Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Zweites Kapitel.

Abends baut man sich das bunte Kartenhaus – und morgens stürzt es regelmäßig zusammen. Ich bin über eine Woche in Berlin, sehr bereit, dem Schicksal zu trotzen, aber das Schicksal wünscht meine Gegnerschaft gar nicht. Wenn ich durchaus einen Kampf will, so muß ich mir den Feind schon selber suchen.

Meine Lage ist sehr einfach. Ich besitze weniger als nichts. Das wäre verlockend genug zum erbitterten Daseinskampf, wenn nicht mein Vetter Lasis mir noch immer großmütig den geöffneten Beutel hinhielte, wenn nicht der jüdische Wucherer noch immer meine Wechsel prolongierte, und wenn schließlich dieser neue Prozeß mit seinen neuen Hoffnungen mich nicht doch etwas elektrisierte. Es beginnt wieder in dem alten Trott mit Zaudern, Gewissensbissen, Schlafen. Doch was ich früher an Unthätigkeit ertrug, ertrage ich durchaus nicht mehr. Ich möchte ein festes Ziel, ein ehrliches Ringen. Der längst vorübergeraste Eisorkan, der mich an den fremden Strand warf, weckte mir wohl den Wunsch, aber nicht die Kraft, auf eignen Füßen zu gehen. Nüchtern frage ich mich schon lange: War dieser Orkan überhaupt nötig? . . . Heute war ich 132 bei meinem verunglückten Prozeßvertreter auf dem Alexanderplatz, um ihm mitzuteilen, daß er sein Honorar beim Grafen Lasis-Taetz erheben könne, und daß ich auf seine ferneren Dienste verzichte zu Gunsten eines andern. Etwas kühl-geschäftlicher Empfang, ein nachsichtiges Lächeln, als ich ihm den Namen seines Nachfolgers nannte. Darauf guckte ein offenbar abgerichteter Schreiber so auffällig oft durch die Thürspalte, daß mein Rückzug fast in Flucht ausartete. Für diesen jungen Dr. Eliassohn bin ich kaum noch Herr Carén Wohlgeboren. Erst ärgerte es mich, dann lächelte ich über diese praktische Vernunft des Mannes.

Die letzte Konsequenz ist endlich ein ausgedehnter Spaziergang in den Osten. Das hastet und jagt auf schmutzigen Trottoiren und wirft einen fast um. Wenn mich dieses graue Gewimmel mit seinen unbeschreiblichen Gerüchen auch nicht mehr empört – es zieht mich auch nicht an. Es ist mir nicht mehr feindlich, jedoch fremd. Diese Leute, die sich die Beine ablaufen, kämpfen einen so uninteressanten Daseinskampf, sie sind fast stumpfsinniger als meine Tante, die, mit einem Fuß im Grabe, das Leben noch um seiner selbst willen liebte. Die hier sind noch jung, kräftig und rackern sich unsinnig ab um Essen und Trinken. Unsereiner stellt sich das Blachfeld der Lebensschlacht immer wie das grüne Tuch eines Roulettetisches vor, wo jeder stiernackig auf das einzige Zero setzt, verliert, wieder setzt und wenigstens die tolle Nervenaufregung hat bis zum röchelnden Zusammenbruch. – Die hammerbewehrte Faust, die aus dem dürren Sandboden der Mark sich gewaltig emporreckt, ist das Wahrzeichen des großen Berlin. Aber diese aufspringenden, gespannten Muskeln an Arm und Bein, die den fabelhaften deutschen Industriestaat in märchenhaft kurzen 133 Dezennien schufen, sind doch nicht besser dran wie eine gut bediente Maschine, der man reichlich Oel gönnt, damit sich die Teile nicht zu früh abnutzen. Es wird immer noch gearbeitet, um andre reich zu machen. Die Arbeiterbataillone sind die siegenden Armeen des sinkenden Jahrhunderts – und was haben sie davon? Die Glücklichsten einen branntweinduseligen Sonnabend, einen Sonntagsausflug mit Kind und Kegel in den Grunewald. Wäre ich solch Arbeitssoldat, ich würde den Teufel thun, nach altem Rezept den Generalen im Comptoirsessel den Löwenanteil an der Arbeitsbeute zu gönnen! . . . Aber ich bin nicht Arbeitssoldat, ich sympathisiere durch meinen ausgemergelten Körper, meine gepflegte Hand vielmehr mit den Ausbeutenden, die der Kopf dieser gewaltigen Polypenarme zu sein vorgeben. Was ist der geistreichste Kopf ohne Arme, die seine Ideen in Thaten übersetzen können? Angesichts dieser Menschheit, die wissender oder genußsüchtiger wird von Tag zu Tag, nimmt's mich wunder, daß die alte, morsche Tradition vom ausbeutenden Kopf und den ausgebeuteten Armen noch hält, so tausendfach und schlecht gekittet sie auch ist. Ich bin in Versuchung, mit den Polypenarmen zu sympathisieren, aber sie sind so schmutzig, so grob bemuskelt, daß sie meine arbeitslose Hand schon beim freundschaftlichen Druck zerpressen würden. Und auf einmal will mich die alte Furcht vor diesen Polypenarmen anwandeln; ich fühle mich wieder in Feindesland, ungefähr so verlassen wie der schwarze, hochbeinige Hund, der mit eingekniffenem Schwanz die Straße lang trabt, zuweilen schnüffelnd den Kopf hebt, aber angstvoll zusammenzuckt, wenn ihn ein Schusterjunge lockt oder ein Eiliger sein Fell streift. Es ist der ganz echte, rasselose Plebejer, der sich dennoch gar nicht heimisch unter seinesgleichen fühlt. Ich bin 134 hier gewiß nicht unter meinesgleichen – die Wahlverwandtschaft zwischen mir und dem jedenfalls verlaufenen Köter ist dennoch da. Er sucht seinen Herrn und sehnt sich nach der gütigen Hand, die ihn aus diesem feindlichen Labyrinth führt – und ich sehne mich nach dem hellen Geist, der mich diese Massen verstehen lehrt. Ich möchte sie doch verstehen, wenigstens klar werden, ob wir beide zum Glück geboren sein können oder nur einer von uns.

Vor einem Grünkramkeller beobachten der Butiker und ein Kunde das ängstliche Tier gleichfalls. »Weeßte, der läuft hier schon zwee Dage 'rum. Daß sich den die Hundefänger noch nich jelangt haben! Die holen se doch sonst aus die Betten. Det jäb' übrijens een juten Ziehhund.«

Der Butiker ist mitleidiger. »Ziehhund – det is ooch nich jerade det schönste Erdenlos. Ick sehe jar nich mehr hin, wenn ick so 'n Landstreicher bemerke. Wie der Mops von meiner Ollen weg war, da hätt'st de mal det hören sollen – die Kinder wollten überhaupt keenen Weihnachtsboom nich haben un heulten immerzu, bis ick endlich falsch wurde, uf 'n Disch schlug: ›Nu hört aber die Winselei uf!‹ . . . Und ick selber hatte det Vieh riesig jerne . . . Na, adieu. Ick komme nachher noch zu 'n dicken Willem 'rüber.«

Und als wenn das Tier geahnt hätte, daß die Unterhaltung ihm galt, sieht es unsicher auf. Den Hund kenne ich übrigens – und ihm dämmert's auch, denn er wedelt schüchtern, als wenn er sagen wollte: ›Ich habe dich von zwei Seiten kennen gelernt, einer guten und einer schlimmen.‹ Und so kommt er vorsichtig näher – immer auf dem Quivive, auszubrechen, wenn ich ihm die schlimme zeigen sollte. Ich meine es sicher nicht schlimm mit ihm; er thut mir sogar leid, aber kann man allen verlaufenen 135 Hunden helfen? Dabei mache ich eine unwillkürliche Bewegung mit dem Stock. Der Hund nimmt's als Drohung und jagt in langen Sprüngen davon. Wie ich ihn so flüchten sehe, ein hohes, mageres Gespenst, da wird mir eine andre Erinnerung wach. Ich denke an mein erstes Begegnen mit der grünäugigen Asta in Berlin – es war auch in einer der Straßen hier –, und ich sehe die vornehme Gestalt deutlich, wie sie vor dem brutalen Kerl damals auch nicht eine Linie zurückwich. Das unverständliche Zickzack meines Lebens zieht in dieser häßlichen Umgebung scharf umrissen an meinem Geiste vorüber. Wozu mußten wir uns kennen lernen? Wozu mußte sie schön sein und hohl? Wozu endlich mußte der andre dran glauben? – Mein Gewissen hat sich mit der That längst abgefunden, wenn das überhaupt nötig war. Der Narr beleidigte mich, dafür schoß ich ihn tot. Ich hatte ja sogar bis zu dem Moment gezögert, wo er mir das Ohr durchlöcherte und mich zwang, eine andre Haarfrisur zu wählen. Daß es trotz allem kaltblütiger Mord war, vergaß ich gern . . . Nun bin ich wieder in Berlin. Der erste Tag brachte mich sofort in den Bannkreis der Le Forts, und jetzt thut's mir auch noch der Hund an. Ob die Grünäugige wirklich nicht weiß, warum ich den Serner streckte? Wenn sie es wüßte, könnte sie stolz auf diesen Erfolg ihrer grünen Augen sein. Ja, die grünen Augen! . . .

Und während ich so dösend ein halbes Dutzend Straßen durchmesse, klopft mir plötzlich eine Hand auf die Schulter. »Glücklich wieder in Berlin?« Es ist der Mann mit dem Schlapphut und der vorsündflutlichen Krawatte.

»Ja, leider, Herr Lister.«

»Gehen Sie noch weiter, Herr Graf?«

»Jawohl.«

136 »Aber ich bin eilig. Ich suche nämlich seit zwei Tagen einen schwarzen Hund.«

»Ich sah ihn vor ungefähr zehn Minuten.«

»Sind Sie dessen ganz gewiß, Herr Graf?«

»Ganz gewiß.« Es war der Höllenhund aus der Wuhlheide, der mich vorhin anwedelte, wie mir jetzt sehr klar ist. Es fehlte wenig, der gute Mann hätte mich für die Nachricht auf offener Straße umarmt. – Nun beginnt eine mehrstündige Suche nach dem Verlorenen. Hundert Leute werden gefragt, und ebenso vielen schwarzen Doppelgängern von Tiny sind wir auf der Spur. Wir jagen das Wild getrennt, inquirieren grobe Vizewirte, durchsuchen Höfe, und endlich, nachdem mir die Birsch bereits leid geworden, entdecke ich den Ausreißer in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs unter einem einsamen Güterwagen auf einem toten Geleis, zusammengerollt, sterbensmatt, verzweifelt. Die Erinnerung an den Seiltänzerwagen hat ihn wohl hierher verführt. Mich rührt nachträglich der schwarze, verhungerte Unhold, der, von allen guten Geistern verlassen, in seinem verzweifelten Hundegehirn nur noch die traurige Erinnerung an seine Künstlerjugend vorfand. Diesmal läßt er sich von mir ruhig greifen, an seinem sehr weit gewordenen Halsband über die Schienen wegziehen. ›Thut mit mir, was ihr wollt! Weiter kann ich nicht,‹ das mögen so ungefähr seine Gedanken sein. Im Triumph wird er nun seinem Herrn zugeführt, aber er kann nur noch beim Wiedersehen winseln und wedeln . . . Es war wenigstens eine kleine Aufregung, diese Jagd, und ich that bei etwas Menschenfreundlichem mit. Nachher bitte ich um meine sofortige Entlassung. Aber Herr Lister packt den Hund und mich in eine Droschke zweiter, die gerade des Weges kriecht. Entfliehen ist nicht. Im Grunde will ich es auch nicht mal. 137 Denn ich empfinde wie etwas Warmes, Behagliches die anspruchslose Güte dieses seltenen Menschen, der nicht müde wird, den Hundekopf zu klopfen, während ihn Tiny unverwandt ansieht und sprechen, sich entschuldigen, gestehen möchte, was alles sein Hundegemüt in dieser zweitägigen Leidenszeit durchgemacht hat.

*

Es geht mir genau wie das erste Mal in der Oberspreevilla; ich fühle mich da heimisch.

Und doch hat sie nichts, was einen verwöhnten Geschmack fesseln könnte. Ein weißes Landhaus wie tausend, von dürftigem Kiefernwald umrahmt. Der kleine Vorgarten nach dem Wasser hin liegt tot mit strohumwickelten Sträuchern und braunen Maulwurfshügeln in winterlich fahlem Grase. Schon schüttelt frischer Frühlingswind das dürre Gezweig, und ein Sperling piepst auf einem kahlen Ast – aber die träge flutende Spree glänzt eisig. Hoch am hellen Himmel ziehen zierliche Wolken. Der Lenz möchte den Winter rasch vertreiben und kühlt sich den warmen, jungen Odem an dem hartnäckigen Griesgram. Drinnen im Studierzimmer flackert ein ersterbendes Kaminfeuer und wirft zitternde Reflexe auf die goldenen Büchertitel. – Bücher, schrecklich viel Bücher, ein peinlich geordneter Schreibtisch und sehr sparsam Rohrstühle, die der bescheidenen Chaiselongue an der Wand, glaube ich, niemals die türkische Schlafdecke vergeben können. – Wenn der Mann nicht wäre, ich nennte es einen pedantisch einfachen Raum mit zu viel Tageslicht und mit zu wenig Vorhängen. Von dem Mann strahlt aber gemütliche Wärme aus, behaglich genug für jeden Salon und bescheiden genug für jede Hütte.

Ich verstehe die Gefühle des Hundes beinahe, der argwöhnisch die Möbel, die Bücher beriecht, ob in 138 der Zwischenzeit ja auch kein Rivale das Studierzimmer entheiligt und seinem Herrn falsche Gesichtspunkte beigebracht hat. Gute Hunde sind nun einmal keine Kommunisten, weder beim Fressen noch in der Liebe. Herr Lister sieht mit schalkhaftem Lächeln das Gebaren seines vierbeinigen Freundes, der selbst die Reisedecke beschnüffelt und den gleißenden Perpendikel des Regulators betrachtet – bis er endlich am verlöschenden Kaminfeuer sich niederstreckt. Wir beide feiern indes unser Wiedersehen bei einem singenden Theekessel, dessen Deckel unter dem aufsteigenden Dampf leise klappert. Es ist die englische Theestunde, aber Herr Lister, der kein britischer Pedant ist, rät mir entschieden, aus kochendem Wasser und duftendem Arrak einen ostpreußischen Maitrank zu brauen.

Und wie der helle Grog dampft, die Zigarren glühen und die Junggesellengemütlichkeit mit den blauen Ringen des Rauches in das kahle Gelehrtenzimmer zieht, könnte ich liebenswürdig und nichtssagend Stunden verplaudern, wie ich es so gut verstand. – Ich kann's doch nicht – ein Kobold narrt mich. Gerade mir gegenüber zieht eine ernste Gesellschaft illustrer Namen sich die Regale entlang: Charcot, Eulenburg, Krafft-Ebing – die die Krankheiten des Willens erforschten, das Schrecknis des degenerierten Blutes erkannten und verziehen. Ich möchte über sie hinwegsehen, aber sie ziehen mich magisch an. Die Phrase flieht. So verschieden auch der Bruder von der Schwester mit der charakterlosen Linie sein mag, das Gemeinsame ist da: sie beide lieben den Kern der Dinge. Und ich frage brüsk, was ich doch nicht bei einem zweiten Besuch fragen sollte, und was mich doch am meisten interessiert: »Warum bekümmern Sie sich um mich. Herr Doktor?«

»Ja, warum!« Er sieht mich an mit den klugen, 139 guten Augen, die gewöhnt sind, den Patienten mit einem Blicke zu durchschauen. »Wenn Sie es durchaus wissen wollen, Herr Graf« – und liebenswürdige Ironie spielt um die feinen Nasenflügel –, »weil ich niemand gern unrecht thue. Und ich habe Ihnen unrecht gethan! . . . Offene Frage, offene Antwort. Sie werden mich schon ganz gut verstehen, wie ich Sie jetzt zu kennen glaube – ich liebe nämlich Grafen und das Namengeklingel bei Ihnen in Deutschland gar nicht. Das mag falsch sein, und man sagt ja, der preußische Edelmann habe den preußischen Staat geschaffen. Aber das ist wohl schon lange her. Was ich mit Namen hierzulande kennen gelernt habe, war sicher nicht besser als das ohne Namen. Die Herren denken meistens: Adel verpflichtet die andern, nicht sie selbst. Und nun gar, was man uns ins Ausland schickt! Sie sind nichts, sie können nichts, sie haben Gemeinheiten hinter sich oder noch vor sich. Der Tick bleibt. Und je tiefer der Mann steht, um so empfindlicher ist der Name . . . Ich kenne auch da eine glänzende Ausnahme, vielleicht sprechen wir später von ihm noch einmal; seinetwegen bin ich eigentlich hier. Sie verzeihen eine solche Einleitung – ein Vorwurf für Sie soll das nicht sein, ganz gewiß nicht – ich bin nun einmal Arzt, etwas Demokrat und will die gesellschaftlichen Unterschiede derart nicht anerkennen. Ich sehe immer den Menschen als das an, was er ist, und nicht als das, was er sein will. Darum habe ich Sie, Herr Graf, keineswegs geliebt; schon ehe ich Sie kannte, nicht. Etwas andres kam hinzu. Ich war stark gegen Sie eingenommen worden durch jemand, dessen Urteil nicht leicht befangen ist und doch sehr befangen gewesen sein muß. Es war jemand, den ich sehr liebe, der mir lange entfremdet war, ich weiß nicht, warum, und der sich erst jetzt wieder zu mir hingezogen fühlt. 140 Der Name thut nichts zur Sache. Vielleicht war es auch etwas ewig Weibliches. – So schlecht Sie mir nun diese eine Seite empfahl, so warm empfahl Sie mir die andre: die schärfste und einseitigste Frauenintelligenz, die ich kenne, nahm rückhaltlos Ihre Partei – meine eigne Schwester. Dies Für und Wider machte mich stutzig. Daß Sie gelebt, unsinnig gelebt haben, das leugnete auch diese andre Partei nicht, aber sie bewies mir in drei Worten, daß solche Vergangenheit zur Carriere, zum Namen, zum ganzen Manne überhaupt gehöre – und daß der Mann selbst trotzdem intakt geblieben sei . . . So was kommt zuweilen vor, das weiß ich als Arzt am besten . . . Als ich aber von der feindlichen Partei erfuhr, daß Sie völlig ruiniert seien, nichts erwarteten als den Tod einer Erbtante, nichts ersehnten, als das alte Leben von neuem zu beginnen, da wurde ich doch sehr mißtrauisch gegen diesen Grafen Carén, der sicher kein hohler Kopf war, sonst hätte ihn meine Schwester niemals protegiert, aber vielleicht eine ausgebrannte Schlacke, sonst hätte ihn der Feind nicht so unbedingt verdammt . . . Ja, mit dem unbedingt Verdammen . . . Auch darin lernt man nie aus. Der Unparteiische verdammt niemals ganz, das ist mir erst später klar geworden. Ich will offen zu Ihnen sprechen, Herr Graf. Meine Schwester und ich sind zu verschieden, zu lange getrennt gewesen, um noch die intimsten Berührungspunkte zu haben, wissen Sie, so den gemeinsamen Herzschlag der Geschwister. Ich täusche mich bei aller natürlichen Zuneigung darüber nicht – etwas fremd sind wir uns doch geworden. Das ist schlimm, denn auf die Art sieht man die Schatten haarscharf und übersieht völlig das Licht, das zu diesen Schatten gehört . . . Um aber zu Ihnen zurückzukehren – meine Schwester ist zwar beängstigend intelligent, aber sie ist doch 141 auch nur ein Weib. Und welches Weib mit zwei hübschen Töchtern hätte nicht ein ehrgeiziges Interesse an einem außerordentlich vornehmen Namen und der vielleicht außerordentlich glänzenden Carriere eines Mannes, dem wahrscheinlich weiter nichts als das Herz fehlt! Das gehört ja bekanntlich bei vielen Leuten nicht zum Glück. Und wenn nun gar eine Frau, von einer schweren Jugend an, sich gewöhnen mußte, praktisch zu sein im schlimmsten Sinne, so ist sie geneigt, alle Menschen als Marionetten zu betrachten, die sie entweder bewegt oder nicht bewegt, als taugliche oder nicht taugliche Mittel zu einem ganz bestimmten Zweck. – Sollten Sie nicht auch so etwas in dieser Berechnung gewesen sein? . . . Und da haben doch beide Mädels zu viel Nerv und zu viel Herzensgüte, als daß ich gewünscht hätte, eine an der Seite eines jungen Greises verkümmern zu sehen. Nein, zu Rasse gehört nun einmal Rasse! Und glauben Sie mir, daß mir eins von den Mädels solche Sorge jemals gedankt hat? Ich habe meine Nichte Asta zum Beispiel in einem Jahre kaum zehnmal gesehen; es war, als wenn sie das Gewissen nicht herließe. Jetzt ist es wieder anders, sie kommt, weil sie etwas auf dem Herzen hat, was ich nicht weiß und, soweit ich sie kenne, auch nie wissen werde . . . Ich schweife wieder ab . . . Damals hatten wir unsre erste Begegnung, Herr Graf, eine unfruchtbare, natürlich, wie es zwischen Leuten sein mußte, die nichts Gutes aneinander finden wollten. Sie haben mir den Eindruck eines verzogenen, schwachen Menschen gemacht, mit der vagen Gutmütigkeit, die die Anfechtung meidet, weil sie im Grunde feig ist. – Aber anders, als ich Sie mir vorgestellt hatte, waren Sie doch! . . . Und dann kam die Geschichte mit dem Hunde – es ist nun schon über Jahr und Tag her – dabei habe ich Sie nämlich hinter dem Zaun 142 belauscht. Es war gar kein so ungefährlicher Kampf, denn Sie konnten ja nicht wissen, daß der leiseste Pfiff Sie sofort von dem Unhold befreite. Aber da war die aristokratische Tradition doch stärker als die vernünftige Vorsicht. Lieber sich stumm von der Bestie abwürgen lassen, als den einzigen Laut ausstoßen, der sofort die Leute im Hause alarmieren muß! Das imponierte mir wieder. Ich hasse feige Menschen, und der tollkühne Schurke ist mir am kleinen Finger lieber als der gutmütige Feigling . . . Bei dem kurzen Zusammensein dann gefielen Sie mir weit besser, wie uns natürlich Menschen besser gefallen, denen wir unrecht gethan zu haben glauben. Sie waren danach weder schlecht noch dumm, das kann ich Ihnen ohne Schmeichelei sagen. Ja, wie Sie jetzt so vor mir sitzen und das alles stumm über sich ergehen lassen, kommt mir's vor, als hätten Sie in dem einen Jahre, wo wir uns nicht gesehen, sehr viel gelernt, oder als hätten wir beide niemals das Recht gehabt, uns zu mißtrauen. Aber auch daran ist vielleicht der wiedergefundene Hund schuld . . . Jedoch das alles beiseite gelassen, Sie thun mir wirklich leid, Herr Graf! Sie haben Ihren Erbschaftsprozeß verloren und sind wahrscheinlich sehr übel daran; Sie haben einen Menschen getötet und doch wohl kaum mit der festen Absicht . . . Nein, nein, stören Sie mir, bitte, meine Kreise nicht! Denn wenn's feste Absicht gewesen wäre, so sind Sie noch mehr zu beklagen. Ich würde dann vielleicht in einen häßlichen Abgrund sehen, wenn Sie mir das ›Warum‹ erklärten, ich würde Ihnen aber vielleicht auch sagen können, daß es die notwendige Riesenerschütterung einer schon halb gelähmten Natur war, die Sie rettete. Das giebt's nämlich auch. Und warum soll ich den fremden Toten jetzt beklagen? Sie werden das schon ganz 143 allein thun! Das Schicksal wird es Ihnen auch lange nachtragen, vielleicht so lange, bis dieser Tote den Lebenden auch in die Gruft nachgezogen hat. Denn die Natur ist keineswegs gutmütig.«

»Sie mögen recht haben, Herr Doktor Lister.«

Giebt das wirklich Louis Carén zu, der sonst nie einem Manne die herbe Kritik über das eitle gräfliche Ich gestattet hätte? O ja, er giebt es auch innerlich zu, er fühlt sich sogar klein diesem Bürgerlichen gegenüber, der ein guter Arzt gewesen sein muß, weil er alles mit klugen und gütigen Augen zugleich betrachtet. Gewiß, er ist ein seltener Mensch trotz der altmodischen Krawatte und des Schlapphutes. Ich möchte ihm wohl beichten, ihm wohl sagen: ›Auch Sie sehen mich nicht in dem ganz richtigen Lichte, ich bin in Wahrheit der und der – ich habe das und das gethan und wußte von Anbeginn, daß es schlecht, ja scheußlich war. Lösen Sie mir das Rätsel, daß ich, der im Grunde gutmütige Schwächling, niemals eine tiefere Reue empfunden habe, nicht einmal ein Grauen – auch jetzt langt's gerade zu dem flüchtigen Bedauern, zu dem achselzuckenden: War denn das alles nötig?‹ Vielleicht würde mich der Arzt aufklären, mich an der Hand der Geschichte der Nervenkrankheiten lehren, daß dieser Tod nur das letzte notwendige Glied in einer langen Reihe von kranken Entschließungen war . . . Aber beichten würde ich ihm doch nicht, wenn er mich auch absolvieren könnte. So etwas beichtet kein Mann dem Manne, das beichtet man der Geliebten in einer schwülen Sommernacht, Kopf an Kopf gebettet, während die parfümierte Stickluft des geschlossenen Raumes die Brust beengt, das Flüstern dämpft zu ungesundem Hauch. Und die Frauenaugen leuchten durch die Nacht und lesen den Hauch von den Lippen – und verstehen und verzeihen. Denn jetzt ist erst dieses Liebesglück voll. 144 Ein häßliches, großes Gefühl kriecht heiß und prickelnd dem Weibe bis in die Haarwurzeln: das Verbrechen, das er beging, und das sie hinhorchend mitbegeht, so daß sie die fremde Schuld wie eine eigne in den Nerven spürt . . . Solche Schuld soll trennen? Unsinn, solche Schuld ist das geheimnisvoll Dämonische, das unsagbar Köstliche in der Liebe, der Zauberkitt, der ewig bindet . . . Das Weib und die Sommernacht – mir kommt beides nie.

Hier rüttelt an den Fenstern der Frühlingswind, er möchte am dürren Gezweig die Knospen sprengen, das braune Gras wachhauchen zum frischen Lenzgrün. Und die Spatzen auf den Aesten plustern sich auf und piepsen und träumen von rotglänzenden Kirschen und vollen, schwankenden Aehren, die ihnen der Sausewind hervorzaubern soll. Sie glauben ganz fest an den jungen Zauberer, ob er auch noch in kühlen Lüften dahinfährt. Auf den gelb gekräuselten Spreewassern ziehen die Zillen vorüber, schwer, langsam; die roten Ziegel der Ladung leuchten, die Männer stuken vorwärts mit gebeugtem Rücken. Unter dem schmutzigen Riesensegel, das der Wind bläht, sitzt fröstelnd der Mops mit lebhaften Augen. Es kommen der Zillen so viel stromauf, stromab. Vom Fenster nimmt sich's aus, als strichen die Segel dicht an der Villa vorüber. Es wäre ein ganz malerisches Bild für einige Minuten, wenn nicht immer wieder andre vorüberzögen, ebenso langsam, ebenso schwerfällig, mit denselben tiefliegenden Teerborden, denselben Ziegel- und Holzlasten, denselben aufs Stakholz gestemmten Männerschultern. Das Einerlei wird da lästig. Wenn die Arbeit immer dasselbe Gesicht hat! . . . Aber Herr Lister, der das Tag für Tag sieht, kann sich gar nicht losreißen von dem eintönigen Gemälde, er vergißt sich dabei völlig. Die Zigarre verglimmt. Der seltene Mensch scheint doch auch mit der Spielart 145 irgend einer Verrücktheit belastet. Mir sagt der wirbelnde Zigarrenrauch im Zimmer immer mehr als diese gleitenden Kähne draußen.

Auf einmal erinnert sich der merkwürdige Träumer seines Gastes und sieht mich lächelnd an. »Das ist Ihnen wohl sehr langweilig, Herr Graf?«

»Um die Wahrheit zu sagen, ja.«

»Sehen Sie, bitte, noch einmal genau hin! Fährt dieser Kahn nach Berlin hinein oder von Berlin hinaus?«

»Hinaus.«

Da lächelt mein Gastfreund wehmütig. »Das ist Täuschung, Herr Graf; der Kahn fährt doch nach Berlin.«

»Aber, Verzeihung, wenn etwas intakt bei mir geblieben, so sind das Auge und Orientierung.«

Herr Lister lächelt wieder. »Das glaube ich Ihnen, Herr Graf. Wir sehen eben nur verschieden. Und ich habe doch recht! Wissen Sie, ich habe schon so viel tausend Schiffe hier vorübergleiten gesehen – alle nach Berlin hinein –, aber keins kommt je zurück . . . Lächeln Sie ruhig darüber! Es ist eine harmlose Verrücktheit. Und wenn wir uns länger kennen sollten, werden Sie vielleicht diese Verrücktheit verstehen. Sie sehen nur mit den Augen, und ich, leider Gottes, mit dem Herzen.«

Und gelehrig, wie ich nun heute einmal sein will, gebe ich mir Mühe, wieder hinzuschauen auf die kalt glitzernde Spree, die gleitenden Kähne – jedoch das Bild bleibt mir fremd und grau wie der ganze Osten . . . Das hindert mich aber nicht, noch lange bei Thee und Zigarre zu hocken. Wem die Zeit so wenig Wert hat wie mir, der schlägt sie gern billig tot. Die lichte Frühlingsdämmerung beginnt uns allmählich einzuspinnen, das Bild draußen verschwimmt, nur die kahlen Zweige klappern im Winde.

146 Da quietscht eine Hausthür. Listers dicke Haushälterin parlamentiert flüsternd mit irgend jemand im Nebenzimmer.

»Erwarten Sie Besuch, Herr Doktor?« frage ich.

»O nein, Herr Graf . . . Von Le Forts kommt niemand mehr um die Zeit. Andre Menschen kenne ich kaum in Berlin. Es wird also wohl ein Patient sein. Ich habe zwar weder Schild noch Sprechstunde, aber die Leute haben's doch herausgekriegt, daß ich Arzt bin. Weil ich natürlich kein Honorar nehme, verirrt sich ab und zu einer zu mir.« Darauf geht er selbst hinaus. Ich glaube, daß ihm solche Konsultationen eine Art Herzensbedürfnis sind, wenn er auch darüber spöttelt.

Die Thür ist offen geblieben, ich höre Stimmen, wohlbekannte Stimmen.

»Du hast Besuch, Henri?«

»Ja, aber kommt nur ruhig hinein. Es ist ein alter Bekannter von euch, speziell von dir, liebe Claire, obgleich du ihn bei mir niemals vermuten würdest.«

»Bekannter? Ich glaube, Henri, du schenkst mir das Wiedersehen.«

»Weißt du denn, wer es ist?«

»Gott, einer von der Kohlenstaubverbrennung. Ich höre Tag und Nacht jetzt nur Geschäft und wieder Geschäft, Mille und wieder Mille . . . aber ich bin bereit.«

Ich bin indessen in starker Versuchung gewesen, durch das Fenster in den Vorgarten zu entwischen, weil keine zweite Thür da ist. Wär's nicht so lächerlich, undenkbar, ich hätte es gethan.

Da gleitet auch schon der schwere, weiche Duft ins Zimmer – das Rätselhafte, Fremde: Peau d'Espagne, das ich fast vermißte, weil es meine Nerven zugleich einschläfert und empört. Madame Le Fort! Sie ist es leibhaftig mit ihren schönen Töchtern. Ich 147 sehe die Gestalten nicht scharf in der halben Dämmerung, aber ich fühle es am Druck der Hand, wie ich zu den dreien stehe. Zuerst zwei Hände, die sich kaum berühren – die andre kalt, eisig, trotz des Handschuhes mit dem Frösteln des Ekels, als wäre meine Aristokratenhaut das glitschige Schuppenfell eines Reptils: das ist Asta; dann eine weiche, reizende, warme, die mir nie böse war, ob auch die Stimme flüstert: »Lassen Sie mich los, an Ihnen klebt Blut!« – das ist die süße Ethel; zuletzt ein sanftes Ineinanderfügen von zwei Händen, so leicht und fest zugleich wie das rätselhafte Band, das mich mit der Dame der charakterlosen Linie auf ewig verbindet.

Das lichte Frühjahrsdunkel meint's gut – ich könnte den dreien sonst nicht so höflich lächelnd ins Angesicht sehen, den dreien, denen ich auch einmal die eherne Faust des Schicksals war.

»Na, warst du auf dieses Wiedersehen gefaßt, Claire?«

»O, ganz gewiß nicht, lieber Henri, aber gerade darum ist's besonders erfreulich.« Die Gnädige dirigiert mich sanft auf die Chaiselongue mit der türkischen Decke – ein unbequemes Möbel für zwei Freunde, deren Kniee sich nicht zu berühren brauchen. Wir beide sind doch wahrhaftig keine Liebenden, denen solche Nähe süße Schauer über den Leib jagt. Wir wollen ja nur plaudern. Was bedeutet solches Plaudern sonst mit Madame? Alles zu sagen, nichts zu hören für mich – für sie das Umgekehrte. Diesmal beginnt's ebenso.

»Nicht wahr, bei meinem Bruder ist's nett, gemütlich? Wenn er sich nur nicht so hermetisch abschlösse! Die Händelstraße kann davon ein Lied singen.«

»Ach was!«

148 »Und Berlin im erwachenden Frühling – einfach entzückend!«

»Allerdings, gnädige Frau.«

»Sie sind natürlich schon lange in unsrer Metropole, Sie ewig Ungetreuer?«

»Fünf Tage, gnädige Frau.«

Sie überhört das, will offenbar die ganze Gesellschaft glauben machen, daß der Graf Carén, der noch vor Jahresfrist tagtäglich bei Le Forts im äußersten Westen verkehrte, derselbe Mensch sei, der jetzt im äußersten Osten beim ostpreußischen Maitrank sitzt. Dieser Edle Herr hat niemals gemordet, niemals Festung gehabt, er ist immer in Berlin gewesen – man hat ihn nur nicht gesehen, wie man die Löwen der Gesellschaft eben nicht sieht, wenn sie sich vergnügungssatt in die Arbeiterquartiere verkriechen . . . Und deine Tochter war niemals heimlich verlobt? Du, die du alles weißt, bist so blind deinem Liebling gegenüber gewesen, daß du nicht ahntest, wie auch ihr das Herz zerfetzt wurde, als das frühreife Karlchen bei Hirschgarten im Feuer fiel! – Wäre ich der Trottel, der ich scheine, so würde ich mir vorgaukeln, die leeren Augen, die glatten Linien dieser Frau lögen nicht. Aber sie lügen; sie weiß alles, mehr noch als ich. Ja, wenn mich das Dämmerlicht nicht täuscht, in diese glatte Linie haben sich tausend Fältchen gepreßt, nur dem Kenner bemerkbar, in diesen leeren Augen zittert seit dem Augenblicke, wo sie mich wiedersahen, etwas Fremdes, Menschliches – irgend ein schwächliches Grauen.

Was gesprochen wurde zwischen uns, war für den Wind. Die gleichgültige Wiedersehensfreude sollte die andern täuschen, die voll unbestimmter Angst jedem Worte lauschten, ob es nicht die Anspielung enthielt auf das Schreckliche, das uns trennt. Die 149 Mädels wären ja schaudernd davongelaufen vor mir, wenn nicht die gesellschaftliche Phrase der Mutter sich wie lähmend Gift auch auf ihre eignen echten Feindesgefühle gelegt hätte.

Nun, da die Töchter hinaus sind mitsamt dem Onkel, weil nach Madames Ansicht sie den wiedergefundenen Höllenhund nur in der Küche begrüßen dürfen, wo er heißhungrig sein verspätetes Mittagsmahl hält – nun, da wir endlich allein sind in der Dämmerung, die Körper so nahe, daß uns Peau d'Espagne wie ein gemeinsames Fluidum umwogt, daß wir den leisen Hauch des Mundes spüren, und das Vibrieren der Nerven durch das isolierende Kleid hinüberdringt – nun wirft Madame die Maske weit weg.

»Seien Sie mir willkommen, Graf Carén! . . . Ich habe nicht etwa Ihren Besuch erwartet, aber das Wiedersehen thut mir doch sehr wohl. Sprechen wir nichts von der Vergangenheit! Wenn man alles weiß und nichts, wie ich . . . Klären Sie mich niemals auf, auch über das nicht, was ich nicht wissen kann! Die Vergangenheit ist tot, Graf Carén; merken Sie sich das ein für allemal!«

»Sie vergeben also auch alles, gnädige Frau?«

»Ich habe nichts zu vergeben und zu vergessen, weil ich nichts weiß – nichts, hören Sie! . . . Erledigen wir vorläufig das Landläufige. Ihnen geht's sonst gut, Graf?«

»Nein und ja.«

»Jedenfalls sehen Sie gut aus, älter und härter als früher. Sie sind also begnadigt, haben Ihren Prozeß in der ersten Instanz verloren. Wie steht's mit der zweiten Instanz oder einem neuen Prozeß? Ich verspreche Ihnen, thätig nie wieder mit der Hand an Ihr Schicksal zu rühren – meine Hand war unglücklich, solange ich lebte. Sie könnten selbst 150 ein Lied davon singen – gewiß, Sie könnten es, wenn Sie wüßten . . . Sind Sie mit dem neuen Anwalt zufrieden, den Ihnen scheinbar der Agent, in Wahrheit ich durch den Doppeldoktor, empfahl? Sagen Sie mir, bitte, nicht, wie er den verfahrenen Karren herausziehen will, sagen Sie mir nur, daß Sie an Ihrer Zukunft nicht verzweifeln – dann ist alles gut!«

»Ich hoffe sogar von der Zukunft, gnädige Frau.«

»Und das können Sie auch . . . aber Ihre Carriere?«

»Die alte Geschichte: à la suite. Man führt mich aus Gnaden noch so. Was allen andern den Hals gebrochen hätte – einen Grafen Carén schleift der Staat noch weiter in seinem Kielwasser nach.«

»Gut – sehr gut! Ich fürchtete schon, daß Ihnen von jetzt ab alles wie eine Farce erscheinen würde. Alles ist ja auch Farce, so wahr es keinen Gott giebt! Ich nehme natürlich das eine aus, den Wahnsinnspunkt, den jeder hat, in Liebe oder Haß, um den sich für ihn alles dreht. Was wollen wir uns Komödie vorspielen – wir zwei, Herr Graf! Dieser Punkt ist für mich meine Tochter.«

»Gnädige Frau, wir wollten von der Vergangenheit . . .«

»Lassen Sie doch die Empfindlichkeit zu Haus, Graf! – Sie sollen ja meine Tochter nicht etwa heiraten. Meinen Sie, ich hätte diese meine Tochter für einen bankerotten Grafen aufgehoben, nachdem ich einen reichen, gefügigen ohne Wimpernzucken opferte? . . . Ich will meine Tochter glücklich haben – maßlos glücklich! Damit hat mein Leben genug.«

»Gnädige Frau . . .«

»Was uns bindet, ist freilich andrer Art. Uns verbindet . . .«

»Mein Verbrechen!«

151 »Ja! . . . Aber warum lieben Sie auf einmal häßliche Ausdrücke? Sagen Sie doch höflicher: Wir sind Freunde, weil wir uns kennen und ich Sie weit besser als Sie sich . . . Sie sind anders geworden, mein Herr – aber Sie dürfen nicht ganz anders werden: Ein Renegat, der in diesen Osten hier gehört . . . Wir sind ja Freunde . . . Freunde.«

»Das soll mir, gnädige Frau, eigentlich sagen, daß die Le Forts für mich nicht mehr existieren dürfen und umgekehrt. Denn dieser Freundschaft verdanken wir . . .«

Da sehe ich ein kaltes Lächeln über das hübsche Gesicht ziehen. »Darauf war ich gefaßt, Herr Graf. Es will eben niemand unser Freund sein, der nicht muß – und wer es sein will, dem geht's ans Leben. Sie sehen, wie ich Sie verstehe . . . Ja, ich möchte den Schein der alten Freundschaft sogar von uns beiden abwehren . . . Was ich Ihnen sagen wollte: suchen Sie uns nicht in der Händelstraße auf, wenn jemand zu Haus ist. – Den Karton auf der Visitenkartenschale – mehr wünsche ich auf keinen Fall. Das ist für die Leute, die klug sein wollen und doch nicht verstehen, warum Graf Carén den Grafen Serner erschoß. Wir beide haben ja auch keine Ahnung, warum! – Die Neugierigen haben böse Zungen, und die reiben sich an dem glatten Visitenkarton stumpf . . . Von meinem Bruder brauchen Sie sich aber deswegen nicht zu scheiden. Er ist ein weißhaariges Kind, von dem Sie viel lernen können. Lernen Sie, bitte, nicht zu viel von ihm! . . . St! . . . Ethel, bist du da?«

»Oui, mama.«

»Wie geht es dem Hund?«

»Il se porte bien.«

Wenn sich irgendwo auf dieser Welt Mutter und Tochter nicht verstehen und nicht verstehen wollen, so sind's noch immer diese beiden.

152 Jetzt sind wir wieder vollzählig im Zimmer. Die Thür ist halb geöffnet. Durch die Dämmerung fließt ein breiter, gelber, zitternder Lichtstreif von der Petroleumlampe her im Salon. Und wir kriechen zurück vor dieser so bescheidenen und so aufdringlichen Helle, die unsern Augen oder unsern Herzen wehe thut. Nur der Mann mit dem feinen, guten Gesicht und den grünen Augen seiner Nichte hat den Stuhl in das Licht gerückt – er ist ja der einzige, der das Licht nicht fürchtet, weil er nichts ahnt . . . Die gleichgültige Rede verstummt langsam, das Schweigen legt sich wie ein riesiges Gespenst über den Raum. Das Schweigen sagt so viel!

Bis endlich der Onkel sich verwundert die Gesichter in der Runde ansieht, die die Dämmerung gütig verschleiert. »Ja, warum redet ihr denn nichts, Kinder?« Und er sieht ermutigend Asta an, die stumm, wie ein vornehmer Schatten, in der Fensternische sitzt. Die nebelüberwogte Spree blinkt geheimnisvoll – ein Segel zieht lautlos vorüber, unheimlich wie der fliegende Holländer. Solange die Grünäugige im Zimmer ist, habe ich noch keinen Ton von den schönen, schmalen Lippen gehört. Und mir deucht doch, als hörte ich die Stimme von schönem, etwas hartem Metall. Der Neumond beginnt aufzugehen und mischt seinen schmalen, fahlen Schimmer mit der zitternden Lichtwoge der Lampe. Der Schimmer zieht gerade wie der Fetzen eines Elfenschleiers an dem klassischen Profil vorüber, so daß er es noch mehr verhüllt, anstatt es zu erhellen. Aber Asta schweigt.

»Sag mal, Onkel, wie fandest du eigentlich den Hund?« fragt endlich Ethel.

»Ich fand ihn überhaupt nicht, liebe Ethel, sondern Graf Carén hier, der mehr Jägerinstinkt bei der Sache bewies als ich.«

153 »Seit wann interessieren Sie sich für Hunde, Herr Graf?« Und bei diesem Worte ihrer Schwester sehe ich, wie der Schatten in der Fensternische leicht zuckt.

»Seit ich denken kann, gnädiges Fräulein,« antworte ich.

Darauf wippt Ethel mit dem Fuß. »So? . . . Ich dachte eigentlich, Grafen interessierten sich nur für sich selbst.«

Jetzt schilt der Onkel lächelnd: »Du bist doch eine ganz infame Kratzbürste! Seit wann sagt man solche Elogen einem Besuch?«

»Seit . . . seit . . . Ach, Onkel, wir wollen doch lieber von dem Hunde weitersprechen!«

Da wären wir also wieder hübsch kaltgestellt, Louis Carén!

Jedoch der Onkel, der sich gerade in der Hundeangelegenheit für mich engagiert hat, weist Ethel mit ironischer Liebenswürdigkeit zurecht. »Nein, liebes Kind, wenn wir nun einmal bei Menschen sind, wollen wir doch nicht gleich wieder auf den Hund kommen.«

Die Kornblumenfee ist auf diesem Ohre ganz taub. »Sag mal, Onkel, du wolltest mir doch immer Photographien von Kaschmir zeigen?«

»Ach, die sind verkramt, Kind.«

»Ich helfe suchen, Onkel.«

»Ethel, den Grafen Carén wird das wenig interessieren; der kennt die halbe Welt aus eigner Anschauung und die andre Hälfte sicher aus besseren Aufnahmen.«

Ich bestreite das natürlich höflich. »Wenn Sie uns Bilder zeigen wollen, Herr Doktor, so wäre das sehr gütig, denn die Tropen kenne ich zufällig nicht . . .«

Darauf nimmt Ethel den Onkel einfach am 154 Arm und schleppt ihn hinaus – auch Madame erhebt sich schweigend, geht nach. An der Thür sieht sie sich noch einmal um nach der älteren Tochter – aber Asta rührt sich nicht.

Ich wäre viel lieber allein geblieben als zu zweien gerade mit der da. Manchmal versagt unsereinem die Heuchelei auch. Und gerade jetzt lastet das Schweigen der Dämmerung schwer brütend auf uns – solch Schweigen enthält zu viel . . . So sehr ich mich auch bemühe, ins Leere zu starren – meine Augen sind nicht ganz in meiner Gewalt. Wieder zieht der unsichtbare Strick . . . Der fahle Neumondschimmer ist breiter geworden, er gleitet jetzt über Astas braunes Haar hinweg, so daß es stumpf glänzt. Das Haar ist Astas Schönheit nicht! Ich liebte es nie, schon weil es diesen königlichen Nacken krönt . . . Das Dunkel verhüllt heute Gesicht und Hals. Was fesselt mich nun eigentlich an dem braunen Haar, das einfach, ohne Phrase wie sie selbst, sich über dem Halse zum griechischen Knoten schlingt? Narrt mich der Neumond – oder narrt er mich nicht? Von der Stirn her zieht eine breite weiße Strähne sich durch das stumpfe Braun. Ich sah diese weiße Strähne früher nicht. Sie muß ganz jung sein – warum hat das Mädchen dies kranke Haar nicht abgeschnitten oder versteckt? – Sie hat demnach den Toten doch geliebt! Darum verschmäht sie, das kranke Haar zu verleugnen . . . Wenn die Liebe so stark war, daß sie Asta die Seele elend machte und das Haar weiß: wer konnte diese Zauberkraft den Vogelaugen des frühreifen Karlchens ansehen . . . Es war doch gut, daß ich ihn erschoß! . . . Aber mit einem Male bin ich wieder kalt, die gleichgültige Phrase ist da. Wenn die da drüben vielleicht glaubt, daß die Liebe zu ihr mich 155 zum Mörder machte – nein, da sind wir doch zu sehr Graf!

»Gnädiges Fräulein, Sie waren den ganzen Winter in Berlin?«

Da erhebt sich die schweigende Gestalt, schwankend, schwer – es kostet sie die Anstrengung eines ganzen Willens. Und setzt zeigt mir der Neumondschimmer auch ein totes, blasses Gesicht . . . »Wenn Sie barmherzig sind, Graf Carén, so lassen Sie mich allein!« 156

 


 


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