwerte Gewissen? – Es kostet mir eine rasende Ueberwindung, mich zu dieser Visite anzuziehen. Wenn ich doch hingehe, ist's mehr Gutmütigkeit als Erbschleicherei.

Ich habe der Gnädigen geschworen, daß ich mich nur am Sterbebette meiner Tante einfinden werde. Und so weit geht kleinliche Eitelkeit. obgleich ich 318 es mir nicht eingestehen will – ich wünschte, es wäre der Fall, bloß damit die Dame mit der charakterlosen Linie mich nicht der Charakterlosigkeit zeihen kann. Dabei sehne ich mich im Augenblick nach diesem Tode wirklich nicht!

Ich bummle absichtlich bei der Toilette – der Kellner muß dreimal klopfen, ehe ich mich zu meinem alltäglichen warmen Bade entschließe. Im äußersten Moment pflegt doch immer noch der Arzt zu telegraphieren! Aber nichts dergleichen. Nach einer Stunde, zu der der Fuchs verschiedene Lunten gegeben hat, trolle ich mich endlich. Etwas Geldangst ist wohl dabei. Vielleicht hat die Schildkröte gerade die Besinnung wieder erlangt und enterbt mich auf dem Sterbebett noch schleunigst. Im Tiefinnersten belächle ich den vorsichtigen Neffen: Tante Jeannette ist unsterblich.

Draußen graues, warmes Regenwetter – stumpf glänzender Asphalt – schwankende Regenschirme, hochgeschlagene Droschken – die kleinen, feurigen Ostpreußen vor den Pferdebahnen rackern sich maßlos auf der schlüpfrigen Glätte . . . kr . . . kr . . . ein infam scharfes Geräusch, wenn die Eisen immer ausrutschen. Für Pferde habe ich wirklich noch ein Herz. – Ich gehe als sparsamer Hausvater zu Fuß, obgleich neue Lackschuhe solch feuchter Bummel fast ruiniert.

Im Vorgarten der Villa attackiert der alte Kutscher gerade mit dem Stallbesen einen Leiermann, der nach einigen herausgequiekten Tönen knurrend entflieht. Das ist allerdings bedenklich – die gnädigste Comtesse liebt sonst musikalische Sentimentalitäten; der »Tiroler und sein Kind«, der eben begann, gehört zu ihren Leibleiereien.

»Na, wie geht's bei euch?«

Der glattrasierte Kutschermund grinst. »Die 319 Braunen wollen nicht recht mehr, Herr Graf.« Und dabei zwinkert er diskret, als wenn er sagen wollte: ›Na, wenn du ans Ruder kommst, werden wohl ein Paar elegante Carrossiers abfallen – so ein Paar, bei dem ein hochherrschaftlicher Kutscher sich der Neunzinkigen auf den Livreeknöpfen nicht zu schämen braucht. Fahren können wir!‹

Ich nicke ihm gönnerhaft zu, und noch ehe ich auf den Pförtnerknopf drücke, sehe ich mir die Villa Louis Carén liebevoll an, ich umarme sie vertraulich mit den Blicken – den riesigen Garten mit seinen alten Bäumen, die Stallgebäude, den viereckigen Kasten selbst, sogar die Tante, die mir vielleicht doch den Gefallen thut und stirbt. Zirp! – Die Pforte springt sofort auf, der Dicke mit einem Leichenbittergesicht dienert unterthänig. Es muß ihr thatsächlich schlecht gehen!

Er winselt auch sogleich, während er mich durch den teppichbelegten Korridor geleitet. »Geht nicht gut, Herr Graf . . .«

Ich werfe ihm verächtlich den klatschnassen Schirm zu, so daß er einige Tropfen ins feiste Gesicht bekommt, und antworte scharf, ohne mich um die wehende Haube einer barmherzigen Schwester im Hintergrund zu scheren: »Markieren Sie nicht die Heulsuse! Sie sind doch sonst nicht so. Was fehlt der Gräfin?«

Er schwenkt den Talar. »Magen, Herr Graf.«

Darauf kann ich nur ärgerlich die Achsel zucken. Blödsinn! Verträgt in Sekt gedämpfte Trüffeln schockweise wie ein Strauß. Nee, alter Freund, der Magen ist es nicht. – »Im Bett?« frage ich noch kurz.

»Jawohl, Herr Graf!« Der Dicke macht ein Gesicht, als wenn die Schildkröte auch nicht einen Tag ihrer mindestens zweiundsiebzig Jahre 320 außerhalb der Matratzengruft zugebracht hätte. Hofft er vielleicht, daß ich ihm noch ein Extralegat wegen seiner Dienertreue bewilligen werde? – Im Gegenteil, mein erster Regierungsakt soll eine peinliche Durchsicht des Budgets sein, und wehe ihm, wenn mir der Nachweis gelingt, daß er sich auch nur einen Tropfen des gräflichen Chartreuse zu Gemüte geführt hat! Ich lasse ihn geschlossen abführen.

Ach, er ist so klein, der würdige Mann, daß ich ihn kaum sehe . . . Edel ist's von mir freilich nicht, sofort nach unten zu treten, sobald man die nahende Allmacht der Millionen wie Frühlingsahnen spürt. Ich trete sonst immer nach oben. Mir ist nur die ganze Situation so unwürdig, so ekelhaft! Man kommt mit dem heimlichen, heißen Sehnen, einen lästigen Feind sterben zu sehen – und soll dann aus Klugheit den Gemütsmenschen spielen. Das kann ich nicht. Lieber roher sein, als man ist!

Der Dicke klinkt behutsam die Schlafzimmerthür auf. Ich trete ein, fest, kühl, verbissen. »Guten Tag, Tante. Du hast mich befohlen?«

. . . »Guten Tag, Louis. – Annchen, ziehen Sie die Jalousie etwas herauf! – der Herr Graf erkennt sonst nichts . . .«

Vom Bettrand erhebt sich etwas Schwarzes in unbestimmten Umrissen, das bis zu dem Augenblicke etwas Erbauliches monoton hergesummt hatte. An dem steifen, feindseligen Knicks erkenne ich die dürre Mamsell. Sie muß die Stunden der Andacht auswendig kennen oder Katzenaugen haben; Buchstaben unterscheidet sonst kein Sterblicher in dieser Dämmerung. Die Jalousie leiert in die Höhe. Das träge Licht des Regentages dringt langsam, mürrisch in die verdorbene Atmosphäre dieses hermetisch geschlossenen Raumes. – Ich war fast noch ein Kind. als ich ihn zum letztenmal sah. So alt und reizlos 321 auch seit unvordenklichen Zeiten die Schwester meines Vaters war, gab sie doch später nie mehr dem spottsüchtigen Neffen das Geheimnis ihres Toilettenzimmers preis. Ich war auch nie neugierig. Jetzt mutet es mich darum wie etwas ganz Fremdes an. Ein häßliches Gemach, nach altem Brauch das kleinste, versteckteste des Hauses. Hohes Gebüsch vom Garten her streckt seine wuchernden Zweige bis an die Fensterscheiben – auch an sonnenhellen Tagen muß es hier düster, muffig sein. Ich verstehe den Geschmack nicht . . . An der Wand Schränke von schwärzlich blinkendem Mahagoni mit schlechten Stahlstichen darüber – die Prämien irgend eines längst vergangenen Journals; gegenüber eine Chaiselongue, grüngeblümter Taffet – die Dürre hat dort glatt gestrichene Wollunterröcke gelagert; an der Thür hängen Kleiderwülste, hinter denen ich mich als Junge sofort versteckt haben würde. Dann gichtische Rohrstühle und ein weißbezogener Toilettentisch, von gleichfalls grüngeblümter Taffetdraperie umwallt, die seit Jahrzehnten ein bedauernswerter Bronzeengel in der Schwebe halten muß. Auf diesem Tisch sind die furchtbaren Geheimnisse der alten Jungfer: eine neusilberne Büchse mit poudre de riz – eine Quaste, uralt, vergilbt; Comtesse Carén hat schon lange diese Eitelkeiten hinter sich geworfen. In einer Krystallschale daneben spiegelt sich das Gebiß, das sie nie zugeben wollte, und mit dem sie zu meiner heimlichen Freude immer spielte. Der cold-cream-Topf und die weichen, dänischen Handschuhe haben bis jetzt gedient – auf die geschmeidige Haut der gichtischen, geschwollenen Hände verzichtete die nächtliche Fürsorge nie. – Ich besehe mir das alles sehr genau, obgleich es mich eigentlich gar nicht interessiert. Der schlechte Komödiant braucht Zeit für seine Rolle – und eine Rolle spielen muß ich doch!

322 Endlich bin ich so weit, trete näher an das schmale Mahagonibett, in dessen dicken Federbetten die Schloßherrin stöhnt. Ich stolpere dabei über die Plüschschuhe und wundere mich, daß sie sich im Schlaf von ihnen trennen kann, so unzertrennlich sind sie in meiner Vorstellung von ihr. Auf dem Nachttischchen klirren Medizinflaschen.

»Na, Tantchen, was machen wir für Geschichtchen!«

»Ja, Louis . . .« Die spärlichen grauen Haare unter der weißen Nachtmütze zittern, das Sprechen wird ihr schwer. Sie ist wirklich krank! Das dicke Gesicht ist zusammengefallen, die Backen hängen in schlaffen Falten herunter, und die bei alten Menschen farblosen Augen scheinen zu schwimmen. So sehen sonst Berauschte aus. Ist sie bei Besinnung? – Anfangs nuschelt sie auch wie im Halbtraum. Sie thut mir fast leid. Die Hand, mit der sie mich festhält, ist kühl und welk.

Dann aber findet sich die Schildkröte wieder – und da ist mir die Situation peinlich. Klug werde ich so wie so nicht aus dem Geschwätz, obgleich die Dürre einhilft und auch verbessert . . . »Ich leide nämlich seit vorigem Monat an Schlaflosigkeit . . .«

»Nein, Comtesse, schon seit Lolas Tod.«

»Ja, ja, Annchen, Sie haben recht! . . . Und diese Schlaflosigkeit steigerte sich ins Unerträgliche . . . Ich habe etwas Angst vor den Aerzten . . . weißt du, wenn man nicht mehr jung ist . . . Annchen, ich will nicht, daß die barmherzige Schwester wieder nachts hier sitzt. Wenn ich aufwache und die weiße Haube sehe, dann komme ich mir schon wie begraben vor. Annchen, Sie bin ich gewohnt . . .«

»Aber, Comtesse, ich bin ja immer da!«

»Ich weiß. Sie treues Wesen! Geben Sie mir Ihre Hand . . .« Ich bin glücklich, daß meine Hand abgelöst wird . . . »Du interessierst dich 323 natürlich nicht für mein Wohlbefinden . . . dir wär's am liebsten . . . Ach Louis!«

»Liebes Tantchen, wir wollen doch nicht wieder in dem alten Ton anfangen. Ich bin gekommen . . .«

»Ja, ja, Louis . . . Was wollte ich doch sagen?«

»Comtesse sprachen von Ihrer Krankheit,« bemerkt die Dürre.

Die Schildkröte muß erst überlegen . . . »Endlich entschloß ich mich doch, den alten Hausarzt . . . dein Vater hatte so ein großes Vertrauen auf ihn, was deine Mutter nie begriff. Sie war ja eine robuste Natur, mit der es nachher sehr schnell ging . . . Die gute Le Fort, die es mit mir so herzlich meint – mit dir auch, Louis . . . du gehst wohl nicht mehr in das reizende Haus, wie du dich immer von Leuten zurückziehst, die sich für dich interessieren und dich vom Leichtsinn abbringen wollen . . . Die gute Le Fort riet mir auch zum Arzt . . . Aerzte sind selten feinfühlig, und der Sanitätsrat meinte, Schlaflosigkeit sei eine regelmäßige Erscheinung in meinen Jahren . . . Bin ich denn eigentlich schon so alt? . . . Ich fühle mich noch gar nicht so . . .« Das letztere haucht sie, und die schlaffen Backenfalten zittern vor Aufregung; alte Leute, die man nur mit Gebiß kennt, sehen fabelhaft eingefallen ohne solches aus. Nach einer Pause geht es übrigens weiter . . . »Ich habe wieder den furchtbar leeren Kopf, wie immer, wenn ich mal geschlafen habe . . . Ach ja, der Arzt! . . . Also er gab mir ein seiner Ansicht nach sehr unschuldiges Mittel: Brom, sieht wie Wasser aus . . . zuweilen hilft's, zuweilen hilft's auch nicht. Und es ist so merkwürdig, manchmal schmeckt's ganz bitter, dann wieder gar nicht. Ich hab's ihm gesagt. Er hat mich nur ausgelacht . . . das wäre Einbildung . . . Frau Le Fort war derselben Ansicht – schließlich glaub' ich's auch. Die gute Seele ist so oft gekommen . . . 324 sie hat eine so wundervoll beruhigende Art für meine Nerven – gestern war sie wieder da – und dann schlaf' ich regelmäßig ohne Unterbrechung zehn Stunden, auch mehr . . . Aber das Aufwachen! Du machst dir keine Vorstellung, Louis! Der Kopf ist mir wie gedunsen . . .«

»Und die Pupillen wie die Stecknadelknöpfe,« ergänzt die Dürre, der diese Krankheitsgeschichte wohl nachgerade langweilig wird.

»Ja, ja, Annchen . . . Aber das schlimmste ist der Magen – es liegt mir da wie Blei . . . ein Uebelbefinden! . . . Und dann noch . . . Ich bin ja eine alte Person, die es ruhig sagen kann . . .«

»Nein, Comtesse können das unmöglich sagen!« verweist die Dürre.

Wir blinzeln uns feindlich an. »Ueberlassen Sie doch das der Comtesse!« sage ich scharf.

»Herr Graf würden sich auch dafür kaum interessieren.«

Die Schildkröte, die unter dem Pantoffel ihrer Dienstboten steht, macht auch keinen Versuch mehr – nur vom Magen muß sie Ungeheuerliches erzählen. »Weißt du, Louis, ich glaube doch, ich habe etwas am Magen . . . Ich erinnere mich jetzt auch, daß ich früher etwas hatte . . . und wirklichen Appetit habe ich doch nie gehabt!« Das ist eine gemeine Undankbarkeit gegen die Vorsehung, die ihr diesen klassischen Magen als Aequivalent für alle andern Gefühle bescherte. Aber die Tante wühlt sich in diese Vorstellung ein wie in ihre Federbetten . . . »Der Großvater hatte auch etwas am Magen (mit diesem Etwas wurde er annähernd hundert Jahre alt), der Arzt meint auch . . .« Dieser Arzt ist ein Schafskopf, und die Tante schwelgt in Wahnvorstellungen.

Solche Thuerei kann ich nicht ausstehen! – 325 »Na, liebes Tantchen, wenn es nur der Magen ist, dann habe ich keine Angst!«

Sie krümmt sich beleidigt. »Louis, du hast die spöttische Natur deiner Mutter . . . Ich glaube auch, ich habe sehr recht gethan, als ich . . .« Im Murmeln erstirbt's . . . »Das Leben muß dich erst hart erziehen! Denn der Reichtum . . . Wenn dein Vater doch noch lebte! Er war so feinfühlig . . . Und die Ehe in unsern Kreisen . . . Er klagte natürlich niemals – aber Schwesteraugen . . . der weiche Mensch!« Das ist wieder eine infame Lüge. Denn er war, obgleich mein Vater, ein echter Carén: kalt, egoistisch, mit einer allerdings großen Liebe für seinen einzigen Sohn.

So muß mich die Schildkröte wieder an ihrem Krankenbett ärgern.

»Und die Kälte!« jammert sie weiter. »Wenn ich aufwache, bin ich ganz kraftlos; ich atme fast gar nicht mehr. Und meine Treuen fürchten immer, ich wäre schon drüben im Jenseits, wo es keine Schmerzen mehr giebt . . .« Sie steigert sich so nach und nach in eine weinerliche Stimmung. Aber sterben will sie absolut nicht! Im Gegenteil . . . »Wie sehe ich eigentlich aus, Louis? Sehr schlecht?« Und die schwimmenden Augen flehen förmlich um eine Lüge.

»Etwas stark angegriffen, Tantchen. Aber von Sterben . . .«

Das ist meine Gewissensüberzeugung, denn seitdem sie mir die Magengeschichte vorgesetzt hat, glaube ich fest an eine vorübergehende Indisposition. Warum sollte sie eigentlich sterben? Sie hat kein Atom Fieber, nur Schwäche – und da mir ihr Hinscheiden etwas Angenehmes wäre, thut sie es gerade nicht.

Das alte Geschöpf klammert sich sogar mit einer kindischen Angst an meine Diagnose. »Angegriffen – 326 das ist das richtige Wort. So etwas kommt mit den Jahren . . . Ich habe ja keine Angst vor dem Tode . . . aber ich glaube, ich habe hienieden noch nicht alles erfüllt . . . Ich möchte noch ganz gern etwas leben! . . . Ich bin so lange nicht im Zoologischen gewesen . . . Wie mag's doch dem jungen Pelikan gehen? . . . Weißt du, dem Tierchen, das meine Bekanntschaft mit der reizenden Frau Le Fort vermittelte . . . Ja . . . ja . . .« Und auf einmal fängt sie an zu zittern. »Ah . . . ah . . . ahh! –« Auf der bleiweißen Stirn glänzt kalter Schweiß. Ich fasse instinktiv nach ihrer Hand, sie ist kalt wie Eis . . . »Ah . . .! Ahh . . .!« macht sie wie ein krankes Kind.

Die Dürre reißt mir fast die Hand weg. »Gnädigste Comtesse . . .«

Da nickt die Tante unmerklich, bekommt die Sprache wieder, die Stimme rasselt . . . »Annchen . . . Annchen . . . für euch ist gesorgt . . .« Mich sieht sie nicht, zu mir sagt sie nichts. Dennoch fühl' ich Mitleid mit dem alten Geschöpf. Die Augenlider fallen ihr halb zu, die Pupille zieht sich in einem schmalen, gelben Spalt zusammen. Sie bewegt sich nicht mehr. Der Atem ein ersterbender Hauch. Ich starre auf das grüngelbe, faltige Gesicht. – Warum schließen sich die Lider nicht ganz? Mir graut vor diesem unbeweglichen Spalt. Der nahende Tod hat hier keine Majestät, nur Schrecken.

In solchen Momenten ist das rein physische Mitleid das bestimmende. Es mag mich auch tief auf dieses Bettgrab gebeugt haben . . . vielleicht, weil ich den lautlosen, dünnen Atem fühlen wollte, vielleicht war es auch unbewußte Zärtlichkeit.

Die Dürre zieht mich behutsam zurück. »Sie ist nur bewußtlos, Herr Graf,« flüstert sie. »Sie hatte schon neulich mehrere solche Anfälle . . . Es 327 ist zum Gotterbarmen!« – Ein schmaler, gekniffener, geiziger Mund sagt mir das, ein Paar nüchterne, harte Augen bestätigen es. Das ist das schöne menschliche Mitleid deiner Getreuen, Comtesse Carén!

Ich winke ihr heftig.

Sie sieht mich dummdreist an.

»Raus!«

Da versteht sie endlich.

Ich will allein mit meiner Tante sein.

*

Ich will allein sein.

Der Tod ist durchs Zimmer gegangen. Wer weiß, wie bald er zurückkehrt? Und ich habe Angst vor ihm – nicht etwa mein Herz, aber meine Nerven. Es ist rein körperlich: der Abscheu des Wilden vor dem natürlichen Tode.

Ich will allein sein. Und ich horche doch ängstlich auf den gedämpften Schall der Schritte draußen in dem teppichbelegten Korridor. Die Alte neben mir hat der Tod gestreift – ich mag sie nicht ansehen! – Mein Ohr hört auch wieder deutlich den schwachen Atem. Vielleicht schläft sie, vielleicht ist sie nur bewußtlos; gleichviel, für mich ist sie schon eine Sterbende – ich irre mich nicht – und ich will sie nicht sterben sehen! Ich wollte, ich hörte den elenden Atem nicht mehr, wie man den Pendelschlag der Wanduhr auch nicht mehr hört, wenn man ihn gewöhnt ist. Dennoch lausche ich ängstlich auf diesen Atemzug. Wenn er nun ganz aufhört . . .

Sterben sehen macht feige. Ich habe die Jalousie auch wieder tiefer hinabgelassen: aus Sorge für die Kranke, rede ich mir ein, aus Furcht vor ihr, das ist wahrer.

Und jetzt zieht wieder die ungesunde Dämmerung in den Raum, die Gegenstände verschwimmen. Die Kleiderwülste schwellen zu grauen Bergen, das 328 Mahagoni der Schränke glänzt düster; auf dem Toilettentisch schimmert das kalte Krystall mit der roten Kautschukplatte des Gebisses, die Puderbüchse gleißt, und die grünseidene Draperie bewegt sich – es ist nur der Schatten. Die Krankenstubengerüche steigen empor, aufdringlich, stumm. Ich merke erst jetzt, wie die dicke Luft von ihnen gesättigt ist. Medizin, Karbol, Koniferengeist – ich unterscheide deutlich, wie sie zu mir durch die unbewegte Atmosphäre kriechen, auch etwas Bitteres kriecht mit, aber feige versteckt, ein Hauch von dem Dufte bitterer Mandeln, kaum wahrnehmbar. Er zieht vom Nachttisch her, wo die Medizinflaschen klirren, wenn ich mich rühre. Als Bengel hatte ich eine schreckliche Angst vor bitteren Mandeln. Die alte Kinderauguste, die mir zuerst beibrachte, daß ich ein Graf und mehr als andre Sterbliche sei, beschwor, von zwei bitteren Mandeln müsse jedes Kind sterben, auch ein gräfliches . . . Und die Alte atmet und zittert im Schlaf. Jetzt kann ich sie auch ruhig ansehen. Deutlich leuchtet nur die weiße Nachtmütze, drunter ist etwas Gelbes, Unbestimmtes mit einem großen, unbestimmten, schwärzlichen Fleck – ich glaube, es ist der offene, zahnlose Mund.

Mitleid empfinde ich nicht – auch die Nerven sind ruhig. Wird sie bald sterben? Wird sie es überhaupt? – Wenn der Tod kommt, fühlt man sein Nahen eisig in den Adern, und wenn er unverrichteter Sache gegangen, als habe er nur gescherzt, dann wird das Warten wieder langweilig. Draußen rauscht der Regen in dicken Strömen hernieder. Das Gebüsch vor dem Fenster tropft und schüttelt sich und schlägt an die Scheiben, die Blätterschatten schwanken grau und unsicher auf dem weißen Fensterbrett. Ein kümmerlicher, durchnäßter Spatz hat sich da in eine Ecke gerettet und piepst und hüpft zum Erbarmen. Die Tante rührt sich im Bett. Das klägliche Piepsen des 329 gefiederten Gassenbuben hat wohl bei der Schlafenden unbewußte Nervenreflexe gezeitigt, denn sie beruhigt sich sofort.

Und dumm, aber wahr: das Piepsen draußen und die Bewegung im Bett vermitteln mir das Atom echten Mitleids, das ich zu der Komödie heute so gut gebrauchen kann.

Die alte Jungfer thut mir doch leid! Was hat sie denn von ihren zweiundsiebzig langen Lebensjahren an Glück und Gefühl gehabt? Einen Kanarienvogel – weiter nichts. Es klingt zum Totlachen komisch, und eigentlich ist es zum Weinen traurig . . . Ich weiß von ihrer Jugend nichts, als daß sie keiner wollte; später hat sie keinen mehr gewollt. Im Grunde ist es das Gleiche. Mein Vater mokierte sich über sie, meine Mutter lachte sie aus, und ich sitze an ihrem Bett, und der Tod scheint mir ein pedantisch langsamer Herr . . . Ja, man hat leicht spotten, wenn einem das Leben genug gegeben wie meinen Eltern – und leicht gefühllos sein, wenn man so ziemlich alle Genüsse und anständigen Laster erschöpft hat wie ich. Und erst an ihrem Sterbebette versuch' ich ihr einigermaßen gerecht zu werden . . . Sie muß doch auch mal jung gewesen sein, hat vielleicht auch geliebt, und dem kühlen, selbstischen Carénherzen mögen die Stürme nicht erspart geblieben sein, bis es sich endlich verknöcherte zur Gottseligkeit und zum Mops. Sie hat sich allerdings den Mops ausstopfen lassen, was Menschen nie thun, die ihre ganze Liebe an ein Tier gehängt haben; sie hat auch bei allem Kirchenlaufen nie Kinderasyle eröffnet und Kranke gepflegt mit der egoistischen Religiosität und der beschränkten Menschenliebe, die aus Protestanten Fanatiker der Pflicht macht, aus Katholiken Heilige. Das Herz muß sich also sehr langsam verknöchert haben. Der Mops war nur 330 ein Palliativ, die Frömmigkeit nur ein Schlafmittel. Die Thörin hoffte noch auf das eine große Gefühl, das die Leere ihres Herzens ausfüllen sollte – sie hoffte lange, unheimlich lange. Und ganz zuletzt that es ihr der Kanarienvogel an. Denn an das Dümmste, Lächerlichste der alten Jungfer verschwendete sie die elende Liebe, die unter der Asche glimmte . . . Sie mag ganz zufrieden, ganz glücklich mit diesem Gefühl gewesen sein – das erbärmliche Glück des Alters, das die Jugend nie verstehen wird. Dann empfahl sich auch das; sie hatte nicht mal zu dem zweiten Kanarienvogel die Kraft . . . Jetzt versteh' ich vielleicht den wahnwitzigen Ausbruch der Feindschaft, so thöricht und ungerecht er auch war. Ich hätte aus Klugheit darüber hinwegsehen sollen, wie man über die Schwächen eines Idioten hinwegsieht. – In dem allem will ich die Alte jetzt verstehen. Aber daß sie alt, krank, hoffnungslos sich an das Leben des Lebens halber klammert? – Sie hat niemand, der sie liebt, den sie liebt, sie ist bei all ihrer altjüngferlichen Tyrannei die Sklavin der Dienstboten, die sie bestehlen, auf ihren Tod warten. Ich brauche bloß an den gekniffenen Mund der Dürren vorhin zu denken und an das Winseln des Dicken. Die spielen schon recht lange die Komödie der Treue. Und während ich hier sitze, hocken sie vielleicht beide horchend am Schlüsselloch. – Der Dicke, Feige sagt: »Um Gottes willen! Wenn das alte Stück wieder aufkommt, da bringt uns der Neffe wo möglich noch ums Legat. Wenn sie doch nur stürbe!« Und dabei hat er den Angstschweiß auf der Stirn. Die Dürre aber, die keinen gestohlenen Schnaps heimlich hinuntergießt und darum keine Sentimentalitäten kennt, giebt dem Liebhaber ärgerlich einen Puff. »Ach, laß das Heulen! Die wird nicht wieder. Außerdem hat sie gesagt, für uns 331 wäre unter allen Umständen gesorgt. Wir machen gleich ein Mehl- und Vorkostgeschäft mit Flaschenbierverkauf auf, weißt du, wie in der Lützowstraße . . . Mir wird's auch langweilig. Sie könnte nun sterben! Man will doch sein Geld sehen . . .« – »Aber wenn sie doch nicht stirbt?« . . . – »Quatsch nich, Krause!« . . .

Ich verstehe die Gefühle solcher Leute zu gut, weil ich meine eignen kenne. Denn trotz allen Mitleids . . . hier sitzt ein Louis Carén, der sagt: Das arme alte Geschöpf sterben zu sehen, ist doch scheußlich! Ich mache nicht mehr mit. Mag sie meinetwegen ewig leben! Und neben diesem Louis sitzt ein zweiter, äußerlich nicht zu unterscheiden, der knurrt: Ach was, alte Leute sind tot am glücklichsten! Ich möchte auch mal endlich aus den verdammten Schulden heraus. – Und wenn sie nicht sterben sollte, sagt der zweite Carén ingrimmig: Will denn die alte Jungfer ewig leben? Wieder mal vergebens gefreut!

Mein Junge, ich fühle schon jetzt deutlich, wie der zweite Carén sich mit dem ersten balgt – und ihn ganz sicher unterbekommen wird. Die Sentimentalitätsgefühle halten gerade so lange aus, als sie wert sind.

Es ist elf Uhr. Sie atmet noch, sie wird vermutlich noch lange atmen. Und ich verspüre Hunger.

*

Von dem Korridor her höre ich Schritte, derbe männliche Schritte – Bierkutscher oder Briquettmann – jemand schüttelt sich, spricht laut. Ich bin empört: der Kerl könnte sich doch menagieren! Darauf das Winseln des Dicken. Die Thür nach dem Korridor wird leise geöffnet, die Dürre guckt herein. »Der Medizinalrat, Herr Graf.«

Erst in diesem Augenblick denk' ich daran, daß die halbe Stunde an dem Krankenbette der Arzt 332 passender gewesen wäre als der mutmaßliche Erbe. Ich beuge mich noch einmal über die Schildkröte, sie atmet fadendünn, langsam, aber regelmäßig. Dann gehe ich rasch durch die Nebenzimmer. Im Speisesaale steht, wie immer, die grüne Chartreuseflasche auf dem Mahagonibüffett halbgeleert. Wie lange der Dicke wohl diese Posse spielen mag? Ich taxiere mindestens Flasche tausend. Gemach, mein Sohn, wenn du beim Servieren nachher würzig nach Kräutern riechst, trete ich dir alsobald auf die Hühneraugen. – Dem Trampeln nach scheint der Aeskulap das Lolagemach seligen Angedenkens zu beehren – oder es sind ihrer gar zwei, denn ich unterscheide Stimmen. Also en avant!

»Herr Medizinalrat, Sie erinnern sich meiner vielleicht noch . . .«

»Graf Carén!« Und aus der Fensternische tritt eine Gestalt, die ich erst jetzt bemerke. »Sie hier? – Ich dächte, Sie wären schon längst unterwegs.« Es ist die Gnädige, und zwar peinlich überrascht. Die Farbe fällt vom angeregten Rosig auf graublaß. Diesmal keine Komödie.

»Gnädige Frau erinnern sich doch . . .«

»Gewiß, gewiß!« Und die zarte Hand zittert merklich bei dem Druck der meinen. Zum erstenmal spricht Madame markiert ausländisch.

Der Medizinalrat überläßt uns nicht lange den Freuden des Wiedersehens. Ein großer, dicker, jovialer Herr mit grauer Perücke und schlohweißem, ungepflegtem Backenbart. Das rotgeäderte Gesicht lächelt vergnüglich, die funkelnden Gläser der goldenen Brille dito. Ein Menschenschinder, so lustig wie ein Totengräber in »Hamlet«. Faßt mich auch gleich mit beiden Pranken um die Taille. »Das ist ja famos, daß man Sie mal zu sehen bekommt, Herr Graf. Reden Sie nicht, daß ich mich Ihrer nicht 333 erinnern sollte! . . . Aber Sie sich meiner unmöglich! Hab' Ihnen ja ans Licht geholfen . . . Prachtbengel. Hatten gleich von Anbeginn gute Lungen – na, das Geschrei . . . danke! Ich erinnere mich noch so deutlich. Ihr Vater, der immer was vom Hofmarschall hatte, der tanzte ganz ausgelassen um mich herum. Ich weiß nicht, wie ich an dem Tage nach Hause gekommen bin, Ihr Väterchen hatte mich höllisch eingeseift! . . . Und Ihre Mutter! – Gnädige Frau, die müßten Sie gekannt haben – famose Frau! Immer auf dem Gaul Tag und Nacht. Ich sagte ihr auch: ›Nun aber hört das Ueberheckenspringen mal auf fünf Minuten auf, Frau Gräfin.‹ – Jawohl! Nach einem Vierteljahr hetzte sie schon wieder hinter allen Hasen her . . . Hat sich da auch einen Knacks geholt . . . War doch ein bißchen schlank und rank gebaut. – Und das Wienerisch, das sie sprach, das war reizend! Die Oesterreicherinnen mit ihrem Jargon sprechen ja immer falsch. Wie oft hab' ich ihr nicht gesagt: ›Gnädigste Gräfin, das heißt nicht – ich ging bei die Bauliner zur Messe, sondern zu den Paulinern zur Messe!‹ – Da lachte sie mich aus. Aber vornehme Dame – Teufel auch! . . . Rennen Sie nur nicht gleich weg, lieber Graf L . . . L . . . Warten Sie mal! – Louis heißen Sie. – Die Figur ist ganz vom Alten. Sind Sie eigentlich schon Rittmeister? . . . Koppke, Koppke!« Der fidele alte Herr schlägt sich an die Stirn. »Ihr Vater wollte ja partout aus Ihnen 'n Bismarck machen . . . Die Augen aber, das ist ganz die Mutter . . . Doch noch nicht beweibt, Herr Graf? – Die Gräfin hatte dafür nichts übrig, sagte immer: ›Der Junge amüsiert sich so viel besser.‹ – Die lebenslustige Oesterreicherin, wie sie im Buche steht! . . . Haben uns auch tüchtig amüsiert, Herr Graf, was?«

334 Ich ziehe vielsagend die Augenbrauen in die Höhe.

Der alte Schwätzer deutet das als Reue. »Wenn die Haare noch nicht wegamüsiert sind – da geht's immer noch!«

Das wird mir zu vertraulich. »Herr Medizinalrat, meine Tante . . .«

Da will sich der gute Mann totlachen. »So 'n Neffen lobe ich mir! Als wir jung waren, da pfiffen wir auf alle Tanten, ausgenommen, wenn wir Geld brauchten. Ich könnte Ihnen da eine Geschichte erzählen von einer Eulalie!«

»Glaub' schon, Herr Medizinalrat. – Aber ich war heute im Begriff zu verreisen, und nun hat man mich hierher citiert, weil es sehr schlimm stünde. Sie verstehen also . . .«

»I, was Sie sagen, Herr Graf! Da wollen wir man gleich 'rüber gehen.«

»Jetzt schläft sie gerade.«

Mit dem Sanitätseifer war's wohl nicht sehr weit her, denn er beruhigt sich sofort. »Sehen Sie, sehen Sie, Herr Graf – die Frauenzimmer! Mich haben sie vom Frühschoppen weggeholt. Nun ist man da. Bums, schläft sie!«

Die Gnädige bemerkt dazu vorwurfsvoll: »Bei einer so bejahrten Dame ist die Angst der Umgebung doch verständlich.«

»Bejahrte Dame! Das ist's ja eben . . . Sehen Sie, Herr Graf – ich praktiziere ja schon lange nicht mehr, nur so in Ausnahmefällen. Alte Anhänglichkeit, Freundschaft und so weiter.« (Ich taxiere, diese alte Anhänglichkeit wird er mit einem Mackenziehonorar berechnen.) »Was kann man von einer zweiundsiebzigjährigen Frau mehr verlangen, als daß sie schläft? . . . Ich kenne ja ihre Konstitution! Das ist keine Krankheit, das ist das Alter. 335 Neulich habe ich sie noch untersucht . . . sie läßt sich schwer ankommen, weil sie so altjüngferliche Ideen hat. Hat auf den Magen etwas toll losgewirtschaftet . . . dann keine Bewegung! . . . Das giebt am Ende natürlich immer Herzgeschichten. Da ist nichts zu machen. Aber steinalt wird sie dabei. Bißchen Beklemmungen, mal starker Herztatterich, mal schläft's beinahe ganz ein. Die Hauptsache: sie hat keine Schmerzen und schläft nach ganz minimalen Dosen Brom vorzüglich. Sobald wieder schön Wetter ist und ihr Gemüt sich etwas aufgeheitert hat, schaffen wir sie nach Nauheim. Wegen der Krankheit beruhigen Sie sich nur, Herr Graf! Wenn sie ganz sicher gehen wollen, warten Sie noch die Nacht ab. Und falls sich da nichts ereignet, so reisen Sie eben in Gottes Namen.«

»Aber sie hatte vorhin einen Anfall,« erwidere ich skeptisch, »daß ich glaubte, sie bliebe mir unter den Händen weg. Und die paar Worte, die sie gesprochen hatte, waren so verschwommen und unklar . . .«

Darauf hebt der Wissende der Naturgeheimnisse feierlich den Finger. »Sie sind ein scharfer Beobachter, Herr Graf, ganz wie Ihr Vater! Das mit der Unklarheit stimmt – habe meine besonderen Vermutungen.«

»Welche?« fragt die Gnädige scharf und tritt näher.

Aber er will nicht heraus mit der Sprache – zwinkert nur mit den Augen und wackelt mit den Ohren, daß die Perücke sich verschiebt.

Ich muß darüber lachen – er lacht mit. »Gnädige Frau, wer wird so neugierig sein! Vermutungen? Larifari! . . . Das Herz der Comtesse hält noch eine Masse aus. Zum Sterben gehören nämlich immer zwei. Der Tod, der einen abwürgt, und der Kranke, der sich abwürgen läßt. Und eine 336 Carén läßt sich nicht so mir nichts dir nichts abwürgen!«

Meine Neffengefühle haben sich unter dieser Beruhigungsdusche merklich gekühlt. Ich komme mir etwas lächerlich vor. Bereit, sterben zu sehen, zu bedauern, zu beerben, erinnere ich etwas an die patriotischen Jungfrauen, die sich das Haar rauften und wehklagten, weil der Feind, der Sieger, dem ungeschützten Herd nahte; der Feind kommt aber nicht – und da raufen sie sich auch das Haar und wehklagen auch. Der Hunger, der sich wieder im Gefühl verflüchtigt hatte, ist pflichtschuldigst zur Stelle. Also frühstücken wir! Der Medizinalrat stimmt ein – dem großen Diagnostiker thut Stärkung not: Madame sagt gar nichts – sie ist entschieden nicht auf der Höhe. Leider kein Le Fortsches Dejeuner. Rührei mit Schinken, furchtbarer Berliner Aufschnitt: für einen lachenden Erben etwas mager, für einen belachten reichlich. Beim Rotspohn schnüffelt die sehr weinverständige Nase des Doktors enttäuscht; es ist auch geschmiertes italienisches Zeug trotz des Lafitte-Etiketts. Wir beide nippen bedächtig, Madame scheint er desto besser zu munden. Weiber haben doch keine Idee von Weingeschmack! Bei ihren superben Weinen in der Händelstraße kaut sie – ein halber Kelch ist das Höchste; bei dem ausgerechnet gräflichen Schund zähle ich bereits Nr. 3. Das ist mir eine völlig neue Seite ihres Wesens. Kritiklosigkeit ist sonst nicht ihre Schwäche. Oder sollten die Nerven einer Anregung bedürfen?

Mich ärgert die polnische Wirtschaft in dieser Villa. Die Dienerstube schlemmt, der Salon muß darben.

»Habt ihr nichts Besseres im Hause?« Ich kriege das Zeug nicht mehr herunter.

Der Dicke, der die Haltung wieder gewonnen 337 hat, schwenkt trotzig den Talar. »Das ist der Wein, den die gnädige Comtesse immer trinkt.«

»Andern Wein, mein Lieber!« bemerke ich mit Nachdruck.

Der Dicke springt.

»Verstehe, Herr Graf . . . Wer den Weinkeller Ihres Vaters kannte!« Dabei hält der Doktor seine Flasche gegen das Licht. »Noch keine vier Wochen drauf.«

Es ist die offenherzige Kritik eines Mannes, der sich nicht bei jedem Patienten zum Frühstück niederläßt.

Auch dem Dicken beginnt endlich zu dämmern, was ein gräflicher Weinkeller seinen Gästen schuldig ist. Er erscheint mit einigen verheißungsvoll verstaubten, spinnwebüberzogenen Bouteillen, die er liebevoll ans Herz drückt. Die Etiketts sind abgeschabt, unleserlich. Aber der Medizinalrat erkennt sofort einen alten Bekannten. »Das ist was Superbes! Habe ihn für Ihren Großvater vor fünfundzwanzig Jahren auf einer Auktion gekauft – und jetzt das Lager dazu!« Die Heilwissenschaft, die ja stets materialistisch war, pfeift voll Hochachtung durch die rauchgeschwärzten Zahnstummel. Es ist ein Vergnügen, wie er selbst unendlich vorsichtig die erste Flasche entkorkt – der tiefrot gebeizte Pfropfen glitscht nur so 'raus – und mit welcher Ehrfurcht der Kork beschnüffelt wird . . . »Was für uns, lieber Graf!«

Dem Dicken wohlt dies Lob seiner Findigkeit, er macht sich über die andern Flaschen her – glitsch, glitsch, diskreter Knall. Ein Bild zum Malen, wie die beiden Kenner ihre auserwählten Lieblinge zärtlich behandeln.

»Sachte, sachte, alter Freund.«

»Ich weiß schon, Herr Medizinalrat.«

338 Diesmal ist's wirklich ein unvergleichlicher Stoff, mildes Feuer, das den Magen wärmt und den Kopf erleichtert.

»Nicht übel!«

»Tadellos.«

Wir lassen den Wein langsam über die Zunge gleiten, schnalzen leise, wie es Kennerpflicht; die Gnädige thut mit, aber mit dem rührenden Ungeschick von Damen, die doch nichts verstehen. Der Dicke taut auf, lächelt devot; zuweilen, wenn die Bewunderung gar zu prickelnd, verschwindet er ins Eßzimmer; er riecht stark nach Chartreuse, ich nehme es ihm aber nicht mehr übel. So was will auch sein Vergnügen haben. Mit der Zeit wird er sogar vertraulich, flüstert an meinem Ohr: »Befehlen der Herr Graf vielleicht Kaviar oder Hummern? Ich kann's gleich besorgen . . .«

»Mordskerl! Selbstverständlich.«

Die Gnädige sieht mich kopfschüttelnd an. Sie hält sich noch immer an den abscheulichen Tischwein, die leeren Augen beginnen zu flackern – aber kalt. Sie versteht uns nicht, und ich verstehe sie nicht. Trotz des zarten Rotes auf den Wangen hat sie ein altgewordenes, scharfes Gesicht und, wenn mich die Schloßabzüge nicht narren, unendlich viele kleine Falten in die dünne Haut gepreßt. Draußen gießt der Regen so tödlich gleichmäßig, vereinsamte Droschken trotten vorüber, wir aber freuen uns in der wohligen Dämmerung des roten Glanzes der Hummern, des schleimigen Graugrün des Astrachan neben dem zarten Gelb der Zitrone. Es ist fabelhaft gemütlich! Wir saugen uns mit Würde und Genuß langsam voll, eine alles gleichmachende friedliche Menschlichkeit umwallt uns. Wir wünschen niemand etwas Böses – nicht mal der Tante, weil wir nicht an sie denken.

339 Und ich habe die guten Leute auf meinem Gut nie begreifen können, die nach einem Begräbnis, noch Thränen in den Augen, das Beste auftischten, schweigend schlangen, aber unheimlich, während die Schnapsflasche kreiste und die verbrannten, stumpfen Knechtsgesichter sich langsam röteten. Und wer einige Stunden später an das Insthaus kam, der konnte rauhlachende Männer hören und übermütig kreischende Weiber – wohl auch heisere Musik auf einer Harmonika; Vater und Mutter und Gäste tanzten schwankend, gefühlvoll in dem dicken Dunst des niedrigen Zimmers, der die Fenster beschlug wie Reif, so daß die Neugierigen draußen nur ein unklares Gewoge erblicken konnten mit trunkenglänzenden Augen und schwer stampfendem Tritt. Es war eine Sommernacht, und fünf Schritte davon spiegelten sich die Sterne in dem trübe blinkenden Teich, und das Wasser trieb Blasen an derselben Stelle, wo sie den Jungen ertrunken herausgezogen hatten, den sie heute begruben. – Keine Phantasie! Ich erlebte es selbst.

Wir sitzen hier bei einem verfrühten Leichenschmaus, nur daß wir es uns nicht klar machen wollen. Ich will zu meiner Entschuldigung annehmen, daß ich nicht mehr nüchtern bin. Sonst könnte ich mich nicht so heimisch in dem altmodischen Gemach fühlen mit den häßlichen Mahagonimöbeln, den altväterischen Nippes und den ernsten, steifen, klugen Caréns an den Wänden, die mit gemischten Gefühlen dem letzten ihres Namens zuschauen mögen. Manchmal erinnern wir uns auch, daß die Villa Louis Carén noch nicht als eingetragenen Besitzer hat.

Madame sorgt dafür, die für uns beide die Dehors wahrt. »Schläft die Gräfin noch?«

Der Dicke schüttelt jedesmal wehmütig das Haupt. Er weiß es wirklich nicht! Denn wenn er 340 nachsehen geht, gelangt er nur bis zur Chartreuseflasche im Eßzimmer, dann kehrt er geknickt zurück. Ich glaube, wir wissen das alle, wir lachen sogar darüber innerlich – denn der Dicke sieht ungebührlich oft nach, und die Nase strahlt feurig. Zuletzt geht Madame selbst, doch ihr Gang scheint heute nicht so federnd leicht. Sie scheint mir überhaupt eine andre, von einer stummen Nervosität, die sie nicht zeigen will. Mir ist sie so lieber, als wenn sie unfehlbar meine Gedanken liest.

Die Tante schläft wirklich noch! Wir sitzen bereits Stunden, und die Krankengeschichten des Medizinalrats fangen an, etwas intim zu werden. Mich hat die Geschichte des menschlichen Körpers nie so interessiert. Aber wenn alte Herren im Schuß sind . . . Ich gebe dem Dicken einen Wink, die Weinquelle versiegen zu lassen. Seine Dienerehre verbietet ihm das. Er hat noch etwas Wunderbares auf Lager, etwas Weißgelacktes, von dem er eben vorsichtig verheißungsvoll im Hintergrunde den Siegellack abklopft. Der Medizinalrat spitzt die Ohren – es ist ein so angenehmes Geräusch.

»Davon sind nur überhaupt zwei Flaschen im Keller. Herr Graf.« Der Dicke sagt's und schiebt ab. Es war auch die höchste Zeit.

Bei diesem Ausbund eines Chambertin beginnt der joviale alte Arzt urplötzlich in sich hineinzukichern, wird dann geheimnisvoll . . . »Meine Herrschaften . . .« Wir rücken näher, beugen die Köpfe auf dem Tisch zusammen. »Meine Herrschaften, wissen Sie was? Bei so einem Tropfen täglich gewöhnte ich mir das Picheln auch an!«

»Wieso auch?«

Als Antwort knufft er mich freundschaftlich in die Seite. »Sie kleiner Schäker! . . . Als ob Sie mich nicht vorhin ganz gut verstanden hätten! . . . Die 341 Vermutung . . . die Vermutung!« Und er will sich wieder totlachen.

»Die Vermutung? . . . Die Vermutung?« wiederholen die Gnädige und ich, und sehen uns befremdet an.

»Na, meine Herrschaften, sie pichelt auch!«

»Herr Medizinalrat!« Die Gnädige ist in ihren Pietätsgefühlen schwer verletzt.

»Meine liebe, gnädige Frau!« Wenn sie nicht ausgewichen wäre, hätte er sie umarmt – so wirft er mit einer großartigen Bewegung nur zwei volle Gläser um. »Ist denn das was Schlimmes? Wenn man dabei zweiundsiebzig Jahre alt wird! Sie soll ja nicht etwa puren Alkohol trinken.«

Diesmal interveniere ich. »Nun seien Sie aber gut, Herr Medizinalrat. Wenn auch meine Tante, ist sie doch eine Gräfin Carén, und in unsrer Familie hörte ich nie . . .« Ich liebe diese Scherze wirklich nicht.

»Und wie reimen Sie sich denn, Herr Graf, das Aussehen, die unzusammenhängende Sprechweise, die Gedanken, die immer erst gesucht werden müssen?«

Die Gnädige lächelt mokant. »Sollte sich dies Frühstück nicht etwas lange hinziehen?«

Das überhört die Wissenschaft, und behufs Beweisführung gegen mein ungläubiges Schweigen muß wirklich diese Tante Eulalie daran glauben. Nette Dame, wenn die Wissenschaft nicht übertreibt! Einst ein braves Geschöpf, als Erbtante hochgeehrt, zuweilen rosig und höllisch aufgekratzt, zuweilen grüngelb und von wahnsinniger Melancholie, endlich mit einer Flasche Vitriol am Munde irgendwo verendet gefunden. Wehklagen, Kopfschütteln, Verachtung: denn es stellte sich bald heraus, daß die gute Erbtante ihre meisten Zechinen in altem Cognac schon seit Jahrzehnten festgelegt hatte und einer 342 traurigen Verwechslung zum Opfer gefallen war . . . »Und als ich Militärarzt in Königsberg war, da gab's eine Hauptmannsfrau, jung, reizend, aber immer dösig und mit verschwommenen Augen – trank unverbesserlich.«

Der gute Mann würde noch fünfzig Fälle zur Bestätigung aufgeführt haben – und Madames Zartgefühl stöhnt schon über diese beiden Proben –, wenn ich nicht energisch gesagt hätte: »Nun wollen wir mal die Tante Eulalie und alle trinkenden Hauptmannsfrauen ruhen lassen! Das kann ich Ihnen aber versichern, in dem Schlafzimmer der Gräfin riecht's nach allem andern als nach altem Rotspohn – und Opiumschnaps werden Sie der Dame doch nicht zutrauen. Oder glauben Sie vielleicht, der bittere Geruch hätte darin seinen Ursprung?«

Die Wirkung dieser Rede ist nachhaltiger, als ich erwartet. Die Wissenschaft setzt das erhobene volle Glas bedächtig wieder auf den Tisch, sieht mich scharf und nüchtern an. »Das mit dem bitteren Geruch kann stimmen. Hören Sie mal, Herr Graf, Sie haben eine feine Nase! Opiate? Das bringt mich noch auf einen ganz andern Gedanken . . . Sollte sie am Ende spritzen? Da wäre manches erklärt.«

Bei den letzten Worten ist Madame aufgestanden, um ans Fenster zu gehen. Was der Doktor meint, ahnt sie kaum – sie will aus der Hörweite einer kommenden schrecklichen Geschichte.

Ich aber versteh' ihn nur zu gut. Wer seinen Nerven so viel zumutete, sieht auch das Gespenst des Morphinismus als äußerste Konsequenz seiner Lebensführung. Namentlich in letzter Zeit war ich schon manchmal in der Versuchung. Morphium ist ein so wunderbares Gift! Warum sollte sie nicht an diesem Freudenquell nippen, wo alle andern 343 Quellen versiegt sind? Mir scheint's sehr plausibel. Ich kenne allerdings die Symptome dieser chronischen Vergiftung nicht genau – aber gerade die unbestimmten Schrecken finden, wie die Wunder, sofort ihre fanatisch Gläubigen. – O, der Medizinalrat und ich sind zwei unvergleichlich feine Beobachter! Es ist uns alles völlig klar.

Und Madame? Sie hat uns ruhig ausreden lassen, obgleich sie am Fenster kein Wort davon verlor. Jetzt aber geht sie direkt auf die Wissenschaft los, entschlossen, feindselig. »Schämen Sie sich, mein Herr!«

Die Wissenschaft ist verwirrt, erhebt sich auf schwankenden Füßen, mit Rotweinflecken im Plastron. »Liebe, gnädige Frau . . .«

»Nein, nicht liebe, gnädige Frau! Ich finde es einfach empörend . . . Gräfin Carén ist meine Freundin, Gräfin Carén hat keine derartigen Laster! . . . Warum sagen Sie nicht lieber gleich, sie ist seit Jahrzehnten noch nicht aus ihrem Morphiumrausch aufgewacht?«

Die Wissenschaft will sich entschuldigen.

Madame bewegt nur verächtlich die Hand. »O, bitte, wozu? Sie kennen ja die Gräfin seit dreißig Jahren, behandeln sie ebenso lange. Sie kennen ihre Konstitution, ihre Gewohnheiten und kommen auf diesen rettenden Gedanken erst auf Grund eines sehr ausgedehnten Frühstücks? . . . Gräfin Carén ist also Morphinistin?«

»Gnädige Frau,« beschwört er verzweifelt, »Sie ahnen ja nicht, daß Morphiumsüchtige eine jeder Aufsicht spottende Verstellung besitzen, daß sie in den Anstalten der schärfsten Kontrolle entwischen . . .«

»Das sagt gar nichts, mein Herr! Man wird mit diesem Laster nicht zweiundsiebzig Jahre alt, der Magen ist infolge Mißbrauchs sehr bald so außerordentlich geschwächt! . . . Man hat Sie mir, 344 Herr Medizinalrat, als einen ausgezeichneten Diagnostiker bezeichnet, die arme Gräfin schwört in dem Berlin, wo es von den fähigsten Spezialitäten wimmelt, auf Sie allein! . . . Es ist abscheulich! – Und Sie wissen ganz genau, daß die alte Dame schwer krank ist, daß die Herzthätigkeit jeden Augenblick aufhören kann . . . Ich bin die Schwester eines Arztes . . . Und Sie thun, als wenn man Sie nur zum Spaß konsultiert hätte! Wissen Sie, was ich eigentlich thun sollte? – Zur Gräfin gehen und sagen: Man ist sich da drüben nicht klar, ob Sie an den Folgen des Alkohols oder des Morphiums leiden. Klären Sie uns doch, bitte, selbst auf! . . . Soll ich das thun?«

Sie wäre es im stande. Denn sie ist verletzt, empört, kann sich kaum noch beherrschen. Merkwürdig – und dabei kalte, stahlharte Augen, ein hypnotisierender Wille, der uns seine überlegene Vernunft einimpft, ob wir auch nicht wollen. Versteh' einer die Weiber! – Meine Tante ist ihr so gleichgültig! Und niemals haben die Tugenden dieser egoistischen alten Dame eine überzeugtere Verteidigerin gefunden.

Die Schildkröte hat nie Morphium genommen! Wir sollen nicht allein schweigen, sondern glauben, überzeugt sein. Und wir glauben zuletzt thatsächlich, sind bewußt, eine riesige Gemeinheit gegen eine Unschuldige ausgesprengt zu haben. Ja, was das Weib nicht alles fertig bringt!

Und wie sie uns endlich so weit hat, und der alte, gute Medizinalrat bereit ist, unter sämtlichen Tischen wegzukriechen zur Buße – sagt sie großmütig: »Ja, selbst wenn es der Fall wäre, Herr Medizinalrat, wenn die alte Dame zur Betäubung von Schmerzen ein Mittel gebraucht hätte, was nur als Stimulans verwerflich ist . . . sollte man da nicht 345 lieber entschuldigen, beklagen, schweigen, weil doch nichts zu ändern ist?«

Das ist eine so einfache, gefühlvolle Logik, daß die Wissenschaft sich stumm vor ihr verbeugen muß. Die Schildkröte könnte jetzt eine en gros-Niederlage von Morphium haben, und der Medizinalrat würde zu feige oder zu diskret sein, um nicht das Gegenteil in jeder Instanz zu beschwören. Erst die Prügel, dann die Ermahnung: die Gnädige behandelt die Menschheit wie von Anbeginn entmündigtes Gesindel – und sie thut wohl daran.

»Die Gräfin sind eben aufgewacht,« meldet die Dürre.

»Kann empfangen?«

»Wünscht sogar dringend, gnädige Frau zu sehen.«

»Also, dann wollen wir, meine Herren!«

Wir sind auch bereit – wenigstens ich. Die Wissenschaft hat etwas viel des Guten, stampft schwerfällig, aber gediegen. Als Staatsanwalt würde ich diesen Geschworenen wegen Trunkenheit ablehnen – als Arzt meiner Tante mag er passieren.

Eine der lächerlichsten Komödien für meinen Geschmack beginnt jetzt. Die Schildkröte hält ihr eignes Hochamt. Sie hat ihre Getreuen ums Bett versammelt. Sie sind alle erschienen, geknickt, ergeben; neben mir knittert die Haube der barmherzigen Schwester. Und während draußen der Regen in gleichmäßigen Strömen niederrauscht, sitzt die Alte, von Kissenbergen gestützt, aufrecht in ihrer Bucht – und redet. Sie redet ziemlich unzusammenhängend, aber sie vergiebt uns allen. Was, ist mir schleierhaft. Sie wünscht ferner, nicht seziert zu werden; sie wünscht ein schmuckloses Begräbnis – sie hofft fest auf den Himmel, sie hofft uns alle da oben wiederzusehen. Bei dem »Wiedersehen« streifen sich die Blicke von mir und Madame. Blague! Die Sterbende sieht wohl aus, sie will gar nicht sterben, 346 das Ganze ist eine abergläubische Beschwörung, ein heuchlerisches Ergeben in den Willen der Vorsehung, von der sie nicht den Himmel erfleht, sondern das weitere Jammerdasein hier unten. – Willst du mit mir tauschen, Schildkröte? Mir ist das Leben eine unbequeme Last; schleppe sie statt meiner!

Es ist totenstill ringsum. Die alten Augen irren unstet über die Gesichter der Leidtragenden – da stöhnt sie. Den Laut hat die falsche Sentimentalität nötig. In die Gruppe kommt Bewegung. Einer schluchzt: der Dicke – graues Elend; die Barmherzige faltet die Hände und bohrt die Augen in den Boden – frommer Trug; die Dürre hat das Gesicht bedeckt – die geizigen Lippen bewegen sich; die Gnädige fährt sich gemessen über die trockenen, leeren Augen – bon ton; und als gar der Medizinalrat das große, seidene Taschentuch langsam entfaltet und die beschlagenen Brillengläser putzt, da kommt auch meiner Tante das Schluchzen; ich drehe mich nur weg. Und da geht's los . . . bis sich endlich das Wort aus dem Gewinsel losringt, das klassische: »Meine einzige Freundin! . . . Meine liebe, liebe Frau Le Fort!«

»Meine liebe, liebe Gräfin Carén!«

Und die Alte öffnet weit die Arme, und die Gnädige öffnet sie auch und beugt sich nieder auf die Kissenburg. In den Armen liegen sich beide . . .

Stille. Ein Engel geht durchs Zimmer.

Dann fängt der Dicke an, stärker zu heulen. Betrunkener Schuft!

Die Gräfin hat die Scene angegriffen, sie wünscht Ruhe, Alleinsein, – ich habe auch genug. 347

 


 


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