Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Drittes Buch.

Erstes Kapitel.

Die letzten Zeilen im sogenannten Tagebuch schrieb ich vor mehr als sieben Monaten.

Was hätte ich auch von meinem Festungsaufenthalt berichten sollen? Man ißt, man trinkt, man spielt. Alles etwas teurer und unsolider als in der Freiheit. Jünger wird man davon nicht! Sonst war die Gesellschaft kunterbunt: Leutnants, Studenten und zwei alte Bankerotteure, denen man die Gefängnisstrafe auf dem Gnadenwege in die custodia honesta umgewandelt hatte, weil an ihrer Moral viel, an ihrer politischen Gesinnung nichts zu tadeln war. Diesen beiden Ehrenmännern hat es mein leerer Grafentitel angethan. Es giebt eben noch genug grauhaarige Narren. Man läuft übrigens als Gefangener weder mit der Kette noch im Sträflingsdreß herum; man darf nur nicht ausfliegen, wie man gerade Lust hat. Lust hat man niemals, wenn man kann, und immer, wenn man nicht kann. Das war mir der einzige Zwang. Von einer hohen Mauer herab konnte ich die Weichsel gelb und breit nach dem Meer rollen sehen. Es ist der fremde Slavenstrom – mein Heimatsstrom. Lieb 106 habe ich ihn doch! Und so schweigendes fließendes Wasser weckt stets thörichte Gedanken und Gefühle. Man möchte auch hinaus ins Weite, Unbekannte. Bei solchen Dämmerungspromenaden auf der Bastion schleppte ich die Bagnofessel doch am Fuße nach.

Von wichtigen Besuchen empfing ich nur einen: meinen Freund Eliassohn und seinen rechtskundigen Neffen vom Alexanderplatz. Der jüdische Wucherer tobte nicht, wie es mancher christliche gethan hätte. »Wir müssen sehen, verehrter Herr Graf, wie wir am besten überzeugen die Gerichte von Ihrem goldklaren Recht. Gelingt's uns nicht, und die habsüchtige Stiftung siegt ob, muß ich tragen 'nen großen Schaden und der Herr Graf noch 'nen größeren . . . Sind Se noch genügend versorgt mit Geld? Se können mehr haben . . . selbstredend zu 'nem angemessenen Perzentsatz, wo doch de Sache so faul steht. Se sind noch jung, Herr Graf, und Se können machen 'ne brillante Partie. Ich könnte Ihnen Eintritt verschaffen in 'ne sehr reiche Familie, von 'nem Freunde von mir, hochgebildetes, bildschönes Mädchen, erzogen in Ihrem Glauben – wenn Se sich nicht etwa stoßen sollten an 'ne gebogene Nase . . .« Da hatte ich von seinem einnehmenden Lispeln genug und besprach mit dem Neffen meinen Rechtsfall. Der ist auch felsenfest überzeugt, daß ein zukünftiger Botschafter sein Geld nicht weiser und patriotischer hätte anlegen können als in Weibern, Schmuck und sinnlosem Luxus – dabei immer vorausgesetzt, daß der gewonnene Prozeß dem Sachwalter wenigstens fünfzigtausend Mark einbringt . . . Diese Unterhaltung ist sehr lange her.

Zurzeit bin ich bereits begnadigt und frei, wider jegliches Erwarten früh. Ganz, ganz oben besitze ich mächtige Gönner; mit Bittschriften habe ich niemand bombardiert, aber die alten, vornehmen 107 Familien bilden seit Noahs Zeiten einen geheimen Ring, der es nicht liebt, unschuldige Mitglieder übermäßig lange in einer unwürdigen Lage schmachten zu sehen. Ich weiß nicht, ob Protektion bei mir den Fall harmloser hinstellte – ich mutmaße nur. Die Herren hätten ja damit auch nichts gegen Ehre und Gewissen gethan; sie kennen nur den skandalösen Anlaß des Duells, den beklagenswerten Ausgang. Aber daß ich meine anderthalb Jahre oder mehr voll abzusitzen ein gutes Recht habe, das wissen sie freilich nicht.

Also ich bin frei und sitze mit einem feindlichen Bescheid der Gerichte betreffs meiner Erbschaft in der Tasche in einem gutbesetzten Rauchcoupé zweiter Klasse. Mein Ziel ist Berlin. Die Weltstadtneigungen ziehen mich nicht dahin. Ich muß aber, weil Jaromir mir einen geheimnisvollen Brief geschrieben hat, – und ich will, weil es den Verbrecher immer nach dem Orte der That zieht und ich auch wieder in dem gewaltigen Antlitz der Riesenstadt lesen möchte, das mir vielleicht jetzt ganz etwas andres sagt als früher. Es ist April. Dem launischen Herrn gefällt es gerade, große Flocken an die Coupéfenster zu schleudern. Die Ebene fliegt vorüber – ein mißfarbenes Chaos von verschwommenen Dörfern, dürftigem Kiefernwald, aufblinkenden Wasserläufen zwischen spärlichem Saatgrün, grämlich belächelt von einer schielenden Sonne, deren Strahlen der Schneefall aufsaugt. Meine Mitreisenden unterhalten sich damit, das qualmverdüsterte Coupé mit dem Rauch ihrer Zigarren noch mehr zu verdüstern. Der Kurierzug rast jetzt an Vorortstationen vorbei, der große Spiegel des Müggelsees leuchtet. Die Nähe von Berlin kündigt sich an mit Schornsteinen, Baracken und wallendem Rauch. Dann ballt sich der Rauch zu einem Dunstmeer, in dem trübe Lichter flackern. 108 Reisedecken werden eingeschnallt, ein Provinziale fragt, ob die Jannowitz-Brücke vor oder nach dem Zoologischen Garten käme, und erntet mitleidiges Lächeln oder langatmige Aufklärung. Ich verspüre plötzlich eine nervöse Müdigkeit, dusle beinah, während der Zug rasselnd im Halbdunkel zwischen Häuserreihen dahinjagt. Auf dem Schlesischen Bahnhof dampfendes Arbeitergewimmel, weich gleitende Stadtbahnzüge – auf dem Alexanderplatz sich drängende Menschenmassen, aber mehr Comptoir, besorgte Hausväter, über deren Köpfen die abgestandenen Gerüche der Zentralmarkthalle hinstreichen. Endlich taucht das Brettergerüst des Doms auf, die Nationalgalerie, Reklameschilder vornehmer Hotels folgen, die krumme Halle des Friedrich-Bahnhofs thut sich auf, in elektrischem Licht festlich schwimmend. Ich bin am Ziel. Wie ich zum Fenster hinausgucke nach einem Gepäckträger, sehe ich einen kleinen schwarzen Mann die Coupés aufgeregt entlang laufen.

»Herr von Jaromir, suchen Sie mich?«

»Jawohl!«

Und der Gute kommt sofort hereingeklettert, mein Gladstone-Bag selber in Empfang zu nehmen. Er sieht jung aus, frisch – und er ist mein Freund! Die ewig wechselnde Chamäleon-Physiognomie des Zentralbahnhofs mit seinen donnernden Fernzügen, seinem Hauch von echter Internationalität macht jeden Ankommenden zum Fremden, und doppelt vertraut grüßt einen das erste bekannte Gesicht. Und ich komme direkt aus der Festung! . . . Jaromir reißt mir den Gepäckschein weg, umkreist mich wie ein übereifriger Adjutant. Ich habe ihn gern, sehr gern, und heute, wo mich sein schimmernder Ellbogen vielleicht nicht mehr genieren würde, ist er sogar tadellos anständig angezogen. Endlich, nach einem gröblichen Meinungsaustausch zwischen ihm und dem 109 Billetknipser, ist er so weit, auf meine wiederholte Frage zu antworten.

»Aber woher ahnten Sie denn, Jaromir, daß ich gerade mit diesem Zug kam?«

»Ich habe an Ihren Festungskommandanten telegraphiert. Daß Sie begnadigt werden sollten, wußte ich bereits vom Grafen Twesten. Ich habe ihn öfters getroffen – ein ganz vorurteilsfreier Mensch! Aber keinen andern Gedanken auf der ganzen Gotteswelt als Pferde und wieder Pferde . . . Ich habe Ihnen nämlich, Herr Graf, eine höchst wichtige Angelegenheit mitzuteilen.«

Zu diesem Zwecke will er mich sofort in eine Droschke packen, ins Hotel schleifen und gleich darauf zu einem »großen Unbekannten«. Worum es sich handelt, vergißt er aus lauter freundschaftlicher Aufregung. Ich aber bin gar nicht mit Kaiserhofgefühlen nach Berlin gekommen – ein andrer Gasthof thut's mir auch, bis ich ein bescheidenes Chambre garnie gefunden habe; zu der oberflächlichen Toilette genügt sogar dem vom Schicksal stark Geduckten ausnahmsweise das Waschkabinett des Bahnhofs.

Während dort ein sprudelnder Löwenkopf den Coupéstaub wegspült, geht Jaromir vor der zugezogenen Friesgardine unruhig auf und ab. Im Schritt kann er den Offizier noch immer nicht verleugnen. Hier erhalte ich auch die ersten Nachrichten. Mein Duell hat die Leute angenehm aufgeregt – meine Enterbung angenehmer – mein verlorener Prozeß am angenehmsten. Die Menschen scheinen darin den Fingerzeig des Schicksals zu sehen. Jedoch über dem Duellanlaß wallt noch ein freundlicher Nebel, den tückische Argwohnslichter vergebens zu durchdringen suchen. Wer denkt an Asta Le Fort? – Niemand! Keine Menschenseele weiß, daß sie heimlich verlobt war – selbst die Familie nicht. Jaromir, 110 der merkwürdig orientiert scheint, erzählt, daß alles in der Händelstraße unverändert sei: die Gnädige kühl, Asta schwarz, Ethel grau. Und keine plötzliche Abreise, kein aufgegebener Theaterbesuch. Sie scheinen doch die geborenen Komödianten zu sein, die Grünäugige auch. Oder ist sie wirklich das Weib, das stumm, ohne Wimpernzucken ein Geschick allein zu tragen vermag? . . . Ich will sie nie wiedersehen! . . . Der gute Kerl teilt mir das in einem Wust von andern Neuigkeiten mit; er selbst weiß ja auch nichts.

Nur wie er zu seiner Wissenschaft gekommen, muß ich ihm Wort für Wort herauspressen. Es ist wohl gut für ihn, daß uns eine rote Friesdecke trennt und der sprudelnde Löwenkopf gewisse Tonschattierungen ausgleicht. »Sind Sie bei Le Forts im Haus gewesen, Jaromir?«

»Nein, Herr Graf.«

»Haben Sie die Blonde wiedergesehen?«

»Ja.«

»In Dreiteufelsnamen, mit Ihrem Ja und Nein kann ich nichts anfangen! Wie, wo und warum? Schießen Sie, bitte, los!«

Da bequemt er sich denn zu einer Beichte. Die Kornblumenfee hat ihn eines Tages abgepaßt, am helllichten Mittag vor seinem Comptoir – ganz wie ein Fabrikmädchen ihren ungetreuen Schatz. Und sofort wird ihm auch die Pistole auf die Brust gesetzt: »Warum kommen Sie nicht mehr, mein Herr?« – »Weil ich niemand im Wege sein will, gnädiges Fräulein.« – »Sie sind niemand im Wege, mein Herr!« – »Gnädiges Fräulein, ich bin in Ihrem Haus in einer Weise behandelt worden . . .« – »Habe ich Sie je schlecht behandelt, mein Herr?« – »Jawohl!« – »Wo?« – »In Klein-Machnow.« – Darauf antwortet die reizende 111 freche Person: »Wissen Sie, was Sie sind, mein Herr? Ein Kind!« – Jaromir macht kurz Kehrt und geht, sie geht einfach mit und spricht weiter: »Um Sie handelt es sich gar nicht, mein Herr. Wissen Sie aber, warum Graf Carén den Grafen Serner totgeschossen hat?« – »Ich weiß nichts, gnädiges Fräulein.« – »Aber Sie sind dabei gewesen, mein Herr?« – »Wenigstens bei dem Anlaß.« – »Pfui, schämen Sie sich, mein Herr! Ich glaubte, Sie bewegten sich in besserer Gesellschaft . . .« – »Gnädiges Fräulein!« – »Also Sie sind auch einer von denen, ja, Sie nehmen ihn sogar noch in Schutz? Nun, dann grüßen Sie mich, bitte, nie mehr auf der Straße, ich danke bestimmt nicht. Denn der Graf Carén kann nur Schlechtes raten und noch Schlechteres thun. Gehen Sie, mein Herr, ich wünsche es, gehen Sie sofort! Und ich möchte Ihnen und Ihresgleichen nie wieder in meinem Leben begegnen, und wenn der andre auch ein königlicher Prinz wäre . . .« – Wer natürlich nicht geht, ist Jaromir. Und da fängt dies unbegreifliche Gemisch von Gerissenheit und Unschuld ohne jede Veranlassung auf offener Straße an zu weinen. Sie thut's wie die Kinder, denen es ganz egal ist, wer zusieht. Die Passanten werden aufmerksam, lachen oder werfen unwillige Blicke auf Jaromir, der wohl das schuldbeladene Karnickel sein muß, weil er wirklich nicht weiß, wie er diesen Thränenstrom stillen soll. Zum Ueberfluß treten zwei Arbeiterfrauen aus einem Neubau, regen sich mit auf, und eine resolute Dicke tritt sogar in gutmütiger Empörung dazwischen. »Fräuleinken, wenn ick Sie wäre, wegen so 'n schlappen Windikus vergöss' ick noch lange keene Dhräne. Det is ja weiter nischt als 'n Affziehr in Zivil. Det Sie't man wissen, det Sie erkannt sind, Sie Schwarzer! Und det is en feinet Fräulein, von det ick nich 112 bejreife, det sie sich von so eenen an de Neese 'rumführen läßt . . . Nu hören Se aber auf, Fräuleinken! Sie mit Ihr hübschet Jesicht kriegen noch 'n janz annern feinen Mann, der Ihnen ooch heirat' . . .« Neugierige haben sich natürlich zu Hunderten gesammelt – die Scene spielt sich am Spittelmarkt ab – die weinende Ethel kann nur hastig den Tröstungen abwinken, und Jaromir muß sie mit Gewalt in ein Hofportal ziehen. Als er die Blonde da beruhigen will, versucht sie jämmerlich lächelnd zu lügen: »Es ist nur Wut, Wut!« Dann aber besinnt sie sich auf ihr besseres Selbst und sagt in Absätzen: »Ach, danken Sie doch Gott, daß Sie arm sind, danken Sie doch Gott! . . . Ich bin so unglücklich, so maßlos unglücklich . . . Und meine gute, gute Schwester ist es auch . . . Deswegen bin ich eigentlich hier . . .«

Wie sich die Sache weiter entwickelt hat, ist Jaromirs Geheimnis. Wo die wirklichen Herzensangelegenheiten anfangen, hört die Freundschaft bekanntlich auf. Er möchte mich natürlich belügen, aber in der konfusen Lügerei zeigt sich, daß er ein sehr schlechter Lügner ist – zum hohen Diplomaten Metternichschen Stils ganz unbrauchbar. Aber ich glaube ihm, daß er die Le Fort-Villa mit keinem Fuße betreten hat, und daß sich die beiden Liebenden trotzdem häufig getroffen haben. Wenn die Tochter des Selfmademan sich zum Selfmademan hingezogen fühlen sollte, wäre das so wunderbar?

Meine hochwichtige Angelegenheit kommt ganz zuletzt wie ein zufälliges Anhängsel. Jaromir hat eine bebende Angst ausgestanden, daß ich die Erbschaftsangelegenheit ganz fallen lassen könne. Er kennt einen jungen Rechtsanwalt, die Blume aller Rechtsverdreher, dem als Assessor meine Prozeßakten durch die Hände gegangen sind. Der wünscht nun, mich in der Berufungsinstanz zu vertreten. Kein übles 113 Debüt für ihn, wenn er mich durchbringt, worauf ich schon gar nicht mehr rechne. Darum verlangt er auch keinen Vorschuß, nur die eventuellen Gewinnprozente. Empfohlen ist er Jaromir noch durch den Doppeldoktor, der eine geheimnisvolle Versicherungsangelegenheit geregelt haben muß, über die der Agent wie eine Katakombe schweigt, weil er in Geschäften die Diskretion selbst ist. Ich bin noch unentschlossen. Durch diesen Rechtsanwalt kommen die Kohlenstaubbrenner wieder in bedrohliche Nähe, und wenn mich auch jeder einzelne unter ihnen kalt läßt – alles, was drum und dran hängen kann, gefällt mir nicht. Jaromir bemerkt mein Schwanken, reißt mich an den Ueberzieherknöpfen, redet klug. Etwas von einer Klette und der Dringlichkeit eines Schmieralienreisenden hat er sich glücklich angewöhnt. Da es aber ein uneigennütziger Freundschaftsdienst ist und der aufgeregte Mensch mich durchaus glücklich und reich sehen möchte, so lasse ich mich aus dem Waschkabinett ziehen, wandere schmierige Bahnhofstreppen auf und ab, während die Gewölbe unter dröhnenden Zügen zittern, stürze mich in das lebensgefährliche Wagengewirr der Friedrichstraße, wo der Aprilschnee sofort zu klebrigem Schmutz verwandelt wird. Jaromir geleitet mich stumm und wachsam wie einen Sträfling, das heißt, er gängelt den fügsam Gewordenen scheinbar achtlos und freundlich gen Osten. Er scheint weitgehende Absichten zu haben.

Urplötzlich Halt! – Anständige Verkehrsstraße, riesiger Brauerei-Ausschank. Und so weltstädtisch gelegen, daß man die Tonschwingungen der Stadtbahnzüge noch spüren kann. »Wir sind zur Stelle, Graf Carén. Ich habe den fremden Herrn gleich in das Lokal bestellt.« Also der richtige Ueberfall seiner Elitewaffe! Und ehe ich parlamentieren kann, 114 bin ich sänftiglich in die Kneipe geschoben. Natürlich die echte Berliner Bierkneipe! Ein echter Bankettsaal mit getäfelter Decke, von Holzpilastern getragen, die Wände entlang dunkle Paneele, darüber hinauswachsend lichte Freskomalereien, mit keckem Pinsel wiedergegebene Scenen aus dem Nacht-Berlin, leicht geschürztes Zeug und doch philiströs, wie es lockere Bürgerphantasie liebt. Um die Glühlichtkronen schwebt wie ein Flor der Dunst von Speisen, Bier und feuchten Ueberziehern. An der riesigen Fensterscheibe hängt der Dunst wie dicker Qualm. Den Eintretenden empfängt die schlaffe, wogende Atmosphäre eines Dampfbades, welche die Augengläser im Nu beschlägt. In wohlthätigem Nebel seh' ich deshalb eine schwatzende, lachende Bürgergesellschaft. Scharfes Berlinisch – Tellerklirren – schwerbelastete Kellner. Zuweilen hebt sich ein Messer bedächtig nach dem Mund, zuweilen auch eine Gabel. Helles Lagerbier blinkt goldhell – der Schoppen kostet fünfzehn Pfennig – die Gesellschaft ist auch danach. Jaromir steuert zielbewußt vorwärts, über schlüpfriges Linoleum bis zu einer großen Nische, die von Friesdecken seitlich umwallt ist wie mein Waschkabinett auf dem Bahnhof. Um einen gewaltigen Eichentisch sitzt die illustre Gesellschaft seiner Freunde.

»Graf Carén.« – Darauf endloses Namengemurmel, von dem ich, wie gewöhnlich, so wenig verstehe, wie ich verstanden werde. Aber es sind Offiziere in Zivil, wie ich an der steifen Verbeugung merke. Jaromir schüttelt diverse Hände, ich jedoch werde aufgenommen mit der höflichen Zurückhaltung guterzogener Leute.

Der Stammtisch bildet ein militärfrommes Eiland im Philistermeer. Der Präses – ein sehr distinguierter bürgerlicher Major mit einer Perücke – die zum Boxen kommandierten Lieutenants – anständige Herren, eine 115 bekannte Spielratze darunter. Mein graubärtiger Nachbar erweist sich als verabschiedeter Hauptmann mit beginnendem Stumpfsinn und einer einzigen Passion: Zigarrenspitzensammeln für Regimentswaisen. Der Tisch unterstützt ihn auch dabei redlich unter einem stetigen Bombardement harmloser Sarkasmen, die der alte Herr murmelnd erträgt. Uebermäßig anregend geht's sonst nicht her. Fünfzehnpfennigbier füllt den Magen, aber prickelt nicht die Gehirnnerven. Und wenn nicht der aufgeblasene Wirt mit seinem rosigen Billardkugelschädel zuweilen herankäme, gemessen und kurzbeinig, und in der Luft schnuppernd immer wieder bei jedem kommenden Filetbeefsteak voll Wehmut bemerkte: »Daß man so was Gutes verkaufen muß und für eine Mark fünfzig – es ist geradezu lächerlich,« – und wenn nicht immer wieder ein widerhaariger Hannoveraner ironisch antwortete: »Und es ist doch mit Margarine gebraten!« – die Gäste würden sich schweigend in Zeitung, Rangliste und Sechsundsechzig begraben. Jaromir zankt sich schon mit zwei Stabsärzten; er hat noch immer die geheime Kasino-Ueberzeugung des Sekondlieutenants, daß die Herren vom Musketierdegen und vom Karbol nicht ganz gleichberechtigt sind trotz ihres Hauptmannsrangs. Es ist ein langsam absterbender Zopf, die uralte Abneigung der Pickelhaube gegen die uniformierte Wissenschaft, aber dieses Vorurteil ist sehr unberechtigt, seitdem die Hörsäle der Kriegsakademie der klassische Stall sind, in dem allein die Pferde der zukünftigen Kommandeure gesattelt werden dürfen; wer seinen Hauptmannsgaul auf dem Exerzierplatz hoffnungsfreudig aufsattelt, führt ihn bestenfalls als Kleidermotte oder als Bezirkskommandeur am Zaum heim. Mir ist der diskrete farblose Dreß der Sanitätsoffiziere immer als der sanfte Uebergang vom Zivil 116 zur Uniform erschienen, den man schon deshalb achten muß, weil man den Herren unter die Knochensäge geraten könnte. Von Jaromirs Widersachern ist der jüngere unausstehlich fein und »selbstüberzogen«, der andre trägt Jägerhemden. Mich regt weder der eine noch der andre auf. Ich bin Philosoph und warte schweigend und geduldig, bis mein Anwalt kommt oder nicht kommt.

Plötzlich verfärbt sich Jaromir etwas. Eine neue Schar. Vergnügtes Trampeln, schneebedeckte Hutkrempen, dampfende Regenschirme.

»Guten Abend.«

»Guten Abend.«

»Scheußliches Wetter.«

»Scheußliches Wetter.«

»Einen Schnaps, aber dalli!«

»Sieht das Bier aber kalt aus!«

Nachdem sich der erste Sturm gelegt hat, ducke ich mich zusammen und berechne, zu welchem Hering ich gequetscht werden muß, wenn alle Ankömmlinge Platz finden wollen. Da fühle ich eine Hand auf meiner Schulter. »Na, wie kommen Sie hierher, Sie großer Verbrecher?«

Rollende Rs – natürlich der Doppeldoktor. »Sie sind auch nicht anders geworden, verehrter Herr!«

»I, wo werd' ich denn!« Und mit seiner gleichgültig-eleganten Handbewegung stellt er mich noch einmal dem Tische vor: »Graf und Edler Herr von Carén, direkt aus dem Festungsgefängnis beurlaubt.« Die Herren sehen erst mich an, dann sich; einer lächelt. Jetzt, wo sie meinen Namen verstanden haben, bin ich wohl accreditiert. Mich umweht der Zauber des Gemordethabens. Das ist unter anständigen Leuten eine gute Empfehlung. Der Mann, der Karl Ignaz Serner kaltblütig erlegte, ist ihnen kein Eindringling 117 mehr. Mit Befremden aber erkenne ich, daß die Angekommenen Le Fort-Leute sind, eine Serie Kohlenstaubbrenner, zum Teil sogar Bekannte von der Tanzfarce in der Händelstraße her.

Der Doppeldoktor nimmt's heute mit seinen Pflichten sehr genau und giebt sofort von allen großsprecherisch die Karikaturen. »Der schwarze Kerl da ist Ursachse, ein Rittmeister der Landwehr. Ich warne Sie direkt vor ihm, denn er ist so stark, daß er beladene Heuwagen umschmeißen kann; dazu der beste Skatspieler im Weltall. Prosit, schwarzer Mann! Warum sind Sie eigentlich nicht unter die Seeräuber gegangen? Rudolf, Rudolf! Sehen Sie sich das schwarze Luder an, Herr Graf! Er hat so etwas – namentlich, wenn er Skat spielt.« Der Ursachse lächelt pfiffig. Es ist thatsächlich ein Koloß, mit Händen, die Nägel einklopfen könnten. Der Doktor fährt fort: »Das ist ein Legationsrat – es ist thatsächlich einer . . . Das ist Amaranth, die Blume der Unschuld, den sie bei der Elektricitätsgeschichte seligen Angedenkens so gerupft haben, daß er aussieht wie ein nackter Spatz. Wenn der gute Mann Gold klumpenweise fände, in seiner Hand würde es sicher Pech! Jedoch solche Leute sind bei Spekulationen nun einmal nicht zu entbehren . . . Das . . . das . . . das.« Leßmann ist ein vortrefflicher Mentor und hat gleich eine Anekdote bereit, wenn man sich über die Qualität eines Vorgestellten täuschen sollte. Und die Gesellschaft ist thatsächlich gut – Offiziere a. D., Lebemänner, frühere Corpsstudenten – ein einziger ist Kaufmann, ohne Geschäft, dessen hageres Lebemannsgesicht mit den plierigen Augen auf sehr viel Ballett- und auf wenig Comptoirerfahrungen schließen läßt. Le Fort hat zu seinen Geschäftsfreunden keine Kollegen erwählt, sondern sehr kurzsichtige oder sehr gerissene Menschen mit und ohne Geld. Welches 118 die Treiber und welches die Getriebenen sind, ist mir wegen des Doppeldoktors beflissener Karikierung noch ein Rätsel. Aber Humor hat der Kerl, und jeder kriegt seinen Hieb. »Der mit den roten Backen und dem ostelbischen Schnurrbart ist ein lebendiger Zoologe, er redet sämtliche Säugetiere in sämtlichen europäischen Menagerien mit dem Vornamen an und wird von ihnen verstanden . . . Und jetzt kommt die Perle eines Kohlenstaubbrenners. Sollten Sie ihn nicht kennen, Herr Graf?« Ich habe vor dieser Begegnung zehn Minuten gezittert, obgleich wir beide uns absolut nicht kennen – es ist nämlich Bomulunder. Zum Ueberfluß schreit ihm noch der Doktor zu: »Den Kopf mehr nach rechts, Herr Lieutenant, damit man das klassische Profil bewundern kann!« Darauf fügt er leise zu mir gewendet hinzu: »Riecht es nicht auf einmal nach Schnaps – nach gutem Schnaps? Nämlich der Großvater von dem da hat ganze Indianerstämme mit seinem Feuerwasser hingemordet. Der Enkel will jetzt dafür partout den braven Le Fort aus der Kohlenstaubverbrennung herausdrängeln. – Sagen Sie mal, Herr Graf, wenn Sie mit verschiedenen untergeordneten Tieren zusammen einen Fuchs und einen Wolf in einen Käfig setzen, wer von den beiden wird von dem andern zuerst aufgefressen?«

»Fraglos der Fuchs.«

»Nein, fehlgeschossen, lieber Graf! Die beiden Ehrentiere fressen den Wärter auf.«

Die Unterhaltung am Tisch ist zu Beginn streng militärisch, das Trinken auch. Humpen in die Höhe! – Prosit! – Humpen auf den Tisch! Jede Bewegung wird eckig ausgeführt, wie's guter Ton. In unserm Kasino geht's nicht halb so förmlich zu. Und das ewige Ranglistedreschen der Kohlenstaubbrenner ist gewiß interessant, das Avancement der Stabsärzte 119 auch – aber die unglücklichen Boxer, denen der heimtückische Fechtlehrer heute unzählige Wohlgezielte flach rechts und links über die Brust gezogen hat, stöhnen noch unter diesem Kommißandenken. Um abzuwiegeln, langt der widerhaarige Hannoveraner seinen Regenschirm aus der dampfenden Paletotverschanzung. »Wissen Sie, was dieser Entoutcas gekostet hat, meine Herren?«

»Zwanzig – dreißig – vierzig Mark.«

Der Frager schüttelt wehmütig den Kopf, was er nicht nötig hat, denn er ist ein Mann von Privatvermögen und spohntrockenem Witz. »Zehntausend Mark,« erklärt er endlich.

»Aber das ist ja unmöglich!« ruft der Chorus.

»Bis vor einem Monat dachte ich das auch – da krachte nämlich erst der Riesenbazar, dem ich zehntausend Mark anvertraut hatte, und dieser Schirm allein blieb mir als teure Erinnerung . . . Gebrochen ist die Seide auch schon . . . Vor Geldanlagen besehe ich mir stets erst diesen Schirm.«

Darauf trinkt der Doppeldoktor dem Pfiffikus zu. »Vielleicht ein Kohlenstaubkasten gefällig, Herr Premier? Sie bedürfen unbedingt eines Pendants zu Ihrem Regenschirm. Das Heizungsmaterial können Sie auch bei uns bekommen – es heizt sich nämlich mit nichts nachhaltiger als mit den Anteilscheinen unsrer Gesellschaft.«

Der Stammtisch will sich ausschütten vor Lachen. Jedoch Bomulunder bemerkt spitz: »Lassen Sie die Rederei, Leßmann! Unsre Sache ist prima – nur einen Fehler hat sie . . .«

»Daß Le Fort alle Entscheidungen in der Hand hat, lieber Freund.«

»Da Sie's wissen, brauchen Sie's ja nicht laut zu sagen, Leßmann.«

»Ehrlich währt am längsten,« rollt der Doktor.

120 Der Husar zuckt die Achseln.

»Was haben Sie gegen den Le Fort einzuwenden, Bomulunder?«

Darauf wird Schwerhörigkeit markiert.

»Etwa die Töchter?«

»Leßmann, ich bitte, menagieren Sie sich!«

»Also die mit den grünen Augen wär's demnach?«

»Herr . . .«

»Na, dann wird's die mit den blauen Augen gewesen sein . . .«

»Herr Doktor!«

Leßmann lächelt befriedigt. »Schießen Sie mich nicht ab, lieber Freund! Angst habe ich nämlich vor niemand, ausgenommen meinen Schneider. Im übrigen, Le Fort bleibt!«

»Nein, Herr Le Fort bleibt nicht!«

»Na, dann bin ich höllisch neugierig, Bomulunder, wie Sie dem Oberschlauberger das Genick abdrehen wollen.«

»Wir werden ja sehen.«

Diese Auseinandersetzung teilt sofort den Tisch in zwei Parteien. Die einen wollen sich amüsieren, die andern wollen geschäfteln. Mir ist die Kohlenstaubverbrennung dunkler als je. Der Entrepreneur und der Hauptaktionär liegen in Rivalität oder in Feindschaft; die Wolfspranke hält das Patent fest, das ihm die Fuchsschnauze gern entreißen möchte. Vielleicht sind auch die beiden »Ehrentiere«, wie sie der Doppeldoktor bezeichnet, die einzigen, die von dem Wert oder Unwert der Sache etwas verstehen. Es kann ein interessanter Kampf werden . . . aber ich bin nun einmal der Millionenhatz gegenüber kühl. Mir ist sie wenig mehr als ein Symptom des wirtschaftlichen Lebens. Alle wollen riesig gewinnen wie bei der Lotterie, und schließlich kann's doch nur einer. Le Fort hat seiner Meute den verführerischen 121 Fleischfetzen gezeigt, den er nicht allein verschlingen kann – jetzt springt's und belfert's ohrenzerreißend um den Piqueur. Ob die spitze Bomulunderschnauze das Stück nicht doch zuletzt erwischt?

. . . Ich höre wieder wie in Machnow überall das gedämpfte Millionengewisper, sehe, wie die brennende Habsucht, das entnervende Mißtrauen ein merkwürdiges Muskelspiel auf den interessierten Gesichtern treiben. Das Gewisper ist mir gleichgültig; nur die Zusammensetzung der Interessierten ist mir interessant.

Der Schnapsbaron allein schweigt. Er wittert den Feind seiner Liebe und seines Geschäfts und möchte mir darum sehr gern irgend einen Fehdehandschuh hinwerfen. Wenn man aber so dringende eigne Angelegenheiten hat wie ich, kann nicht doch noch verlangt werden, daß man sich mit Kohlenstaub beschmutze.

Der »große Unbekannte« hat's allerdings nicht eilig. Erst als die müden Boxer abgezogen sind und die Kohlenstaubbrenner ihre Millionenhoffnungen in andre Kneipen getragen haben, erscheint er an dem einsamen Stammtisch, wo nur noch der graubärtige Hauptmann nach verirrten Zigarrenspitzen sucht.

»Verzeihung, Herr Graf! Ich konnte nicht eher, ich war bis jetzt bei einer aufrührerischen Aktionärversammlung, die alle Aufsichtsräte stürzen wollte.«

»Die Kohlenstaubbrenner waren natürlich hier? Man riecht's . . . Uebrigens nette Brüder! – Und nun zu uns, Herr Graf! Ich muß vorausschicken, daß ich erst ganz kurze Zeit Anwalt bin. Junger Anwalt in Berlin heißt Hungerleider auf ewige Zeiten, und ich bin keineswegs wohlhabend. Also muß ich um jeden Preis einen großen Anfängererfolg haben. Den versprech' ich mir von Ihrem Fall, der mich juristisch und geschäftlich gleich interessiert. Die 122 Akten des Prozesses sind mir beim Landgericht II als Dezernenten früher durch die Finger gegangen. Ich kann mich täuschen, aber so geschickt und juristisch scharfsinnig Ihr Rechtsbeistand die Sache angefaßt hat – meiner Ansicht nach hat er sie falsch angefaßt. Denn das mit dem entschuldbaren Leichtsinn, den notwendigen Riesenausgaben Ihrer Carriere und der selbstverständlichen Verschwendung eines jungen Diplomaten im Ausland glaubt Ihnen ja kein Mensch – am wenigsten ein Richterkollegium, dessen höchstbesoldeter Judex keine zehntausend Mark jährlich hat. Die finden das Testament Ihrer Tante nur zu begreiflich! Ob Sie nun das Kodizill mit Recht oder Unrecht einen Verschwender nennt ist meiner Ansicht nach nebensächlich, und den Makel nimmt Ihnen auch keine Rechtsverdrehung. Aber daß Ihre Tante mindestens schon kurz vor Umstoßung des ersten Testaments nicht mehr die unbedingte geistige Dispositionsfähigkeit besaß, um ein zweites rechtsgültig zu machen, das muß nachgewiesen werden. Sollte das so schwer sein? . . . Die Dame besaß einen Kanarienvogel, den nach ihrem Ableben zu pflegen eine Stiftung übernehmen sollte, die damit zugleich Erbin würde. Dieser Passus ist zum Totlachen, aber da er nicht unmoralisch ist, ist er auch nicht nichtig. Anfechtbar ist er jedenfalls. Bei Testament II fällt er freilich weg. Jedoch als Beweis für die niedergehenden Geisteskapacitäten Ihrer Tante bleibt er bestehen – wenigstens für uns. Wer einen Kanarienvogel zum Quasi-Erben eines Zwei-Millionen-Vermögens einsetzen konnte, ist geistig wohl kaum intakt, sintemalen ein Blutsverwandter existierte, der doch ein gewisses Anrecht auf die Erbschaft besaß. Kanarienvögel sind für unsre Begriffe nur ein Spielzeug, leben höchstens sieben Jahre, und wenn man zur Unterhaltung eines solchen 123 Vertreters tausend Thaler aussetzt, so thut altjungferliche Verrücktheit schon etwas Ungeheuerliches. Bis zu solcher Summe geht noch gerade aufopfernde Zärtlichkeit; darüber hinaus beginnt der gelinde Blödsinn. Item müssen bei Testament II die Geisteskräfte nicht als gestiegen, sondern als noch stärker fallend angenommen werden. Die Rechtssache ist, wie Sie sehen, an sich sehr appetitreizend, und noch mehr, weil bei solchen Vermögensobjekten ein sehr rundes Sümmchen für den Anwalt herausspringt. Aus beiden Gründen habe ich den Prozeß verfolgt und mich über den haarspaltenden Scharfsinn meines Kollegen geärgert und gefreut zugleich. Der Scharfsinn war an falscher Stelle angewendet. In die höhere Instanz zu gehen, wird Ihnen Dr. Eliassohn nicht raten, wie ich genau weiß. Ich hätte Sie nun schon auf der Festung aufgesucht, Herr Graf, da spielte mir der Zufall gerade meinen ostpreußischen Freund Jaromir in die Hände, von dem ich eigentlich glaubte, er schleppe jetzt Baumwollsäcke in New Orleans. Er nahm meinen Gedanken sofort mit der ihm eignen Riesenbegeisterung auf und gab mir Details über Sie. Weiter hab' ich mich dann, ohne Ihre Einwilligung abzuwarten, mit dem Hausarzt in Verbindung gesetzt. Der Mann ist hochbetagt und keine wissenschaftliche Größe, aber er ließ sich doch tropfenweise auspressen, wenigstens genug, um meinen Argwohn zu stärken. Gräfin Carén litt danach in letzter Zeit an Gedächtnisschwäche, Lethargie – und an einer unseligen Abneigung gegen ihren Neffen. Obgleich der Medizinalrat ein Vorsichtskommissarius erster Klasse ist, liebt er doch zu sehr alten Burgunder. Bei einer Flasche des letzteren habe ich ihn ausgeholt. Ihre Tante ist an Gehirnschlag gestorben – Krankheitsgeschichte: ein geheimnisvolles Achselzucken. Bei Flasche 3 wurde 124 es mir ungefähr klar, daß die Dame unverbesserliche Morphinistin gewesen sein muß und auch daran gestorben ist. Natürlich eine Riesengeheimnisthuerei. Um Gottes willen nur nicht diese Thatsache publik werden lassen! Der hohe Adel würde sonst in corpore dem Medizinalrat die Augen auskratzen wegen einer etwaigen Indiskretion. Darum habe ich natürlich Todesschweigen schwören müssen. Den Schwur zu halten, fällt mir nicht ein. Wenn ich Ihnen die Millionen retten kann und mir einen Aufsehen erregenden Prozeß, so kommt die Diskretion erst in zweiter Linie. – Ihnen ist das Geld doch auch lieber? – Uebertragen Sie mir die Sache, so will ich schon obsiegen. Der Medizinalrat muß als Sachverständiger Farbe bekennen. Thut er das nicht, so graben wir die Tante eventuell aus. Spuren von Morphium werden sich nachweisen lassen, und die notwendige Unzurechnungsfähigkeit werden wir schon aus den Aussagen des Arztes und der Dienstboten herausquetschen. Sind Sie einverstanden, Herr Graf?«

Natürlich bin ich einverstanden! Der Ertrinkende klammert sich an einen Strohhalm, und dieser Strohhalm scheint mir ein ganz solider Balken zu sein. Nur zu dem Ausgraben bin ich noch nicht ganz desperat genug. Das wirbelt zu viel Staub auf und stellt meine Neffengefühle in ein eigentümliches Licht. Im übrigen mag mein Rechtsfreund mit dem Leumund meiner Tante verfahren, wie es ihm beliebt. Ueber den Herrn selbst enthalte ich mich vorläufig noch des Urteils. Er ist Ende Dreißig, nicht unangenehm gewandt und hat ein hübsches christliches Gesicht trotz der gebogenen Nase. Aber Anwälten traue ich nun einmal grundsätzlich nicht – entweder sind sie geniale Gauner, oder sie taugen nichts.

Jaromirs Augen funkeln vor Vergnügen über 125 den neuen Freundschaftsbund, und der gute Mensch trinkt einen ganzen Schoppen von dem furchtbar kalten Bier auf mein Wohl. Ich will schon eine Flasche Pommery bestellen, um anständig und mit Maßen nachkommen zu können. Ich lasse es jedoch. Es erscheint mir protzenhaft und nicht zeitgemäß. Klüger hat mich die Festung vielleicht gemacht – ob auch besser? . . .

Der Herbergsvater hat sich wieder herangebirscht. Mein Rechtsfreund läßt sich, hungrig und abgearbeitet, wie er ist, sein Filetbeefsteak schmecken, und der Bratengeruch kribbelt sofort angenehm in der Wirtsnase. »Nicht wahr, Herr Doktor, wundervolles Fleisch? Daß man so was verkaufen muß!« Das ist aber nur die Einleitung zu einer längeren Rede. Wenn der Doktor auch nicht zustimmend genickt hätte, des Hauses Patron würde sich doch stöhnend über den glänzenden Schädel gestrichen haben. »Mir wird's nächstens zu viel. Sie glauben gar nicht, meine Herren, wie unsereiner in Anspruch genommen wird! Heute morgen mußte ich bei meinem Freund Adler Weine probieren – man hat nun mal die untrügliche Zunge. Zu Mittag waren die Herren vom Zivilkabinett bei mir. Die Diners schmecken ihnen nirgendwo anders. Es sind alles alte Freunde von meiner Wenigkeit . . . Die Herren haben auch von Ihnen gesprochen, Herr Graf . . .« Der frühere Weißbierbutiker bewegt sich dabei mit der sicheren Würde eines Ministerialdirektors, der mit Lukanus Heidelberger Vandale war und jetzt den hochbeglückten Kabinettschef von Zeit zu Zeit zu etwas Exquisitem einladet. Jaromir hat sich bei den Renommistereien wie ein Stacheligel zusammengerollt und schielt feindselig auf den kurzbeinigen Würdenträger in der blendend weißen Weste. Thuerei ist meinem schwarzen Selfmademan gründlich verhaßt, was aber den 126 Herbergsvater nicht geniert. Der taxiert seine Gäste wie ein Kapitalist und kennt die Rangliste wie der jüngste Lieutenant. Die Auszählung seiner illustren Bekannten ist noch keineswegs zu Ende . . . »Nachmittags war ich mit ein paar Stabsärzten im Grunewald – es sind wirklich Leute dabei, mit denen ich gerne umgehe. Hundshausen, Herr Doktor, ist wie Sie wohl schon wissen werden, zu den Kürassieren versetzt – es thut einem immer leid, wenn man so einen guten Bekannten verliert. Ich stehe auch mit den meisten in reger Korrespondenz. Da schrieb mir zum Beispiel eben der General von X . . .« Wie er die längst bereit gehaltene Korrespondenzkarte mit großer Umständlichkeit aus dem Portefeuille herausschält, schwillt sichtbar die weiße Weste . . . »Sehen Sie: ›Mein lieber Herr Schulz . . .‹« Den Rest des Schreibens erspart er uns klüglich. Die Excellenz dürfte wohl ein Gebinde Bier bestellt haben. Dazu ist dieser gewiegte Weltmann von Wirt auch noch innerlich Kosmopolit. »Solche Herren wie der General sind mir natürlich die angenehmsten Gäste; aber auch die andern . . . zum Beispiel die Herren von der Kohlenstaubverbrennungs-Gesellschaft gar nicht übel . . .« Er plustert sich dabei auf wie ein Hamster, und der ganze geschwollene Kerl ist Wohlwollen. »Ich meine speziell Bomulunder. Der Großvater hatte allerdings eine Destillation – aber sehr anständiges Geschäft, mit dem ich auch in Verbindung stand. Der junge Herr Bomulunder ist Offizier – Husar – und wirklich ein feiner Mann. Ist er nicht auch ein guter Freund von Ihnen, Herr Graf? . . .« Ehe er weiter sprechen kann, preßt er Luft durch die Nasenlöcher, die hauptsächlich als Hochmutsventile benutzt zu werden scheinen. »Bomulunder hat ganz gehörige Millionen und ist bei der Unternehmung eigentlich der Macher, während 127 der sogenannte Le Fort nichts weiter als ein Strohmann ist. Ich bin leider sehr genau orientiert . . .«

Jaromir richtet sich auf. »Wieso leider orientiert?«

Der spitze Ton schüchtert den Intimus des Zivilkabinetts keineswegs ein. »Ich könnte Ihnen noch mehr sagen! So ist zum Beispiel die jüngste Tochter in dem Haus sehr um Herrn Lieutenant Bomulunder bemüht gewesen – soll ja auch ein anständiges und hübsches Mädchen sein. Aber es wäre doch nicht ganz die pekuniäre Sphäre, so daß Lieutenant Bomulunder im letzten Augenblick abschnappte. Das arme Mädchen mußte auf Reisen geschickt werden, weil sie sich die Sache sehr zu Herzen nahm . . .«

Jaromir ist dunkelrot. »Bestellen Sie dem Kerl, der Ihnen das alles erzählt hat, er wäre ein ganz gemeiner Lügner, und nennen Sie ihm, bitte, meinen Namen!«

»Herr von Jaromir, ich muß doch entschieden bitten, meine Worte nicht in Zweifel zu ziehen!« Die weiße Weste ist am Zerspringen, und die Hochmutsventile arbeiten in langen Stößen.

Damit ist er aber bei Freund Jaromir an den verflucht Falschen gekommen. »Was – was? – bitten? Ich ziehe übrigens nicht Ihre Worte in Zweifel, sondern die Ihres Gewährsmanns. Dazu muß ich Ihnen allerdings bemerken, daß man sich schwer hüten soll, jeden Unsinn nachzusprechen, wenn man nicht seiner Sache todsicher ist.«

»Herr von Jaromir – mir das in meinem Lokal?«

»Jawohl, in Ihrem Lokal! Ich bezahle mein Bier und mein Essen – und damit holla!«

»Meine Herren, Sie haben alle gehört, daß eine harmlose Bemerkung in einer Weise . . .«

»Harmlos?« grollt Jaromir, »na, hören Sie 128 mal! Meine Herren, was denken Sie von der Sache?«

Der Rechtsanwalt, der ruhigen Gemütes ist, winkt besänftigend mit der Gabel. »Rege dich nicht unnötig auf, Fritz! Mir sind Skandale in solchen Kneipen nicht das angenehmste, aber trotz der weißen Weste und des Zivilkabinetts kann ich nur sagen: ›Sie haben vollkommen recht, Jaromir.‹ Prosit!«

Darauf ist der Herbergsvater bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele beleidigt. »Also Sie nehmen auch gegen mich Partei, Herr Graf? Ich sehe ein, daß ich etwas vorschnell geurteilt habe. Ich bitte um Verzeihung, meine Herren . . .« Und er tritt mit einer großartigen Verbeugung ab.

Jaromirs Rachedurst ist damit keineswegs zufrieden. Zuerst verlangt er, wir sollten ruhig zusehen, daß er sich mit dem dicken Wirt mitten im Lokal balge, dann beruhige ich ihn mühsam zu einem tausendjährigen Boykott, von allen anständigen Menschen über diesen Bierpalast verhängt, aber erst der kühle Menschenverstand meines Anwalts bringt den Empörten ganz zur Raison. »Lieber Fritz, friß ihn nicht lebendig! . . . Wanderst du dem Kerl zulieb in die Kneipe, oder weil du Bekannte treffen willst? Die andern gehen doch von ihrem Fünfzehnpfennigbier nicht ab, und dann kannst du anderswo alleine hocken. Was scheren dich im übrigen die Kohlenstaubbrenner? . . . Und so ganz ohne ist die Rederei auch nicht. In der Patentgeschichte sieht kein Mensch klar; dazu ist Le Fort ein zu gerissener Geschäftsmann – aber so viel steht fest, daß die Sache einen Haken hat, und daß Bomulunder den kennt. An dem Haken will er jetzt à tout prix den Engländer aufhängen. Und er hängt ihn auf, – denk an mich! Denn was auch von Le Fortschem Vermögen gefaselt 129 wird, in der Patentsache hat Bomulunder die Musikanten und nicht Le Fort. Sonst weiß ich nichts, obgleich ich der Anwalt dieser Kohlenstaubbrenner bin. Wenn's einen Krach in der Händelstraße giebt, mich wundert's nicht. Wer, wie dein Mann, überall seine Hände drin hat, in London mit Minenaktien fixt, in Paris mit Spaniern, und wer weiß, wo nicht noch – der verbrennt sich mal alle zehn Finger gründlich. Der Kerl geht eines Sonntags noch mit diversen Millionen zu Bett und steht Montags mit weniger als nichts auf.«

Diese Möglichkeit behagt offenbar Jaromir. »Mag er pleite gehen, das geht mich nichts an!«

»Na, weswegen regst du dich denn auf?«

»Ueber ganz was andres!«

»Und das wäre?«

»Nichts, gar nichts.«

Damit endigt's. Jaromir will seine Liebesgefühle durchaus nicht preisgeben.

Wir müssen, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, wohl noch sehr lange in dem Lokale gesessen haben, denn als wir uns endlich trollten, klapperte die Büffettdame bereits geschäftig mit den Blechmarken, und die Kellner bauten Stuhlburgen auf den Tischen. Die weiße Weste saß in einer Ecke und schlief.

Das ist nun der erste Tag in der jungen Freiheit! Mein Leben, das im äußersten Westen begonnen, fängt an, sich allmählich nach dem Osten hinüberzuspielen. Ob ich noch ganz tief hineinkomme in dies Getümmel der rußigen Arbeitsbataillone und des unverhüllten Daseinskampfes? Es kann wohl sein. Und der Gedanke jagt mir nicht mehr den aristokratischen Schauder über den Leib. Jetzt, wo ich dem Nichts gegenüberstehe, fühle ich mich thatsächlich stärker, ruhiger. Es ist nicht sowohl der 130 Reiz des Ungewissen, die nervenstraffende Aufregung eines gewagten Spieles – es ist vielmehr der Wunsch, auch mal die Tiefen zu messen. nachdem man die Höhen erfolglos durchforscht hat. Es ist das erwachende Kräftegefühl, dessen ich mich freue, der Wunsch nach einem großen Kampfe Mann gegen Mann, in dem sich zeigen soll, ob der Adel Kraft bedeutet oder Schwäche. 131

 


 


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