Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Erster Band.

Erstes Buch.

Erstes Kapitel.

April – Ragaz – Krone – Graf von Carén –.

Man braucht nicht gerade allwissend zu sein, um daraus zu erkennen, daß ich mich zurzeit etwas auf dem Trockenen befinde. Sonst würde ich nicht die tote Saison des Weltbades gewählt haben oder zum wenigsten im »Hof Ragaz« abgestiegen sein. Ein Tagebuch würde ich dann aber ganz gewiß nicht schreiben. Ich thu's, weil man doch etwas zu thun haben muß, und weil meine Trübsalsfanfaren nicht ganz ungehört verklingen sollen.

Es ist zwei Uhr nachts, und das Donnern der Tamina dringt herüber. Ich habe soeben eine sehr geistreiche Konfrontation mit meinem Rasierspiegel beendet . . . Etwas mitgenommen sähen wir aus, Herr Graf, für unsre achtundzwanzig Jahre – aber die kleinen Mädchen haben ja so was immer gern: etwas müder Mund, unter den Augen die interessante Bläue, alles in die fahle Diplomatenblässe getaucht, in der uns nur noch die Kellner der Nachtcafés über sind. Dennoch ist's ein scharfes, nicht mal dummes Gesicht mit – ich bitte um Verzeihung – ausgesprochen gutmütigen braunen Augen. Wenn mein Waschtischspiegel etwas größer wäre und ich nicht zum Aufstehen zu faul, könnte ich noch 8 eine schlanke, elegante Figur konstatieren, auf die in meiner Familie besonders gezüchtet ist. Im Verein mit einem ungefaßten Monocle machte sie mich immer zu einer ganz acceptabeln Erscheinung auf dem Petersburger Parkett. – Ja Petersburg . . . die Sorgen . . . der Kanarienvogel meiner Tante . . . Wenn doch die beiden das Zeitliche segneten – die gelbe Canaille heute, die Tante morgen! Es wäre beiden so leicht bei ihrem hohen Alter und der gichtischen Anlage. Aber sie haben kein Herz für mich. Ich komme dabei auf eine Gefühlsphilosophie, die dem Tagebuch ziemlich gleichgültig sein kann und mich außerdem mit der Vogelschutzgesetzgebung in Konflikt bringen würde.

Also fangen wir noch einmal von vorne an: ehrlich, wenn's auch uns Diplomaten schwer fällt; – scharf, damit es nicht vergeudete Zeit ist.

*

Also ich komme ziemlich geraden Wegs aus Petersburg; offiziell auf ein Jahr gesundheitshalber nach der Riviera beurlaubt – auch länger, noch viel länger, solange ich will. Das ist stillschweigende Uebereinkunft. Schwindsüchtig bin ich nicht. Dafür zeigt mein Geldbeutel alle Symptome des letzten Stadiums der »Galoppierenden«. Das ist keineswegs erbliche Belastung, denn die Finanzen meines in Gott ruhenden Herrn Vaters prädestinierten mich gewissermaßen für die diplomatische Carriere. Schuld daran, daß ich jetzt etwa so gut situiert bin wie mein dralles Thurgauer Stubenmädchen – ist nicht das Spiel, nicht der Wein, nicht die wahre Liebe – sondern die Thatsache, daß ich über ein Jahr von der gesamten Lebewelt einer europäischen Hauptstadt um ein selten köstliches Juwel beneidet wurde, dessen Edelsteinfassung auf dem matten Grunde Mechelner 9 Spitzen mich so fabelhafte Summen kostete, daß ich sogar zur Veräußerung meines väterlichen Gutes schreiten mußte. Kurz darauf verlor ich das Juwel. Mein Geldbeutel bekam schwindsüchtige Anwandlungen. Zur Stärkung wurde mir erst Petersburg, zuletzt die Riviera verordnet – und ob die Komödie nun mit einem kurzen Knalleffekt in Monte Carlo endet oder mit einem langen Siechtum in irgend einem Nest, das ist mir vorläufig ziemlich gleichgültig. Denn ein Rettungsstern blinkt mir noch: das ist meine Tante. Stern? . . . Na, wenn ich ganz genau wüßte, daß sie diese Charakteristik niemals liest, würde ich ungefähr folgendes sagen:

Sie ist eine ekelhafte, zweiundsiebzigjährige alte Jungfer, die nie etwas auf Erden geliebt hat, ausgenommen ihren Kanarienvogel. Sie ist fromm und giebt keinem Bettler einen Sou; sie ist edel, und sie könnte mich auf dem Schafott enden sehen. – ›Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!‹ – Jawohl, liebe Tante Jeannette, das bist du alles nach deiner unmaßgeblichen Meinung in der Potenz. Ich aber sage: Wenn du hinüberschwebst und Petrus nicht sofort die Himmelsthür vor dir verriegelt. so bitte ich um ein bescheidenes Plätzchen im Höllenfeuer. Denn mit dir im Paradiese? Dank' unterthänigst.

Für den einzigen Sohn ihres Bruders hat Tante Jeannette ungefähr so viel Interesse, wie eine Schildkröte für einen russischen Windhund. Wenn man eben Pech hat! Als dreijähriger Bengel soll ich mal in großer Gesellschaft bewundernd gesagt haben: »Tante, du siehst ganz aus wie eine Schildkröte.« Das raubte mir endgültig ihre Sympathie. Habe ich das große Wort wirklich gesprochen, so zeugt das für eine seltene Beobachtungsgabe. Denn wenn sie durch das Zimmer schiebt auf Plüschschuhen mit fettgewölbtem Rücken, hat sie entschieden etwas von 10 dem großen Kriechtier. Ich habe noch nie von fetten alten Jungfern gehört – sie aber hat's fertig gebracht! Und so was wohnt in Berlin – Tiergartenviertel – in einer entzückenden Villa mit Riesengarten. So was besitzt Millionen und sieht nie einen Menschen bei sich. Der Hofstaat ist: Obermarschall und Tyrann ein rheumatischer Kanarienvogel – Kammerherr vom Dienst ein alter, dicker, scheinheiliger Betbruder mit blauer Nase und einem langen, schwarzen Rock, den er beim Anmelden wie einen Talar schwenkt – Palastdame eine spindeldürre Mamsell, der ich wärmere Gefühle für den Dicken zutraue. Geliebt bin ich von allen nicht. Die Kanariendame – meine Tante würde es für lasterhaft halten, ihr Herz an einen Kanarienmann zu hängen – sträubt empört die Federn, sobald sie mich erblickt. Die gelbe Bestie empfindet richtig: ich bin ihr Todfeind. Das feiste Gesicht des Dieners wird steinern, sobald er dem etwas leichtfertigen Grafen Louis – das bin ich – die Flügelthüren zum Salon öffnen muß. Und das ist keine Maske. Denn er vergiebt es mir nie, daß ich seine blaue Nase langer und zarter Beziehungen zu der Chartreuseflasche auf dem Büffett beschuldigte. Die Mamsell ist äußerst devot, aber sie macht mich stets darauf aufmerksam, daß die gnädige Comtesse sehr schlecht geschlafen habe und um Gottes willen nicht aufgeregt werden dürfe. Einmal verbat ich mir das scharf. Die Folge war, daß am nächsten Tage der Dicke, diesmal freundlich lächelnd, erklärte, daß meine Tante mich wegen heftiger Migräne nicht annehmen könne.

Und um dieses verwunschene Schloß samt Königin und Kanarienvogel zu erobern, bin ich sechsmal im tiefsten Winter von Petersburg nach Berlin gereist. Es gehörte wahrhaft gräflicher Mut zu diesem Unterfangen. Denn erstens mal meiner Tante zu beichten – 11 von einem »kleinen Mädchen«, großartiger Verschwendung, komplettem Ruin. Sie ertrug's übrigens. Nur bei dem »kleinen Mädchen« klingelte sie erschöpft nach Riechsalz. Dann Reue, Zerknirschung heucheln – dann nicht vorhandene Verwandtschaftsgefühle wecken – dann, als Meisterstück der Verstellung, der zweiundsiebzigjährigen Schildkröte um den Hals fallen und gottergeben sagen: »Jetzt hab' ich nichts als den Himmel und dich, Tantchen!« Metternich würde sicherlich in dem Moment wie ein Waisenknabe neben diesem jungen Novizen erschienen sein, der sogar eine ganz echte Schauspielerthräne aus der Augenecke wischte. Wenn's mir die alte Dame nun abgeschlagen hätte, weil sie mich doch durchschaute, so könnte ich ihr's nicht mal übelnehmen. Aber sie that etwas ganz andres. Sie seufzte, sah gen Himmel – der fette Rücken zitterte gerührt – und sprach wie folgt:

»Lieber Neffe, die Vorsehung ist weise, und wir dürfen ihr planvolles Wirken nie zu unterbrechen versuchen. Das wäre frivol! Sieh mal, ich habe außer den beiden Guten draußen niemand als diesen Vogel,« – dabei zeigte sie auf ein vergoldetes Bauer, wo sich die Kanariendame kampfbereit plusterte. »Und in einer schlaflosen Nacht kam ich auf den Gedanken: für dieses liebe Tierchen muß gesorgt werden, wenn ich nicht mehr bin.« Das Untier piepste darauf wehmütig. »So habe ich denn mein Vermögen außer zwei Legaten einer frommen Stiftung vermacht, der ich das Wohl dieses gefiederten Lieblings auch nach meinem Tode anvertrauen kann. Stirbt Lola vor mir« – sie hauchte nur noch vor Rührung –, »dann ist die Vorsehung mit meinem Thun nicht zufrieden. Ich nehme es als Zeichen und vernichte das Testament. Und dann bist du ja der Erbe. Bei Lebzeiten 12 gebe ich nichts . . . Louis, Louis, du bist ein Verschwender!« – Das weiß ich nun zwar allein, aber es hilft mir nichts. Bei der Gelegenheit muß ich übrigens erst ein Schafs- und dann ein Verbrechergesicht gemacht haben, denn plötzlich schrie Tante Jeannette auf: »Louis, du willst Lola morden! Ich seh's deinen Augen an.« Der Gelbe flatterte verzweifelt in seinem Käfig, als wenn er bereits mein Messer an der ewig heiseren Kehle fühlte. Nach einigen Augenverdrehungen beruhigte sich die Tante, ward ganz Majestät und schloß die Philippika: »Versuch es nie, Louis, denn ich müßte dich unbedingt enterben! Und jetzt laß mich mit Lola allein. Ich habe in einen Abgrund gesehen, vor dem mir schaudert.«

Seit der Unterredung bin ich wie verhext: ich kann die Mordgedanken nicht los werden. Und dabei ist's eine ganz aussichtslose Sache. Mit Lola läßt man mich nie mehr allein. Die Tante steht hinter mir, der Diener zur Rechten, die Mamsell zur Linken, wenn ich die Kanariendame trotzdem zu sehen wünsche. Und ich bemühe mich scham- und würdelos um ihre Gunst, flöte sie an, verdrehe liebevoll die Augen. Sobald ich aber den Finger zwischen die Stäbe stecke, hüpft der Gelbe verzweifelt, und die Tante sagt würdevoll zu mir: »Er traut dir nicht.« Dann himmelt sie den Gelben an: »Lola, Lola . . . mein Liebling – man plant Böses gegen dich,« – bis das Ungeheuer, dem die Schildkröte unbegreifliche Liebesgefühle einflößt, ganz gerührt auf seiner Stange von einem Bein zum andern torkelt und so ersterbend piepst, daß mich köstliche Todeshoffnungen durchbeben. Jawohl, Kuchen! Er lebt und frißt und tyrannisiert die Tante heute noch und ist vollständig immun gegen die Petersilie in meiner Rocktasche, die in seinem Schnabel ihm ein so sanftes 13 Ende bereiten würde. Alles vergebens! – Ob ich mit dem Dicken Brüderschaft trinke – oder der Dürren eine Liebeserklärung mache? Gedacht habe ich schon daran, doch es ist hoffnungslos. Sie nimmt mich nicht, und der Dicke würde meinen Anschlag sofort verraten.

Sapienti sat. Jetzt habe ich noch rund fünftausend Mark, sitze weltverloren in Ragaz, weil ich in St. Moritz zu bekannt bin und die Riviera vermögenslosen Grafen nur ein Fortkommen als Croupier ermöglicht. – Ragaz? Warum ging ich eigentlich nach Ragaz? – Es war so 'ne Kateridee, wie das Tagebuch auch. Good night.

*

Als ob ich in diesem verödeten Hotel nicht gerade Strandgut genug wäre! Seit drei Tagen ist ein Lieutenant mein Zimmernachbar: klein, schwarz, frisch. Ich bin sehr retiré. Du täuschest mich nicht, mein Jungchen, mit der nervösen Lebhaftigkeit, die du zwei schwindsüchtigen Rumäninnen, den einzigen zweifelhaften Zierden unsrer table d'hôte à quatre, gönnst.

Selbstverständlich auch um die Ecke gegangen! Und ich habe nicht die mindeste Lust, von einem Kollegen von der andern Fakultät vielleicht noch um zwanzig Mark angepumpt zu werden. Vorläufig haben wir uns vorsichtig beschnüffelt, das heißt, er mich. Kann nicht recht aus mir klug werden. Bei der Vorstellung wurden die üblichen, absolut unverständlichen Namen gemurmelt. Trotzdem weiß ich durchs Fremdenbuch, daß er von Jaromir heißt. Ich selbst figuriere da als Gr. Carén. Kann alles mögliche heißen und ist mit seiner halben Wahrheit das beste Inkognito. Denn in diesem Gasthofe vielleicht den Rumäninnen mit hochadeligen Airs 14 zu imponieren – deplaciert! Der Lieutenant hat den gewissen Kommißblick und mißtraut mir. Londoner Anzug, Hut von Habig und dabei die Reserve, die uns die Diplomatie immer auferlegt – das reimt sich schlecht mit Gr. Carén. Er kann weder Kavallerist noch in einer großen Garnison gewesen sein. Wahrscheinlich königliches Linienfußvolk von jenseits der Weichsel. Von Pferden keine Idee und von der Welt so viel, wie man aus Kasinogesprächen und endlosen Kommißpeccos ergattern kann. Der Gute war übrigens anfangs äußerst vorsichtig in Bezug auf seine Person. Als Nutzanwendung zieh' ich daraus: erst vor kurzem niedergebrochen – von Gläubigern zu Schanden geritten. Ich vermutete das auf den ersten Blick. Er trägt das Zivil eng, mit Kommißschic, und bläst sich jedes Stäubchen vom Rock – außer seinem Smoking also wahrscheinlich nur noch Räuberzivil. Wir spielen nach Tisch immer Ecarté auf der Bude, weil die Rumäninnen im Lesezimmer zu scheußlich husten und Ragaz von Nebel und Regen trieft. Man kann nicht die fünf Schritte bis zur Tamina hinübergucken. – Spielt übrigens das Ecarté gerissener als ich, der ich es immer als Jeu und sehr hoch gespielt habe. Es ist ein zweifelhaftes Vergnügen, hier wegen fünf Mark Haben oder Nichthaben zwei Stunden auf einem Kattunfauteuil zu hocken. Dem Kleinen ist das Gewinnen ein Riesenscherz – nennt mich dann »lieber Herr Carén« und »einen famosen Kerl«. Man erträgt's. Aber wenn er lange bleibt, gehe ich.

Was hat er nun eigentlich in Ragaz zu suchen? Gestern nach Mitternacht endlich auf den Leim meines konsequenten Schweigens gekrochen. Hält's nicht mehr aus ohne Beichte. War Grünrock früher, dann bei einem Kriegsschulkameraden vier Wochen 15 in Berlin untergekrochen, der ihn vermutlich flott gemacht hat, jetzt auf der abenteuerlichen Streife nach einer wahnsinnig reichen Berliner Familie, von der er nichts kennt als die Veilchenaugen einer Tochter – und auch die nur auf Pistolenschußweite. Aber doch verdammter Kerl, der Kleine! Sieht das Mädel Unter den Linden, rast der Droschke mit dem köstlichen Inhalt nach, die zum Glück schon vor Hotel Bristol hält. Fünf Minuten später interviewt er den Portier. Die befriedigendsten Auskünfte: vornehme Ausländer – ein wahrer Berg köstlichster Lederkoffer – fabelhafte Trinkgelder – unter Moët & Chandon »Cremant Rosé« kein Tropfen. Dem verflossenen Jäger, der's bis dato nur zu einer Segeltuchtasche gebracht hat und in seinem Posemuckel Moët nur par renommé kannte, schwindelt es. Er kann nur noch den Namen in seinem Gedächtnis notieren und dazu die traurige Thatsache, daß die Herrschaften noch heute abend über Ragaz und das Engadin irgendwohin abreisen. Ragaz Station. Mit ganz verrückten Hoffnungen ist er ihnen nun vor- oder nachgereist – das weiß er selbst nicht. Toller Phantast, der Kleine – die letzten gepumpten Moneten so leichtsinnig ans Bein zu binden! Natürlich ist er stintmäßig verliebt – in zwei blaue Augen, die er nur einmal gesehen hat. Es giebt auf der Welt doch noch Liebe auf den ersten Blick und Idealisten. Eigentlich sollte mir der kleine Mann imponieren. Das ist noch Jugend! . . . Ich habe diese Art Jugend nie gekannt, war nie verliebt. Ein Graf Carén kann eben überall anklopfen, und ihm wird aufgethan. Das macht blasiert. Auch das kleine Juwel, das mich so haarsträubend ruinierte und so schnell in andern Besitz überging, war mir im Grunde des Herzens gleichgültig.

16 Die Familie, die vorläufig nicht vorhanden ist und wohl auch so bleiben wird, soll aus vier Personen bestehen: Vater, Mutter, zwei Töchter. Der kleine Lieutenant will mich scharf auf die andre Tochter machen. Ich – dein Kamel? Auch nicht übel! Aber der gute Junge, der es mit mir vielleicht ganz ehrlich meint, könnte sich irren. Ich sehe mir die Sache an. Die ältere Schwester ist selbstverständlich eine Vogelscheuche, und die Eltern sind im besten Fall englische Schneider außer Dienst. Vielleicht ist's gar mein Londoner Hoflieferant, der mir eine furchtbare Wiedersehensscene wegen mangelhaft beglichener Rechnungen bereiten würde. Nichts desto trotz: Ist deine Angebetete eine Sünde wert und sind die Millionen wirklich vorhanden – so pfeif' ich auf die Gefühle dieses Verliebten und den Kanarienvogel meiner Tante, entschleiere mich graziös als Graf Carén, Kaiserlich deutscher Botschaftsattaché à la suite. Lieber Jaromir, wenn deine Schöne mit den Veilchenaugen den Gothaischen Kalender nur halbwegs kennt – meine Sünden aber nicht –, so verzichtet sie auf deine heiße, junge Liebe und nimmt mit meiner kühleren gräflichen vorlieb. Ja, Teuerster, – das ist Realpolitik!

Eigentlich thut mir der Kleine doch leid. Es klingt so nett, wenn er nach der zweiten Flasche unsers schweres Veltliners aus sich herausgeht und, die Hand auf meiner Schulter, sagt: »Sehen Sie, Carén, ich habe ja nur ihre Augen, und auch die nur einmal gesehen –, dennoch könnt' ich dem Mädel nachlaufen bis ans Ende der Welt.« – Ich schäme mich, es zu sagen, aber ich möchte auch so fühlen können. Es liegt doch was drin! Dafür habe ich alles genossen und eigentlich nichts, was ja immer zusammenfällt. Selbst wenn die Kanariendame 17 sterben sollte und die Schildkröte hinterher, würden die neuen Millionen mir wahrscheinlich so wertlos sein wie die alten vergeudeten. Ich bin eben passé.

*

»Hurra – wir haben sie!«

Der Siegesruf stammt natürlich nicht von mir, sondern von dem verliebten Lieutenant. Ich muß ihm indessen lassen, daß er noch viel von der Findigkeit seines grünen Elitecorps besitzt. Aufklärung – Umgehung: alle Achtung! – Vom Portier des »Ragazer Hofes« hatte er die Ankunft der Familie ausgekundschaftet. Ich sah auch die imponierenden Kofferberge – tadelloses hellgraues Elefantenleder, nur alles zu neu. Sofort wurden Posten ausgestellt. Ich war Numero zwei und markierte Vedette, an meinem Fenster sitzend, was für einen Gardekavalleristen der Reserve auch passender ist. Der detachierte Oberjägerposten vor dem Hotel wurde durch zwei Bauernjungen mit Kröpfen dargestellt. Der Feldwachtkommandant rast unaufhörlich die Sicherungslinie ab. Endlich nachmittags um halb drei entschließt sich der Feind zum Vorgehen aus seiner befestigten Position. Der Kleine winkt mir ganz wild. Wir rennen die Landstraße nach Landquart entlang – weshalb, begriff ich nicht. Aber es war sehr hübsch, der erste schöne Tag im Rheinthal, das in einem Blütenmeer von Kirschen und Kastanien wogte. Dann birschen wir uns über einen Lawn Tennis-Platz zum Vater Rhein und patrouillieren das Ufer ab – ein furchtbarer Weg mit Sand und Steinen, eigentlich alles andre als ein Weg, Wozu der Unsinn? Der Lieutenant gestikuliert heftig; darauf schreit er wieder Hurra! Rheinabwärts, wo die Tamina abfließt. taucht etwas Weißes auf: Sommerhüte oder ein wild gewordener 18 Kirschbaum – was weiß ich. Ich setze mein Monocle fester, durch das ich, entre nous, nicht eine Spur besser sehen kann. Der Lieutenant beordert mich ins Ufergebüsch – holt mich nach zehn Minuten wieder 'raus. Wir sehen jetzt wirklich helle Hüte, zwei Matrosen, einer gesetztere Façon, auch ein grauer Herrencylinder dabei – letzterer für die Schweiz nach meiner Ansicht eine Geschmacklosigkeit. Wir pendeln auf dem scheußlichen Wege der Karawane entgegen – ich weiß noch immer nicht, worauf Jaromir hinauswill – und treffen sie gerade an der Stelle, wo ihr zivilisierter Pfad zu unsrer Sandwüste wird. Die Fremdenkarawane zögert etwas, nur der melierte Kotelettebart mit dem Cylinder stampft weiter. – Der Lieutenant macht in der Aufregung Honneur und sagt in einem Englisch, dessen sich kein Pescheräh zu schämen brauchte: »Ich glaube, meine Herrschaften, daß Sie den Weg unpassierbar finden werden – und der links abbiegt, ist völlig durchweicht vom letzen Regen.« Das letztere war eine ganz gemeine Lüge. Aber ich wußte jetzt, worauf er hinauswollte, und fügte in einem menschenwürdigen Englisch eine kühle Bestätigung hinzu. Darauf machte der graue Cylindermann ein wütendes Gesicht und brummte.

Eine klangvolle Frauenstimme erwiderte jedoch deutsch: »Danke sehr, meine Herren. Dann müssen wir wohl wieder zurückgehen.«

Jetzt gab sich die selbstverständliche Verlegenheitskonstellation. Wir wanderten gemeinschaftlich heimwärts. Der Uferdamm ist schmal wie der Weg zum Paradies. Voran die Mutter mit der klangvollen Stimme nebst Ekel von Gemahl; es folgen in Abständen der Lieutenant mit der Geliebten, zuletzt ich mit der älteren Schwester. Das Schicksal scheint mich denn doch für sie bestimmt zu haben. Der 19 Kleine hat sich nach der überflüssigen deutschen Manier vorgestellt – ich thue das unter solchen Umständen nie. Badebekanntschaften sind doch nicht für die Ewigkeit. Die Partie vor uns amüsiert sich indes königlich auf französisch – für einen feurigen Romeo radebrecht er's abscheulich. Ich weiß eigentlich nicht warum, da nach dem fremdländisch klingenden, aber doch korrekten Deutsch der Mutter auch den Töchtern wahrscheinlich mit unsrer Landessprache beizukommen ist. Aber ehe wir zu dem verständigen englischen Hochmute kommen, der sich im Auslande den Teufel um die Sprachgefühle andrer schert, wird wohl noch viel Wasser den Rhein 'runterlaufen. Meine Dame und ich schweigen uns in allen drei Sprachen aus: französisch, englisch, deutsch – wahrscheinlich, weil wir sie alle drei beherrschen. Bei mir gehört's ja direkt zum Beruf – und sie sieht mir ganz so aus, als wenn sie ihre Heimat auf der ganzen Welt hätte.

Ich gerate wieder in meine Manie, die ein unglaublicher Mangel an Physiognomiengedächtnis gezeitigt hat: nämlich die Rückseite der Menschen auf irgend ein Merkmal hin zu studieren. Man findet da immer etwas – eine Bewegung, eine Linie, die ganz Eigenart, ganz Person ist. Vorläufig beäuge ich den Cylindermann. Kurz geschorenes graues Haar, roter Stiernacken, der über den Kragen quillt – der ganze hellgrau karierte Koloß in der Landschaft eigentlich nur als Hintergrund zu verwenden. Die großen, brutalen Ohren stehen ungleich am Kopfe; es ist ein Millimeter, vielleicht noch weniger, fast unbemerkbar, dennoch würde ich den Mann herausfinden aus Tausenden. Bei der Frau ist's umgekehrt. Schlanke, hohe Figur, graziös, aber mit einem Atom von Mütterlichkeit, das merkwürdigerweise auf mich außerordentlich pikant wirkt. Alles glatt, gefällige Linien, auch in der Farbe des 20 blonden Haares, der weißen Haut; das Matte, ich möchte sagen: Indifferente der Weltdame. Ich taxiere sie auf siebenunddreißig. Doch das ist ein Kalkül mit dem Umwege über die Töchter. Sie könnte ebensogut zehn Jahre weniger oder mehr haben. – Ich habe ihr Gesicht gesehen, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Sie kann ja gar nicht anders aussehen als – da fehlt mir wieder der Begriff – als hübsch, blaß, ohne Runzeln und Fältchen, mit blauen, etwas leeren Augen; halb Modekupfer, halb monde. Von der einen die hübsche, charakterlose Linie, von der andern die gleichmäßige Liebenswürdigkeit, der Verstand. Das Weib – obgleich diese Bezeichnung absolut nicht paßt – macht mich ganz wild. Wenn man trotz seiner achtundzwanzig Jahre doch schon ein sehr langes Leben hinter sich hat, dabei die Manie der Charakterisierung besitzt – und nichts Markantes findet, absolut nichts, immer nur die ewig hübsche Linie, über die das Auge hinweggleitet! Und gerade darum würde ich sie wiedererkennen nach Jahrzehnten, in jeder Toilette, in jedem Licht! Den Scherz macht sich die Natur nur einmal.

Dabei kommen die Töchter schlecht weg, und sie verdienen's wahrhaftig nicht.

Von der Mutter haben sie die Figur, die bei der Jungen schlanker, reizender ist, bei der Aelteren vornehmer, rassiger.

Du bist ein Schlemmer, mein lieber Lieutenant. Denn wenn's je eine Blüte im blühenden Rheinthale gab, so ist das deine Ethel. Giebt's denn überhaupt so viel sonnige Jugend, wie dieses Geschöpf besitzt, an dem alles lacht: die Kornblumenaugen, die entzückende Stupsnase, die weißen Zähne, der süße rote Mund? Auch das lockige Goldhaar lacht, und der Frühlingswind, der es so anmutig verwirrt, 21 ist ein Gourmet. Dennoch hast du für mich auch deine Signatur, mein Schatz – ein Leberfleck dicht hinter dem linken Ohr. Wenn du eitel wärst und kokett, könntest du so leicht jeden Morgen eine winzige Haarlocke mit der graziösen Hand darüber decken. Aber vielleicht bist du noch eitler, noch koketter und weißt ganz genau, daß, wer hinter dir geht, immer die sündige Neigung haben wird, diesen kleinen Fleck zu küssen. Darin bin ich also besser daran als der Lieutenant, der von der Rückansicht nichts hat und sich sehr recken muß, um genau so groß zu sein wie die Angebetete. Ich habe sehr lasterhafte Neigungen mein Lebtag gehabt, wenn duftende Frauennacken in meiner Nähe waren. Dennoch lass' ich sie dir, die Blonde, Jaromir! Für mich ist sie zu jung . . .

Mit der Resignation sollte ich eigentlich schließen, denn zwischen der Schwester Asta und mir bestehen vorläufig sehr geringe Sympathien. – Du bist ganz aus der Art geschlagen, du hochgezogenes Vollblut. Ich brauche dein Gesicht eigentlich nicht hier abzukonterfeien – ich vergesse es doch nie. Tiefgrüne große Augen und ein herber, schöner Mund. Der braune Kopf sitzt auf einem königlichen Nacken. Das ist deine Signatur. – Nein, zu jung bist du für mich nicht, obgleich du wenig älter bist als deine siebzehnjährige Schwester. Aber wir passen nicht füreinander. Du bist mir zu sehr pur sang, wie ich ahne. Da kann ich nicht mit . . .

Klug werde ich übrigens aus der Familie nicht. Das ist eine Internationalität, die sogar mir über die Hutschnur geht. Die Leute heißen Le Fort, sind in England naturalisierte Franzosen und tauften die eine Tochter Ethel und die andre Asta.

Ganz so viel werde ich mich an dem Nachmittag aber wohl mit euch nicht beschäftigt haben wie jetzt, 22 wenn neben mir der grüne Rhein rauscht, glücklicherweise noch nicht der träge Riese wie bei Köln, aber ein lecker, frischer Bursch, der's sehr eilig hat nach dem Bodensee! Heute glitzert er nur und strudelt; zur Schneeschmelze mag er jedoch den roten, regellosen Blöcken an beiden Ufern ganz energisch aufs Haupt steigen. Raum hat er ja dazu in seinem Thale. durch dessen blühenden Frühlingsgarten er sich jetzt so bescheiden breit ergießt. Ueber den zackigen Schneehäuptern des Gonzen und des Alviers zur Rechten blitzt die Sonne; die keck an allen Klüften und Schrunden emporgeklommenen Tonnen sitzen wie schwarze Punkte in dem Weißen. Aus der Ferne grüßen die »Sieben Churfirsten«, auch ehrwürdige Herren mit beständiger Nachtmütze. Zur Linken aber, über Ragaz, aus dessen Blütenschnee die neue Kirche und die noch öden Riesenhotels sich recken, steigt in tiefem Waldgrün steil der Wartenstein empor, oben eine berstende Ruine – und neben ihm die weiße Loggia des Hotels, das heute seinen Einweihungstag mit wehenden Schweizer Flaggen feiert. Ich begreife den Lieutenant nicht, der bei dem Anblick minderwertiges Süßholz raspelt. Mir wurde es ganz warm ums blasierte Herz. An so einem Frühlingstage – in den Alpen – am Rhein! Die Sentimentalität liegt uns Deutschen doch immer im Blute. Es ist unser heiliger Strom auch hier schon in der Fremde! Ich bin kühl, fast international geworden in meinem Berufe und sollte schwächliche Heimatsgefühle eigentlich nur jenseits der Weichsel empfinden – dennoch treibt's mich, in dem Augenblick irgend eine gefühlvolle Dummheit zu sagen.

»Das ist unser Rhein, gnädiges Fräulein.«

Geistreich war das Aperçu nicht. aber sie verstand mich.

23 »So? Ich habe keine Heimat, mein Herr!« antwortete sie. Das grüne Auge leuchtete beinahe schwarz, und der herbe Zug sprang um den Mund . . .

Dann schwiegen wir wieder.

Es ist kein langer Weg nach Ragaz zurück. Er wurde auch nicht länger dadurch, daß der Lieutenant ihn krampfhaft durch Stehenbleiben zu verlängern suchte. Als wir an die kleine, wackelige Taminabrücke kamen, war eigentlich die Trennung Anstandspflicht, wenigstens für mich, der ich von den Leuten wirklich nichts will. Aber es kam ganz anders.

Wir stoppen an dem rauschenden Gebirgsbach – die berühmte Verlegenheitspause: wie sich trennen? Der Lieutenant wagt einen verzweifelten Vorstoß. »Waren die Herrschaften schon in der Schlucht? Es ist jetzt halb vier Uhr, und wenn . . .«

Ich räuspere mich. Das Randrängen war nie nach meinem Geschmack. Auch die Fremden sehen sich schweigend an. »Und was meinen Sie dazu, Herr Graf?« Die Dame ohne Kennzeichen sagt es sehr liebenswürdig. Ich war baff, die Mädels und der Lieutenant dito. Aber die hübsche Frau fährt lächelnd fort: »Sie können Ihr Inkognito nicht aufrecht erhalten. Graf Carén. Ich habe Sie vor zwei Jahren in Ostende gesehen – zwar nur par distance, aber sehr oft. Sie waren in Begleitung einer sehr schönen Dame.«

Da leuchteten auch gleich die Kornblumenaugen der Kleinen auf, und sie sagte mit einem ganz reizenden Ausländeraccent: »Ach, Mama – die Dame mit den Saphiren, von denen alle Welt sprach. O, sie war so wunderhübsch!«

Wie klein ist doch die Welt, und wie teuer waren die Saphire! Ethel, wenn du wüßtest, wie teuer sie waren, und wie stark sie mein Schicksal entschieden. Die hübsche Mutter ahnt es vielleicht. Und sie weiß 24 ganz gewiß, daß ich lüge, wenn ich nach kühler Weltmannsart erwidere: »Sehr gütig, gnädige Frau, sich meiner zu erinnern. Die Dame war meine Cousine, eine Gräfin Lagrange.« – Woher diese Frau meine Personalien überhaupt kennt, ist mir vollkommen schleierhaft. In Ostende hieß ich Graf Lagrange, war Franzose, verkehrte mit niemand, und das saphirgefaßte Juwel wurde von allen Kellnern Frau Gräfin genannt. Wie mögen Sie doch augenblicklich heißen, Frau Gräfin? . . .

Ich hatte mir die Entschleierung des Grafen Carén vor drei Tagen ganz anders vorgestellt. Jedenfalls war ich fortan der Mittelpunkt der Gesellschaft. Zweifelhaftes Vergnügen das, wenn man in der »Krone« wohnt und eben an ihr vorbeischlendert! Der Lieutenant machte mir leise Vorwürfe, daß ich so schnöde Versteckens gespielt. Die Hauptursache seiner Verstimmung war wohl, daß seine Kornblumenfee sich öfters als unbedingt nötig nach mir umsah. Ein Graf mit solcher Cousine, mit solchen Pretiosen ist etwas für die Jugend. Auch das Ungeheuer von Vater gönnte mir zwei freundliche Falten seines roten, breiten Gesichtes. Die hübsche Frau machte sich an mich heran. Wir wechseln ein paar höfliche Worte. »Ostende – der köstliche Strand – König der Belgier . . .« – »Wir wußten gar nicht, daß der ›Quellenhof‹ (das ist das erste Hotel hier) schon eröffnet ist,« sagte sie dann.

Mir wurde es heiß und kalt bei der scheinbar harmlosen Inquisition, aber an der gemeinen Lüge habe ich nie recht Gefallen gehabt, und ich erwiderte: »Nein, gnädige Frau, der ›Quellenhof‹ ist noch nicht eröffnet. Ich wohne seit acht Tagen in der ›Krone‹.« Bei dem letzten Worte konnte ich doch einen Moment so ein gewisses unsicheres Flimmern in den blaßblauen Augen erkennen. 25 Gr. Carén – wir sind in unsern Vermögensverhältnissen erkannt!

Nicht etwa, daß der geringste Temperaturwechsel in ihrer Liebenswürdigkeit erfolgte – dazu ist Madame Le Fort zu sehr Dame von Welt. Aber die Unterhaltung wurde zuletzt ein schrecklich öder Gemeinplatz, so daß ich erleichtert aufatmete, als ich bei dem Eingange in das Taminathal die Tochter Asta erwischte, die mir vorhin meuchlings entflohen war. Da machte ich natürlich die zweite Dummheit. »Haben Sie mich auch in Ostende gesehen, gnädiges Fräulein?«

»Nein, Herr Graf.« Das klang sehr kühl, sehr von oben herab, und der königliche Nacken hob sich stolzer. Sie ist wahrhaftig nicht zu jung, und die Saphirfassung täuschte sie über den wahren Wert meines verflossenen Juwels nicht. Also denn nicht, Fräulein Asta!

*

Im übrigen war's ein unvergeßlich schöner Tag im Taminathal.

Die Engländer waren milde heute und verekelten uns die schöne Natur nicht mit ihren Photographierkästen, ihren Kniehosen und ihrer gemeinen Sprache.

Es ist ein enges Thal, das sich der Alpenbach gleich hinter Ragaz durchs Gebirge gebrochen. Die Straße führt immer hart am Wasser entlang. Links hebt sich die Felswand schroff, grau, gleich über dem Fluß. Kein Kletterschuh, der hier tastend von Riß zu Riß bis zur Höhe gelangen könnte, auf der grüner Wald rauscht. Nur elendes Gestrüpp – der Same von Vögeln oder vom Winde hingetragen – hat sich in die Spalten gezwängt, auf den Absätzen festgeklammert, hier – dort – in weiten Zwischenräumen, durch glatten, senkrecht abfallenden Fels getrennt. Felsschwalben haben ihr Nest angeklebt, 26 und einsame Käfer summen. Und die Sonne wirft ihre breiten Lichter darüber. Das junge Grün lacht, und der ewig nasse Fels glänzt. Unten aber rast die milchiggrüne Tamina über die Blöcke, die sie selbst mitgeschleppt, über die Kiesel, die sie verwaschen. Zur Rechten von der Straße, die sich baumbepflanzt durchs Thal windet, steigt der Berg empor, grün, mit Matten und Wald; der Wind raschelt in dürrem Eichenlaube. Dazwischen drängt sich brüchiger Schiefer hervor, Schneewasser stiebt silberglänzend darüber und stürzt dann, in schmale Felsrinnen gezwängt, rauschend zu Thal. Und dies Bild von frischer Jugend, emsiger Zerstörung, wieder gekrönt von leuchtendem Schnee, in dem die schwarzen Fichten begraben sind. Wer will das Thal beschreiben, das oben der Fels schnürt, unten die Tamina höhlt – diesen jähen Wechsel von Fels und Wald und Matte und Berg und von der Höhe donnernden Gießbächen? Immer meint man, die Felsenriegel müßten sich schließen, und immer wieder thun sie sich auf. Der Schnee leuchtet, die Wand tropft. Die feuchte, würzige Schnee- und Wasserluft ist meinem verbrauchten Nervensystem heilkräftiger, als es die warmen Bäder von Pfäffers sein könnten.

Von Pfäffers selbst, dem weltberühmten, ahnt man nichts, bis es direkt vor einem liegt, ganz in der felsigen Tiefe, lichtlos, verwittert, ein langgestreckter Klosterbau von erdrückender Schwermut, an dem die Tamina an ihrer hier beginnenden Schlucht schäumend vorüberschießt. Zur Sommerresidenz würde ich es nicht wählen, obgleich's ein Hotel mit Hunderten von Zimmern ist. Noch herrscht trostlose Oede, und der Schritt hallt unheimlich in den breiten, niedrigen Riesenkorridoren, aus denen die Stickluft des ehemaligen Klosters nicht herauszubringen ist. Ich hatte immer das Gefühl, es 27 müßte in dieser ewig fahlen Dämmerung urplötzlich eine Tonsur auftauchen, ein sinnendes Mönchsgesicht aus härener Kutte uns anschauen. Denn büßen läßt sich's hier, das enge, graue Thal predigt Entsagung.

Gemeiniglich führt der Weg durch das Kloster zum Himmel – hier führt er zur Hölle. Denn etwas von der Hölle, der Unterwelt hat die Schlucht, die man auf in Felsen eingekeilter Holzgalerie betritt. Ich hatte natürlich meine dritte Dummheit gemacht und auf das Schutzplaid verzichtet, das hier unser zwölfjähriger Guide energisch anbot. Auf glitschigem Holzboden tastet man sich zögernd in diese Gruftkühle. Wasserdunst steigt aus der Tiefe, feiner kalter Gischt sprüht von oben, zuweilen große Tropfen, die auf meinen Strohhut klatschen. Tief unten in diesem wie eingesprengten Felsenspalt, durch dessen schmale Lichtscharte hoch oben der blaue Himmel blickt, gurgelt, wirbelt die tobende Tamina. Man versteht kaum ein Wort, und doch hat man ein starkes Bedürfnis nach der menschlichen Stimme in dieser blauen dämonischen Dämmerung, in diesem wütenden Tosen einer erbarmungslosen Naturgewalt. Ich glaube jetzt, daß die Hölle nicht heiß ist, sondern kalt – so kalt, so leblos sein muß wie diese Schlucht, an der sich die schmutzige Holzgalerie entlang windet.

Die Kornblumenfee vor mir hielt sich die niedlichen Ohren zu und hätte es mit den Augen gern ebenso gemacht, wenn das auf dem schlüpfrigen Holzgrunde angängig gewesen wäre. Der Lieutenant betrachtete mißtrauisch die großen, schwarzen Wasserflecke auf dem hellen Sommerüberzieher. Unentwegt stampfte der Koloß vorwärts, daß die Planken wankten; und leichtfüßig, chic, ohne eine Spur von Grauen glitt neben ihm die Dame ohne Eigenart dahin. Sie hatte gute Nerven. Fräulein Asta schloß den Zug. Sie hatte es so gewollt. Und als wir 28 schon lange am Ende angelangt waren auf der Felsplatte, neben der die heißen Heilquellen von Pfäffers dem toten, kalten Felsgestein entspringen, stand sie noch immer an der gefährlichsten Stelle und starrte, über das Holzgeländer gebeugt, in die Taminatiefe.

Wir trinken, wie das so Brauch, das heiße, weißklare Wasser, Fräulein Ethel mit einem allerliebsten Abscheu gegen seine fade Geschmacklosigkeit – wir begutachten die viereckigen, tiefen Löcher oben im Fels, wo schon im Mittelalter Querbalken eingestemmt waren, bis zu denen man von oben die Badelustigen in Körben herabließ. Ich habe zu der mittelalterlichen Beförderung so viel Fiduz wie zu einem lenkbaren Luftballon. Dann sehen wir auch mit heimlichem Grauen den roten Strich weit über Galeriehöhe, bis zu dem 1861 die wilden Bergwasser, alles mit sich fortreißend, gewütet haben. Der Koloß lachte verächtlich, Madame Le Fort schwieg. Ihr Gesicht hatte in der Unterwelt nichts von seiner charakterlosen, glatten Linie, ihr Auge nichts von seiner blauen Leere eingebüßt.

Ich stand neben ihr. Da strömte mir ein feines Parfüm zu, der pikante Rosenwassergeruch von Peau d'Espagne. Ich liebe den Geruch. Er ist so weich, so anmutig, daß ich immer mattglänzende Brabanter Spitzen beim Einatmen zu sehen wähne und schöne Frauenschultern – und er ist wieder so schwer und vornehm, daß man ihn nie vergißt, weil er sich auch in der Erinnerung nie verliert. Gräfin Lagrange bevorzugte »Juchten«; es stand ihr, weil es immer etwas von eleganten Koffern, langweilig-teuern Weltbädern und russischer Verschwendung hat. Es kommt für mich gleich hinter dem Patschuli, und die Frauen, die sich seiner bedienen, sind auch gewöhnlich danach. Ich liebe Juchten nicht – schon der Erinnerung wegen.

29 Ja, Peau d'Espagne – bei Madame Le Fort – das ist etwas andres!

Warum braucht sie eigentlich Peau d'Espagne? Es paßt so gar nicht zu ihr, zu der glatten Linie, die man so hübsch vergißt. Peau d'Espagne ist ein gefährliches Parfüm, das ewig dauert wie ein Fluch. Peau d'Espagne ist Eigenart, und die Spitzen, denen sein Duft entströmt, haben Vergangenheit, und die Menschen, die den Duft lieben, haben auch ihre Vergangenheit – oder wollen sie wenigstens haben. Was will Madame Le Fort mit der Vergangenheit! Die charakterlos-hübsche Linie hat keine, so wenig wie eine Zukunft. Dabei komme ich aufs Grübeln. Was ist eigentlich Madame Le Fort? . . .

Fräulein Asta hatte unsre Gesellschaft verschmäht. Sie stand noch immer unbeweglich und sah in die Tamina. Als wir auf dem Rückwege wieder zu ihr kamen, guckten wir auch pflichtschuldigst in die Tiefe. Mir schoß ein Gedanke durch den Kopf. ›Wenn ich einen Todfeind hätte!‹ . . .

Und ich sagte auch laut: »Haben Sie Leute, die Sie absolut nicht leiden können, meine Herrschaften?«

Alle verstanden sofort. Des Lieutenants Phantasie erhitzte sich unmäßig. »Wenn ich meinen Hauptmann, die rothaarige Canaille, hier hätte – oder –« (er gestikulierte lebhaft) »meinen Gerichtsvollzieher – hinab mit ihm! Es würde mir ein Hochgenuß sein und von Reue keine Spur.«

Er meinte es im Augenblick ganz ehrlich mit seinen Mordgedanken; aber ich glaube, vor niemand ist man sicherer als vor diesem verliebten, guten Jungen.

Der Koloß lächelte breit und spuckte in den Fluß.

30 Die Kornblumenfee schüttelte sich vor Grauen. »O Gott, Herr Graf, einen Menschen morden! Ich möchte kein Geschöpf, nicht einmal einen Kanarienvogel, sterben sehen!«

Darüber denke ich allerdings anders . . .

Auch die Frau ohne Kennzeichen verzog den schmalen Mund und hielt die Hand vor die Augen.

»Nicht wahr, der Körper würde erst an die Felsen prallen? Man würde rotes Blut, zerschmetterte, zuckende Glieder und vielleicht noch dieses blutige Schrecknis pfeilschnell die Tamina entlang treiben sehen. Hören Sie auf, Herr Graf! – Nur kein Blut sehen!«

Merkwürdiges Weib! Auch so etwas hat den wunden Punkt, den zuckenden, fast perversen Nervenreiz. Sie spielt nicht Komödie. Sie kann thatsächlich kein Blut sehen.

Fräulein Asta schwieg. Sie hatte uns wahrscheinlich gar nicht zugehört.

Und wenn ich um eine eigne Meinung gefragt werde – so brutale Sachen liebe ich gar nicht. Jemand erstechen, erschießen? – Bon! Aber jemand irgendwo 'runterstürzen, das ist mir contre cœur. Jedenfalls mußte ich mich aus der Affaire ziehen, kühl, blasiert, um die diplomatische Eigenart zu markieren, und ich sagte lächelnd: »Da es nun einmal Menschen giebt, die einem kalt lieber sind, möchte ich auf die Tamina verzichten. Ich ziehe das aristokratische Gift vor. Reinliche Sache! Die Brinvilliers im Salon ist doch viel sympathischer als Trouville am Stilfser Joch.«

Die Hälfte der Worte verschlang ganz nach Verdienst das Donnern der Tamina. Alle schwiegen und starrten in das Wasserloch. Da auf einmal höre ich eine wohlklingende Stimme leise, fast im Selbstgespräche – ich weiß nicht, warum mir der 31 tobende Fluß gerade diese fast geflüsterten Worte gönnte, während er die starken Laute zermalmte.

»Ja, Gift . . . Gift . . .«

Peau d'Espagne duftet.

Und während ich dies schreibe, sehe ich wieder die glatte, charakterlose Linie. 32

 


 


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