Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Sechstes Kapitel.

Und warum kommen Sie eigentlich gar nicht mehr, Graf Carén?« – Madame Le Fort fragt das. Wir sitzen zusammen im Salon meiner Tante. Der »Gelbe« hüpft schwerfällig in seinem Messingbauer. Die Schildkröte hat uns auf fünf Minuten allein gelassen. Sie weiß Lola in guter Hut gegen meine Mordgelüste. Im Augenblick denke ich gar nicht mal an die Bestie.

Ich habe meinem Wucherer zehntausend Mark 'rausgepreßt gegen einen »Dreimonatlichen«. Auf dem Accept stehen freilich zwanzig Mille – also hundert Prozent Aufschlag, die Wechselzinsen abgerechnet. Das ist aber noch ein ganz gelindes Anziehen der Schraube in meiner fast verzweifelten Lage. Ich hätte lieber »dreißigtausend« quer geschrieben, um ein sorgenloses Jahr vor mir zu haben. Aber auf längere Frist waren die zehntausend auch nicht mal für den vierfachen Betrag zu haben. Der Schuft weiß genau, daß bei den unzähligen weiteren Prolongationen viel mehr 'rauszupumpen ist. – Na, denn man tau! Endlich wird das alte Ungeheuer doch sterben. Und jetzt liebäugle ich auch wieder feindlich mit der gelben Bestie im Käfig.

Madame versteht in meiner Seele zu lesen und 129 droht mit dem Finger: »Seien Sie vorsichtig, Herr Graf.«

Ich lachte etwas unnatürlich. »Ich denke aber an gar keinen Mord, gnädige Frau!«

Madame glaubt mir. Wenigstens thut sie so. Weit wichtiger scheint ihr, daß ich seit vierzehn Tagen die Villa in der Händelstraße meide. Meine gewundenen Entschuldigungen dieserhalb hört sie nur halb.

»Sie sprechen von moralischem Katzenjammer, beginnender Melancholie, Herr Graf? Das sagt gar nichts! Einsamkeit ist für Sie Gift. Wenn Sie solche Neigungen haben, hätten Sie Ihr väterliches Gut übernehmen sollen.«

»Man ändert sich eben, gnädige Frau.«

»Nein, man ändert sich nicht, Herr Graf! Ich sehe nicht ein, warum man bis zu seinem achtundzwanzigsten Jahre die große Welt für seinen Turnierplatz hielt – und mit dem neunundzwanzigsten plötzlich darauf verzichtet.« Gnädige Frau spricht leise, jetzt haucht sie nur noch: »Sie nehmen mir die Freiheit nicht übel! . . . Sie sprechen von derangierten Verhältnissen – das ist kein Grund! Wie lange glauben Sie, daß dieser gelbe Vogel noch leben kann? – Mir sieht er sehr asthmatisch aus.«

»Ewig, gnädige Frau,« gebe ich resigniert zurück.

»Nun, jede Naturgeschichte müßte Sie eines Bessern belehren . . .« Und dann fügt sie mit bezaubernd kühler Liebenswürdigkeit hinzu: »Gut – verschmähen Sie die Welt, doch verschmähen Sie nicht uns! Ich habe nun einmal ein Faible für Sie – ich stehe damit bei uns keineswegs allein: Ethels Schwäche für Sie ist vielleicht noch größer. Sie lamentiert den ganzen Tag, daß Sie nicht kommen. Sie ist eben ein großes Kind.«

130 Soll das ein plumper Köder für meine Gräflichkeit sein – oder ist das Weib so unheimlich klug, um zu wissen, daß ich thatsächlich für Ethel nicht schwärme, daß aller Jugendreiz, alle Herzensgüte dieses holden Wesens doch für mich verloren ist? Von Asta schweigt Madame. Aber gerade darum zwickt es mich ordentlich, ganz leicht ironisch zu fragen: »Fräulein Asta Le Fort befindet sich wohl?«

Madame wird kühl, spricht wieder laut: »So wohl, wie man sich mit neunzehn Jahren überhaupt fühlen kann . . .« Diese Art Gesundheit interessiert mich nicht. Madame, Sie sind schlau, so jesuitisch schlau! – Warum machen Sie eine lange Pause und erwähnen dann als etwas ganz Nebensächliches: »Ihr Freund Graf Serner kommt oft. Ich glaube, nur aus Geschäftsinteresse. Er wird wohl aus seinem Gelde noch mehr heraushaben wollen. Das ist der Zug der Zeit.« Ist er das wirklich? Sind das deine ganzen Gedanken, gnädige Frau? Dein Gesicht ist völlig undurchdringlich – eigentlich ist es so durchsichtig wie die Atmosphäre, von der man auch weiß, daß Milliarden kleiner Körper sie füllen – man sieht nur leider von diesen Milliarden nichts. Aber Louis Carén ist kein Narr. Er sieht, wenn du es wünschest, durch alle die Häusermauern, die uns von der Händelstraße hier trennen. Graf Serner verkehrt bei euch täglich und nur wegen eurer Tochter Asta. Ihr wißt das so gut wie ich. Aber das frühreife Karlchen beißt noch nicht an – und es soll anbeißen! Zu diesem Zwecke wollt ihr mich ihm als Pacemacher ins Rennen geben. – Graf Serner – Graf Carén: wir sind denn doch von sehr verschiedenen Vollblütern gefallen. Der Serner mag's halten, wie er will, das Rennen aber, das ich reite, das will ich führen vom Start bis zum Ziele, und keiner darf mir vor die Eisen. 131 Freilich, der Preis muß auch danach sein – und der Preis ist nicht danach!

Des weiteren überhebt uns die Tante. Sie ist erträglich gegen mich. Daß ich bei Le Forts Besuch gemacht habe, hält sie für ihr Werk und den ersten Schritt zu meiner Besserung. Madame muß ihr das mit diplomatischer Feinheit beigebracht haben, und deshalb war sie auch nicht zu Hause, als ihr die Schildkröte neulich Gegenbesuch machte. Sie wird nie für die Schildkröte zu Hause sein – oder nur ganz allein! Und da verstehe ich wieder die zarte Neigung der Gnädigen für mich nicht. Etwas hat sie für mich übrig. Aber warum hat sie das?

Die beiden Damen beginnen sich sofort von der gelben Bestie zu unterhalten. Bei der Schildkröte ist es Manie, genau dieselbe gräßlich detaillierte Hingabe wie bei Müttern an die Kinder. Wenn zwei ausgezeichnete Mütter zusammen sind, dann regnet's gleich Brei-Umschläge und Keuchhustenrezepte, und meine Nase wittert die furchtbarsten Kinderstubendüfte. Madame unterhält sich mit einer Sachkenntnis, die mich verblüfft; sie muß Brehm und Ruß und alle Vogelfreunde studiert haben. – Oder sollte sie wirklich selbst einen heimlichen, unerlaubten Vogel besitzen?

Dabei habe ich schrecklich Langeweile. Es ist überhaupt ein so schrecklich langweiliger Salon. Das ist alles uraltes Mahagoni, in heimtückischem Schwarzbraun schimmernd. Auf den Schränken, in den kleinen, häßlichen Gittergalerien unmögliche Schäferinnen aus Porzellan. Ganz stiere dito Hennen auf braunen Nestern, ein kopfwackelnder Chinese, dem beide Hände angeleimt sind – und Glastellerchen, bunte Badegläser mit Ansichten – was weiß ich. Auf dem Schreibtische mit den geschmacklos geschweiften Schwindsuchtsbeinen ein wahres 132 Sodom von Kindheitserinnerungen in Nippes und als Krone ein richtiger Gänsekiel – man denke, im Jahre des Heils achtzehnhundertundneunzig! Und zwischen diesen Raritäten schlurft die Alte schon ein halbes Jahrhundert herum. Am Schreibtische schneidet sie mit zitternder Hand Coupons, dann entlockt sie dem plumpen Klimperkasten dünne Jugendlieder. Hat sie davon genug, nickt sie liebevoll den verblaßten Familienbildern zu, den Caréns, die sich steif und würdevoll über dem steifen Sofa breitmachen. Das ganze erlauchte Geschlecht vom Urgroßvater her ist hier vollzählig versammelt, nur meine Mutter fehlt und ich. Die Gute war schön, katholisch – und weil ich darum auch katholisch erzogen wurde, ist das der Tante eine Empfehlung weniger für mich. Ich gönne auch der Alten die allabendliche Unterhaltung mit ihren evangelischen Erbauungsschriften, während Lola im verhängten Bauer neben ihr schlummert. Zum Glück hängt gerade das Bücherbrett, von dem Zschokkes »Stunden der Andacht« schimmern, schief, und ich nütze die Thatsache sofort gegen die Ordnungsliebe des Dicken aus. Ist die Frömmigkeit solch alter Menschen echt, oder ist sie nur eine leere Gewohnheit, wie wenn ich das Kreuz schlage? Das eine jedenfalls weiß ich: wenn die Schildkröte kopfwackelnd und gottergeben sich auf ihren Himmel vorbereitet, so würde die sanft nickende Bewegung sofort in ein energisches Schütteln übergehen, wenn ein Bettler von ihr zehn Pfennig verlangte.

Das ist nicht etwa Verleumdung meinerseits – nein, es ist die Natur meiner Tante! Wenn ich sie nicht zu genau kennte, würde ich heute irre an ihr werden, denn die Schildkröte ist von einer Honigsüße, einem Charme, daß Madame es längst aufgegeben hat, auch nur eine Sekunde nicht zu lächeln. 133 Es ist die Maske des Lächelns, und so seelenlos-gleichgültig, daß mir graut! Ja, mir graut! – Was will diese Frau hier? Sie hält bei dem blödsinnigen Gespräche schon drei Stunden aus; ich bin kaum eine halbe da, und der Gähnkrampf tötet mich fast.

»Ja, gnädige Frau, wenn man sich in das Seelenleben dieser lieben Geschöpfe vertieft – was sieht man da nicht alles! Ich versichere Sie, bei meinen furchtbaren gichtischen Schmerzen genügt ein einziger Blick auf Lola – und ich bin nicht mehr alt, allein, unglücklich.« – Seelenleben, Schildkröte? Ebensogut könntest du von deinem eignen Seelenleben sprechen!

Aber Madame versteht. »Ganz gewiß, gnädigste Gräfin, ganz gewiß! Das kann ich Ihnen so nachfühlen . . .«

»Doch wie selten sind solche Seelen wie Sie, Madame Le Fort!« flötet die Tante. »Und das ist um so wunderbarer, weil Sie selbst zwei reizende Töchter haben. Ich habe immer bei Müttern einen kleinlichen Egoismus gefunden – auch die Mutter meines Neffen . . . Sie war eine Lasis-Taetz . . .« Diesen Zwischensatz kann sich die Schildkröte nicht verkneifen, da sie bei aller Vogelliebhaberei von einem wahnsinnigen Adelsstolze ist. Sie haßte meine Mutter, sie haßt mich – Aber eine Lasis, eine echte Lasis, das beste blaue Blut ohne Fürstenkrone, das vielleicht existiert . . . das muß ja Madame Le Fort erhöhte Achtung vor dem gräflich Carénschen Namen einflößen, mit dem selbst solche Geschlechter sich mischten!

Und Madame hat Achtung, sieht mich freundlich an: »Das haben Sie mir noch gar nicht gesagt, Herr Graf.«

Die Schildkröte fühlt, daß sie, statt Stimmung 134 für Comtesse Jeannette Carén zu machen, Stimmung für den leichtfertigen Neffen gemacht hat, und verabfolgt mir dieserhalb: »Nun – nun . . . deine Mutter hatte auch ihre Fehler . . . ihre großen Fehler. Louis, du kannst nicht leugnen . . .« – Louis leugnet gar nichts. Louis ist ganz feige – »denn diese Art der Verschwendung, die stammt von den Lasis und nicht von den Caréns, lieber Neffe . . .«

»Na, na, Tantchen! Der Großvater war doch ein Lebemann, wie's nur je einen gegeben hat.«

»Louis, du sprichst da Dinge, die du nie verantworten kannst.«

»Ich erzähle nur, was Papa mir ein halbhundert Mal erzählt hat. Denke doch an die Pariser Jeugeschichte . . .«

Die Tante plustert sich hoheitsvoll auf und ist dadurch Lola so ähnlich, wie eine Schildkröte einem Kanarienvogel überhaupt ähnlich sein kann. Ich werde also ganz links liegen gelassen . . . »Es ist schwül, gnädige Frau,« sagt die Tante.

»O, wir waren lange in Indien, Frau Gräfin.« Die »Frau Gräfin«, das ist das Schmerzenspflaster! Die Schildkröte sucht mit ihren wässerigen Augen die ganzen Tapeten ab. Ich glaube, auf ihre alten Tage bildet sie sich wirklich ein, daß sie auch einen Mann unbeschreiblich glücklich gemacht hat und jetzt den Geist ihres Seligen an den häßlichen Schweizer Tüllgardinen entlang schweben sieht. Endlich bietet Lola einen Ruhepunkt für die irrenden Augen. »Lola – Liebling, du bist müde?« Der Gelbe, der sich anfangs durch heftiges Hüpfen zustimmend an der Debatte beteiligt hatte, sitzt jetzt vollständig unbeweglich auf seiner Stange. »Lola, willst du schlafen?« Und mit mütterlichen Gefühlen erhebt sich die Schildkröte, um für den Käfig ein seidenes Tuch zu holen.

135 Ich weiß. daß Lola ein Tyrann ist, der zuweilen durch fortgesetztes Piepsen Wahnvorstellungen in der Seele meiner Tante erzeugt. In solchen Augenblicken kann sie springen wie ein Wiesel. »Lola, willst du frisches Wasser?« Lola hüpft auf seiner Stange wild zurück, bis er die Käfigstäbe berührt und nicht weiter kann. Lola sperrt den Schnabel auf. Die Tante ist entzückt: »Ah, Lola will frisches Futter . . . Wie klug das Tierchen ist!« Aber kaum kommt die liebevolle Pflegerin mit dem übervollen Näpfchen näher, da beginnt Lola zu flattern, piepst empört auf. »Lola, mein Liebling, was ist dir? – Karl! . . . Anna!« Der Hofstaat versammelt sich. Bedauernde Gesten, besänftigendes: »Sei doch gut, Lolachen!« Lola wird davon ganz nervös – hüpft wie eine hysterische Jungfrau . . . Der Dicke, der wohl nach seinen Kaffeeschnäpsen immer ein Stündchen nickt, kommt endlich auf den genialen Gedanken, daß Lola wahrscheinlich zu schlafen wünscht. Das gelbseidene Tuch naht. Lola wird ruhiger, piepst noch einmal befriedigt auf – und dann ist er für zwei Stunden nicht zu sprechen. Solche Scenen sind in der Tiergartenvilla häufig, nur daß Lola stets andre Wünsche hat, und daß er sich offenbar daran vergnügt, die Fettfalten meiner Tante in qualvolle Zuckungen zu versetzen.

»Lola, komm!« sagt die Schildkröte jetzt schmeichelnd. Aber Lola sitzt so sonderbar ruhig auf seiner Stange mit noch halboffenen Augen, und die Pupillen sind so merkwürdig klein. »Lola!« flötet die Tante wieder, und da der Gelbe sich nicht rührt, tippt sie mit dem dicken Finger nach ihm. Jetzt kommt Leben in den bewegungslosen Körper, ein vibrierendes Leben, ein leichtes, krampfhaftes Zittern, das aber jede Feder bewegt. Das ist kein vorübergehender Anfall – das Zittern wird stärker, immer 136 stärker, die Augen haben einen unglücklich gequälten, fast menschlichen Ausdruck, während die Pupillen immer mehr zusammenzuschrumpfen scheinen.

»Lola ist doch müde!« beruhigt sich endlich die Tante, aber sie zögert dennoch mit dem Bedecken.

Madame und ich sind auch aufgestanden. umstehen das Bauer. Ich mit sehr geteilten Gefühlen, denn das gehaßte Tier leidet – das stumme Leiden habe ich nie gern gesehen. Madame steht neben mir – ich muß sie ansehen! – Noch schwebt das Lächeln der Maske um die Lippen, aber es ist so grausig öde, inhaltlos, und die Augen, die blauen, leeren Augen schimmern jetzt in einem harten Glanze. Madame ist gespannt, auch die Maske deckt das nicht. So mag ein Vivisektor seinen zuckenden Frosch ansehen, mit der mitleidlosen Schärfe, die nach dem Symptome sucht. Auch die Augen der Tante suchen angstvoll die der »Freundin«. Madame lächelt stärker – es soll eine Art Wehmut darin liegen, doch da ist die Grenze: wehmütig lächeln kann Madame Le Fort nicht!

»Es wird sich schon wieder geben, Frau Gräfin,« beruhigt sie, »es ist sicher etwas ganz Vorübergehendes.«

»Vielleicht, wenn ich einen Tierarzt holen ließe –« überlegt die Tante.

Ich bin auf dem Sprunge, für Lolas sanften Tod alles mögliche zu thun. Madame jedoch wünscht das nicht. »Wozu denn, Frau Gräfin? – Diese Leute haben keine Ahnung, töten Ihnen das Tierchen mit ihren Pferdekuren. Es wird ganz gewiß nichts Schlimmes sein.«

Das entscheidet. Ich aber werde von zwiefältigen Gefühlen gepeinigt, von denen das stärkere ist: Warum stirbt eigentlich die Bestie nicht?

Lola wird endgültig bedeckt. Ich mache einen 137 dummen Witz. Die Gnädige droht, die Schildkröte stöhnt.

»Aber, liebe Tante, du bist auch wegen des Vogels so furchtbar ängstlich.«

»Sprechen wir nicht davon, Louis – sprechen wir nicht davon!« . . . Und sie schiebt sich wehmütig in eine Sofaecke.

»Aber, meine gnädigste Gräfin, trösten Sie sich doch!« Madame übernahm so gründlich und überzeugend die Tröstung der Tante, daß diese bereits wieder meinen Leichtsinn diskutieren konnte: »Töchter sind ein Segen, gnädige Frau – aber Neffen . . .« Der zweite Teil des geistreichen Aperçus wird mir bei jedem Besuche präsentiert. Warum die Schildkröte so besorgt um mich thut, weiß ich nicht. Sie hat ja eine geheime Freude daran, daß ich leichtsinnig bin, daß sie mich durch einen zitterigen Namenszug zum Millionär oder zum Bettler machen kann. An die kleinen Bosheiten dachte ich in dem Augenblicke nicht. Mich interessierte der seidenverhangene Käfig. – Schläft da der satte, verzogene Tyrann? Oder kämpft er einen stummen Todeskampf? Dieser Vogel bedeutet für mich Millionen, dennoch wünsche ich ihm in diesem Augenblicke nicht mehr den Tod. Es ist weder Mitleid noch Großmut – es ist eine Art Scham, der männliche Widerwille gegen ein lächerliches Geschick. Von den Verdauungsstörungen eines Kanarienvogels gewissermaßen abzuhängen, das ist läppisch.

Dennoch sehe ich so gespannt auf das »verschleierte Bild«, horche scharf. Unter dem gelben Tuche geht etwas vor, das vielleicht allein . . .

Nein, ich bin ungerecht. Madame denkt gar nicht an den Vogel, sieht über das gelbe Bauer hinweg ohne Interesse, als wenn alles für sie nie existiert hätte. Und seltsam . . . gerade diese 138 Gleichgültigkeit, die nicht einmal mehr die Maske des Lächelns deckt, reizt mich, den Käfig anzustieren, zu lauschen auf jeden Laut, jede Bewegung. Aber es passiert nichts hinter jenem Vorhang . . . absolut nichts.

Diese Stille macht mich ganz nervös. Und auf einmal höre ich einen Laut, einen kaum hörbaren Fall . . . Ich würde es für ein Phantasiegeräusch gehalten haben, aber in Madames Augen zuckt es auf.

»Tante, die Lola hat sich eben gerührt . . .«

Die Schildkröte lächelt stolz, tastet sich mit ihren gichtischen Händen an der Tischplatte entlang zum Käfig. »Lola, mein Liebling,« – sie nimmt das Tuch weg – »Lola . . .«

Dann stößt sie einen schrillen Schrei aus. In einer Käfigecke liegt der Gelbe mit eingezogenen Krallen und offenem Schnabel. Lola ist tot.

Und jetzt wieder das kreischende: »Karl! – Anna!«

Der Hofstaat, der jedenfalls gerade gehorcht hat, reißt die Thür auf, stürzt herein. »Gnädigste Comtesse . . .« Die Schildkröte vermag nur noch mit den Händen zu zeigen. »Da – da!« mit der Pose einer Maria Stuart auf einem Kolportageband. Dann schwankt sie. Ehe ich zuspringen kann, hat sie der Hofstaat schon in seine Arme genommen.

»Gnädigste Comtesse müssen sich beruhigen.«

Ich fühle die feindlichen Blicke des Dicken und der Dünnen. Die Tante rollt die Augen wie eine Sterbende. Der tote Vogel thut mir leid, aber wenn die Schildkröte jetzt hinüberschwebte – das ist ein angenehmer Schauer.

Doch die Schildkröte schwebt nicht hinüber, sie wird nicht mal richtig ohnmächtig. Und ehe sie noch die halb gelähmte Zunge bewegen kann, tappt sie schon mit den Gichtfingern in die Luft – in meiner Richtung: »Er hat ihn gemordet . . . er!« Das 139 kann die Tante doch endlich hinter dem falschen Gebiß hervormurmeln.

»Aber ich habe das Tier ja gar nicht berührt, kaum angesehen.«

»Doch, doch – du bist es gewesen, Louis! Du hast ihn immer töten wollen.« Argwohn und Abneigung sind allmächtig. Und wenn eine göttliche Vernunft ihr klar bewiese, daß ein Mord unmöglich war, so würde sie doch stiernackig behaupten, meine ruchlosen Gedanken hätten den Liebling getötet. Es ist so dumm!

Der Hofstaat fühlt instinktiv, daß er energisch Partei nehmen muß. Sie sind nicht Bedienstete, sie sind ja Vertraute und hegen die Befürchtung, wenn der Sohn der Lasis-Taetz sich doch noch in das Herz der Schildkröte einschleichen könnte, so würde er eines Tages ihre Rechnung revidieren, den ganz kolossalen Schwindel aufdecken, der natürlich mit dem Haushaltungsgelde getrieben wird. Wenigstens in eisigem Schweigen, in vorwurfsvollen Blicken muß dem Grafen Carén gezeigt werden, daß sein Leumund belastet ist, und daß ihre Legate unwiderruflich sind.

Doch auch gräfliche Geduld hat ein Ende. Ich habe eine Vision von einer früheren Rekruteninstruktion und fahre auf den Dicken los. »Sehen Sie mich nicht so frech an, Kerl!« Der Dicke ist ein brutales Subjekt – er ist aber auch eine Dienstbotennatur und kuscht.

Und als ihm die Tante mit tragischen Handbewegungen zu Hilfe kommen will, da sage ich sehr bestimmt. »Was du mit mir zu sprechen hast, Tante, das habe die Güte, nicht in der Gegenwart dieser Leute zu thun.«

Auch sie ist eine Dienstbotennatur und kuscht.

Madame dagegen sieht mich lächelnd an, und 140 die schmalen Lippen kräuseln sich spöttisch. Sie hätte mir bei der unsinnigen Scene beispringen können – sie that's nicht. Drum ist's eine sehr kühle Verbeugung, mit der ich mich sofort verabschiede. Ich bin entschlossen, die Bude dieser blödsinnigen alten Jungfer nicht mehr zu betreten. Mag sie mit ihren Millionen zugleich verrecken! . . .

Und wie ich so durch den dröhnenden Korridor der Villa hinauswandle, liegt wieder der Geruch von Peau d'Espagne in der Luft. Ich beginne Peau d'Espagne zu hassen.

Dann werde ich nüchtern. Woher eigentlich dieser Wutexceß bei einem Menschen, der gar nicht zu Excessen neigt? Ich war nie tobsüchtig; ich bin von Jugend auf durch eine Schule gegangen, die kaltes Blut und lächelnde Selbstbeherrschung lehrt. Und trotzdem – was ich thue, Gutes oder Schlechtes, Dummes oder Kluges, es ist nie kalte Erwägung, die mich zum Handeln bringt – immer war's Impuls, innerliche Auflehnung gegen äußerlichen Zwang. Zum Diplomaten paßt diese Augenblickspolitik nicht. Und doch hat ein großer Meister unsrer Kunst mir einmal im Vertrauen gesagt. »Der Impuls gehört zu jedem Fach, nur muß man ihn zu zügeln wissen.« Ich kann ihn auch zügeln – aber immer fünf Minuten zu spät.

Der weise Harûn, der dieses schreibt, muß wohl ziemlich ziellos im Tiergartenviertel umhergeturnt sein, denn plötzlich hört er hinter sich eine liebenswürdige Frauenstimme: »Noch immer böse, Herr Graf?« Das ist die Dame mit der charakterlosen Linie. Die Liebenswürdigkeit in Person bin ich natürlich nicht. Madame übersieht das. »Wie kann man sich nur so unnötig aufregen, Herr Graf!«

»Ja, wie kann man!« gebe ich spitz zurück.

»Sie sind mir böse, daß ich Ihnen nicht zu 141 Hilfe gekommen bin. – Bedenken Sie doch! Was heute falsch gewesen wäre, ist morgen richtig. Erklärte ich kategorisch: ›Comtesse, das geht zu weit – man mordet schlechterdings keinen Kanarienvogel mit den Blicken . . .‹ Ihre Tante würde ich schon ruhig gekriegt haben, aber die Leute, unter deren Pantoffel sie steht, hätten eine Stunde später gewonnenes Spiel. ›Die hat gewiß mitgeholfen,‹ hieße es dann. – Ich und morden! Ich werde ohnmächtig, wenn ich meinen eignen Finger bluten sehe. So habe ich nichts gesagt, lasse das Gewitter austoben. Morgen komme ich zur Kondolenzvisite, und wie viel harmloser klingt's dann: ›Frau Gräfin waren gestern doch ein klein wenig ungerecht! Ihr Herr Neffe that mir leid . . .‹ Dann komme ich auf den toten Vogel zu sprechen. – Es thut mir auch leid, das Tierchen! – Ich werde nicht Ihr schlechtester Anwalt sein, Herr Graf, wenn ich erst von weiser Fügung des Schicksals spreche und sehr viel später von verzeihlichem Leichtsinn.«

Das ist wieder mal sehr diplomatisch gedacht. Aber heute ist diese Diplomatie nicht nach meinem Geschmack. »Und warum wollen Sie eigentlich mein Anwalt sein, gnädige Frau?« Das ist unhöflich, ein schlechter Dank für Madames Güte.

»Weil ich nicht möchte, Herr Graf, daß Sie zu Grunde gehen.« Das ist wiederum sehr gütig von Madame, nur daß ich diese Güte heute nicht verstehen will. Sollte sie mich wirklich für Ethel ködern wollen? Ein schwacher und ein starker Wille reiben sich hier, das merke ich, aber darin liegt auch der Schlüssel für meine Abneigung – eben weil ich diese schwächere Natur bin. 142

 


 


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