Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Elftes Kapitel.

Ich werde noch stumpfsinniger – noch . . .

Ich verkehre beinah mit niemand mehr; nur eine schlechte Gewohnheit fesselt mich an das Haus in der Händelstraße, obgleich ich da nichts zu suchen habe. Es ärgert und erfreut mich auch positiv nichts. Ist's eigentlich glaublich, daß einen der Müßiggang so 'runterbringen kann? – Madame behandelt mich wie einen Schwerkranken, sie weiß, daß es nur eine Etage tiefer in der entsetzlichen Etagenreihe ist, die ich noch hinabzusteigen habe. Weil ich nicht mehr zu retten bin, darum thue ich ihr leid. Ich hoffe, die Zeit kommt, wo ich gänzlich verblödet umherlaufe und Gras fresse wie König Nebukadnezar in seinen alten Tagen.

Dem Liebespaar auf dem Asphalt. das so fest sitzt wie das Scheffelsche und glücklich sein würde, wenn ich zu seiner Zerstreuung einige Erisäpfel würfe, kann ich kaum mehr ein Dorn im Auge sein. Sie dulden mich mit vieler Ruhe. Später, wenn das große Wort endlich gesprochen, hoffe ich, auf den üblichen poetischen Spaziergängen aller glücklichen Brautleute mitgenommen zu werden. Ich werde diskreter sein als ein Lakai, der beim Küssen vielleicht doch verschleiert lächeln, vielleicht zu 246 auffällig hinwegsehen würde. – O Grünäugige, wie ich dir den Honigmond mit dem Serner gönne! Wenn's in Liebesangelegenheiten einen lästigen Hut zu halten geben sollte oder Rüschen in Ordnung zu bringen, die allzu feurige Umarmungen zerknutscht haben – vielleicht wünscht auch Graf Serner seine Gattin einmal ohne Monocle anzusehen, und er bedarf eines Automaten, der es bewegungslos fünf Minuten hält – bitte, Kinder, wendet euch an mich! . . . Louis Carén macht alles wie Herr von Schirp.

Aber die beiden scheinen's darauf abgelegt zu haben, mich mit ihrer stummen Liebe zu langweilen.

Wer sich ganz von mir losgesagt hat, ist die Kornblumenfee. Sie behandelt mich positiv schlecht. Dabei will ich gerade ihr gefallen . . . Ich spreche nichts oder Dummheiten – der russische Windhund springt nicht mehr, weder in riesiger Lançade noch in mattem Satz. Er liegt in einer Ecke, läßt sich schuppsen – nur wenn er scheusälig maltraitiert wird, knurrt er dumpf. Die Kleine maltraitiert ihn – und es thut ihm beinahe wohl, weil es ihn daran erinnert, daß er noch nicht alle Zähne vor Alter verloren hat. Er konnte früher so höllisch beißen!

Die andern lassen ihn in der Ecke liegen, Madame denkt auch nicht einmal mehr daran, ihn zum Springen zu animieren. – Ja, es geht nichts über edle Rasse! Ich kann mich eines halben Dutzends Ahnen mehr als das frühreife Karlchen rühmen. Daher wohl die größere Blutverdünnung, die schlechtere Mischung! Ich habe ordentlich Angst, uns wieder zusammen im Spiegel zu sehen. Die Aehnlichkeit muß erschreckend sein – nur daß er mir jetzt über ist.

In meinem Tagebuch bin ich geschwätzig wie ein altes Weib, und dort schweige ich wie eine Katakombe.

247 Meine alten Freunde will ich nicht – meine neuen wollen mich nicht. Jaromir ist wie weggeblasen, die Pulle Pommery hat er verschmäht, die Entschuldigung dieserhalb gleichfalls. Und gerade nach dem kleinen, schwarzen Kerl habe ich eine Art Heimweh. Er kam mir immer vor wie ein seltenes Tier, das man gern in seinem Käfig haben möchte, um es seinen Bekannten zu zeigen. ›Sehen Sie, solche Spielarten von bête humaine giebt es auch!‹ – Dann habe ich mich so an die schlechte Luft gewöhnt, daß ich ihn beinah um seine noch schlechtere beneide. Aber er kommt nicht. Das mit dem Diener hat er doch nicht verkraften können. – Ob Ethel ihn vermißt, weiß ich nicht recht. Einmal hatte sie freilich eine Art Vertrauensanfall und fragte melancholisch, ob eine Familie mit sehr wenig . . . zweihundert . . . einhundertfünfzig . . . einhundert . . . achtzig Mark monatlich auskommen könne. Weiter wollte sie mit ihrer Anspruchslosigkeit partout nicht 'runter, obgleich ich ihr nachwies, daß es ziemlich gleichgültig sei, ob eine Familie mit achtzig oder fünf Mark par mois den Hungertod erwarten wolle. »Bei fünf Mark geht's schneller, gnädiges Fräulein! Aber die Gesellschaften erhöhen die Gehälter sehr bald . . .«

»Was meinen Sie damit?« Und sie kriegt so eine kleine böse Falte über der goldschimmernden linken Braue.

»Daß Jaromir wahrscheinlich nicht ewig achtzig Mark kriegen wird,« erkläre ich harmlos.

Da komme ich aber heute an die Rechte! Sie wird direkt beleidigend gegen meine Gräflichkeit. Jaromir heißt diesmal Glücksritter, geschaßter Sekondelieutenant, den sie nicht mehr wieder grüßen würde, seit sie gehört habe, daß er gewöhnt sei, Ehrenscheine verfallen zu lassen. Das mit den Ehrenscheinen ist 248 ihr offenbar ein dunkler Begriff – aber die Alte muß es ihr doch geschickt beigebracht haben! Daß ich ungekratzt und ungebissen von hinnen kam, betrachte ich als Wunder.

Auf Grund dieser Unterredung wurden unsre Beziehungen etwas gespannter. Von dem Agenten sprach sie selten und wie von etwas Anrüchigem.

Unter der Hand interpellierte sie später Serner, ob in Helgoland geschlossene Ehen ganz vollgültig wären. Karlchen bekam Zuckungen, weil Asta daneben saß und in unsern Kreisen der gute alte Pfarrer der roten Klippe höchstens die Liebe zu einer Schulreiterin legitimieren kann – eine nette Legitimation, die in der Berliner Gesellschaft ungefähr so viel wert ist wie der gekaufte italienische Herzog und das goldene Buch der Nobili des Fürsten von Monaco. Anständige Mädchen dürfen Helgoland als Marine-Insel, allenfalls auch als hoffnungslos verseuchtes Seebad kennen – und wenn sie entre-nanu sind, dürfen sie auch alles wissen und sich darüber totlachen, daß ein Kutscher eine Potsdamer Millionärstochter dort geehelicht hat, weil die Sache ohne Standesamt nicht skandalös genug war. Aber von Helgoland als Ehe-Insel zu Herren zu sprechen, ist einfach verworfen.

Ich soll mich bei der Gelegenheit geräuspert haben, was einen Thränenstrom aus blauen Augen zur Folge hatte. Jaromir ist seitdem ein – Toter, und ich bin ein Scheusal. Dabei traue ich der Kornblumenfee keineswegs.

Bomulunder, der mit seiner unausstehlichen Feinheit hin und wieder erscheint, profitiert nämlich wenig von der Wandlung. Ethel behandelt ihn mit überlegter Gleichmäßigkeit, die jede Annäherung ausschließt. – O, sie bleibt trotz aller Feindschaft doch ein süßer kleiner Racker! – Aber der Bomulunder 249 ist ein Greusal, ungefähr das Widerwärtigste, was ich kenne. »Ekel,« sagt der Berliner.

Gegen ihn ist Serner lauteres Gold. – Ich beginne überhaupt, Serner objektiv zu beurteilen. Es giebt viel Dümmere und viel Fadere, und unter der Fuchtel einer anständigen Frau würde er sich ganz gut machen. Gleiches habe ich wohl schon früher in der Konversation gesagt, um die eigne Opposition herauszufordern. In meinem Tagebuch wüßte ich nicht, warum ich mich selbst belügen sollte.

Dem Schnapsbaron billige ich aber keine mildernden Umstände zu. Er ist klug, reich (reich gehört bei solchen Leuten zum Charakter) und ungefähr so sinnlich, als die ewig mißvergnügte schmale Nase dieses mit dem Husarenlieutenant belasteten Kaufmannsdieners auszudrücken vermag, sobald die Kornblumenfee ins Zimmer tritt.

Ich kann nur sagen: Es ist berechnende Sinnlichkeit. Und die Sorte ist scheußlich! Wenn er sich in diesen Pfirsich verliebt hätte, meinetwegen so brutal sinnlich, daß jeder Blick schon Entweihung ist – bon! Gerade bei der süßen Frucht thäte es mir leid, wenn ihr der Flaum von roher Hand genommen würde – gleichviel, es wäre ein starkes männliches Gefühl drin. Und so oder so, etwas harte Faust wünscht jedes Weib. Aber bei dem Kerl ist's eben die verquickte Form. Er sagt sich: das Mädel ist schwer reich, hat einen anständigen ausländischen Namen, – und mit diesen Gefühlen nährt er seine Verliebtheit. Solche Leute genießen so recht gesellschaftsmäßig, konzentriert ekelhaft: das Geld, den Namen, die Schönheit, die eigne Eitelkeit dazu.

Ethel sollte doch nur genossen werden wie ein Pfirsich, den man direkt vom Spalier pflückt – nicht wie eine Tafelfrucht, bei der man den Preis, die Seltenheit, die Saisondelikatesse mitgenießt, und 250 wenn man sie 'runter hat, nur der fade oder bittere Geschmack zurückbleibt. Und daß sie für den Bomulunder ein solcher Saisonpfirsich ist, das hat die Kleine längst 'raus. Zu einer absoluten Vernunftheirat wäre sie wohl zu kriegen, wie die meisten hübschen Mädels. Doch die andre Sorte Liebe ekelt sie an. Darum darf er auch unter keinen Umständen das Boudoir betreten (er möchte seine Nase so gern hineinstecken). Sie wacht davor wie ein Cerberus. Irgend etwas Intimes, etwas Persönliches dem Burschen preiszugeben, das ist wider die Konventionalität, und das mag sie nicht. Sie wird sich schon gewöhnen. Die Gewohnheit zähmt doch alles – und sollte diese kleine Angorakatze nicht zähmen können?

*

Heute soll ausgeflogen werden. Den ewigen Ausstellungspark mit seinem Dreherbier und seinem Stadtbahngerassel hat selbst die Gnädige dick. Serner kann den Katalog auswendig. Ich glaube, er arbeitet überhaupt heftig an seiner Bildung, die, dank dem von königlicher Gnade geschenkten Fähnrichsexamen und den vier Semestern Ackerstudent in Bonn, noch lückenhaft genug sein mag. Ich treffe in der Ausstellung zu viel Freunde und Freundinnen. Wenn man die Gesellschaft nicht will, ist sie nicht abzuschütteln.

Die Kornblumenfee wünscht die Hasenheide zu besichtigen, was allgemeines Kopfschütteln erregt. Sie hat zum Leidwesen der Mutter etwas gewöhnliche Passionen. Wenn sich Straßenjungen balgen, bleibt sie höchst interessiert stehen – Schießbuden ziehen sie magisch an. Vor Zeiten hat sie mich zu einem furchtbaren Schnellphotographen am Alexanderplatz verführt. Sie war doch süß, als wir das grausame Verbrechen begingen, uns abkonterfeien zu lassen. »Das ist mein Bräutigam,« erklärte sie ganz 251 unverfroren dem Mann, der mich wahrscheinlich für einen Kellner im Sonntagnachmittagsausgehanzug hielt und sie für eine Kammerjungfer in dem gemopsten Kleid der Gnädigen. Wie haben wir später über das Bild gelacht! Wir sahen wirklich etwas Talmi aus.

Endlich hatte sich die Familie Le Fort auf dem Umwege über sämtliche Oberspreerestaurants, die von der Gnädigen eisig abgelehnt wurden, auf Klein-Machnow geeinigt. Die Grünäugige war merkwürdigerweise auch nicht für die Oberspree, trotz der Onkelvilla. »Mir ist's egal, wohin,« erklärte die Kleine naserümpfend, »langweilig wird's doch!« – Und das, während ich neben ihr stehe.

Serner wird telephonisch angeklingelt, sagt beglückt zu. Die Gnädige hat wohl eingesehen, daß Landpartien mit mir als einzigem Ritter direkt hinter dem Pferdestehlen kommen. Ethel wacht mißtrauisch bei der Klingelei. Bomulunder scheint vergessen. Ueber dies frohe Ereignis quittiert sie mit einigen Backfischungezogenheiten an meine Adresse.

Le Forts haben keine Equipage. Schade! Ich gäbe gerade heute einen so guten hochherrschaftlichen Kutscher ab. Ich brauchte dich dann wenigstens nicht als Vis-a-vis zu langweilen, Grünäugige! Der reizende Fuß der Kornblumenfee federt ordentlich, als wir die beiden Treppen zum Potsdamer Bahnhof emporsteigen. Sie hat die überschwenglichen Schulmädchengefühle auch von diesem Ausflug. Neben ihr stampft das Nilpferd. Man sieht, es geschehen noch weiter Zeichen und Wunder.

Unter dem Glasdach der Riesenhalle brütet es. Die andern fahren zurück. Das sind greifbare Miasmen. Ich aber liebe das Parfüm von heißem Oel, Rauch, Menschen – man frißt ja mit jedem Atemzug etwas Scheußliches! Leider ist der Genuß 252 kurz. Die stickigen Waggons der Vorortzüge scheinen es eiliger zu haben als ich, in die freie Hitze zu kommen.

Wir gleiten hinaus in das Schienengewirr, das wie schmelzende Ströme glänzenden Metalls über diesen endlosen, zu Unglücksfällen prädestinierten Bahnhof rinnt. Die Fenster, die Polster glühen, und der breite Sonnenstrahl im Coupé läßt Milliarden Staubatome tanzen. Zu beiden Seiten zieht Berlin vorüber, das neue, weiße, himmelhohe Berlin – die Hinterhäuser mit ihren harten, häßlichen Linien, Fenster an Fenster, angeklebte Balkons – nicht mal mit Lumpen drapiert, wie es die poetische Armut des Südens liebt, sondern überall das tötende Gleichmaß, die grauenhafte Ordnung. Wer mehr darüber nachdenkt wie ich, was in diesen Brutkästen, unter diesem heißen Dunst auskommen mag, wittert vielleicht einen weise gezügelten Herdeninstinkt dahinter. Mich aber verwirren die Fenster ohne Zahl, thun mir weh – ich verstehe nicht das große soziale Gesetz, dem sie dienen.

Mr. Le Fort, der von einem schilfbewachsenen Sudansee träumen sollte, wo er, bis an die Nasenlöcher im Wasser stehend, wohlig schnauft, geniert die Hitze gar nicht. Sie färbt ihm die Nackenfalten violett und beizt ihm die Augen, er aber glotzt stier auf diese Häuserwüste. Die Spekulationsbestie ist in ihm wach. Die Mietskasernen gefallen ihm, er liebt sie, er bewundert den großartigen Wuchergeist, der sie geschaffen. Er sieht dabei wie ein Viehhändler aus, der reich genug ist, um den genialen Konkurrenten zu bewundern, der eine Riesenherde ganz jung, ganz mager für ein Spottgeld gekauft hat, sie wunderbar schnell mästet mit schlechtem Futter und wunderbar teuer verkauft hat, ausgerechnet in dem Moment, wo ein unverständlicher Taumel die 253 Käufer erfaßt hat, daß sie bieten . . . bieten . . . Und doch ist es noch das aristokratische Berlin hier, das gefräßig seine eignen Kinder, die Vororte, verschlingt. Etwas von Tradition liegt noch in der Luft, weht von der weiten märkischen Ebene hinein; der Krückstock des alten Fritz, den ich stets über Potsdam geschwungen sehe, reicht beinah bis hierher. Dann fängt das Nilpferd an zu knurren, fast drohend, weil das Häusermeer weiter und weiter zurückweicht und die harte, glühende Sandwüste der Mark mit kümmerlichen Feldern und ein paar vergessenen Bauernhäusern sich hervorwagt. Er schüttelt energisch den Kopf, als wir an der Schöneberger Brauerei vorüber den gewaltigen Damm der Ringbahn durchschneiden. Hier wogen echte Kornfelder, etwas von dem Duft reifenden Getreides dringt mit dem Sandstaub durch die Fenster. Die Ebene reckt sich. Jetzt sind die Häuser die Inseln im Feldermeer, wie vorher das kümmerliche Stückchen Land die trostlose Klippe im Häusermeer gewesen war. Herr Le Fort zieht mit einem Ruck das Fenster in die Höhe. Die Luft wird ihm zu frei. Auch ich habe ein gleiches Gefühl. Aber ich bin krank, ein Habitué des Riesenlazaretts, darum wirkt auch das Frische, Reine ungewohnt feindlich auf mich – er ist gesund, kennt keine Nerven und mag es trotzdem auch nicht. Die beiden Menschen, die in dem Augenblick gleich empfinden, sind doch im Grunde völlig verschieden.

Bei Friedenau, der Villenkolonie der Kanzleiräte, läßt er das Fenster wieder hinab. Etwas von dem großen Spekulationsgeist umweht die hohen Häuser zur Linken des Bahndamms, und auch zur Rechten heben sich über die kleinen, glasierten, grün gebetteten Villen die Mietskasernen. Es ist die letzte reine Freude für Herrn Le Fort. Je weiter 254 der Zug über die Außenforts der Spekulation hinausrollt, um so stärker wird auch der Hauch der Mark, der historische Hauch, der das Potsdam des großen Königs umweht, und der uns Preußen bannen und befreien sollte zugleich. Das Nilpferd sieht nicht mehr auf. Vielleicht beschäftigt den groben, viereckigen Kopf eine ganz neue, ganz kühne Riesenspekulation, die über Steglitz hinaus reichen soll, wo das alte Brandenburg noch immer herrscht, weil der wenig geniale Bezwinger der Revolution, der Komödiant der Volkstümlichkeit, der alte Wrangel, hier in puppenhaft kleinem Schlößchen hauste. Auch über Lichterfelde soll sie wachsen, den detachierten Posten des Häusermeers. Denn die Kolonie des Kadettencorps, die den Größenwahn des Infanteriefähnrichs immer reiner züchtet, paßt für Le Forts Weltstadtgefühle nicht.

Und endlich hat sich die Ebene befreit – weit, gelb, lautlos, vom Hitzdunst überflimmert liegt sie. Ich habe sie einst geliebt, diese Ebene – warum es leugnen? –, mit jener eifersüchtigen Liebe des Junkers, die ihm auch am Goldenen Horn das Auge hochmütig verschleiert, weil das wogende Aehrenfeld und die stumme Heide uns Ostdeutschen doch immer weit köstlicher dünken. Und ein kläglicher Rest dieser großen egoistischen Liebe will den Kranken mit täuschendem Gefühl umspinnen. Ich scheuche dies Gefühl zurück. Das ist Vergangenheit oder Zukunft – und beides mag ich nicht. Ich bin nicht mehr jung genug, um in der Zukunft zu leben, was nur die Jugend fertig bringt; ich bin auch noch nicht alt, um mit der elenden Sonne der Vergangenheit zufrieden zu sein. Ich bin krank, wie die ganze Zeit – ich muß Gegenwart haben!

Die Blonde zeichnet indes Hieroglyphen auf den Lackschuh mit ihrem Sonnenschirm. Madame denkt, 255 mit den leblosen Augen, die sich trotzdem durch das Polster der Wand bohren. Asta träumt . . .

Der Zug rollt zögernd. Zehlendorf kommt, wo wir aussteigen müssen. Alle schweigen, weil allen das reine, weiße Sonnenlicht etwas sagt. Ich will nicht, daß es mir auch etwas sagt, und mache einen dummen Witz: »Hier ist nämlich eine Idiotenanstalt, gnädige Frau. Sollte der Mann mit der Zwangsjacke schon bereit stehen? – Ich gehe auch freiwillig mit.«

Darauf zuckt die Gnädige liebenswürdig-ironisch die Achseln. Asta sieht mich fragend an.

Natürlich kenne ich den Weg nach Klein-Machnow, sogar den poetischen – aber von der Felddienstübung her, wo der heiße Ledergeruch, der schweißgebeizte Staubdunst der Kolonne uns verständige Phantasien von eiskaltem Mosel mit Selterswasser vorgaukelten – jedoch beileibe keine Heidepoesien. Den poetischen wählen wir nicht. Erst trotten wir mißvergnügt durch das häßliche Nest, dann scheint Mr. Le Fort die Führung übernommen zu haben – wir stumm hinterher, wie die richtige Hammelherde. Das Nilpferd wünscht möglichst schnell aus diesem Blachfeld zu kommen, das seiner Spekulationsphilosophie entweder zu viel oder zu wenig Nahrung giebt.

Ich aber, den der Zufall an die Seite der schönen Schwestern geführt hat, werde thatsächlich auf eine halbe Stunde zum dummen Jungen, zum sentimentalen Deutschen. Ich merke, wie das Gefühl mich einspinnt, und ich bin völlig machtlos dagegen. Wer die Krankheiten der Willenskraft versteht, versteht vielleicht auch diese.

Aus dem märkischen Sandboden steigt es mit dem süßschweren Duft des Kornes, mit dem faden Geruch des grünen Kartoffelkrautes – über den 256 goldenen, wogenden Feldern flimmert es, über dem Stück sonnenverbrannter Wiese. Ich höre einen Schäferhund bellen, einen zottigen Heideköter, der echte, schmutzige, blökende Schafe im Kreise umtreibt. Der Hirtenjunge liegt dabei auf dem Rasen und blinzelt in die Sonne. Und dahinter dehnt sich die weite, gelbe, trostlose märkische Ebene. Ich liebe sie, weil sie mich an meine Weichselheimat erinnert, die noch weiter, schwermütiger, stummer in der Glutsonne jetzt brüten muß. Ich liebe auch den alten, plumpen, häßlichen Kirchturm von Teltow, der auf märkischem Grunde nicht schöner wachsen konnte – auch das Stück Kiefernwald mit bronzeleuchtendem Stangenholz. Es ist alles kümmerlich, arm, trotz der heißen, stechenden Helle. Ich weiß es. Doch vergebens sträube ich mich gegen diese temporäre Geistesverwirrung, die mich unerwartet überfällt, wie alte Leute die Masern überfallen. Louis Carén gehört in den sengenden Brodem der Weltstadt, nicht in die erfrischende Hitze der freien Ebene. Aber über den Halmen summt's, vom Boden zirpt's – ich empfinde ein Heimweh, ein rasendes, brennendes . . . nicht mal nach etwas Bestimmtem – das Gut, aus dem ich meine Kindheit verlebte, erscheint mir nur ganz vage – es ist die östliche Ebene, die uferlose überhaupt, die mich zieht. Es fehlt nur noch wenig, um mich verrückt zu machen, das fühle ich.

Wir kommen in den Wald. Jetzt packt's mich. Der starke, stickige Tannengeruch thut's mir an – mein Peau d'Espagne! Ich höre nicht das Laubholz säuseln, das den Tannenwald durchsetzt, ich höre keinen Vogel – ich sehe nur die schweren Lichter durch die staubbedeckten Fichten fallen, höre das feine Singen der Nadeln. Mir wird ganz blödsinnig ums Herz.

Ich bin also eine halbe Stunde verrückt. Ich 257 fange an, der kleinen Ethel zu erzählen . . . dummes Zeug: von einem Fuchs, den ich am Waldsaum belauert habe, von der Weichsel, dem gelben, breiten, tückischen Strome, nach dem ich mich einst so kindisch gesehnt.

Habe ich ihr auch gesagt, daß ich niemals das Rasseln der Thorner Riesenbrücke vergessen könne, das so wunderbar heimisch klang, wenn der Zug mich nach Hause zu meiner Mutter brachte, und so häßlich fremd, wenn es mich wieder zur Ritterakademie begleitete? – Warum sucht mich heute das alberne Kindergefühl, das längst vergessene? – Von meiner Mutter, der gefühllosen Lasis, mag ich's haben, die ihr Böhmen nie vergessen konnte und einmal die Hetze aufgab, weil ein Mausefallenkerl ihr einen tschechischen Gruß bot. Mein Vater lächelte über die Sentimentalität – meine Mutter war doch sonst eine so wunderbar encouragierte Reiterin, die ihren irischen Hunter nur so zusammenhieb, weil er einen Baumstamm auf sumpfigem Grunde feig refüsierte. Unsre Empfindungen sind später entgegengesetzte Wege gegangen. Ich bin Preuße geworden wie mein Vater – Preuße bis ins Mark, der die Mausefallenkerle wenig liebte. Und wenn meine Mutter unsre Sprosser jenseits des Slawenstromes nicht leiden konnte und sich stets nach dem Schlag ihrer Nachtigallen sehnte, so habe ich gerade darum diese Sprosser geliebt und die Nachtigallen nicht leiden können, weil es meiner Heimat fremde Sänger waren. Auch von dieser Neigung habe ich der zerstreuten Ethel erzählt – und daß der echte Junker nie von seiner Scholle weg solle, weil er sich dann selbst verlöre.

Und während die Kornblumenfee nach Zweigen hascht und Blätter kaut, während die beiden Festordner stumm vorangehen, Menschen, die sich wohl 258 nie etwas zu sagen haben – hören mir zwei tiefgrüne Augen zu. Es sind thatsächlich die Augen, die mir zuhören, die an meinen Lippen hängen in feindseligem Glanz und doch sich nicht losreißen zu können scheinen. Es sind Astas wunderbare Augen, die dann wieder aufleuchten, sich verschleiern und endlich bewegungslos stumm auf mir ruhen.

Freue dich, Statue! Wir sind entlarvt. Er hat doch noch ein Heimatgefühl, ein unbändig heißes sogar, der verkommene Carén. Erinnerst du dich des letzten Dialogs, wo ich so ganz anders sprach? – Aber der königliche Nacken hebt sich seltsamerweise nicht stolz; er senkt sich fast demütig – und er ist doch zu kalter Vornehmheit geschaffen. Fühlst du stärker die Last der eignen Heimatlosigkeit, da du den Heimatlosen nicht mehr verachten kannst? – Ich wünschte, du sprächst ein Wort. Es würde mich aus der Thorenstimmung reißen. Dein sprechendes Schweigen verstrickt mich nur noch mehr.

Den Bann zu brechen, ist der Blonden beschieden.

»Giebt's auch Karussells in Machnow, Herr Graf? Ich möchte riesig gern mal Karussell fahren!« . . .

Danach wäre also Louis Carén sein bester Zuhörer gewesen. Mit siebzehn Jahren hat man, ob Mann oder Weib, immer etwas vom dummen Aujust bei Renz.

Man sollte übrigens für jede fremde Geschmacklosigkeit dankbar sein – sie bewahrt einen vor der eignen größeren. Und ich war stark im Zuge, mich lächerlich zu machen. In das Gegenteil, die scharfe Selbstverhöhnung, die mir so sehr liegt, verfalle ich nicht. Ich beginne die Dinge wie ein verständiger Mann zu sehen. Die Straße ist infam staubig, und meine hellgelben Juchtenschuhe könnten einem 259 stark beschäftigten Müller gehören. Auch daß sich jetzt eine regelrechte Lindenallee entwickelt – uralt, schattig –, regt mich nicht auf. Wir sind in Machnow. Hart rechts blinkt der See. Hübsch, dieser See – distinguiert, klein, eirund, wie es die Neigung der märkischen Landseen, wenig Schilf, darin ein gichtischer Kahn – die grüne Rahmung Laubwald mit tief herabhängendem Gezweig, das die üblichen tanzenden Schattenbilder auf der glänzenden Fläche erzeugt. Farbe hat der Tümpel natürlich nicht, nach Brandenburger Art. Wahrscheinlich ist er am Ufer flach, in der Mitte sumpfig. Man könnte meinen, Berlin läge hundert Meilen weit. Und doch braucht sich ein mäßiger Schinder nicht übermäßig zu strecken, um es in fünfzig Minuten zu erreichen. Die Grünäugige, die ich mit der gräflichen Weisheit beehre, ist ziemlich zerstreut. Die Gegend mag ihr Vorgefühle vom Sernerschen Rhein erwecken. »Der Rhein ist weit grüner, gnädiges Fräulein!« beeile ich mich, ihr unvermittelt zu versichern.

Die kleine Ziegelkirche taucht auf mit verwildertem Friedhof und altersschiefen Kreuzen, moderigen, feudal gemeißelten Gruftplatten. Ich spiele den bezahlten Bärenführer. »Hier haben sich nämlich ein Hake und ein Schlabrendorf angefallen und, wie ich glaube, zu Tode vermöbelt.« Auch das interessiert sie nicht. Und doch ist die Kirche ein wahres Bijou mit einem reizenden Sims und einem wunderbaren Hauche märkischer Junkerlichkeit. Dann kommt der Gutshof, hoch ummauert, als gäbe es noch keinen Landfrieden; mittendrin ein friedliches Taubenhaus, weiter zurück die schmucklose Front des langen Herrenhauses, weder poetisch noch mittelalterlich – auf Sandboden gedeihen die Palazzi schlecht. Die alte Burgruine haben die Hakes daneben stehen lassen . . . ein kümmerlicher Turm, der schon von dem Donner der faulen 260 Grete umgefallen wäre. Märkisch nüchtern steht da das elende Ding, das man bei Sturm sehen sollte, in halber Nacht, wenn die Blitze über das Gemäuer der mittelalterlichen Kuhställe zucken, wenn das Vieh angstvoll brüllt, wenn blaue Reflexe die drohende Finsternis der alten Lindenallee drüben gespenstisch erhellen und die Kirchenglocke zu bammeln beginnt. Das ist märkische Poesie. Da mögen die Gutsherren vielleicht heute noch träumen, es ritte ein Schlabrendorf auf den Hof und setzte den roten Hahn auf die roten Dächer.

Graf Carén beginnt allmählich wieder zu dösen, und Asta thut mit. Ich muß sie erst durch eine ganz geistvolle Bemerkung wecken – eine Gedenktafel an einer niedergebrannten und wieder aufgebauten Wassermühle, deren Turbinen geschäftig summen, giebt die Gelegenheit. Der verflossene Oberst von Hake in seiner kurfürstlichen Gnaden Garderegiment zu Fuß, dem die alte Inschrift gilt, würde große Augen machen, wenn er einen Schnellphotographen und diverse Schokoladenautomaten bei den Wirtshäusern drüben erblickte.

Wir wühlen uns in einen Kaffeegarten ein, hart an einer Sumpfwiese, aus der sich die Rückfront des Herrenhauses hebt. Der Kaffeegarten ist lang und schmal – ich sehe Eierschalen 'rumliegen und Weißbier blinken – eine spitze Mädchenstimme ruft: »Det is jerade wat Schönet!« Was sich doch die Berliner auf die Selbstironie verstehen! Sie lieben ihren Grunewald und alles, was mit dem Grünen zusammenhängt, beinahe kindisch. Aber wenn man ihnen die Stullenpapiere in der Natur nehmen würde, die Freßkober und die schnodderigen Witze – der Wald wäre ihnen ein Tempel ohne Altar und Predigt.

An irgend einem Baume deckelt irgend jemand. 261 Ich deckle gedankenlos wieder. Wir setzen uns darauf Front gegen die Wiese und die Feudalität. Asta lächelt ein klein wenig ironisch. Die Blonde ist fünf Minuten stumm, wird dann sehr beredt und verlangt durchaus Weißbier. Ein einziger Blick der Mutter antwortet ihr genügend. Doch sie verzieht nicht mal die Lippen, was sie reizend kann – wird immer lustiger.

»War das an dem Tisch da nicht Herr von Jaromir?« fragt Asta.

»So? Ich habe gar nichts bemerkt.« Die Blonde sieht mich herausfordernd an.

»Wollen Sie ihn nicht zu uns herüber bitten?«

Das ist wieder die verdammt vornehme Art, auf die ich lässig erwidere: »Wenn's befohlen wird, gerne.«

»Ich will ihn aber nicht!« wehrt Ethel empört. »Ich bin froh, daß ich allein bin – ich will mich nicht mit dem Menschen langweilen.«

Die Alte sieht sie darauf bloß von der Seite an. Die Sinnesänderung gefällt ihr nicht. »Er wird wohl schon von selbst kommen,« bemerkt sie leichthin.

»Dann werde ich ihn holen,« und Asta erhebt sich mit den langen aristokratischen Bewegungen, die das Mädel aus weiß Gott welch illegitimer Blutmischung ihrer Ahnen ausgelesen haben mag. Ich muß natürlich schneller sein. Ich bemerke noch, wie die Dame mit der charakterlosen Linie der Grünäugigen liebenswürdig zulächelt: »Meine liebe Asta!« – höre, wie Ethel verbittert murmelt: »Das sollte ich gesagt haben!« – dann trolle ich zu dem Versicherungsagenten. Er springt auf, als er mich hinüberkommen sieht – etwas vom Mann hinterm Ladentisch bekommen die Leute im Geschäft leicht. Runtergekommen sieht er auch aus – zusammengestoppeltes 262 Räuberzivil, das ich nicht auf der Treibjagd anziehen würde, wo doch schäbig chic ist. Präsentiert mir mit nervöser Höflichkeit einen Stuhl. Er thut mir doch leid mit seinen achtzig Mark! Ja, Reichtum schändet nicht, und Armut macht nicht glücklich. Eigentlich ist es ein hübscher, sehniger Kerl, der dem grünen Rock keine Schande gemacht haben mag – aber wenn das so abgehungert scharfe Züge kriegt und die gemein verblaßte Comptoirfarbe: übelnehmen kann ich es der Ethel nicht, wenn sie sich nach diesem Ritter nicht mehr sehnt.

»Wollen Sie nicht ein bißchen zu uns 'rüber kommen, Herr von Jaromir?«

»Nein, ich danke wirklich, gehe auch gleich wieder . . .« Dabei zappelt er nur so 'rum.

»Sie machen uns ein Vergnügen!« Das ist von mir infam gelogen.

»Das heißt . . . wenn Sie wirklich meinen . . .« Er möchte für sein Leben gern.

Ich jedoch wiegle freundlich ab. »Serner kommt auch noch . . . vielleicht auch Bomulunder, Sie kennen die Herren doch?«

Jetzt ist er sich vollkommen klar, refüsiert äußerst höflich, äußerst bestimmt, ohne Grund: er will einfach nicht.

»Na, auf Wiedersehen, Herr von Jaromir.«

»Sehr gütig, Herr Graf!« Das Räuberzivil markiert scharf, daß es auch mit mir nichts zu thun zu haben wünscht . . . Dem kleinen Kerl gehört trotzdem die Zukunft!

Ich komme zur rechten Zeit zurück, um dem frühreifen Karlchen die Hand freundschaftlich zu drücken und mich verbindlich vor Herrn Bomulunder zu verbeugen. Serner ist per Droschke gekommen – Bomulunder in einem ekelhaft neuen Gig. Die Taktcharakteristik erledigt sich von selbst 263 damit. Die Grünäugige sieht auch einfach über den stampfenden Harttraber und den dünnbeinigen Cylindergroom hinweg, die noch einmal auf der staubigen Landstraße paradieren – erkundigt sich freundlich, wie dem Droschkengaul die Tour bekommen sei. Dann wird ordinäres Süßholz geraspelt, von dem Schnapsbaron anmaßlich, von Serner bescheiden. Doch heute tippt das »Frühreife« unbegreiflicherweise immer daneben. Die Grünäugige ist mäßig unterhaltend, obgleich sie sich alle Mühe giebt. Dennoch sehe ich den Augenblick kommen, wo sie Migräne vorschützt und einschläft. Dagegen füttert die Kornblumenfee ganz gemeine Dorfhühner, die zwischen den Tischen herumgackern.

»Famos, wie gnädiges Fräulein das machen! Der dicke Hahn schnappt aber doch alles weg. Haben gnädiges Fräulein schon mal betrunkene Hühner gesehen? – Es ist fabelhaft komisch! Im letzten Manöver . . .« Das fängt ja wieder gut an, Schnapsbaron.

Die Blonde aber erträgt's mit Anstand, lacht sogar und fragt, wie viel cognacgetränkter Kuchenbrocken das gelbe Jammerhuhn wohl bis zum Torkeln benötigen würde.

Darauf wortloses Entzücken des dreiundzwanzigsten Husaren.

Drüben an den letzten Tischen schiebt sich etwas Kleinkariertes entlang, grüßt flüchtig: Jaromir, der sein Räuberzivil dem Schnapsbaron nicht in zu kritischer Nähe zeigen möchte. Wir grüßen äußerst höflich zurück; die Gnädige mit falscher, Asta mit echter Freundlichkeit. Nur die Blonde wippt gerade so mit dem Stupsnäschen.

»Du könntest viel höflicher grüßen! Du hast ja den Herrn bei uns eingeführt, Ethel.« Der Gnädigen sollte es doch recht sein, daß die Tochter so ablehnend 264 ist – aber der kluge Kopf weiß wohl besser, warum nicht.

Als Antwort wirft Ethel dem Hühnervolk verächtlich eine ganze Dreiersemmel hin, was verzweifeltes Gegacker, feindselig geplusterte graue Hälse und den erstickten Aufschrei des Hahns zur Folge hat, der mit einem herausgepickten Riesenstück davonläuft.

Im Cirkus werden die Pausen durch Clowns ausgefüllt – hier durch Landhühner. Es amüsiert sich eben jeder, wie er kann.

Der Vorhang zur Komödie geht wieder auf: Sonnenglut – unbewegliche Grashalme, feiner Duft. Das Nilpferd erholt sich. Schon lange hat Herr Le Fort die Gegend scharf gemustert und dabei den grauen Kotelettebart gestrichen. In dem Spekulationsgehirn arbeitet etwas. Die qualmende Schifferpfeife bringt es zum Ausbruch. Er spuckt einmal nach amerikanischer Art, beschreibt mit der Hand einen großen Bogen, der jenseits den ganzen Horizont umschließt: das Herrenhaus, die Wiese, auch ein Stück von dem fernen Kiefernwald, der über freies Feld durchlugt, und jenseits der Landstraße das kleine Flüßchen, die Wirtshäuser und das ganze Stahnsdorf dahinter. Jetzt entwickelt er in einem Deutsch, das die Worte immer vorn englisch kaut, seine Idee: Riesenetablissement . . . Vergnügungspark ganz im großen . . . elektrisches Licht, Sportsbahn . . . Der Kerl kaut widerwärtig!

Serner und die Mädels interessiert's absolut nicht (ich zähle überhaupt nicht mit), nur Madame und Bomulunder lauschen ganz hingerissen. Der Schnapsbaron hebt die mißvergnügte Nase schnüffelnd, und die Augen glänzen spitzbubenklug. Netter Husar! – Kommt auch gleich mit einem stichhaltigen Einwand. »Das haben sie schon versucht, Herr Le Fort.«

265 »Sie meinen Hippodrom am Kurfürstendamm? Verkracht natürlich . . . wenn gleich angefangen wird ohne Geld . . . da muß man Millionen 'reinstecken . . . und wenn die Aktien rechtzeitig auf den Markt gebracht werden . . . ich verstehe viel vom Geschäft . . . sehr viel! . . . Aber Geld, Geld . . .« Dabei spuckt er wieder. Als wenn er die Millionen auch nur so ausspucken könnte!

Hier giebt sich das Nilpferd freier, offener, ich möchte sagen, brutaler als in seinem Salon. Sein Hörer ist auch kein Neuling der Goldmachekunst, sondern einer von den Gerissenen, kühl Abwägenden, die erst von der Illusion alle grünen Blätter abpflücken, bis nur der häßliche, positive Stil bleibt. Bomulunder ist schärfer, mißtrauischer – Le Fort genialer, phantastischer, der Mann des Riesenwurfes. Er braucht nicht erst kauend zu versichern, daß diese plumpe Klaue schon Millionen zerquetscht habe wie Krachmandeln. Ich höre ordentlich das Knacken – und sehr weit hinten auch noch ein Wimmern, das die Börsensünder nie hören.

Asta träumt wirklich. Aber Ethel betrachtet mit Interesse die Männer. Diese Tiefe in der Seele des dreiundzwanzigsten Husaren ist ihr völlig neu; vielleicht ebnet sie den Weg zum Backfischgefühl.

Millionen . . . Millionen . . . immer wieder die Millionen, von deren Erwerb ich nichts verstehe, weil der Sinn dafür auch erst in Generationen gezüchtet werden muß. Andre mag dieser rieselnde Goldregen aufregen – mich schläfert er ein.

Ueber die Wiese gleitet ein weicher Hauch, ein Hauch, der wie eine Sammetpfote über das Gras hinstreicht. Die Blumen nicken, ein Schmetterling gaukelt. Wie lange habe ich doch keinen Schmetterling mehr mit Bewußtsein gesehen! – Da ist die Krankheit wieder. Als wären sie weit, höre ich nur 266 noch die Stimmen: »Millionen – Millionen« – der Goldregen rieselt unerschöpflich. Aber so weltenfern von mir klingt er wie ein melodisches Geräusch. Zuletzt höre ich ihn nicht mehr. Der Windhauch wird stärker, bringt Frische, feuchten Dunst. Blödsinnige Gedanken kommen. Einer gewinnt Gestalt, dringt auf mich ein – ich wehre mich. – Ich wehre mich nicht mehr. Der Gedanke ist wie eine rettende Hand: ich will weg aus Berlin – ich muß! Wenn ich meinem Vetter Lasis noch heute schreibe, daß ich bis zu den Herbstjagden in seinem mährischen Jagdschloß zu hausen gedenke, so bekomme ich in acht Tagen die Nachricht, daß alles samt Diener und Pferden parat ist. Der Tscheche freut sich sicherlich über den neuen Kastellan. Die Arrangements mit meinem Wucherer regelt endgültig ein zweiter Brief nach Petersburg – ich will auch an die Zukunft denken – die positive, die jeder Mensch nötig hat – aber es thut mir weh. Es ist ja noch so lange Zeit. Nur weg, weg! Ich bin fest entschlossen.

Da weckt mich Serner. Eine gute halbe Stunde hat er sich in Ergebenheitsphrasen erschöpft, ohne die Grünäugige warm zu bekommen. Jetzt packt ihn die Sentimentalität. Hat er sie, wie ich, aus dem Windlufthauch gesogen oder mit dem Landbrot gegessen? – »Ah! gnädiges Fräulein, die Mark hat gewiß Poesie, jetzt im Augenblick ist sie sogar bezaubernd . . . aber gnädiges Fräulein können es mir glauben, an meinem Rhein ist es doch viel schöner! Freilich allein . . .« Er spricht leise. In dem Goldregen hätt' er es gar nicht nötig, der verschlingt doch jeden andern Laut. »Freilich allein . . .« Noch leiser. Ich sitze bewegungslos, ich warte auf das Wort, das kommen muß. Es kommt wieder nicht. Blödsinniger Kerl! Aber wie 267 ich, wartensmüde, aufstehe, verstehe ich, daß an ihm die Schuld nicht liegt. Die Grünaugen sind starr, eisig, als wenn's ihnen in der Hitze noch fröstelte; sie würden zurzeit jedem warmen Gefühl gegenüber tot bleiben.

Schweigen. Dieses Schweigen hat etwas Beklemmendes für mich, ich muß es brechen. Es zieht mir förmlich in den Nerven. »Na, Karlchen, kein gustus auf Berlin? Premiere bei Ronacher . . . Die Otero stellt Table vivant: Genoveva mit dem Reh – Als ich noch im Flügelkleide . . .« Das ist natürlich fingiert. Die Spanierin wünscht nur die klassischen Körperformen und die Brillanten dafür zu zeigen. Serner riegelt mit den Augen, als befände er sich in einem chambre séparée um fünf Uhr morgens. Endlich begreift er. »Sie wissen doch, Carén, daß ich längst . . .«

»Jawohl, längst eingeschlafen wäre, wenn nicht . . . Karlchen, Karlchen, warum spielen Sie eigentlich immer Komödie? Fräulein Le Fort liebt die Wahrheit, und die Wahrheit ist, daß Sie überall sich langweilen werden, Berlin ausgenommen . . .«

Serner wird rot. »Aber Carén, ich muß doch sehr bitten . . .«

»Verstehe, verstehe, gnädiges Fräulein versteht auch vollkommen.« Dabei sieht gnädiges Fräulein über mich weg, wie vorhin über Gig und Groom. – »Im Leben ist eben alles Komödie!« Das sage ich gekniffen und als letzte Weisheit.

Karlchen ist heute übrigens mit Ironie nicht zu schlagen. »Erlauben Sie mal, Carén! Gewiß traf das auf mich zu – aber es trifft nicht mehr auf mich zu. Ich könnte doch anders geworden sein, einsehen, daß es noch edlere Genüsse giebt als Dressel, die Operette und was drum und dran hängt. Das, was wir unser Leben genannt haben, ist mir 268 heute einfach ekelhaft. Und leid thut mir nur, daß die Erkenntnis verhältnismäßig so spät kommen mußte . . .« Also Serner wird warm. Wenn ich plötzlich blaue Flämmchen auf seiner Zunge herumspazieren sähe, ich könnte von seiner Apostelmission nicht heiliger überzeugt sein. Ihn mögen wohl die grünen Augen elektrisieren, die in schwermütiger Träumerei auf ihm ruhen. Auch die Blonde horcht erstaunt. Das »Frühreife« scheint in der That seinem Gehirn in letzter Zeit viel Phosphor zugeführt zu haben. Er liest mir sogar die Leviten – Karlchen Serner mir! Zuerst dehaut: ob früher oder später, der älteste Adel müßte doch merken, daß er andre Pflichten habe als nur zu genießen – weiter nichts als zu genießen. Darauf wird er freundschaftlich: »Ich kann mit Ihnen in der Dialektik nicht mit, lieber Carén, ich mag auch nicht. Denn was hat Ihnen diese Dialektik bis jetzt genutzt? – Nee, lieber Freund! Wenn Ihnen so ein Sommernachmittag nichts mehr sagt, wenn Sie an das stickige Berlin im Augenblick anders als mit Abscheu denken, dann (nichts für ungut!) müssen Sie mir leid thun.«

Er hat rasch, laut, ohne Stocken oder selbstgefälliges Lächeln gesprochen. Aus diesem Saulus ein Paulus! Selbst der Goldregen beginnt angesichts der Bekehrung leiser, kaum hörbar zu fließen. Alles fühlt die Wahrheit, die Wärme – an der sich sogar die Statue zu beleben beginnt. Nur die Augen der Dame mit der charakterlosen Linie bohren sich leerer als je in meine Augen: Sprich doch, Louis Carén, sprich!

Und Louis Carén spricht auch – von der Komödie im allgemeinen, obgleich das nicht hergehört – erst leise, zögernd, weil er sich auf sich selbst besinnt; dann leiser, schärfer, weil sich die Kanüle des Giftzahns zu öffnen beginnt; zuletzt 269 flüsternd, haarscharf, so daß alle das ätzende Gift brennt und sie ihm alle folgen müssen . . . Komödie, sei die Schale, – Lüge, der Kern aller Dinge, so daß nur der den Kern richtig kenne, der die Schale richtig gesehen. Komödie sei der Staat, denn er schaffe die Gesetze, die ohne Moral, ohne Notwendigkeit nur seinem Riesenegoismus dienen und wie ein rostendes Eisenband die große Lüge der Gesellschaft einzwängen, deren Fessel diese doch durchfrißt. Komödie sei die Gesellschaft, weil sie heuchle, die Individualität zu schützen, während sie sie erbarmungslos knechte. Komödie sei die Familie, weil sie das Doppelspiel von Staat und Gesellschaft im kleinen wiederhole und an Stelle des objektiven Zwanges das subjektive Band einer heuchlerischen Liebe untereinander setze und dabei nur habgierig ihr eignes Interesse schütze. Komödie sei der Mensch selbst, weil er im Guten wie Bösen über die eigne Lüge, die eigne Hohlheit hinwegtäuschen wolle und rücksichtsloser als Staat, Gesellschaft, Familie das eigne scheußliche Ich zusammenpresse. Aber Innen und Außen seien einander würdig, unmöglich das eine ohne das andre, unfähig, auf diesem Kreislauf herauszukommen. Alles Bestehende unterliege dem Gesetz dieser Bewegung, und wenn auch irgendwo der hemmende Ring springe, das Innere herausliefe, – schüfe es sich doch erstarrend immer wieder selbst ein neues Band. Die Geschichte dieser Entwicklungen ohne Entwicklungen sei einfach ihr Vorbild, sei die Natur selbst wie auch der Beweis dafür. Träge oder fließend suche sie die ewigwechselnden Bilder eines so unendlich großen Kaleidoskops vorzutäuschen. Und wir, der eignen Komödie unbewußt, sähen gläubig auf den wunderbaren Trug, der nur die bewußt verbrecherischen Instinkte der Allmutter Natur verhülle. – Es ist eine schreckliche Weisheit, 270 und das ist nur klar, eine Weisheit des Anarchisten, eine Logik des schlecht gewordenen Blutes. Sie bestätigt eben nur die alte Wahrheit, daß das Gift der Revolution nicht von unten herausquillt, sondern von oben hineinsickert. Und doch weiß ich, daß diese Weisheit, an die ich im Augenblick glaube, falsch sein muß, weil All oder Nichts sich in dem Begriffe der Unendlichkeit zwar zu treffen scheinen, sich aber in Wahrheit ewig fliehen.

Ich mag weniger abstrakt gesprochen haben, als ich schreibe, und weniger verstanden worden sein, als ich es selbst verstehe. Dennoch weiß ich, daß ein erkaltendes Gefühl über alle Rücken rieselt, die blasse Angst vor etwas Grausigem, Tötendem, das uns stets umschwebt, das wir nie sehen – und das ich heraufbeschworen habe. Es sind geschärfte oder verschleierte Augen, die mich anblicken, halb Bewunderung, halb Erstaunen für diesen Apostel, der dem Goldregen den Glanz genommen, die grüne Wiese aschfahl gemacht hat. Nur Madames Augen leuchten, ein phosphorescierendes Leuchten, dessen Lichtherd man nicht sieht. Sie versteht mich, und sie ist mit mir zufrieden.

Ist Serner geschlagen? Er ist es nicht!

Es mag eine schwüle Pause zwischen meinem letzten Wort und dem ersten von Asta gelegen haben. Warum ihre Stimme dabei unsicher klang, weiß ich nicht. Der russische Windhund ist zum letztenmal und wieder unsinnig hoch gesprungen. Sprang sie vielleicht mit?

»Also was Sie vorhin sagten, war auch Komödie, Herr Graf? Sie wissen schon . . .«

Karlchen sieht mich ängstlich an. Ich aber erwidere unerschrocken: »Wahrscheinlich, gnädiges Fräulein. Ich kann doch nicht aus meiner Haut heraus . . .«

Wieder Pause.

271 Ihre Augen sind einen Augenblick ohne Farbe, ohne Glanz.

»Warum sagten Sie es dann, Herr Graf Carén?«

»Ja, wenn ich das wüßte!«

Die Spatzen beginnen wieder zu piepsen, die Hitze flimmert über der Wiese. Das Gespräch will nicht mehr in Gang kommen, obgleich sich die Statue krampfhaft an Serners Gemüt zu wärmen sucht. – Das frühreife Karlchen ist doch der Sieger! Mir recht, es war ja auch nur aufsteigende Hitze bei dem Anarchisten Carén.

Aber der Grünäugigen habe ich den Nachmittag vergällt. Serner hätte gern heute noch über die Verlobungsanzeige nachgedacht. Vielleicht macht sich's noch auf dem Nachhauseweg – die Sonne hängt gelbblaß über ein paar Kiefernwipfeln, ein großer Käfer summt, und lauer Abendwind gleitet wie Schatten über das Sumpfgras, das er beugt.

»Mir wird kühl, Mama. Wollen wir nicht aufbrechen?«

»Wir hatten doch Abendbrot bestellt, Asta . . .«

»Ich möchte lieber gehen.«

Was die Grünäugige wünscht, ist Befehl. Wir erheben uns. Es war wirklich ein schöner Nachmittag.

Wir gondeln ab – zu zweien und zweien, wie die braven Rosse. Der Schnapsbaron mit einem bewundernden Abschiedsblick auf sein zurückbleibendes Gig, an dem das neue Lederzeug nur so knirscht. Serner besieht sich wehmütig das Stückchen Mond, das wie ein helles Wölkchen vom blauen Himmel sich abhebt. Er hatte auf den Mondspaziergang so ausschweifende Hoffnungen gesetzt; die durchkreuzt ihm die Grünäugige jetzt herzlos.

Es ist derselbe Weg – lauschiger, stummer. Der rote Kirchturm reckt sich so frei aus dem Grünen. 272 Die Feierabendglocke fängt schüchtern an zu bammeln. Die Gespanne trotten naß und müde mit schleifender Bracke nach dem Wirtschaftshof; am See lachen Dorfkinder. Das Wasser liegt matt, tief, verschwiegen. Die hohen, alten Bäume ringsum flüstern, in den letzten Wipfeln verglühen heiße Sonnenlichter – die Kiefernstämme weit drüben glänzen wie rotes Gold; ein großer Vogel streicht an ihnen vorüber. Dann gluckt's im See auf – ein emporgeschnellter Fisch – langsam ziehen sich die weiten Kreise in der unbewegten Flut . . . immer weiter, bis sie mit dem Laubschatten verschwimmen. Es ist ein warmer, wohliger Abend, träumerisch, doch ohne Melancholie. Ich sehe alles – und fühle nichts. Was ich an Heimweh besaß, hat die heiße, flimmernde märkische Ebene schon am Nachmittag aufgesogen. Sehr weit vor uns bummelt auf der Landstraße ein Mensch und schlägt mit dem Stock die Grasspitzen ab. Jaromir ist's. Mag sich so lange im Walde 'rumgetrieben haben. Daß wir hinter ihm sind, ahnt er nicht.

Die Gnädige hat sich meiner bemächtigt. Als Avantgarde stampft das Nilpferd allein, hinter uns tändeln die Liebespaare im halblauten Gespräch, zuweilen erhasche ich ein Wort, das Serner spricht.

Es ist beinah wie auf dem Rheindamm bei Ragaz – nur die Konstellation paßt nicht, auch nicht die Jahreszeit. Tempi passati. – Ich gehe nach Mähren!

Zuweilen sieht mich die Gnädige von der Seite an, ich fühle es. Wir schweigen uns aus . . . Sie mag denken, ich döse. Mein gutes Recht am Feierabend nach solcher Schlacht.

Endlich ist's der köstlichen Stille zu viel. »Sie lieben das Land, Herr Graf?«

»Nein, gnädige Frau.«

273 »Ich kann's verstehen . . .«

»Ich nicht.«

»Sie sind seltsam . . .«

»Ich bin müde.«

»Ihnen fehlt der Beruf.«

»Ich sehne mich nach keinem.«

»Sie müssen etwas für Ihre Nerven thun.«

»Ich glaube auch, gnädige Frau . . . Ich habe mich bereits entschieden. Ich gehe auf das Jagdschloß meines Vetters Lasis in Mähren.«

»Ich konnte mir so etwas denken.« – Sie lügt. »Ihrer Tante werden Sie nicht adieu sagen?«

»Gnädige Frau kennen meine Gefühle.«

»Sie ist eine alte Dame . . . Wer weiß. ob Sie sie je wiedersehen.«

»Gnädige Frau sind hartnäckig.«

»Ich meine es nur gut.«

»Was ich auch stets mit tiefstem Dank anerkannt habe. Im übrigen steht mein Entschluß so fest wie nie: am Sterbebette meiner Tante werde ich mich mit Vergnügen einfinden.«

»Sagen Sie das nie mehr, Herr Graf! Es klingt so häßlich . . . Wann reisen Sie?«

»In spätestens vierzehn Tagen.«

»Unwiderruflich?«

»Unwiderruflich.«

»Ich glaube auch, Sie thun gut daran . . .«

Der Dialog ist mir so hübsch im Gedächtnis – knapp und nichtssagend. Das behält sich leicht.

Wir wandeln stumm und friedlich in die Abenddämmerung hinein. Der Wald duftet, – ein feuchter, würziger Duft, der die Brust weitet. Alles döst. Kann man es Liebespaaren verdenken? Die Vögel ziehen zu Nest, im Holz gurrt's schläferig. Das Nilpferd freut sich auf den Goldregen – ich freue mich auf Berlin. Jeder selig nach seiner Façon.

274 Und doch liegt Beklemmendes in dieser Stille, Brütendes. Irgend etwas Schweres drückt die Luft, irgend ein Gedanke sucht die Nacht. Mir wird's unheimlich. eine vage Angst vor etwas Unsichtbarem beschleicht mich. Meine Nerven sind wirklich 'runter. Und neben mir wandelt doch die kühle Vernunft, lautlos gleitet sie dahin.

Ich sehe die Gnädige mir an, wie in Ragaz. Es ist der feine Kopf, die schlanke Figur, das sichere Gleichmaß in jeder Bewegung und die glatte Linie, die ihresgleichen nicht hat . . . Wozu in drei Teufelsnamen Peau d'Espagne, Madame? – Ich empfinde es wieder süßlich und schwer. – Und jetzt sehe ich auch, daß sich die schmalen Lippen bewegen, als sprächen sie mit sich selbst.

Wir alle träumen – Madame träumt nicht.

Ich muß diese Lippen immer ansehen. Was sprechen sie? – Ich vernehme keinen Laut, und gerade darum peinigt mich die stumme Rede. – Der Wald schweigt, weich sinken die Schatten. – Ich möchte reden, das Lippenspiel zu bannen – ich kann nicht. Wie Kinder abends Gespensterfurcht, so beschleicht mich das Grauen.

Ich suche nach einer komischen, befreienden Erinnerung – und finde nur eine: die beklemmendste meines Lebens . . . Es war in Rom in der Peterskirche. Ich hatte schauspielernd den Fuß des ehernen Apostels auch geküßt, setzte das Monocle wieder auf und schaute mich um in dem gewaltigen Raume, wo die Heiligen so riesig und die Menschen so winzig ausschauen. Neben mir rutscht einer auf den Knieen, ein Bettler, wie so viele hier, mit zerrissenen Schuhen und klapperndem Rosenkranz – aber peinlich sauber, auf dem ausgemergelten Körper ein rotbärtiger Kopf mit gewaltiger Stirn und scharfen Linien: ein Asket mit stechend blauen Augen. Es war ein Pole. Das 275 stechende Auge interessiert mich, es muß seine Geschichte haben. Und ich lasse den Kerl nicht aus den Augen. Es wird mir nicht schwer – er rutscht immer auf derselben Stelle stundenlang, tagelang. Wer Sankt Peter kennt, kennt auch ihn – die weißen, schmalen, nervös zitternden Hände, die den Rosenkranz abgreifen – das blaue Gebetbuch – die betenden, bebenden Lippen – das stechende Auge, das zum Statthalter Christi aufschaut. Ist's einer von den erblich Belasteten, den der Wahnsinn des Betens langsam völlig umnachtet – ist's ein großer Verbrecher, der immer büßen muß . . . immer? Die Leute sagten mir, es sei ein großer Heuchler. Mich aber zog dieser Büßende, solange ich in Rom war, immer wieder nach Sankt Peter. Und ich sah ihn immer knieend, knicksend, betend – bis ich mich gewaltsam losriß von diesen zitternden Händen, diesen bebenden Lippen. Vielleicht war er ein Heiliger . . . Aber mir graute vor diesem Heiligen. Hätte ich ihn lange so gesehen, er hätte mich auch wahnsinnig gemacht.

Warum gerade diese Erinnerung von leuchtender, schrecklicher Klarheit im märkischen Kiefernwalde von Klein-Machnow an Madames Seite, die keine Heilige und keine große Sünderin ist? . . . Dennoch ist es dasselbe Grauen!

Der Weg nach Zehlendorf währt keine Ewigkeit. Der schweigende Wald thut sich auf. Die märkische Ebene, die uferlose, grüßt wieder. Mit roten, harten Lichtern zuckt die untergehende Sonne über das reifende Getreide. Fenster blinken . . . Der Dunstkreis drüben um Berlin beginnt sich dichter zu ziehen . . . Gut, daß es wieder heim geht!

Auf dem Bahnhofe sehen wir Jaromir. Er steht fast neben uns, grüßt, ohne uns anzusehen – das Räuberzivil geniert ihn nicht mehr.

276 Der Wannseezug läuft weich rollend, schwankend ein. Allerhöchste Herrschaften sollen im Zuge sein. Was mich allerhöchste Herrschaften doch kalt lassen! . . . Es ist eine langweilige Fahrt mit den endlosen Stationen in diesem fahrenden Backofen voll abgestandener Staub- und Matratzenluft. Das Liebespaar Serner unterhält sich flüsternd – sie sind wohl endlich so weit . . .

Auch der Goldregen beginnt wieder zu rieseln. Mille . . . Mille. Jetzt, wo es heimwärts geht, klingt er wie Symphoniemusik. Ja, Berlin ist doch das einzig Wahre!

Madame läßt mich endgültig zufrieden – auch die Lippen bewegen sich nicht mehr. Ich bin ein Narr, und sie meint's mit mir gut!

Eine komische Scene bereitet mir noch die kleine Ethel. Ich habe ihr nichts gethan und, trotzdem sie mir gegenüber sitzt, aus meiner Fensterecke auf die märkische Ebene gestarrt, die das Häusermeer jetzt allmählich wieder verschlingt. Mein Schweigen sollte der Blonden recht sein. Dafür äugt sie mich feindlich an mit ihren Kornblumenaugen (sie hat's jetzt in der Gewohnheit). Daß sie mein Stumpfsinn beschäftigt, läßt sich nicht annehmen. Plötzlich sagt sie, ohne jede vorangegangene Debatte, mit verbissener Entschlossenheit: »Ja, ja, Sie sollen Ihren Willen haben! Und mag alles Komödie sein, schlecht bleibt's doch!« – Offenbar die ganz fabelhafte Konsequenz von fünf Minuten Nachdenken. Was ich damit zu thun habe, weiß ich nicht. Sie funkelt mich noch halb bitterböse, halb verächtlich hinterher an. Motivierung ist nicht! – Der süße Balg benimmt sich unqualifizierbar. Einer von den Seitenhieben, die Madame der Blonden so unnötig oft giebt, wäre wohl am Platze – aber die Gnädige sieht nicht einmal auf. Sie denkt noch immer.

*

277 Berlin, kurzer Abschied.

Alles ist abgespannt, müde. Wovon? – Sie haben doch alle nichts gethan, der einzige, der intensiv genossen, bin ich. Und ich bin gar nicht matt.

Bomulunder wünscht mich zu begleiten. Das Gespann, das die Gnädige, gut eingefahren, so gern ihrer Berliner Gesellschaft vorführen möchte, formiert sich ganz von selbst. Sie sollte sich freuen.– und grüßt uns kaum, während ihre Droschke vorüberrattert. Ich hatte geglaubt, sie ertrüge die Hitze besser – von der ganzen Familie sieht nur sie wirklich angegriffen aus.

Serner hat sich sofort empfohlen – er schützte eine Verabredung vor – und bummelt durch bei Levy dem Tiergarten zu, wie ein Mensch, der angenehm, einsam träumen will. Er hat noch immer die ungerechtfertigte Abneigung gegen mich. Ich mache ihn lächerlich, wie ich das mein Lebtag als gutes Recht dem frühreifen Karlchen gegenüber betrachtet habe. Früher ertrug er's ausgezeichnet – jetzt hat ihn die Liebe empfindlich gemacht . . . Der Löwe des Tages war er doch! Ich gebe ihm dies leidenschaftslos zu.

Die Reservekavallerie bummelt auch, an der Apfelsinenbude vorbei, über den Potsdamerplatz. Wir gehen aristokratisch langsam, ohne die Provinzangst vor den dröhnenden Omnibussen, den fluchenden Droschkenkutschern; Berliner werden selten überfahren – Unkraut niemals. Als wir in die Leipzigerstraße einbiegen, flammt das weiße Bogenlicht auf . . . Ein wunderbarer Dunst – ein wunderbares Gewühl – ein wunderbares Tosen . . . Vor uns schlendert wieder Jaromir. Er fuchtelt mit dem Stock, wie im Walde von Klein-Machnow, natürlich andeutungsweise; denn die Berliner würden es weniger ruhig hinnehmen als die Grashalme. Ich 278 glaube, er könnte mit Vergnügen Menschenköpfe mähen! – Jeder hat Stimmungen, wo er seinen Brüdern nur einen Kopf wünschte, wie Kaiser Nero.

Ich denke weit humaner. Ich zwinge sogar Bomulunder, schneller zu gehen. Ich will den Kleinen erreichen, ansprechen. Von Sympathie oder Mitleid keine Spur! Aber der Gedanke schießt mir durch den Kopf: wenn ich nun die beiden aufeinander hetzte?

»Tête, kurz treten!«

Jaromir dreht sich um, grüßt förmlich. »Guten Abend, meine Herren.« Er macht nicht einmal den Versuch, Bomulunder zu schneiden. Mir ist's geradezu eine Enttäuschung. – Von der Kleinen hat er im Abschiedsgruß den Korb in letzter Form bekommen, neben ihm geht der Nachfolger, der Feind für jeden Verliebten. Wenn das mit der Luftpistole nicht eitel Windbeutelei war, hat er den Schnapsbaron jetzt in der Hand. Ich will ja auch die beiden zu einem Souper bei Albrecht einladen, der Pommery soll fließen – aber ich möchte auch vierundzwanzig Stunden später als Sekundant Blut sehen, nicht die Streifschramme mit dem dicken Venenblut, sondern den dünnen, scharfen, hellen Strahl der Arterie. – Sentimental hat die märkische Ebene mich doch nicht gemacht!

Aber Phantast bleibt Phantast. Ich habe den Agenten übertaxiert. Die beiden unterhalten sich höflich, nichtssagend. Bomulunder wagt keinen Ausfall, weil er die gräfliche Malice fürchtet; nur die ewig mißvergnügte Nase hebt sich jetzt ängstlich schnüffelnd, damit ihn nicht Bekannte neben diesem Räuberzivil sehen. Vorher hatte er gierig nach Bekannten geschnüffelt, damit sie ihn ja neben dem gräflichen Freund gewahrten. An der Friedrichstraße will er schon ausbrechen und fragt, ob ich 279 bei Maucher ein Glas Drachenblut mittrinken wolle; er hat da wahrscheinlich einen silbernen Sektbecher stehen mit den eingekritzelten Widmungen betrunkener Edelleute. – Aber ich hoffe noch immer auf das Souper, auf das Rencontre und winke energisch ab: »I wo! Da verdirbt man sich den Abendbrotappetit. Wir äugen noch die Friedrichstraße ab – und wenn ich dann die Herren bitten dürfte, mir zu folgen . . .«

Bomulunder greift geschmeichelt nach der Hutkrempe. »Ich stehe ganz zur Verfügung, Herr Graf.«

Jaromir hält es für angemessen, taub zu sein.

Und so geleite ich denn die Freunde sänftiglich in die Friedrichstraße hinüber. Schaufenster werden begutachtet, die Juwelen und Rennpreise bei Werner. »Haben Sie nicht Lust, es mal mit dem Herrenreiter zu versuchen, Herr Bomulunder? Die Figur haben Sie. Das Gewicht?«

»Hundertundzwanzig.«

»Das ist ja tadellos! Sie brauchen sich durch keinen Schwitzgang in Kondition zu bringen.« Der Schnapsbaron betet mich im Geiste an. – Ich gedenke dann noch eine Kollektion rubinverzierter, massivgoldener Zigarettenetuis auf hellgrünem Plüsch vernichtend zu begutachten und juwelenbedeckte Goldmesser, dichte bi dito. Aber zu meinem Heil und zu seiner Protzerei zieht er eben ein noch aufdringlicheres Etuispendant aus der Tasche und fragt: »Wie gefällt Ihnen das, Herr Graf?«

»Riesig geschmackvoll.« Wahrscheinlich hat er auch noch ein Goldmesser. So was trägt ja nur reich gewordener Pöbel! Jaromir sieht überhaupt nicht hin, das ist jedenfalls die beste Kritik.

Um den Kleinen nicht zu verstimmen, stoppe ich gleich darauf bei einem Drei-Mark-Bazar. »Wie man die Sachen jetzt billig herstellt – fabelhaft – 280 fabelhaft!« Ich liebäugle mit einem braunen Koffer volle fünf Minuten; die kleine Verkäuferin im Laden dahinter hatte natürlich den Löwenanteil daran. Der Agent aber bleibt verschlossen. Er hat weder für mich noch gegen den Rivalen etwas. Er pendelt eben mit, giebt auf Fragen Antwort, fragt selbst nie. – Bei Hippolyt Mehles verpuffe ich meine letzte Cartouche. Natürlich hilft mir der Zufall . . . Die Trottoirs werden hier nach den Linden zu kleinstädtisch schmal, der Verkehr staut sich; wir schieben uns nur vorsichtig vorwärts. Ausgerechnet vor dem Laden des Waffenfabrikanten geht's nicht mehr; eine Mauer von neugierigen Menschen baut sich auf, dampfenden Omnibuspferden auf dem Fahrdamm bleibt noch gerade eine Durchfahrt. Die Feuerwehr! – Ein Schutzmann sprengt voran, die rote Helle der Fackeln leuchtet jenseits der Linden auf, im Galopp rasen die Spritzen, die Beiwagen heran. Junge, prächtige Gäule, leicht aufgeschirrt mit geschliffenen Eisen. Sie sieht immer etwas phantastisch aus, diese wilde Jagd mit der hellläutenden Glocke, der Löschmannschaften im stumpfen Pompierhelm, mit dem Pechgeruch und den düsterroten, die Häuser entlang tanzenden Reflexen. Das regt zur That an. Auch die Waffen bei Hippolyt glänzen unheimlicher.

Ich nehme Jaromir unter den Arm. »Na, wie geht's sonst? . . .« Ich zwinge ihn freundschaftlich, mit mir die Auslage zu besehen, wo zwischen ziselierten Dolchen, Ochsenziemern, Totschlägern die Revolverläufe gleißen. Hier muß er doch auf Gedanken kommen! – Aber seine Augen flammen nicht in teuflischer Erinnerung. »Kein Interesse mehr an der Knipserei?«

»Nein.«

Er ist ein Narr. Die erstarrte Menschenwoge beginnt von neuem in Fluß zu kommen.

281 Jenseits der Linden zögert Bomulunder. »Wollen wir nach Savoy?«

»Was meinen Sie, Herr von Jaromir?«

Der Agent zuckt zusammen. »Nein, ich danke sehr, Herr Graf.«

»Na, dann proponieren Sie!«

»Ich gehe in die Chausseestraße.«

Der Schnapsbaron räuspert sich diskret. »Ist's nicht etwas weit ab, Herr Graf?«

»Allerdings . . .«

»Wenn wir uns die Linden 'runter zu Uhl birschten, Herr Graf?« Wird sich noch den Magen mit dem ewigen »Grafen« verderben!

»Das wäre allerdings ein Ausweg . . . Jaromir, wollen Sie?«

»Auf keinen Fall.«

Bomulunder atmet auf. »Werden uns nicht einigen können . . .«

Ich sehe das auch ein. »Also Sie gehen nicht mit zu Uhl, Herr von Jaromir?«

»Nein, Herr Graf, in solchem Lokal habe ich nichts zu suchen. Sie brauchen nur meinen Anzug anzusehen . . .«

»Und Sie nicht mit nach der Chausseestraße, Herr Bomulunder?«

»Es liegt wirklich ein bißchen stark abseits.« Der Schnapsbaron lächelt. Im Nichteinigungsfalle muß ich ja ihn und das Juwelenetui vorziehen . . . Nein, Teuerster! Da ist mir das Räuberzivil tausendmal lieber als deine Protzerei. – »So muß ich mich wohl zu Herrn von Jaromir schlagen – er hat ältere Rechte. Sie verzeihen, Herr Bomulunder?«

»Aber . . . äh . . . äh . . .« Er stottert betreten.

»Adieu.«

»Adieu.«

282 Ich glaube, er wird mich von jetzt ab auch für einen Degenerierten halten. Diese Leute haben unsereinen sonst im Verdacht, daß wir vom »Uralten« eine Neunzinkige uns aufsetzen, statt der Nachtmütze beim Schlafengehen – ganz, wie in Märchenbüchern die Könige gekrönt werden – und ebenso unbequem als feierlich zu ruhen pflegen.

Wir sind noch nicht an der Academy of Music vorbei, da sagt der Agent etwas aufgeregt: »Ich wollte eigentlich allein sein, Herr Graf . . . Fassen Sie das aber nicht falsch auf. Ich gehe mit Ihnen, wohin Sie wünschen und wo Sie mein Anzug nicht zu sehr geniert – aber ich bin in einer Stimmung, die aus mir einen schlechten Gesellschafter macht.«

Der grausame Kitzel ist sofort zur Stelle. »Dem Schnapsbaron sind wir doch keine Höflichkeitsmaskeraden schuldig; er kann zufrieden sein, wenn wir ihn gar nicht behandeln . . .« So hetze ich wieder.

Jaromir zappelt: »Mag stimmen . . . wenigstens was Sie angeht . . . vielleicht bin ich selbst nicht mal für die Sorte zu schlecht . . . aber ich will mit dem Menschen heut nicht zusammen sein.«

»Warum eigentlich?«

»Das wissen Sie so gut wie ich, Herr Graf.«

»Ah, wegen des Mädels! . . . Lieber Herr von Jaromir, wenn Sie sich in die Haare kommen sollten, was ich nicht glaube – Herr Gott! . . . Sie sind doch ein verteufelter Pistolenschütze! . . . Kommen Sie, wir drehen um und gehen dem Kerl gerade nach, damit er sich nicht vielleicht einbildet, er wäre Ihnen über in der Liebe . . .«

Jaromir faßt mich energisch am Arm, ich fühle, daß seine Finger zittern. »Nein, Herr Graf, nein!«

»Sonderbarer Heiliger!«

»Sie wollen mich nicht verstehen! . . . Ich fürchte mich vor einem Zusammentreffen in der Kneipe . . . 283 ich habe in letzter Zeit wenig Uebung im Trinken . . . ich weiß nicht, was die erste Flasche anständigen Weines mit mir anrichtet. Vielleicht macht sie mich toll! – Und ich habe Angst vor mir.«

»Sie schießen doch so gut, Jaromir!«

»Eben deshalb. – Es gab wohl Stunden . . . aber ich habe mir auch heute noch im Walde klar gemacht, daß ich diesen Menschen meiden muß, weil ich ihn hasse – weil ich meiner Hand sicher bin – und weil er das Mädchen liebt.«

»Ihnen wächst der Heiligenschein, Jaromir.«

»Aehnliches habe ich mir vor zwei Stunden mit derselben höhnischen Betonung gesagt – und ich habe mich doch untergekriegt! Denken Sie, es sei Feigheit? – Ich wüßte nicht, warum ich gerade am Leben hängen sollte! – Und noch jetzt schwimmt es mir rot vor den Augen, wenn ich an den Nachmittag denke . . . Sie würden mich wahrscheinlich für wahnsinnig halten, wenn ich einen Menschen töten wollte, nur weil mir seine Nase nicht gefällt – und Sie halten mich vielleicht für einen großen Gentleman, wenn ich einen Menschen nur deswegen niederschieße, weil er ein Mädchen liebt, das mich nicht liebt. Ist der Unterschied zwischen den beiden Fällen denn so groß? – Man hat doch nicht nur Temperament, man hat auch Gewissen.«

*

Ich wünschte, ich hätte beides! – Da wandelt man nun neben einem Deklassierten in Räuberzivil, dessen man sich eigentlich schämt – jenseits der Weidendammerbrücke, wo unsre Welt aufhört –, und man muß erkennen, daß man der bei weitem Minderwertige ist. Weder Schwäche noch Güte, wie sonst, haben mich dem kleinen, abgeschabten Kerl zugeführt – nur der grausame Sinnenkitzel eines erschlafften Nervensystems, das sich an einem Meuchelmord 284 angenehm aufregen möchte, wie die Römerinnen an einem sterbenden Gladiator. Der Aristokrat der Geburt, des Vorurteils bin ich – der Aristokrat des Geistes, der Wahrheit ist er! – Ich habe mich in diesem, meinem eignen Roman nie geschont, weil auch der Verdorbenste eine Stelle haben möchte, die ihm nicht käuflich ist . . . Ich bin von Jugend auf vergiftet – ich vergifte mich langsam mehr. Trotz allen wogenden märkischen Kornes, trotz aller mährischen Jagdschlösser ist der schwere, ekle Dunst, der durch diese Straßenzeile wallt, das schöne Gift, dessen ich zum Weiterleben unbedingt benötige. Ich bin meine eigne fleischgewordene, schreckliche Doktrin: Komödie draußen, Lüge drinnen! Aus der Haut kann ich nicht, und ich sollte mich glücklich schätzen, daß ich sie besitze. – Den kleinen schwarzen Kerl verstehen kann ich – ihm's nachmachen, kann ich nicht. Wäre ich vor dieselbe Situation gestellt, so würde in mir die gesellschaftliche Lüge viel mächtiger sein als das Gewissen – nicht mal, daß ich die Komödie, die ich andern vorspiele, auch mir selbst vorspielen würde: denn ich würde morden, kaltblütig, ohne Reue . . .

Das ist papierne Reflexion. Die Versuchung bleibt mir sicher erspart, weil ich nicht mal die Kraft zum Bösen besitze.

Mich und ihn hat vielleicht dasselbe Gift genährt, ich habe es genommen als das, was es war – und fühle, wie die Lähmung vom Kopf zum Herzen fortschreitet. Er nahm es als Arznei, in homöopathischen Dosen, darum hat es ihn gesund gemacht . . . Wir schreiten tiefer hinein in das wahre Berlin, in die scheusäligen Gerüche, die die heiße Nacht erst aufjagt – den einen heilt's, den andern tötet's. Meinetwegen. 285

 


 


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