Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Fünftes Kapitel.

Vierzehn Millionen – wahrhaftig, da kommen auf jede sieben . . .«

»Ach, Unsinn – vier höchstens alle zusammen!« Zuletzt meldet sich noch einer, der genau über fünf Millionen orientiert ist.

Man könnte nach dieser Unterhaltungsprobe annehmen, daß wir uns in einem Millionenklub befinden und Minenaktien oder so etwas Gutes handeln. Dagegen ist es nur eine Scene aus der Herrengarderobe, zu der der reizenden Ethel Boudoir degradiert ist. Die Werte, die gehandelt werden, und deren Kurs in blödsinniger Hausse und Baisse auf und nieder schwankt, sind die Le Fortschen Mädels. Den Tonfall bei dem Handel kann ich nicht recht wiedergeben, er wäre sehr charakteristisch.

Numero eins, der Optimist mit den vierzehn Millionen, ist ein hübscher, großer Linien-Infanterist, zum Boxen kommandiert, armes Luder, aber mit den gesunden Kommißbacken und dem Kommißhunger auf eine fabelhafte Partie. Er kartätscht sich gerade rücksichtslos den dicken blonden Scheitel. Die unwiderstehliche Provinz!

Der Mißtrauische mit den vier Millionen heißt Bomulunder nach seinem Vater, der einen 92 gleichnamigen Schnaps fabrizierte. Vitriolbaron – ein kluges, habsüchtiges Gesicht auf einer eleganten, geckenhaft gekleideten Figur. Weil der cher Papa Generationen mit Alkohol vergiftete, ist der Sohn natürlich Aristokrat von unausstehlicher Feinheit. Mir war er vollkommen neu. Hatte bei der Vorstellung meinen Namen wohl nicht verstanden, taxierte mich nach dem Monocle und ritt mir seinen Reserve-Offizier vor:

»Ich bin nämlich 23. Husar.« – Dafür mußte ich ihn doch etwas ducken.

»Nicht wahr, gelb und grün – Spinat mit Ei? Die stehen da ganz unten im Westen? Ich bin fabelhaft wenig orientiert.«

Darauf leichte Verdutzung – ein scharfer Blick über meine Figur, mit der er doch nicht mit kann. »Ah, Sie haben nicht gedient?«

»Etwas doch.«

»Pardon.«

Seiner Ansicht nach hat es wohl mit der Beförderung gehapert. Ich fahre ganz ruhig fort: »Ich bin 6. Garde-Ulan und war früher in meinem Regiment aktiv.« Und da hatte er auch gleich mit Falkenblick in meinem Chapeau claque die »Neunzinkige« entdeckt und knickste. Da wären wir also 'reingefallen mit unserm »Spinat mit Ei«, Herr Bomulunder!

Numero drei heißt:

Karl Maria Ignaz Joseph Graf von Serner,
Freiherr von Altenberg und Kabin,
Fideikommißherr auf Altenberg und Kabin
in Rheinpreußen
und
Besitzer der Allodialgüter Raupenheim, Sassenheim,
St. Bartholden i. W.

Auf eine Visitenkarte geht's knapp. Dessenungeachtet 93 würde ich an seiner Stelle vorsichtshalber immer eine Tafel mit allen meinen Qualitäten auf dem Rücken oder der Brust tragen. Einfacher wäre allerdings, er bände sich einen Bogen weißes Papier vors Gesicht und schriebe darauf: »Dahinter ist nichts.« Das frühreife Karlchen begnügt sich also mit zweieinhalb Millionen. Wenn man die Schönheit der grünäugigen Asta dazu thut, ist's ein ganz nettes Finanzgeschäft. Ein eingehendes Studium seiner männlichen Reize im Spiegel macht ihn über die Unmöglichkeit eines Korbes vollends klar. – Asta, wenn du wirklich Vollblut bist – und diesen Schemen dir anschafftest . . .

Ich selbst beteilige mich an den Taxationen über Le Fortsches Vermögen nicht. Ich bin schlecht gelaunt; ich zerknittere eben meinen letzten Hundertmarkschein (einen von den schmutzigen) in der Hosentasche und habe morgen eine Unterredung mit einem ganz lichtscheuen Wucherer.

Le Forts geben heute ihre erste große Gesellschaft. Ich war neugierig auf das Debüt. Die beste Gesellschaft Berlins ist's nicht. Daraus Schlüsse zu ziehen, wäre falsch. Die Le Forts haben noch keine Gelegenheit gehabt, bekannt zu werden, auszuwählen. Hof und Diplomatie sind ihnen ja ab eo verschlossen. Sonst sind die Arrangements tadellos. Madame kennt sich aus. Auf dem engen Korridor sind sich sechs schwarze Lohndiener beständig im Wege. Trockene Gashitze entströmt dem Dutzend flackernder, überschraubter Flammen. Es ist eine grelle Helle, und wie eine schwere Woge zieht der Dunst von Menschen, neuen Kleidern, verfliegenden Wohlgerüchen durch den Raum.

Dann sammeln wir uns in dem Versailler Salon. Jetzt in dem strahlenden harten Lichte, das die Spiegel kalt zurückblitzen, zeigt er ein ganz andres 94 Gesicht: ein scharfes, modernes. Das ist nicht mehr die Fratze des Königtums – des Königtums, das in Marie Antoinette zum letztenmal königlich, groß vor der Revolution sich verbeugte, bis ihm das Haupt auf die Füße fiel, – das ist das neue Königtum, der Wechselbalg, den der rote Schrecken gezeugt: der traditionslose Absolutismus der Millionen, den ein neuer roter Schrecken zu Recht richten wird. Der Glanz der neuen Millionen, der harte, höhnische Glanz liegt über den zierlichen Sèvresfiguren, zuckt über das matte Rosa des Atlas, den blendend weißen Lack mit seinen schimmernden Goldlinien; er grinst in dem Metall der Beschläge, dem Marmor des Kamins. Dieser Glanz ist erbarmungslos, wie die Sonne der Wüste, und die Gestalten, die sich an ihm laben, haben etwas Habsüchtiges, Mitleidsloses.

Die Vorstellungen sind erledigt. Ich langweile mich eine Sekunde. Aber ich habe kein Recht dazu. Wer, wie ich, im ewig gleichmäßigen Luxus der großen Salons, der großen Hotels an Herz und Geist verkümmerte, sollte diese neue Welt wie eine Erlösung aus dem Banne des Korrekten begrüßen. Die Gesellschaft ist bunt, seltsam bunt, trotz dem nivellierenden Schwarz des Fracks ohne Orden und der gleichmäßig hellen Damenroben. Sie ist mir so neu, daß sie mich verwirrt. Und doch sage ich mir im Moment, daß ein ganz bestimmtes Ziel diese Gesellschaft verbindet, gleichmäßig macht: es ist der Reichtum oder die Sucht nach dem Reichtum. Und seltsam – in ihr verschwindet völlig die schlanke Jugendgestalt der blonden Ethel. Auch das schöne Profil der grünäugigen Asta verblaßt. Hier herrscht Madame Le Fort, die charakterlose, glatte Linie, sie drängt sich hervor, dominiert. Die kluge Frau hat doch sonst nichts Dämonisches, dennoch erfaßt mich ein Grauen vor ihr. Sie kann kein Blut 95 sehen; sie hat keine Laster, keine Tugenden – die abgrundtiefe Leidenschaft fehlt ihr, die gewaltige Tragik des großen Verbrechens. Dennoch kann sie morden ohne Wimpernzucken, ohne Gewissensqual, selbst ohne schweren Traum. Sie wird's thun, wenn sie will, nicht wenn sie muß – wohl überlegt, zur richtigen Sekunde, vielleicht mit einer Nadel, die sie dem Opfer ins Gehirn bohrt mit geschlossenen Augen, weil sie nicht einmal den Tropfen Blut sehen kann, der aus der Wunde sickert – oder mit Gift, kühl lächelnd, ohne Schuldgefühl, wie eine Idiotin, weil ihr der sechste Sinn fehlt, der den eigentlichen Verbrecher macht. Sie steht weit von mir, geschieden durch eine Wolke von Wohlgerüchen, dennoch dringt Peau d'Espagne durch. Der heiße, schwere Duft betäubt mich fast, ich möchte fliehen . . . Ich fliehe nicht. Ich weiß, daß ich Unsinniges denke, daß mir die Charakterisierungswut, die sich an diesem Weibe erfolglos versucht, den Streich spielt. Ich werde ruhiger, vernünftig.

Es war gut, daß sich zur rechten Zeit ein sehr praktischer Mentor einstellte. »Sie langweilen sich, Herr Graf?«

Ich sehe einen großen Herrn vor mir mit unendlich weiten Hosen und einer Platte, der blonde Schnurrbart nach amerikanischer Art kurz geschnitten, der Spitzbart nur wie ein Flaum. Es ist ein etwas aufgeschwemmtes, blasses Gesicht mit Schmissen, klug, nicht ungutmütig, aber ich mißtraue ihm trotz der fabelhaften Ungeniertheit, mit der er mich anredet, wie er jeden König auch angeredet haben würde. Er heißt Leßmann, in seinen Kreisen zum Ueberfluß »Doppeldoktor jur. et phil.«, – obgleich seine Diplome in keinem europäischen Archive aufgefunden werden können. Er klopft mir auf die Schulter und sagt in sonderbarem Altmärkisch mit 96 rollenden Rs: »Wo ein Aas ist, da sammelt sich das Geschmeiß. Sehen Sie den Knäuel dort, Herr Graf, um den dicken Le Fort? Das sind die Schakale, die sich um die Fetzen reißen.« Ich stecke mein Monocle ein, um besser sehen zu können. Aus der schwarzen, erregten Menge schauen ein paar habsüchtige Gesichter. »Wissen Sie, warum Herr Le Fort in Berlin ist?« fragt der Doppeldoktor weiter.

»Keine Ahnung.«

»Dann kann Ihnen geholfen werden, Herr Graf. Herr Le Fort hat einem schwedischen Ingenieur eine Riesenentdeckung abgekauft und will das Patent jetzt in allen Ländern verwerten, in Berlin ein riesengroßes Etablissement gründen. – Verstehen Sie etwas von Heizungsanlagen?«

Ich kann darauf nur lächeln.

»Ich auch nicht,« bekennt Leßmann ironisch. »Jedenfalls handelt es sich aber um eine vollkommene Revolution auf diesem Gebiete. Hunderte intelligenter Leute haben versucht, den Kohlenstaub gewinnbringend zu verwerten, den Stein der Weisen hat aber nur Le Forts Schwede gefunden. Früher heizte man die Maschinen mit Kohlen, in Zukunft wird man sie nur noch mit Kohlenstaub heizen. Auf eine sehr sinnreiche Weise wird nämlich der Kohlenstaub zur Explosion gebracht und entwickelt eine ganz unglaubliche Heizkraft. Sie können sich denken, was das für eine Erfindung ist. Die Entdeckung des Rübenzuckers, des Holzfaserpapiers sind die lallenden Laute eines Waisenknaben dagegen – die ganze Maschinentechnik wird sich ändern. Mit dieser Erfindung ist vielleicht das größte Geschäft des ganzen Jahrhunderts zu machen. Herr Le Fort weiß das. Aber selbst seine Millionen, die er in Goldshares gemacht hat, reichen nicht dazu, das Unternehmen in ganz großem 97 Stile zu inscenieren. Nun sucht er sich eine Gesellschaft zusammen. Kapitalisten zu finden, wäre eine Kleinigkeit. Morgens den Prospekt auf den Markt gebracht – und nachmittags sind zweihundert Millionen schon überzeichnet. Um das zu thun, ist aber Herr Le Fort ein zu kühler und selbständiger Geschäftsmann. Wenn die ganz großen Banken und ihre Millionen ihm überall die Nase 'reinstecken können, macht er nicht den Hauptrebbes . . . Herr Le Fort will sehr gern Kapitalisten viel verdienen lassen, aber es müssen stille Socii sein, die ihm nichts dreinreden. – Wie denken Sie über solche Kapitalanlagen?«

Ich will mir den Mann abschütteln. »Gar nicht, Herr Doktor,« antworte ich kühl. – Denn ich mißtraue dem Menschen. Ist er beauftragt, mich zu interviewen? Seit eine Biertischbemerkung von mir als höchst bedeutsame Auslassung eines hohen Petersburger Diplomaten durch alle Zeitungen ging, bin ich für Interviews nicht mehr zu haben. Aber interessant ist die Mitteilung des Doppeldoktors doch Also Le Fort ist Spekulant, Großspekulant mit dem echt amerikanischen Goldfieber, das ihn zu keinem ruhigen Genusse seiner Millionen kommen läßt. Asta könnte über Jahr und Tag die reichste Erbin Berlins sein. Reizt dich denn das gar nicht, Louis Carén? – Nein.

Nun verstehe ich auch den ewig mißmutigen Koloß, den man nie sieht, nur in seinem Arbeitszimmer schnaufen hört. Das ist die ganz echte Goldbestie, die die kleinen Vermögen allesamt verschlingen möchte. Das ist die famose freie Konkurrenz, die wieder einmal die in Industriepapieren angelegten Millionen entwerten, um ein Butterbrot ankaufen und dann in der eignen Hand vollwertig machen will. Und das Pack, das sich um ihn drängt? 98 Es sind ganz gute Namen darunter, Chargen, Titel – aber sie alle wollen etwas haben, sind angesteckt von diesem Goldhunger, der ihr Mark verzehrt, ihr Herz, ihren Geist. – Ich begreife sie nicht. – Und vielleicht ist's gerade ein gütiges Schicksal, das mich auch in diesen Abgrund schauen läßt. Vielleicht erweitert das Verständnis dieser wirtschaftlichen Fragen auch mein diplomatisches. Das ist die praktische Nationalökonomie, die der geniale Roscher mir nur theoretisch beibringen konnte. Es scheint, daß ich mich zu vertiefen beginne. Es scheint . . .

Denn wie jetzt Madame Le Fort mit ihrer schlanken Gestalt im seegrünen Spitzenkleid auf mich zukommt, ist alles verflogen.

»Wir sind etwas einsam, Herr Graf?«

Ich verschanze mich hinter meinem Monocle, bin blasiert. »Ist man das nicht stets etwas, gnädige Frau?«

Sie sieht mich strafend an. »Herr Graf?«

Das könnte ich jeden Tag zu mir mit noch größerem Nachdrucke sagen. Uebrigens verzeiht Madame schnell. Sie hat den Wunsch, mich zu guter Laune zu zwingen. »Es ist etwas bunt, ich gebe zu – die Herren wenigstens. Mein Mann ist eben zu solchem Verkehr aus Geschäftsrücksichten gezwungen. Aber nehmen Sie sich doch der Damen an.« Sie mag wohl meinen Blick verstanden haben, den kalten, gar nicht gutmütigen Blick, den ich auf unsre Flora werfe. Ich habe häßliche Arme dabei gesehen und falsche Perlen. Das reizt mich nicht gerade. Und dann sind die Damen sehr in der Minderzahl: drei semmelblonde Engländerinnen aus einer Pension, etwas nicht ganz blutreine Hochfinance mit stark dekolletierter Büste und fabelhaften Brillanten; ich habe Angst, von diesen Leuten eingeladen zu 99 werden; – einige anspruchslose Freundinnen von Ethel aus der Malstunde; – (Fräulein Asta hat natürlich keine Freundinnen. Sie reitet und zwar nur allein und nur in der Bahn) – zuletzt eine überreife Brünette – rollende Augen – gemeiner Mund, der nach meiner Ansicht über der Oberlippe rasiert ist; sie soll nachher deklamieren und hat mir bereits versichert, daß sie ihre goldene Uhr verloren hätte und auf den Jett-Chronometer im Armband angewiesen sei. Soll ich vielleicht meine letzten hundert Mark dazu verwenden, um ihr eine Uhr und mir eine große Liebenswürdigkeit zu kaufen? Armes Mädchen!

Die Hauptperson habe ich natürlich übersehen. Madame muß mich extra auf die Perle aufmerksam machen. Sie tippt mir auf den Arm. »Sehen Sie die Blondine da, Herr Graf, die eben mit Herrn Bomulunder spricht?« Ich erblicke eine blasse junge Dame, die ich zuerst für ein Stubenmädchen gehalten hatte. Sie ist bescheiden abgetakelt – ungefähr so reizvoll wie ihre zementplombierten Zähne. Ich bin im Begriffe, eine Malice zu antworten, ahne aber noch zur rechten Zeit irgend einen schleierhaften Zusammenhang zwischen der Dame und mir. »Die ist für Sie bestimmt, Herr Graf, eine veritable Gräfin. Nun?«

»Gnädige Frau sind die Güte selbst!« Madame kennt wenige Aussprüche aus meinem Diplomatenmunde, die größere Lügen sind. Sie schwebt auch gleich wieder davon. Und ich verspüre Lust, noch vor dem Souper zu gehen. Hat die Frau wirklich mephistophelische Anlagen, daß sie ausgerechnet einen bettelarmen Grafen mit einer bettelarmen Gräfin zusammensetzt – oder ist das nur die Quittung über meine Le Fortschen Besuche?

Mich interessiert dieses Gesellschaftsdebüt nicht mehr. Ich setze meine kühlste Maske auf, das 100 Monocle liegt wie eine Eisscherbe auf dem ausdruckslosen Auge. Ich bin mit mir zufrieden.

Die Paare ordnen sich zum Souper. Wir machen der veritablen Gräfin die ganz leichte Verbeugung und zaubern dafür ein holdes Erröten auf die Wangen der stark Achtundzwanzigjährigen. Wir sind auf diesen Erfolg nicht stolz.

»Herr Graf Serner, ich bitte – Herr Graf Carén, hier – bitte sehr, Herr Bomulunder.« Warum gerade Madame diesen Bomulunder, den sie zuletzt nennt, so liebenswürdig anlächelt? Ich habe Madame niemals weniger verstanden als heute.

Aber seien wir gerecht. Madame hat Geschmack. Sie hat das gotische Eßzimmer nicht durch die grellen Lichteffekte des Reichtums entweiht. Hier herrscht Stimmung, Poesie. Hier werfen die rotbeschirmten Lampen einen weichen Dämmerglanz, gerade stark genug, um die gediegene Pracht des breiten Riesentisches matt zu vergolden. Was dahinter, liegt im Halbdunkel, in träumerischer Verschwommenheit, aus der die Spitzbogen des eichengeschnitzten Büffetts feierlich-ernst hervorschauen, als wär's eine Kirche. Wenn nur die Menschen nicht wären! Neben mir sitzt Ethel mit dem Schnapsbaron, ihnen gegenüber Asta mit Serner. Ich sehe die Grünäugige nicht, ich kann sie gar nicht sehen, denn zwischen uns drängt sich eine silberne Blumenschale, deren dunkle Rosen sich rechts und links auf die hellgelben, durchsichtigen Lampenbassins neigen.

Ich könnte träumen – die veritable Gräfin würde es mir vergeben. Ich träume nicht. Ich will heute gerade der elegante Schwätzer, der internationale Attaché sein, ich will Madame Le Fort beweisen, daß der Pfeil vorbeigeflogen ist, daß Graf Carén sich glücklich fühlt, endlich einmal neben dieser abgekühlten Standesgenossin sitzen zu dürfen – ich 101 will vielleicht auch hören, was die beiden mir gegenüber reden. Ich bin der Gesellschaftsautomat, der sich in hundert Galadiners bewährte, der konversiert, ohne zu denken, geistreich ist, ohne eine Spur von Geist zu haben – der alles sagt, was er nicht denkt, der alles hört, was er nicht hören soll. Wozu umschwebt uns Diplomaten die Wolke von Vornehmheit, Reichtum, bestem Drill – und wir sollten diesen Vorteil nicht benutzen! Ich bin bankerott, ich habe einen lumpigen Hundertmarkschein als letztes in der Tasche, dennoch war ich anmaßendem Reichtum gegenüber nie anmaßender. Ihr gebt einen ganz unvergleichlichen Bordeaux, die Flasche vielleicht zu sechzig Franken? – Das ist gerade gut genug für mich. Eure sechs Diener laufen mich fast um, weil sie das glänzende Menü mit seinen Anhängseln kaum servieren können – meine Diener sind viel besser dressiert! Haselhuhn? – Ich esse überhaupt nichts andres. – Indische Vogelnester? – Ohne die müßte man ja verhungern. – Ich bin blasiert, Narr, so unvornehm wie möglich, aber dieser Gesellschaft imponiere ich. Bomulunder fängt schon nach dem vortrefflichen d'Yquem an, es mir nachzumachen, und Serner, das Schaf! – wußte ja selbst nie, was echt oder Talmi bei der Aristokratie ist. Ich höre eine häßliche, absolut klanglose Stimme, meine Stimme; ich sehe in dem Silber der Jardiniere vor mir mein alles verachtendes Konterfei und finde, daß niemand mehr verdiente, geprügelt zu werden, ich höre meiner Unterhaltung zu wie einer fremden.

Und ich habe Erfolg. Ich stecke schon die veritable Gräfin mit meiner Parvenusverachtung an.

»Major« – »Majorat« – »Ahnen«, irgend so etwas habe ich noch im Ohr. Und dabei hebt die veritable Gräfin die spülichtfarbenen Augen plötzlich voll beneidenswerten Stolzes nach den 102 Le Fortschen Töchtern mit ihren echten Spitzen und ihren echten Juwelen, um sie dann wieder mit Befriedigung auf die eignen bleichsüchtigen Sommersprossenhände zu senken. Nee – Eindruck machst du nicht, »Veritable«! Ich habe dich beinah eher vergessen, als ich dich gekannt habe. Das ist eigentlich unaristokratisch. Es giebt ja Standesgenossen, die Prinzessinnen leidenschaftlich gerne heiraten möchten, wenn sie auch arm, häßlich und hausbacken sind, wie ein großer Teil der Legitimität überhaupt. – Aber ich fasele, konversiere, schneide die Cour – aufgezogen ist der Automat Carén ja!

Der Automat Carén weiß das wenigstens, persifliert sich selbst. Jedoch ihm gegenüber sitzt ein richtiger Automat, wenn er auch etwas langsamer funktioniert – aber ein echter, ganz echter. Graf Serner würde mich vollkommen blödsinnig ansehen, wenn ich ihm die simpel-einfache Konstruktion seiner Maschine auseinandersetzte. Und hinter der rosenumrankten Mauer der Jardiniere höre ich die andre Konversation, wie das schlechte Echo meiner eignen.

»Ja, gnädiges Fräulein, wie man ohne Berlin existieren kann – mir schleierhaft! Mir kostet's direkt Ueberwindung, mal acht Tage im Sommer auf meine Güter zu gehen. Da ist alles so altmodisch, träge, auch die Landluft – ich bekomme melancholische Anwandlungen.« – Ich sehe dein Vogelgesicht nicht, frühreifes Karlchen, aber ich ahne, daß du die dummen, runden, braunen Vogelaugen verdrehst. Seit wann leiden Rhinocerosse an Schwermut? Oder hast du je einen gemütskranken Fisch gesehen – du? Merke dir, ohne Geist kann man beim besten Willen nicht geisteskrank werden.

»Ich verstehe das nicht ganz, Herr Graf. Ich liebe das Land leidenschaftlich; nur muß es sehr weit 103 von den großen Städten sein. Aber Sie haben wohl hier Ihre Interessen, Ihre Freunde?«

Serner fühlt die Wahrheit. »Jawohl, gnädiges Fräulein, es ist die Anregung, die Weltstadtluft, die ich haben muß.« Na, so 'n Lügner! Sag doch mal, was das für Interessen gewesen – sind – sein werden! Sein Lebenslauf ist seit einem kläglichen Durchfall durchs Fähnrichsexamen immer derselbe. Um zehn Uhr der Thee im Bett, dann der Lindenbummel, dann das Frühstück bei Dressel – Mittag im »Monopol« oder »Savoy« – abends die Operette im Lindentheater und zum Nachtisch die kleinen Mädchen im chambre séparée. Das ist unabänderlich, das ist die Unsolidität eines Philisters; derselbe Rotspohn, dieselbe Sektmarke, dieselbe Importe! Niemals der Wunsch nach einer Tollheit, meinetwegen einem Jeu, bei dem einem die Haare zu Berge stehen – niemals der Ekel vor sich selbst. Und mit so etwas spricht die grünäugige Asta!

Sie spricht sogar sehr viel, sehr liebenswürdig, flach, und immer liebenswürdiger, flacher; gerade als wenn meine wachsende Banalität ihr ein Sporn, ein Stachel wäre, endlich einmal aus sich herauszugehen, das wahre Gesicht zu zeigen: das Nichts. Ist das dein wahres Gesicht, das ureigenste, letzte, das ich bei diesem Parvenudiner schaue? – Du kannst diesem Serner folgen, der jedes Wort erst suchen muß – ohne nervös zu werden? Du kannst diesen trägen Geist so mit fortreißen, daß er stottert vor Ueberanstrengung? Du kannst ganz hell lachen über den faden Witz, dessen Pointe er erst langsam von der Decke ablesen muß?

»Gnädiges Fräulein, es ist doch ein wahrer Genuß, wenn man einmal bei allen seinen möglichen und unmöglichen Bekanntschaften endlich eine Dame findet, die man versteht, von der man verstanden wird.«

104 »Ich finde auch, Herr Graf, daß wir uns sehr gut unterhalten.« Die Grünäugige sagt das laut, fast provozierend.

Herrgott des Himmels! Und da fühle ich einen unwiderstehlichen Kitzel, den Trumpf daraufzusetzen. Ich sage vielleicht die größte Geschmacklosigkeit meines Lebens zu meiner Nachbarin: »Man fühlt sich doch nur wohl unter sich, Gräfin.« Darauf senke ich schnell mein Haupt auf den Eisteller. Ich bin rot geworden, dunkelrot – nicht aus Scham vor den andern, sondern aus Scham vor mir selbst. Und als ich wieder aufsehe – seh' ich durch das dunkle Rosengewirr der Jardiniere hindurch auf einmal zwei grüne Augen, zwei Augen, heiß, tief in der flimmernden Glut der Empörung. Es sind Astas Augen.

Verstehen wir uns beide falsch, spielen wir beide die Komödie mit verblutenden Herzen? – Ich keinesfalls.

Gott sei Dank, daß auch gleich in dem Papageigeschrei der Tafel die charakteristische Gesprächspause eintritt, in der sich Herr und Madame Le Fort verständnisvoll ansehen und den Tisch aufheben. Bomulunder leckt pflichtschuldigst sämtlichen edeln Frauen die Hand, am innigsten aber seiner Tischdame, die von der Huldigung viel weniger erbaut ist als ihre Schwester von dem gräflichen Handkuß. Ich markiere den Engländer und thue nichts dergleichen.

»Vielleicht tanzt die Jugend noch etwas?« fragt mit ihrem eleganten Lächeln die Dame des Hauses. »Und Sie, meine Herren, daß Sie sich im Rauchzimmer nicht gar zu heimisch fühlen!«

»Aber gnädige Frau, wie könnten wir!«

Selbstverständlich tanze ich nicht, obgleich ich schon von einer Königin zur Mazurka befohlen wurde. Es paßt ja auch besser zu meinem Hyperblasé, 105 Terpsichore zu verachten. Aber ich folge doch gehorsam der Gnädigen in den zum Ballsaal avancierten Salon. Die Brünette wird uns Bürgers »Lenore« vorgruseln und vorwinseln: »Sind vom Stamme jener Asra, welche sterben, wenn sie lieben«. Es ist sehr gut gemeint. Wenn man nun aber einmal zu dem Asrastamme nicht gehört und bei den packendsten Stellen immer daran denken muß, daß die Deklamatrice häßlich, daß sie bezahlt ist, daß sie so gern ihre goldene Uhr wieder haben möchte, die sie nie verloren hat . . . Das ganze Leben ist wie eine solche Deklamation: wer etwas davon haben will, darf die Deklamatrice nicht ansehen.

Louis Carén ist unter die Grübler gegangen. Zu diesem Zwecke hat er sich Astas Boudoir ausersehen, das die glänzende Zimmerflucht schließt. Erinnerungen hänge ich nicht nach. Wenn die Grünäugige den Serner ihrer für würdig hält, so ist sie auch seiner würdig. Aber ich bin müde. Und das Zimmer ist still, auch nicht sehr hell; die Töne des Walzers dringen nur ganz verschwommen herüber, vermischt mit Lachen und Geschwätz, von dem ich, Gott sei Dank, nichts verstehe. Hier will ich ausruhen von der Komödie, die die da drüben noch weiterspielen. Von Asta Le Fort ist in dem Raume nichts – höchstens der Elefantenyatagan, auf dem weiche, behende Lichter spielen. Ich hüte mich, ihn anzusehen, weil er mich reizen, mich an dieses hohle Geschöpf erinnern würde. Und das andre ist alles so neu, so blank, die Parvenuherrlichkeit, über die man lächelt . . .

Morgen kommt der Wucherer. Uebermorgen werde ich vielleicht wieder Geld haben, zu zweihundert, dreihundert Prozent – mir egal! Aber es ist das erste Mal, daß ich den schmutzigen Weg gehe. Wie hieß doch der Regimentskamerad, der Wechsel 106 fälschte? . . . Wer weiß, wie man selbst endet? Warum kommt mir all mein Leichtsinn abhanden?! – Der gelbe Schuft wird ewig leben, die Tante nie sterben . . . Und ich vergrabe mich tiefer in den Fauteuil. Der Tiergarten drüben rauscht, die Zweige nicken, ein heller Mond wirft weißes Licht auf die weiße Straße. Eine Droschke »zweiter« trottet vorüber – trapp . . . trapp. Dann Stille. Wieder setzt die Musik zu einem scharfen Galopp ein: surrender Schnellschritt, schleifender Walzer . . . Ich bin ein guter Tänzer. Aber wie kann man eigentlich tanzen?

Und da muß mich auch jemand stören. Es ist ein feiner, elastischer Frauenfuß – ich fühle ihn mehr; eine weiche, liebenswürdige Stimme sagt: »Herr Graf Carén?«

Es ist die kleine Ethel, die mich lange gesucht und endlich gefunden hat. Ich will aufspringen, sie aber beugt den reizenden Kopf auf meine Schulter und flüstert: »Bleiben Sie doch sitzen – ich hole mir den Hocker hier heran . . . so . . . Vielleicht ist's unpassend, Herr Graf? – Sagen Sie's mir nur!«

»Aber gnädiges Fräulein!«

Dann sieht sie mich prüfend an. »Wissen Sie, daß Asta gräßlich ist heute? – Es ist überhaupt gräßlich! Ich möchte viel lieber den Abend hier mit Ihnen ganz allein zusammensitzen, Herr Graf! Sie wollen einen doch nicht gleich heiraten!« – Darauf muß ich lachen. – »Ja, lachen Sie nur! . . . Mama ist auch gräßlich. Warum mußte Sie mich eigentlich partout neben diesen Bomulunder setzen? Ich wollte Sie als Tischnachbarn haben, denn Asta . . . Soll ich aus der Schule plaudern, Herr Graf? – Mit Asta zanke ich mich jetzt täglich – ich kann furchtbar ungezogen sein – und zwar 107 Ihretwegen! Was haben Sie eigentlich mit Asta vorgehabt?«

»Soviel ich weiß, nichts.«

»Ich weiß auch nichts. Aber Asta mag Sie nicht, Asta hat sich gerade den Grafen Serner gewünscht. Wer hat nun recht: Mama, die behauptet, Sie würden Millionen erben und hätten eine ganz große Carriere vor sich – oder Asta, die Sie mit einem einfachen Achselzucken abthut? – Sehen Sie, ich glaube, daß Mama ganz gewiß recht hat.«

Dagegen ich: »Ich glaube nicht, gnädiges Fräulein.«

Das will sie aber absolut nicht gelten lassen und hält mir fast den Mund zu. »Aber sie soll recht haben, ich will es, und Asta soll unrecht haben! – Deswegen brauchen Sie noch lange nicht zu denken, daß ich meine Schwester nicht sehr lieb habe . . . Asta ist weder kühl noch altklug, sie könnte, glaub' ich, einmal eine rasende Dummheit begehen. Haben Sie keine Angst, Herr Graf, daß sie mit Ihnen diese Dummheit begehen wird. – Sie sagt nun freilich, sie hätte noch niemals geliebt. Das ist gewiß nicht wahr. Ich habe mich zum Beispiel zum Sterben in meinen deutschen Lehrer verliebt und dann in einen Dresdener Gardereiter auch zum Sterben, aber ich bin überzeugt, ich wäre sterbensunglücklich geworden, wenn ich sie gekriegt hätte. Auf die wahre Liebe warte ich noch.«

»Und glauben Sie, die bei Herrn Bomulunder nicht zu finden?«

Sie schüttelt sich in reizendem Ekel: »Der raspelt so schrecklich Süßholz! ›Gnädiges Fräulein haben so wundervolles Haar – gnädiges Fräulein haben . . . haben . . . haben.‹ Ach Gott, was soll ich nicht alles für Reize haben! – Und wenn ich sie hätte, so will ich sie doch nicht für diesen 108 Bomulunder haben. – Wollen wir uns verschwören, Herr Graf?«

Mir ist das etwas schleierhaft, und ich erwidere: »Wie das, gnädiges Fräulein?«

»Nu – ich verscheuch' Ihnen den Grafen Serner und Sie mir den Bomulunder.«

Es war der Moment, wo das reizende Spiel in eine ernste Phase kam. Du kennst mein Inneres noch lange nicht, süßer Blondkopf! Ich bin verlebt, habe perverse Gelüste. – Deine Schwester als Geliebte? Sehr willkommen! Aber als Frau – nie! Und das sagte ich ihr denn auch, wenigstens das letztere: »Gnädiges Fräulein, ich habe aber gegen den Grafen Serner gar nichts. Findet Fräulein Asta Le Fort an ihm Geschmack, oder umgekehrt, so kann ich nur gratulieren. Serners sind uralter Adel, schwer reich – auch die gesellschaftliche Stellung ist beneidenswert.«

»Ist das Ihr voller – voller Ernst, Herr Graf?«

Ich sehe die blonde Ethel an, sehr ruhig, und sage: »Ich scherze nicht, gnädiges Fräulein.«

Da schüttelt sie das reizende Köpfchen, und ein Zug von süßer Schwermut fliegt über das Gesicht. »Sollte ich Sie so überschätzt haben, Herr Graf . . .« Sie wollte noch etwas sagen, aber ein Stärkerer störte unsre gegenseitige Beichte.

Madame Le Fort erscheint und wünscht dringend, daß Ethel dem Tanz und dem Schnapsbaron zurückgegeben werde. Die Kleine thut's schmollend. Und es sollte eine starke Spitze gegen die Mutter sein, als sie mir im Weggehen zurief: »Haben Sie den Herrn von Jaromir noch nicht gefunden?« – Ein strafendes Lächeln von Mama – ich befinde mich mit Madame allein. Nur einen Moment.

Sie ist liebenswürdig, schilt mich: »Wie kann 109 man seine gesellschaftlichen Talente so vernachlässigen, Herr Graf!« Von Serner kein Sterbenswort. Auch von Asta nicht. Aber als sie auf Bomulunder kommt, denke ich an die Verschwörung mit der Kleinen und an die Thatsache, daß Le Forts mir doch nichts nützen können.

»Und wie finden Sie Herrn Bomulunder, Herr Graf?«

Die Gnädige möchte ein Kompliment haben – ich höre es am Tonfall. Aber der Teufel reitet mich. Ich setze das Monocle fester und sehe so dumm wie möglich drein: »Bomulunder? – ist denn das ein Mensch? Ich dachte, das wäre nur ein Schnaps.«

Madame zuckt nicht zusammen, Madame bleibt Weltdame. Madame lächelt leer. »Sie waren schon witziger, Herr Graf.« – Das muß ich zugeben, auch daß das Alleinsein in Astas Boudoir wohl reizend auf meine Nerven, nicht aber auch kräftigend auf meinen Verstand wirkt. Madame eskortiert mich an ihrem Arm zurück durch das gotische Speisezimmer, den Tanzsaal, wo eben die veritable Gräfin schimmelt – bis zu dem Rauchzimmer gegenüber.

Ich soll durch Schnaps und Nikotin in eine gute Stimmung versetzt werden.

»Da wäre ja der Hauptaktionär!« Natürlich schreit mir das der Doppeldoktor entgegen. Ich muß irgend eine angeregte Börsenunterhaltung unterbrochen haben, denn die Augen glänzen allesamt sehr lebhaft, und ich werde stark beglotzt. Ich bin kühl, habe gar nicht den Wunsch, mich mit diesen Spekulanten zu verbrüdern. Der Doppeldoktor merkt's und läßt mich zufrieden. Ich hocke auf einen Lutherstuhl, den mir Herr Le Fort selbst herangeschoben hat.

Handelt der Millionär vielleicht noch mit Schnäpsen und Importen? – Edles Kraut, die kostbarsten Marken . . . aber wozu die Verschwendung? Wozu 110 diese vollen Kisten mit den aufdringlichen goldenen Bauchbinden? Das ist zu viel, Herr Le Fort, das ist Parvenumanier, zumal du selbst inmitten dieses Ueberflusses dasitzst mit einer kurzen englischen Schifferpfeife zwischen den Zähnen. Du verachtest die Feinschmeckerei der »Echten«. Du hast ein Recht dazu, denn so mit der Pfeife im Munde, ohne Finessen, ja eigentlich ohne Geschmack, hast du deine Millionen zusammengerafft, und so schmeißt du die Brosamen deines Reichtums deinen Gästen vor: hier nehmt's! Warum schiebst du uns nicht mit dem Fuße die Zigarrenkisten hin? – Die andern merken's nicht. Sie rauchen hastig ganz dicke Wolken, um so viel wie möglich von diesem edeln Gifte zu verschwenden, sie werden auch noch zwei Festrüben in Stanniol auf ihren Heimweg nehmen. Aber du vergißt den Grafen Carén, der vielleicht um so empfindlicher ist, weil er nichts mehr besitzt. Er hütet sich vor den Riesenimperials, die er in aller Mund erblickt. Er raucht eine ganz kleine Capitana mit dunkelm, blankem Deckblatt; sie ist mäßig, aber er raucht die billigste, unscheinbarste, weil er die Mauer markieren will, die sich zwischen der geschmackvollen Tradition und den zusammengerafften, geschmacklosen Millionen aufbaut. Und wenn er so lange zwischen den unzähligen Schnapsflaschen umhersucht, unhöflich langsam, wenn er den Kräuterduft der grünen Chartreuse verachtet, die Rubinfarbe des holländischen Sherry-Brandy nicht zu sehen scheint und über die bauchige Flasche eines uralten Cognac einfach hinwegsieht und sagt: »Haben Sie keinen Gilka oder . . .« – Die andern erraten, was ich sagen will, und schreien »Bomulunder!« Ein tolles Gelächter entsteht. Sie halten's für einen Witz – es soll keiner sein – sondern nur eine Kritik für Le Forts und ihre Gesellschaft.

111 Vielleicht ist's Stimmung bei mir, der schmutzige Hundertmarkschein, der mich nervös macht – aber auch das Zimmer ist das Zimmer eines Parvenus. Es paßt zu dir, das schwere, geschnitzte, nagelneue Eichen, dicker Koloß! Sieh mal, eine Renaissance-Einrichtung ist schön, sie hat etwas Herbes, Unnahbares (wie deine Tochter) – Renaissance hat etwas von der Antike, und das ist natürlich; aber sie ist aus ihrer Zeit herausgewachsen, aus einer großen Zeit. Und du versetzt sie in die Händelstraße, in die Mietsvilla. An dem Riesenschreibtisch mit dem Riesenstuhl sollte Cesare Borgia sitzen mit der Riesensinnlichkeit und der dämonischen Herzenskälte. Und in dem hohen, eichengefaßten Spiegel sollte Lucrezia ihr schönes Angesicht schauen – die Schwester, die Heilige von Ferrara! Ha! Und in den goldverzierten phantastischen Gläsern auf dem Paneel müßte das farblose Gift leuchten, das nach der Mär die Brut Alexanders VI. so gut zu brauen verstand. Und dafür sitzt hier Monsieur Le Fort mit dem englischen Kotelettebart, dem brutalen Gesicht ohne Güte, der Schifferpfeife, und um ihn die kleinen Schakale mit der Gier nach dem Golde, dem Fetzen des Reichtums, den sie dem Löwen entreißen möchten.

»Das ist ein Mann von mindestens fünftausend Mille.«

»Ja, der ist kolossal reich.«

»Und alles in zwei Jahren mit Grundstückspekulationen im Westen.«

Herr Le Fort schweigt. Er verachtet dies Lallen.

Aber mich reizt es doch, immer wieder zuzuhören: es liegt ein merkwürdiger Kitzel in dieser Geldunterhaltung. Die Leute haben wahrscheinlich allesamt nichts, verstehen nichts von irgend einem Geschäft. Die Kohlenstaubverbrennung ist ihnen ein böhmisches Dorf – aber in Gedanken im Golde 112 wühlen zu können, in hunderttausend Mille – je mehr, je besser, und ganz gleichgültig, wie sie erworben –, das ist ihr Genuß, das regt mehr an als Upmann und Chartreuse. Reich werden, maßlos reich – ohne Arbeit, ohne Talent, durch einen Trick, eine Gemeinheit: das ist die fixe Idee, die aus allen diesen Augen leuchtet. Darum kommen sie mir alle so uniform vor, diese Menschen, obgleich sie sehr verschieden sind. Darum vermag ich nicht die einzelnen Typen zu packen, weil sie alle nur wie Spielarten des einen großen Typus, der Geldgier, sind.

Und Le Fort sitzt mitten unter ihnen, die ihm widerwärtig schmeicheln, die ihn ausholen möchten – ganz ruhig, ein unbeweglicher Koloß, um den die Wellen branden. Ist er der glückliche Nabob, den eine Schicksalslaune ohne Schuld zu schwindelnder Höhe hob, und der nun stumpf, dumpf, brutal vor seinem Golde, seinem Götzen sitzt, einem richtigen Fetisch, weil er das sinnlose Walten nicht begreift? Oder ist er das amerikanische Millionenraubtier, das sich vom Schreibtische nicht rührt und mit einem Druck auf den elektrischen Knopf, einer Ordre durchs Telephon die kleinen Opfer erschlägt? – Jetzt gähnt er mit seinem großen Munde, und da kommt er mir wieder vor wie ein Walfisch, der den Rachen aufsperrt, bis ihm die Sprotten den Schlund haufenweise füllen.

In dieser anregenden Beschäftigung, dem Nächsten Gemeinheiten nachzusagen, werde ich wiederum gestört. Wieder ist's die kleine Ethel, die mit einer reizenden Nichtachtung der Milles und des heiligen Rauchzimmers zu uns eindringt. Alles springt galant, dienstbeflissen auf. Vor dem Zauber dieser Rosenknospe verliert auch der Zauber der Millionen seine Bannkraft. Ethel verzieht sehr komisch das Stumpfnäschen angesichts des Qualms: »O, 113 lassen Sie sich nicht stören, meine Herren! Ich höre schon wieder Mille . . . Mille . . . Mille . . . Ich gehe auch gleich wieder. Herr Graf, Sie aber müssen mitkommen!«

Selbstverständlich bin ich sofort bereit. Zur Vorsicht nimmt sie mich noch unter den Arm. »Und gnädiges Fräulein befehlen?«

Sie läßt sich aber auf keine Erörterungen ein, bis sie mich im Tanzsalon hat. Eine Polka tönt. Damen verbeugen sich vor Herren, die »Veritable« vor Bomulunder. Der Blondkopf macht mir einen ganz leichten, graziösen Knicks: »Damenwahl, Herr Graf! Sie müssen schon mit mir tanzen . . .«

Einem solchen Befehle gegenüber würden auch die Gebrechen eines Krüppels machtlos sein. Ich wirble sie ein halbdutzendmal im Zimmer herum; sie lehnt sich so allerliebst an mit der weißen, weichen Schulter – sie denkt sich gar nichts dabei! So bin ich also als Tänzer entlarvt und denke an irgend eine Lüge für die »Veritable«, die mich entgeistert ansieht. Aber der Blondkopf läßt meine Reuegedanken gar nicht ausreifen, bedeutet mir mit einer entzückenden Kopfbewegung, daß er von mir in das Eßzimmer nebenan geführt zu werden wünscht. Ich drücke ganz leicht den hübschen vollen Arm, an dem sie mich entführt. Wer wäre Asket angesichts solcher Jugend! Und Ethel verlangt das auch gar nicht von mir.

Im Eßzimmer, wo nur noch die Jardinieren mit den dunkeln Rosen den Tisch zieren, nimmt sie mich in eine Ecke. Ich glaube sogar, sie hat mich an einem Frackknopfe gefaßt. »Wissen Sie, warum ich Sie geholt habe?«

Ich bin wieder mal nicht sehr scharfsinnig.

»Um den Bomulunder zu ärgern und Asta eifersüchtig zu machen!«

114 »Sehr schmeichelhaft, gnädiges Fräulein.«

»Ach, seien Sie nicht immer so spöttisch, Herr Graf! . . . Der Bomulunder hat den ganzen Abend mit mir getanzt, und bei der Damenwahl hole ich Sie – Sie ganz allein, der mit niemand tanzt.« Sie reibt sich lachend die Hände. »Den Kerl zu ärgern, ist mir ein Hochgenuß! Ich sage Ihnen, er ist zu sehr fade . . .« – fährt sie in reizender Verzweiflung fort – »immer von seinen dreiundzwanzigsten Husaren . . . und wie gut er reitet! . . . Das dritte Wort ist ›Herr Lieutenant‹, wenn er von sich was erzählt. – Und er ist doch nur Reserve!«

»Das bin ich auch nur, gnädiges Fräulein.«

»Aber sechster Garde-Ulan und Graf! . . . O, Ihretwegen habe ich mir extra eine Rangliste gekauft. Seite 1203, da wimmelt's ordentlich von Prinzen und Grafen! – Das ist so komisch bei Ihnen in Deutschland, wenn einer recht vornehm ist, so hat er ein halbes Dutzend Vornamen: Johann Friedrich August – und eigentlich keinen Familiennamen, genau so wie unser Diener auch. – Im übrigen, bürgerliche Reserve-Offiziere haben die sechsten Ulanen überhaupt nicht. Sie sind das einzige Regiment, das keine bürgerlichen Reserve-Offiziere hat.«

Diese Wahrheit ist bitter, wenn man gerade noch einen schmutzigen blauen Lappen besitzt und die Tabatiere Friedrichs des Großen versilbert hat.

Ethel fährt geschäftig fort: »O, das habe ich ihm auch unter die Nase gerieben: ›Die vornehmen Regimenter haben doch überhaupt keine bürgerlichen Reserve-Offiziere – nicht wahr, Herr von Bomulunder?‹ Ich kann so falsch sein und so unschuldig aussehen, wenn ich will! Er dachte auch wirklich, ich hielte ihn für adelig, und wurde ganz rot. Der – und Edelmann! Da könnte ich ebensogut Ethel Freiin von Le Fort heißen, ich glaube sogar, noch besser! . . . 115 Aber zu guter Letzt mußte ich bei der Komödie doch lachen, und da kam zum Glück die Damenwahl.«

Ich wollte die kleine Unbotmäßige dem Salon wiedergeben, um ihr eine Strafpredigt der Mutter zu ersparen; aber sie that's nicht.

»Nun kommt ja die Hauptsache, Herr Graf! – Fabriziert er wirklich Schnaps, wie der blonde Lieutenant gesagt hat?«

»Sein Vater wenigstens that's, gnädiges Fräulein!«

Darauf schüttelt sie sich in nicht enden wollendem Grauen. »O Gott, Schnaps – Schnaps!« Das häßliche Wort klang so komisch aus ihrem reizenden Mund. Dann aber lachte sie hell auf und sprang vergnügt wie ein Kind auf dem stöhnenden Parkett in die Höhe. »Wenn er mich nochmals ärgert mit seinen dreiundzwanzigsten Husaren, dann sag' ich ganz gleichmütig: ›Herr Lieutenant, mein allerliebstes Getränk ist Bomulunder . . .‹ Wie sieht er doch aus, Herr Graf?«

»Braun, achteckige Flasche – das Liter kostet eine Mark zwanzig.«

»Das ist sehr billig.« Sie scheint etwas enttäuscht. »Aber ich kann ja schrecklich geizig sein und fortfahren: ›Von Ihnen direkt kann ich ihn doch billiger bekommen, Herr Bomulunder?‹«

»Aber gnädiges Fräulein!« mahne ich bei dieser Backfischidee. »Nun führe ich Sie zu Ihren guten Göttern zurück. Ich bekomme heute abend nicht die Strafpredigt von Ihrer Frau Mutter – und der blonde Boxer wartet schon so sehnsüchtig!«

»Thut er das? Um so besser.« Die blonde Ethel ist auf einmal sehr kühl. »Bei der Mazurka vorhin, der einzigen, die ich mit ihm tanzte, saß ich wie auf Kohlen – noch ein einziges freundliches Wort von mir – und er hätte gesagt: ›Angebetete 116 Ethel, darf ich bei deiner Mutter noch heute um deine Hand bitten? . . .‹«

Madame Le Fort gleitet lautlos ins Zimmer. Ich mache irgend eine Verlegenheitsbewegung, die sie ganz richtig deutet. Sie sagt mit unwiderstehlichem Lächeln: »Nur nicht stören lassen, meine Herrschaften! Mein Bruder ist eben gekommen . . . Wenn Sie nachher Zeit haben, Herr Graf . . . Er wird sich gewiß sehr freuen, Sie kennen zu lernen.« Sie entschwindet, ohne meine Antwort abzuwarten. Seltsam – wenn das Weib im Zimmer gewesen ist, ist's mir immer, als wenn niemand drin gewesen wäre!

»Ihre Frau Mama ist aber vortrefflicher Laune,« tröste ich.

Fräulein Ethel ist andrer Meinung. »Wer weiß! Manchmal ist sie am liebenswürdigsten, wenn sie am bösesten ist. Aber bah! Ich halte mir die Ohren zu . . . Nun brauche ich wenigstens nicht gleich zu dem Lieutenant.« Darauf wird sie ernst. Der Ernst giebt so reizenden Köpfen immer etwas Wehmütiges. – »Ich glaube, ich werde mich nie verheiraten, wenigstens nicht glücklich. Einer will mein Gesicht und mein Geld, der andre nur mein Geld. Aber was hier ist . . .« sie tippt mit dem schlanken Finger nach der Herzgegend –, »das interessiert niemand.«

»Zum Beispiel mich außerordentlich, gnädiges Fräulein!«

»Sie, Herr Graf? – Sie wollen eine Eloge hören, nicht wahr? Ich aber glaube, mir ginge es mit Ihnen, wie es mir mit dem Zeichenlehrer und dem Gardereiter gegangen wäre – ich wäre todunglücklich geworden mit ihnen. Nicht etwa deswegen, weil's eine Kinderei ist, oder weil ich Sie unter keinen Umständen gernhaben könnte, sondern 117 weil Sie eben etwas suchen, etwas ganz andres, als ich besitze.«

»Gnädiges Fräulein sprechen in Rätseln.«

»Gewiß, Herr Graf, Sie könnten mich totschlagen, wenn ich Ihnen sagen sollte, was dieses Etwas ist. Aber Sie verdienen dieses Etwas. Seien Sie doch froh, daß Sie's verdienen! . . . Sagen Sie – ich bin wieder sehr zudringlich –, haben Sie für meine Schwester Asta gar nichts übrig?«

»Etwas? Nein! Aber alles.«

Bei der Ironie wird sie zornig, will fort, und ich versuche, sie meinerseits an ihrem Spitzenärmel zu halten: »Nicht so hastig, gnädiges Fräulein!«

»Lassen Sie mich los, oder ich schlage – ich schlage ganz gewiß!« Und sie hebt schon den Fächer. »Ich bin kein Kind. Und meine Schwester Asta verdient eher alles andre als Ironie.«

Darauf verbeuge ich mich schuldbewußt. Mir thut's leid, den süßen Blondkopf geärgert zu haben. Und sie ahnt das auch, ahnt, daß ich ihre Schwester Asta totquälen könnte, ihr aber kein einziges Haar krümmen – so jung und süß und unschuldig ist sie!

An der geöffneten Salonthür dreht sie sich noch einmal um und ruft mir durch die hohle Hand gedämpft zu: »Als was wünschen Sie mich wiederzusehen, Herr Graf? Als Frau Schnapsfabrikant Bomulunder, Reserve des dreiundzwanzigsten Husarenregiments – oder als Frau Lieutenant von . . . o, ich weiß meinen eignen Namen nicht! . . . auf sechs Monate zum Boxen kommandiert? – Sie haben nur zu wünschen!«

Dann entschwindet der neckische Sonnenstrahl. Das gotische Zimmer ist wieder sehr düster und feierlich.

Ich habe keinen Appetit mehr auf den Bruder von Frau Le Fort – überhaupt auf nichts.

118 Wieder sitze ich im Rauchzimmer. eingekeilt zwischen dem Koloß und dem Doppeldoktor. Die Unterhaltung ist angeregt. An den wortkargen Grafen hat man sich gewöhnt. Die Leute thun recht daran, denn ob auf dem Eichenstuhle meine Wenigkeit oder eine Gliederpuppe sitzt, kann der Millionenhatz ziemlich gleichgültig sein. Ich höre nur »Mille«, immer wieder »Mille« – und höre in Wahrheit nichts. Mich beschäftigt ein andres Problem. – Wie kommen diese Eltern zu diesen Kindern? Erzeuger und Erzeugte trennt eine Kluft; sie sind sich völlig unähnlich. Ist die ganze Vererbungstheorie ein Unsinn? Oder haben wir's mit einem seltenen Spiele der Natur zu thun, die mal frei schaffen wollte, ohne Tradition, ohne Prämissen – oder bin ich zu dumm?

Mir ist's recht, daß die Tanzfarce bald ein Ende hat, daß einige Frauen sich angelegentlich nach ihren Männern erkundigen. Der gewisse Blick – das gewisse Räuspern – man erhebt sich zögernd. Unten halten die Droschken. Madame hat für alles gesorgt. Die Kandelaber im Treppenflure flackern, das pompejanische Rot der Wände leuchtet wie Blut, und die Diener strecken diskret die Trinkgeldhand aus.

Ich verschmähe die Fahrgelegenheit. Ich habe Lust, allein zu sein, zu gehen, zu träumen. Der Tiergarten liegt so hübsch düster-einsam, nur die Blätter rascheln leise, und der Mond wirft fahle Schlaglichter auf die gelben Reitwege. Er soll unsicher sein, der Lustpark Berlins, um zwei Uhr nachts. Meinetwegen. Wenn euch lumpige hundert Mark reizen, meine Herren Verbrecher – kommt und holt sie! Ich hänge ja nicht am Gelde. Aber ohne weiteres gebe ich sie euch auch nicht – ich verlange dafür wenigstens einen Schlag auf die Schädeldecke, der mich für ewig stumm macht. Wär's schade um das schöne Haupt? Sei ehrlich, Louis! Wenn du 119 den Bericht über deinen eignen gewaltsamen Tod zu verfassen hättest, es würde ein kühler Bericht sein mit dem Schlußsatze: Er starb zu rechter Zeit.

Mit solchen Gedanken wandle ich durch die Sommernacht. Sie ist schwül, schwer; unter dem grünen Walddache brütet die stumme Hitze. Und wenn ein Luftzug durch die Blätter geht, matt, ohne Frische, fast ohne Laut, erstickt von der Schwüle – dann bleibe ich stehen. Im Mondlichte spielen die feinen Blätterschatten auf dem Kies, und die schwarzen Stämme heben sich unheimlicher aus der verschwommenen Helle. Weiter hinten verfließt's in Grau und Grau, in Hitze und Dunst. Ich bange vor keinem Ueberfall, ich horche nur. Es kommt mir vor wie ein Atemzug von weit, weit her, dem allmählich die Kraft erlahmt, der stirbt. Und endlich begreife ich's. Berlin atmet. Er ist so qualvoll-ungesund, dieser Atemzug, er kommt von einem Kranken, den der lärmende Tag über die Not, das Elend hinweggetäuscht hat. Jetzt liegt er fiebermatt auf seinem Nachtlager, und jetzt fühlt er erst den verpesteten Hauch, das Miasma, den Fieberdunst, der mit der ungesunden Schwüle ekel, gierig durch die Mauern und die Fenster dringt, ihn umwogt, drückt, langsam tötet. Und er vermag nichts gegen ihn, er fühlt nur die unsagbare Angst, den Alp – dennoch ist er froh, daß ihm der Gifthauch noch gnädig den verstohlenen, feigen Atemzug zurückläßt, von dem er nicht leben kann und nicht sterben. Ich weiß nicht, wie ich auf diesen blöden Vergleich komme. Aber auch ich fühle den Alp hier in der Natur, im Walde, in der Nachtfrische – ich fühle auch das Gift – ich fühle auch, daß ich selbst ein Kranker bin. Berlin in dem bangen Halbschlummer ist bedrückend. Oder sind nur meine eignen Nerven krank? Was ich vernehme, ist vielleicht der Atem eines Gesunden, 120 eines traumlos Schlummernden. Ja, traumlos muß der Schlaf sein – denn Berlin träumt nie . . .

Strich. Der schmierige Hundertmarkschein macht mich zum Phantasten. Ich wollte mich schadlos halten für die Abenteuer, die ich im Tiergarten nicht erlebte. Auch waren Le Forts Weine superb, und vielleicht habe ich ihnen zu stark zugesprochen. Jedenfalls je näher ich dem sterbenden Kranken komme, je mehr fühle ich, daß er recht geräuschvoll atmet. Am Brandenburger Thore erkenne ich, daß der Kranke gesund ist.

Ich trete auf den hübschen großen Platz, der die Königgrätzerstraße hier ebenso aristokratisch abschließt wie auf der andern Seite das Hallesche Thor plebejisch. Einige Schutzleute turnen um den großen Kandelaber in der Mitte herum und haben wohl auch die Empfindung, daß man nur den feurigen Laternenlinien rechts oder links zu folgen braucht, um etwas Pläsierliches zu finden. Geradeaus, wo's wie ein Leuchtkäferschwarm durch die Säulengänge des Brandenburger Thores blitzt, bin ich sicher, daß ich etwas Pläsierliches finden muß. Ich habe auf einmal Appetit auf eine Schale »Nuß« bei Bauer, und der kühle Springbrunnen des Riesencafés erweckt mir schon jetzt in der Erwartung angenehme Gefühle. Vielleicht langt's auch noch zu einem »Prince of Wales« in der »Metropolitan Bar«, oder – oder . . . Die Nachtlokale liegen so hübsch zusammen. Warum soll ich nicht einmal wieder Patschuli einatmen und falsche Steine sehen und höchstes Berlinisch hören? – Die Moral gehört den Kranken; ich bin, Gott sei Dank, gesund.

Ich setze mich in schärferes Tempo und habe schon den Posten an der Thorwache passiert, als ich plötzlich eine Stimme höre: »Herr Graf! Herr Graf!« Es klingt bekannt und auch wieder nicht. 121 Anstandshalber muß ich doch etwas nach rückwärts schielen. Und da bin ich aufgeschmissen. Ich sehe zwei Gestalten, von denen die eine der Doppeldoktor ist. Ich murmle einen ingrimmigen Fluch, den ich den Näherkommenden höflich in: »Ach Sie, meine Herren!« verdolmetsche. Im übrigen wäre der Doktor auch der Mann, sich um meine Verachtung oder meinen Aerger gar nicht zu kümmern.

»Wandeln Sie lust, oder wandeln Sie nacht, Herr Graf?«

»Lust.«

»Dann sind Sie unser Mann!« Auch die andre Gestalt kommt zögernd etwas näher. Der Doppeldoktor winkt mit dem Stocke: »Immer 'ran, meine Herrschaften. – So, das ist jetzt Mensurabstand. Darf ich Sie bekannt machen: Herr Dr. med. Lister – Herr Graf Carén.«

Da bliebe dir also heute nichts erspart, Louis. Natürlich ist der andre der Bruder der Madame Le Fort, der fabelhafte Onkel der grünäugigen Asta. Wir drücken uns nach englischer Manier die Hand – ich kühl, er kühler. Was Asta nur an diesem Manne hat! . . . Jedenfalls will ich versuchen, objektiv zu sein. Er ist gut gewachsen, groß; ich muß mein gräfliches Rückgrat sehr steifen, um ihm über zu sein – er geht etwas gebückt; ginge er gerade, wäre er mir unbedingt über. Aber Leute mit schwarzen Schlapphüten, lotterigen Jacketts und grauen Beinkleidern ohne Plättfalte kokettieren natürlich mit einer genialen Bummligkeit. Das soll so Künstler, großer Geist sein. Dabei gehört Herr Lister zu den Menschen, denen man die peinlichste Sauberkeit ordentlich anriecht. Wäsche und Zeug altmodisch, aber tadellos, und der schwarze Bindeschlips von einer Façon, deren Geburt ich aus Malice gerne erfragen möchte. Ich habe nun einmal gegen diesen Onkel etwas. 122 Ich habe es um so mehr, weil ihm die Grünäugige aus den Augen geschnitten ist. Es ist ein vornehmer, sogar schöner Kopf, so scharfe, kluge Linien wie bei Asta; über der schmalen Lippe ein schneeweißer Schnurrbart, die Brauen buschig, auch schneeweiß, und unter der tiefen Wölbung das große, grüne Auge, Astas Auge – aber gut. Ich gebe ihm das ungern zu. Sonst hat er das Gesicht eines Menschen, der sich viel und mit kaltem Wasser wäscht. Wär's einer aus unsrer Sippe, würde ich sagen: »Er trägt sich distinguiert salopp!« So heißt er Lister, und ich werde ihm die Vornehmheit nie zugestehen, sondern nur sagen: »anmaßend salopp«. Er ist vielleicht fünfzig Jahr. Die sieht man ihm an, zum Unterschied von der Schwester, der man auch die siebzig nicht ansehen würde.

Jedenfalls ist Graf Carén bei Herrn Lister durch Asta Le Fort schon lange empfohlen – aber nicht gut! Ich seh's an dem flüchtigen halben Blicke, den er mir gönnt. Dabei ist der Blick trotz der Flüchtigkeit scharf, kritisch, und die grünen Augen flackern in starker Voreingenommenheit. Mir kann's gleichgültig sein. Bei dem, was ich von Asta Le Fort gern haben möchte, wird er mir doch nie behilflich sein. Wir haben eben gegeneinander die Abneigung à tout prix. Er liebt meine Laster ebenso heiß wie ich seine Tugenden. Wir sind aufeinander gehetzt, lange ehe wir uns kannten, und benehmen uns entsprechend. Er mit der bescheidenen Höflichkeit, die besser abschließt als ein Stahldrahtzaun – ich mit der höhnischen Kälte, die so einladend wirkt wie die Portalaufschrift: »Vorsicht! Böse Hunde!« – Und dann bin ich auch der Jüngere, der Lasterhafte; mir macht's Vergnügen, eine Gefühlsroheit zu äußern, die ich weiß Gott nicht besitze.

»Sie waren schon früher in Berlin, Herr Graf?«

123 Das ist so hübsch, leicht, konventionell von Herrn Lister gefragt. Ich brauche nur zu antworten: »Allerdings, man amüsiert sich eben nur in Berlin« – und ich habe den Blödsinnsrekord des frühreifen Karlchen um unzählige Längen geschlagen. Aber wir wandeln gerade über den Pariser Platz, der mit seinen stummen, weißen Palais, seinen abgestellten Fontänen, seinen unbewegten Blumenbosketts so aristokratisch tot daliegt. Und ich fühle, daß ich hier thatsächlich der Stärkere, der Graf, der Flaneur bin, der keinen Bürgerlichen in dieser schlafenden, vornehmen Welt für Gottes Geschöpf anzusehen braucht – genau wie bei Tage. Ich erwidere drum: »Ja und nein, Herr Lister . . . Ich war hier ein Jahr aktiver Offizier und kenne außer dem Staube des Tempelhofer Feldes ungefähr ein Häusercarré da so 'rum. Das genügt mir auch vollständig. Wenn ich übrigens scheußliche Gerüche haben wollte, delektierte ich mich an meiner Rekruteninstruktion in der Kaserne wintermorgens von sieben bis acht.« Der Tugendonkel schweigt befriedigt. Auf solche Horizontenge hatte ihn selbst die Grünäugige nicht vorbereitet. Aber ich bin noch nicht zu Ende. »Was ist überhaupt Berlin für unsereinen? Vier anständige Lokale bei Tage, vier nicht anständige bei Nacht. In die anständigen geht man in Uniform, in die andern in Zivil. Die Uniformsaffairen sind langweiliger, die Zivilmaskeraden teurer – und der Zweck der Uebung heißt: freie Zeit totschlagen.«

Der Tugendonkel wirft mir einen scharfen, schillernden Blick zu: »Dann kennen Sie also Berlin gar nicht, Herr Graf?«

Ich bin höchlich erstaunt. »Ach, Sie meinen das andre Berlin, den Riesendunstkreis, den man schon aus Meilen von der Bahn aus erblickt, und vor dem ich mich stets graue, weil er unheimlich viel Schmutz 124 und Häßlichkeit umhüllen muß – vielleicht auch Not, Elend . . . Das soll ja wohl das eigentliche Berlin sein. Aber was sollen wir mit dem? . . . Im Anfange hat man noch seine Mitleidswallungen, man kauft den hübschesten Mädchen der Heilsarmee einen ›Kriegsruf‹ ab – so eine Art urfideler Bon auf den Temperenzlerhimmel. Auch der häßlichen Blumenfrauen erbarmt man sich, der Wachsstreichhölzerkrüppel und der bettelnden Weiber mit wachsgelben Säuglingen im Arm noch nach Mitternacht. Dann wird man härter. Diese polizeilich gestattete Bettelei geniert. Helfen kann man allen doch nicht – und alle diese Unglücklichen sollen ja noch obendrein wohlhabende Häuserbesitzer sein.«

Ich beabsichtige, Herrn Listers tugendhafte Empörung zu wecken. Doch Herr Lister schweigt – schweigt.

Die Unterhaltung schläft ein. Der Doppeldoktor träumt, die Fäuste in den Paletottaschen, von endlosen Milles; ich pfeife einen Walzer. Die Linden sind tot, grau, dunstig, mit geschlossenen Schaufenstern, stickigen, düsteren Portalen. Die Droschkenpferde nicken auf ihren Ständen ein, auch die Bäume schlafen. Für sie ist es ein ungesunder Halbschlummer unter dem Gaslicht, das hell durch das Blattgrün und matt auf dem Pflaster glänzt. Wir sind schon an der Passage; die eisernen Gitter sind geschlossen. Im »Englischen Büffett« nebenan schimpfen ein paar betrunkene Jockeys. Ich höre englische Flüche . . .

Da tritt aus dem hochgewölbten Portale eine Gestalt – ein Mädchen, eins von den halberwachsenen Geschöpfen des Weltstadtelendes, die nie aufwachsen. Sie ist jung, sie ist verdorben, sie bettelt uns an mit der angelernten, unverständlichen Winselei, die mir trotzdem Grauen macht, weil sie immer eine furchtbare Geschichte hat. Das ist deine Versuchung, heiliger Louis!

125 Und Louis Carén fällt wirklich aus der Rolle. Einem Bettler nichts geben? Nein, alter Freund, das bringst du doch nicht fertig! Natürlich ist's Schwäche. Aber ich hasse auch dieses erbärmlich vernünftige Wohlthun, das immer erst nach der Würdigkeit fragt, ehe es den Nickel 'rausrückt. ›Sie riechen nach Schnaps – darum gebe ich Ihnen nichts.‹ Und dann sagt der Würdige wieder zu sich selbst: ›Ja, wenn er schuldlos ins Elend gekommen wäre – wie gerne würde ich ihm helfen! Aber hier wäre es Sünde. Ich darf nicht noch ein Laster unterstützen . . .‹ Verwünschtes Pharisäertum! Ich gebe immer wahllos, ohne zu denken – immer zu viel. Das Elend greift meine Nerven an. Ich will mich schnell loskaufen: Bleibt mir vom Leibe mit euern Leidensgeschichten! – Ob erlogen oder nicht, sie sind immer schrecklich. Und nun dieses junge, graue, in der Entwicklung zurückgehaltene Geschöpf – ob's fremde Laster nun sind oder eigne Sünden – ist mir gerade der schrecklichste Typus: es ist die schon im Mutterleibe vergiftete Brut der Weltstadt! . . .

»Hier, nimm!« Ich gebe alles Silber, was ich noch habe, ohne sie überhaupt anzusehen. Grübeln mag ich nicht. Man kommt dabei immer auf eine Riesensünde der Menschheit! – Und während ich dem Wurme das Geld in die Hand schiebe, fühle ich ordentlich einen fast stechenden Blick des Tugendonkels. Ist ihm vielleicht das auch nicht recht? – Er giebt doch selbst, und dem Klange nach ist's nicht Kupfer oder Nickel.

»Sie werden Ihren Prinzipien untreu, Herr Graf! Es ist ein Geschöpf, das ganz sicher in der Gosse verenden wird und vielleicht wenig Mitleid verdient.«

Das klingt hart, höhnisch aus Herrn Listers Mund. Und ich kann ihm nur mit einem ganz 126 bösen Blick erwidern: »Das weiß ich, und eben deshalb gebe ich!«

Bei Café Bauer will ich mich verabschieden. Aber der Doktor ist ein Nachtvogel und will mit – der Tugendonkel auch. Ich habe beide nicht aufgefordert.

Und während die Kaffeetassen um mich klappern und die anständigen Bummler sich an den Marmortischchen und der plätschernden Fontäne vorüber ins Lokal drücken, träume ich – nicht von den Le Fortschen Mädchen. Eine Pariser Erinnerung ist mir auf einmal wach geworden. Ich sehe ein schmutziges, fröstelndes Kind schlaftrunken an meiner Hand torkeln. Ich habe sie halb erstarrt an einer Ecke des Konkordienplatzes aufgelesen und schleppe sie in meine hyperelegante Garçonwohnung im Quartier Saint Germain. Ich will den Diener nicht wecken, ich präpariere selbst einen höllisch starken Mokka, während das auffallend hübsche Mädchen wie halb benebelt neben mir blinzelt. Dann lege ich sie auf meine Chaiselongue und decke sie selbst zu. Dort schläft sie sofort den bleiernen Kinderschlaf, den sie seit drei Tagen an Straßenecken, auf Thürschwellen vergeblich gesucht, weil die Winterkälte sie immer wieder aufjagte. Das unglückliche Wurm traut sich nicht nach Hause, weil man ihm das Geld für die Blumen gestohlen hat. – Zum Danke für meine Wohlthat hat sie mir am andern Tage eine kostbare Perlennadel gemaust. Mein Diener war maßlos empört, und meine Bekannten lachten. Ich war feige und lachte mit. Aber wenn ich mich jetzt ehrlich frage: Ist's dir um die Perlennadel leid und diesen selbstgebrauten Kaffee nach einem Souper beim russischen Botschafter? – so muß ich antworten: nicht einen Augenblick! Denn als ich das schlafende Kind des Elends inmitten meiner vornehmen Einrichtung mir ansah und mir kalt sagte, daß zwei Jahre später sie 127 innerlich ebenso schmutzig sein würde wie jetzt nur im Gesichte – da begriff ich zuerst die ungeheure Sünde, die das ungeheure Paris gerade an der jungen Menschheit begeht. Ich hätte dem Wurm aus dem Schlamme helfen sollen – ich gab ihm Geld – es war bequemer so – vielleicht kam ich auch gar nicht auf den andern Gedanken. 128

 


 


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