Gregor Samarow
Kreuz und Schwert
Gregor Samarow

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Einunddreißigstes Kapitel

Die Stille der Nacht hatte sich auf das große Schlachtfeld gelegt, über welches am Tage vorher die markerschütternden Töne des Kampfes, des Entsetzens, des Todes nach allen Richtungen hin widerhallt hatten. Die Sterne blickten ruhig und still aus den Fernen des Himmels, wo sie in dem Frieden ewiger Ordnung und Harmonie ihre Bahnen durchlaufen, herab auf diesen kleinen Teil der Erde, in welchen soeben die Weltgeschichte mit blutigen Lettern eines der Urteile eingegraben hatte, die in der Entwicklung des Menschengeschlechts die Abschnitte zwischen den einzelnen Epochen des Völkerlebens bezeichnen.

Ruhiger und ruhiger war es auf den Schlachtfeldern geworden. Auch jenes leise Summen, welches stets über einer nach Tausenden und Tausenden zählenden Menschenmenge in geheimnisvoll schwellenden und sinkenden Tönen schwebt, jenes leise Klirren der Waffen, welches die Bewegungen der Truppenteile in der Stille der Nacht auch in weite Entfernung hin vernehmen läßt, war allmählich verstummt.

Alle diese Krieger, die am Tage vorher in fast übermenschlichem Ringen den glänzendsten und entscheidendsten Sieg erkämpft hatten, den die Annalen des deutschen Volkes aufweisen können, den ersten, der von allen Stämmen der Nation in gemeinsamer, einmütiger Verbindung unter einiger, frei und freudig anerkannter Führung erfochten war: sie alle hatten für die Nacht ihre Quartiere oder ihre Ruhelager gefunden und ruhten aus im tiefen Schlaf von der furchtbaren Blutarbeit.

Nur weit herüber aus der, von den verzweifelnden, physisch und moralisch gebrochenen französischen Truppen dicht erfüllten Festung klangen von Zeit zu Zeit unruhige, wilde Laute, wie die Schmerzensseufzer eines im Fieberwahn ringenden Riesen. Die Flammen brennender Dörfer stiegen zum Himmel auf und einzelne Schüsse krachten hin und wieder durch die schweigende Nacht, deren Stunden gleichmäßig dahinzogen, während nach den blutigen Taten 586 des Hasses und des Streites am Tage jetzt in stiller Nacht die barmherzige Liebe ihr segensreiches Werk unermüdlich fortsetzte – während die Sanitätskolonnen mit ihren Wagen, begleitet von den barmherzigen Schwestern und Diakonissinnen, über das Schlachtfeld hinzogen, den armen, verschmachtenden Verwundeten Hilfe und Beistand bringend und sie fortführend von der kalten, blutgetränkten Erde nach den überall errichteten Lazaretten und Verbandplätzen.

Auch diese welthistorische Nacht zog vorüber, ebenso gleichmäßig wie so viele andere Nächte, welche eine friedlich ruhende Welt umschlossen.

Das Morgengrauen des 2. Septembers – dieses Tages, der durch die Jahrhunderte der Zukunft hin wie eine ewige Denksäule hohen Ruhmes, wie ein Markstein einer neuen Zeitepoche dastehen wird – begann am Horizont aufzusteigen. Die Signale der Reveille ertönten rings umher, die vielstimmigen Laute der erwachenden Biwake klangen über das weite Feld hin. Überall begann sich das vielgestaltige militärische Leben zu regen, noch lebendiger, noch bewegter durch die Spannung, in welcher diese Soldaten sich befanden, welche alle fühlten, daß ein gewaltiges, die Welt in ihren tiefsten Fugen erschütterndes Ereignis sich hier vollzogen habe, welche wußten, daß der Kaiser Napoleon dem Könige seinen Degen angeboten habe, daß über die Kapitulationsbedingungen verhandelt werde, und welche alle von dem heraufdämmernden Tage die endliche Entscheidung dieses furchtbaren Völkerkampfes erwarteten.

Der Kaiser Napoleon hatte in tiefer Abspannung die ersten Stunden der Nacht ruhend verbracht. Schon um vier Uhr morgens hatte er seine Arzte rufen lassen, sich dann angekleidet und seinen Wagen befohlen.

Als er unter die im Vorzimmer versammelten Generale seiner Umgebung trat, sah er trotz seiner gebückten, zusammengesunkenen Haltung, trotz der eingefallenen Züge seines aschfarbenen Gesichtes frischer als sonst aus und ein fast heiteres Lächeln lag auf seinen Lippen, als er, das Haupt neigend, die Generale begrüßte. Es schien, daß er die endlich gefallene Entscheidung, so schwer sie war, leichter 587 ertrüge als die vorhergegangene Unruhe und Aufregung, – als fände er eine Beruhigung, eine Art von Glück in dem Gedanken, nun von der Bühne abtreten zu können und unter dem Schutze der Gefangenschaft dem unabänderlichen Schluß des Fatums gegenüber nur Mensch zu sein und seine körperlichen Leiden zu heilen.

Der General von Wimpffen trat in das Vorzimmer und näherte sich dem Kaiser. Man sah ihm an, daß er die ganze Nacht gewacht und die Kleider nicht gewechselt hatte.

»Sire,« sagte er mit dumpfer Stimme, »noch wenige Stunden und die Frist ist abgelaufen, die der General Moltke mir gestern abend gegeben, – ich habe die Kommandanten der Korps gehört, fast ohne Ausnahme stimmen sie für die Notwendigkeit der Kapitulation – und doch«, rief er, indem sein brennendes Auge sich mit Tränen füllte, – »doch kann ich den Entschluß nicht finden, meinen Namen unter dies entsetzliche Dokument zu setzen!«

»Seien Sie ruhig, mein General,« sagte Napoleon, »die Geschichte wird die eiserne Notwendigkeit erkennen, die Sie heute zwingt, die Folgen einer Katastrophe zu tragen, an welcher Sie keine Schuld haben. Sie können in Wahrheit sagen: alles ist verloren, nur die Ehre nicht. Wollte Gott,« fügte er leise hinzu, »daß jeder heute in Frankreich so dastände wie Sie! Doch noch ist vielleicht eine Milderung möglich – ich will hinausfahren, um den König Wilhelm aufzusuchen, vielleicht kann ich noch günstigere Bedingungen für die Armee erlangen, – ein längerer Aufenthalt hier wäre für mich ohnehin nicht geziemend, nachdem ich dem Könige meinen Degen angeboten. Lassen Sie uns gehen, meine Herren. – Leben Sie wohl, General,« sagte er, dem General Wimpffen die Hand drückend, – »seien Sie meiner Anerkennung und Dankbarkeit gewiß!«

Ohne sich auf den Arm eines seiner Adjutanten zu stützen, stieg er die Treppe hinab.

General Wimpffen blieb in finsterem Sinnen im Zimmer zurück.

Der Platz vor der Mairie war noch leer, – einzelne ermüdete Soldaten lagen in festem Schlaf auf der Erde; die kaiserlichen Equipagen standen da so frisch, als gelte es eine 588 Spazierfahrt ins Bois de Boulogne, – die Hundertgarden waren verschwunden, – keine Eskorte umgab die Kalesche des Kaisers, keine Deputation der Stadt war da, um ihn zu begrüßen, – die Statue Turennes stand da in eherner Ruhe, das Haupt verhüllt von den wallenden Schleiern der Morgennebel.

Der Kaiser stieg leise fröstelnd in den Wagen, die Generale Reille, Castelnau und der Prinz von der Moskowa nahmen neben ihm und ihm gegenüber Platz – die übrigen Offiziere des Gefolges folgten teils in den anderen Wagen, teils zu Pferde, – und so schnell, als es die zuweilen durch Trümmer und Leichen versperrten Straßen erlaubten, bewegte sich dieser Leichenzug einer zwanzigjährigen Kaiserherrlichkeit nach dem Tore hin. Hier war keine alte Garde, wie sie einst im Hofe von Fontainebleau den von seinem stolzen Throne herabsteigenden ersten Kaiser mit tränenden Augen umringte. Die Adler senkten sich nicht zum letzten Scheidegruß des Feldherrn, – stumm in die Ecke seines Wagens zurückgesunken, fuhr der Erbe des Namens und des Reiches Napoleons I. dahin, die einzelnen, schlaftrunkenen, ermatteten und hungrigen Soldaten, an deren Gruppen er vorüberkam, wendeten sich ab, – oder ballten, mit einer Verwünschung auf den Lippen, die Faust nach dem kaiserlichen Wagen hin.

Napoleon schien das alles nicht zu sehen, – seine Augenlider waren tief herabgesunken, – sein Kopf auf die Brust geneigt, es schien, als ob er schliefe, – die Generale blickten finster auf diese aufgelösten Reste einer noch vor kurzem so stolzen, so siegesfreudigen, so ergebenen Armee hin.

Man fuhr durch das Festungstor und aus den letzten Werken heraus. Hier waren dichtere Gruppen von Soldaten aller Waffen versammelt – oft drängten sie wild an den Wagen des Kaisers heran; die Hände erhebend, die Augen funkelnd vor Haß und verzweifelter Wut, überschütteten sie den besiegten Cäsar, zu dessen Fahnen sie alle geschworen, mit ihren Verwünschungen.

Die berittenen Offiziere sprengten an den Schlag, im schärfsten Trabe eilte der Zug dahin und war bald auf der freien Straße angelangt.

589 Napoleon atmete tief auf – sah mit einem unbeschreiblichen Blick nach der Festung zurück und zündete dann eine Zigarette an, die er ruhig und bedächtig aus seinem Etui nahm und zu der der General Reille ihm Feuer reichte.

Nach wenigen Augenblicken wurden die voransprengenden Pikörs angerufen – man war an eine weit vorgeschobene preußische Feldwache gekommen.

Der Offizier trat an den Wagen.

»Wo ist der König?« fragte Napoleon in deutscher Sprache mit dem ihm eigentümlichen bayerischen Akzent.

Erstaunt über diese unerwartete Anrede des Kaisers erwiderte der Offizier, daß es ihm unbekannt sei, wo das große Hauptquartier sich befinde, soviel er vermute, könne dasselbe in Donchery sein.

Der Kaiser neigte dankend den Kopf, griff an seine Mütze und befahl, nach Donchery zu fahren.

Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht von seiner Anwesenheit unter den in der Nähe biwakierenden preußischen Abteilungen verbreitet, – die Soldaten eilten an die Straße heran und blickten neugierig, aber ernst und ruhig auf diesen Zug hin – den schönsten Triumphzug des Ruhmes deutscher Waffen. Aber man hörte keinen Laut, keinen kränkenden Ruf aus den dichten Reihen dieser siegreichen Truppen – schweigend ließen sie den besiegten Kaiser an sich vorüberziehen, den Urheber dieses blutigen Krieges, der so viele ihrer Brüder schon dahingerafft hatte, – sie alle fühlten, daß hier die Tatsache lauter sprach als jedes Wort, und daß Achtung vor dem besiegten Gegner die höchste Ehre einer großen und tapferen Armee ist.

Der Kaiser war bis vor Donchery gefahren, ohne ermitteln zu können, wo das königliche Hauptquartier sei.

Er ließ halten, – ein Zug von Wagen bedeckte die Straße und auf diesen Wagen stand mit großen Buchstaben zu lesen: »Königlich preußische Feldpolizei«. Napoleon blickte mit einem gewissen neugierigen Interesse auf diese Wagen hin, – unschlüssig wollte er sich eben mit einer Frage an einen neben denselben stehenden Beamten wenden, als in raschem Trabe zwei Reiter von Donchery aus heransprengten.

590 »Graf Bismarck!« sagte der General Reille zum Kaiser gewendet, indem er auf die Chaussee hindeutete.

Der Kaiser richtete sich auf und erkannte die hohe Gestalt des Bundeskanzlers in der Kürassieruniform mit dem gelben Kragen, den Stahlhelm auf dem Haupt.

Graf Bismarck parierte sein Pferd ganz in der Nähe des kaiserlichen Wagens, sprang herab und trat an den Schlag, indem er den Helm abnahm und den Kaiser, der ebenfalls das Käppi vom Haupt nahm, ehrerbietig begrüßte und nach den Befehlen Seiner Majestät fragte.

»Ich möchte den König sehen,« sagte Napoleon, »der, wie mir gesagt worden, in Donchery sein soll.«

Als Graf Bismarck bemerkte, daß das Hauptquartier des Königs drei Meilen rückwärts von Donchery läge, flog ein Ausdruck von Verstimmung und getäuschter Erwartung über das Gesicht des Kaisers – dann fragte er, wohin er sich vorläufig begeben könne, und der Graf stellte ihm sein eigenes Quartier in Donchery zur Verfügung, worauf der Wagen in langsamem Schritt nach der Stadt hinfuhr, während Graf Bismarck wieder zu Pferde stieg und zur Seite des kaiserlichen Wagens ritt.

Der Kaiser blickte unruhig und verlegen umher.

Etwa hundert Schritte vor der Stadt befahl er zu halten, deutete auf ein an der Seite der Straße liegendes Arbeiterhaus und fragte, ob er nicht in demselben bleiben könne.

Graf Bismarck sendete den Legationsrat Grafen Bismarck-Bohlen, der hinter ihm ritt, hinauf, um das Haus zu untersuchen, und auf die Meldung, daß keine Verwundeten in demselben befindlich seien, stieg der Kaiser aus, schritt langsam dem Hause zu und ersuchte den Grafen Bismarck, ihm zu folgen, während die Generale seines Gefolges vor der Tür stehenblieben.

Napoleon und der Graf traten in ein kleines Zimmer, das nichts enthielt als einen Tisch und zwei Stühle – Graf Bismarck mußte sich bücken, um durch die niedrige Tür zu schreiten.

Matt und erschöpft ließ sich der Kaiser auf einen dieser Stühle niedersinken, während Graf Bismarck auf seinen Wink neben ihm Platz nahm.

591 Der Kaiser spielte einen Augenblick mit seinen nervös zitternden Fingern, als sei er um die Worte zum Beginn der Unterhaltung verlegen.

»Ich habe«, sagte er dann, indem er einen unsicheren, fast schüchternen Blick auf den Grafen warf, dessen stahlgraue, scharfe Augen mit dem Ausdruck des Mitleids auf dieser gebrochenen Gestalt ruhten, – »ich habe vor allem den Wunsch, Seine Majestät den König um günstigere Kapitulationsbedingungen für meine Armee zu bitten, – dies ist die wesentlichste Sorge, die mich bewegt, – die einzige, mit der ich mich in diesem Augenblick beschäftigen kann«, – fügte er seufzend hinzu.

»Sire«, erwiderte Graf Bismarck, »darüber kann ich mit Eurer Majestät nicht verhandeln, auch in dieser Beziehung keine Mitteilungen an den König vermitteln, diese Frage ist eine rein militärische und lediglich durch die Verhandlungen des Generals von Moltke mit dem General von Wimpffen zu erledigen. – Aber«, fuhr er fort, indem er den Kaiser fest und gerade ansah, – »eine andere Frage ist es, ob Eure Majestät geneigt sind, mit mir über Friedensbedingungen zu verhandeln?«

»Ich bin Gefangener«, erwiderte der Kaiser achselzuckend.

»Es hängt nur von Eurer Majestät ab,« erwiderte Graf Bismarck, »das nicht mehr zu sein. Sobald Sie erklären, Frieden schließen zu wollen, so werde ich dies sogleich seiner Majestät dem Könige melden und derselbe wird, wie ich nicht zweifle, mir den Befehl erteilen, mit Ihnen und Ihren Ministern in Verhandlung zu treten, um diesen traurigen, blutigen Krieg zu beenden. Eure Majestät würden in solchem Falle nicht der Gefangene, sondern der freie Gast des königlichen Hauptquartiers sein.«

Der Kaiser wiegte nachdenkend den Oberkörper hin und her.

»Ich habe Eurer Majestät keinen Rat zu erteilen,« sprach Graf Bismarck weiter, »allein ich glaube, daß ein schneller Friedensschluß für Frankreich in diesem Augenblick die größte Wohltat wäre.«

Der Kaiser zuckte wie in einem Anfall körperlichen Schmerzes zusammen.

592 »Nein,« sagte er mit dumpfem Tone, »ich führe die Regierung nicht, – ich bin nicht in der Lage, hier in Friedensverhandlungen einzutreten.«

»Wenn Eure Majestät dabei beharren,« sagte Graf Bismarck, – »so möchte ich mir erlauben, zu fragen, wer denn in diesem Augenblick der Vertreter der kaiserlichen Regierung ist, mit dem wir über den Frieden verhandeln könnten?«

Der Kaiser blickte erstaunt auf.

»Ich habe der Kaiserin die Regentschaft übertragen,« erwiderte er, – »sie und ihr Ministerium in Paris bilden die gesetzliche Regierungsgewalt.«

Wieder erschien jener mitleidige Zug auf dem Gesicht des Grafen.

»Und glauben Eure Majestät,« sagte er, ein wenig den Ton dämpfend, »daß diese Regierung, der keine zuverlässigen Truppen mehr zur Verfügung stehen, unter den gegenwärtigen Verhältnissen Bestand haben könne, – daß sie die Nachricht der gestrigen und heutigen Ereignisse überdauern werde?«

Der Kaiser schlug den trüben, unsicheren Blick auf.

»– Sie glauben?« – sagte er, mit den zitternden Fingern auf den Tisch trommelnd, – »Sie halten es für möglich, daß –«

»Ich bedaure es,« erwiderte Graf Bismarck, »Eurer Majestät etwas Unangenehmes und Schmerzliches sagen zu müssen, – aber ich kenne Paris, und ich glaube nicht, daß die Regentschaft dort Bestand haben kann.«

Napoleon stützte den Kopf in die Hand. Ein tiefer, schmerzlicher Seufzer rang sich aus seiner Brust hervor.

»Unter diesen Umständen, Sire,« fuhr der Graf fort, – »wenn Eure Majestät selbst nicht in Friedensverhandlungen eintreten wollen, ist es nicht möglich, die Lage anders als vom militärischen Gesichtspunkt aus zu betrachten, und die unbedingte Kapitulation der Festung Sedan und der Armee ist eine notwendige und materielle Garantie für die militärischen Vorteile, die wir gewonnen.«

Der Kaiser erwiderte nichts – einige Minuten herrschte ein peinliches Schweigen in dem kleinen Zimmer.

593 »Wir erkennen mit Achtung die Tapferkeit der französischen Armee an,« sagte Graf Bismarck endlich, – »aber es ist unmöglich, günstigere Bedingungen zu gewähren, ohne die deutschen Interessen, für welche so viel deutsches Blut geflossen, zu gefährden.«

Der Kaiser sprach noch immer nichts – Graf Bismarck rückte in unruhiger Bewegung leicht mit seinem Stuhle, als dränge es ihn, dieser drückenden Situation ein Ende zu machen.

Man hörte einen Wagen vorfahren.

Der Prinz von der Moskowa trat auf die Schwelle der Tür und meldete, daß General von Moltke soeben angekommen sei.

Der Kaiser erhob sich und trat dem General entgegen, der ihn in ernster militärischer Haltung begrüßte, während der General von Podbielski, der Oberst von Verdy und der Adjutant de Claer bei den französischen Offizieren draußen blieben.

»Ich habe«, sagte der General, »die Details der Kapitulation aufgesetzt, nachdem ich die Bedingungen im allgemeinen gestern abend mit dem General Wimpffen besprochen, und bin im Begriff, mich zum Könige zu begeben, um dessen Genehmigung einzuholen.«

»Die Bedingungen sind hart«, sprach Napoleon mit trüber Stimme.

»Auch der Kampf war hart, Sire,« erwiderte der General, – »wir wissen, was wir einem tapferen Feinde schuldig sind, – aber wir dürfen vor allem nicht vergessen, was wir unserer Nation schuldig sind.«

»Wollen Sie, Herr General«, sagte der Kaiser mit weichem Ton, »dem Könige meine Bitte übermitteln, die harten Bedingungen großmütig zu mildern?«

»Gewiß, Sire,« erwiderte der General von Moltke, – »aber«, fuhr er fort, »ich muß Eurer Majestät offen sagen, daß ich diese Bitte bei meinem allergnädigsten Herrn nicht befürworten werde.«

Napoleon blickte wie hilfesuchend auf den Grafen Bismarck – kein Muskel zuckte in dem eisernen Gesicht des Grafen.

594 Der Kaiser senkte stumm den Kopf, während General von Moltke militärisch grüßend das Zimmer verließ.

Was mochte die in diesem zuckenden, gebrochenen Körper des brütenden Imperators arbeitende Seele in diesem Augenblick fühlen?

Und der Graf von Bismarck, der so fest und hoch dastand, die Hand auf den Pallasch gestützt, – fühlte er seinen Scheitel berührt von dem Genius Preußens, der einst in schwarze Trauerschleier sein Haupt verhüllte über jenem Hause in Tilsit, in welchem der stolze Oheim dieses vernichteten Mannes vor ihm der Königin Luise das schneidende Wort zurief: »Erinnern sich Eure Majestät, daß ich es bin, der anbietet, und daß Sie nur die Wahl haben, anzunehmen oder nicht?«

– Die Rache ist des Herrn, der in ewiger Gerechtigkeit über den wachsenden und vergehenden Generationen des Menschengeschlechtes waltet.

Der Kaiser atmete tief auf.

»Es ist schwül hier,« sagte er, – »lassen Sie uns hinausgehen.«

Er trat vor das Haus, Graf Bismarck folgte ihm.

Eine Eskadron des Leibkürassierregiments hielt am Wege, zur Eskorte des Kaisers befohlen, – die französischen Generale bewunderten diese herrliche Truppe, – auf der Chaussee fuhren langsam die Wagen der Feldpolizei hin.

Die Herren des Gefolges brachten zwei Stühle aus dem Hause, der Kaiser lud den Grafen Bismarck ein, sich neben ihm zu setzen und zündete eine Zigarette an.

»Wäre es denn nicht möglich,« sagte er nach einem längeren Stillschweigen, »die Armee über die belgische Grenze treten und dort entwaffnen zu lassen?«

»Ich bedaure, Eurer Majestät nochmals sagen zu müssen,« erwiderte Graf Bismarck, »daß ich außerstande bin, auf die Frage der militärischen Kapitulation einzugehen!«

»Welch ein Unglück!« sagte der Kaiser seufzend, – »dieser unselige Krieg, – ich habe ihn nicht gewollt, – ich konnte nicht anders, – man hat mich von allen Seiten gedrängt.«

595 Graf Bismarck schwieg, – der Kaiser saß gebeugt auf seinem Stuhl, dichte blaue Tabakswolken in die Luft blasend.

Endlich meldeten die ausgesendeten Generalstabsoffiziere, daß ein passender Ort für das Unterkommen des Kaisers ermittelt sei, – Napoleon stand erleichtert auf und stieg in seinen Wagen, Graf Bismarck geleitete ihn, – die Kürassiere ritten voran, und durch die dichten Reihen der Soldaten, welche an dem Weg zusammenströmten, fuhr der kaiserliche Zug nach dem kleinen Schlößchen Bellevue bei Frénois, einem aus drei Türmen zusammengesetzten Bau, dessen Teile durch Glassalons verbunden sind, und der von einem schön gehaltenen Park, zu welchem Freitreppen herabführen, umgeben ist. Vor dem Hause befanden sich Blumenparterres von buntem Geranium – das Ganze machte einen stillen, friedlichen Eindruck, der merkwürdig abstach gegen die Szenen der Verwüstung und Zerstörung in der Umgebung ringsumher.

Vor dem Hause standen bereits die aus Sedan angekommenen kaiserlichen Equipagen und Handpferde, neben dem Garten sah man eine bayerische Kompagnie aufmarschiert, – dahinter württembergische Batterien in Angriffsstellung, um jeden Augenblick ihre Kugeln nach Sedan hineinwerfen zu können.

Der Kaiser warf einen Blick auf die Blumenparterres, den Park und das in schönen Linien erbaute kleine Schloß – dann verließ er den Wagen und stieg die Freitreppe hinauf.

»Wem gehört das Haus?« fragte er, einen Augenblick stehen bleibend.

General Reille rief einen der bei den Equipagen stehenden Lakaien heran.

»Einem Fabrikanten namens Amour, Sire«, sagte er, nachdem er den Lakaien befragt.

»Amourrépentir –« flüsterte Napoleon und trat in den ersten, hinter der Vorflur liegenden Salon, in welchem sich nur ein ovaler Tisch und einige Rohrstühle befanden. Aus diesem Zimmer gelangte man in einen größern Mittelsalon, in welchem ein großer Spiegel über einem schön 596 gearbeiteten Kamin sich befand, vor demselben ein Tisch und zahlreiche Lehnstühle, mit geblümtem Kattun überzogen. Der Kaiser ließ sich erschöpft in einen derselben niedersinken.

Man hörte den Hufschlag mehrerer heransprengenden Pferde, und bald meldete der Prinz von der Moskowa, daß der General Wimpffen angekommen sei, um die Schlußverhandlungen über die Kapitulation aufzunehmen.

Napoleon hörte die Meldung schweigend an.

Graf Bismarck beurlaubte sich vom Kaiser, der ihn einige Schritte nach der Tür hin geleitete und dann wieder still und scheinbar teilnahmlos in seinen Sessel niedersank.

Der Bundeskanzler stieg die Treppe hinab und trat in das im Erdgeschoß liegende, elegant eingerichtete Speisezimmer, in welchem der General von Wimpffen mit dem General von Podbielski die Details der Kapitulationsbedingungen besprach. Der Oberstleutnant von Verdy und der Stabschef des Generals Wimpffen führten das Protokoll. In dem Augenblick, als der Graf Bismarck eintrat und der General von Wimpffen sich erhob, um ihn zu begrüßen und noch einmal eine Milderung der Kapitulationsbedingungen zu erbitten, erschien der Rittmeister Graf von Nostiz vom ersten Gardedragonerregiment und meldete im Auftrag des Generals von Moltke, daß Seine Majestät der König den Kaiser erst nach der Vollziehung der Kapitulation sehen wolle und dann nach Bellevue kommen werde.

Graf Bismarck teilte diese Meldung dem General von Wimpffen mit. Dieser erbleichte, schmerzliche Resignation erschien auf seinem Gesicht, – er begriff, daß damit das letzte Wort gesprochen sei – und den Kopf auf die Brust gebeugt, hörte er stumm und ohne Gegenbemerkungen die einzelnen Paragraphen der Kapitulation an. Nur als der General von Podbielski die Entlassung der französischen Offiziere auf ihr Ehrenwort verlas und dabei bemerkte, daß der König diese bewilligt habe, um den Gefühlen einer Armee, welche sich so tapfer geschlagen, eine Genugtuung zu gewähren, – da leuchtete das Auge des braven Generals auf – er beugte sich herüber und drückte dem General von Podbielski die Hand.

597 »Dank – Dank,« sagte er mit bebender Stimme, – »das werde ich dem Könige niemals vergessen.«

Graf Bismarck war indes hinausgeritten, um seinem königlichen Herrn Bericht zu erstatten, – nicht weit von Sedan traf er den General Moltke, welcher mit dem vom Könige genehmigten Text der Kapitulation zurückkehrte, – er kehrte mit ihm um, und kurze Zeit darauf setzten die Generale von Moltke und von Wimpffen ihre Namen unter dies Dokument, welches den in der Kriegsgeschichte beispiellosen Sieg der deutschen Waffen besiegelte.

Der General Wimpffen stieg allein die Treppe hinauf und trat in den Salon, in welchem noch immer der Kaiser zusammengebeugt und schweigend in seinem Lehnstuhl saß.

Bei dem Geräusch der geöffneten Tür richtete er den Kopf auf und sah den Eintretenden mit mattem Blick an.

»Es ist vollbracht, Sire!« sagte der General, – »dieser Federzug ist furchtbarer für mich gewesen, als feindliche Granaten, – das Ende meiner militärischen Karriere fällt mit dem schwersten Unglückstage Frankreichs zusammen – und ewig wird mein Name mit diesem schwarzen Tage verbunden bleiben.«

Der Kaiser stand langsam auf, legte seine beiden Hände auf die Schultern des Generals und sah ihn mit groß geöffneten Augen voll tiefer Innigkeit an.

»Möge mein Sohn Ihnen einst vergelten,« sprach er, »was Sie um meinetwillen leiden!«

Dann drückte er ihm die Hand, – der General wendete sich um und verließ den Salon, verabschiedete sich kurz von den im Vorzimmer wartenden Offizieren und ritt mit seinem Stabschef nach Sedan zurück.

Der Kaiser aber saß unbeweglich, mit geschlossenen Augen, wie ein lebloses Bild da, die Ankunft des Siegers erwartend.

*

Früh schon hatte nach kurzem Schlummer König Wilhelms Auge dem Morgenlicht sich geöffnet.

Wenige Stunden der Ruhe auf dem einfachen Feldbett hatten die jugendlichen, unermüdlichen Kräfte des greisen Feldherrn wieder gestärkt. Er hatte mit gewohnter 598 militärischer Pünktlichkeit seine Toilette gemacht, sein einfaches Frühstück eingenommen, und während er die Meldungen von den Truppenteilen, namentlich aber die Meldungen des Generals von Moltke über die Kapitulationsverhandlungen, welche in Donchery stattfinden sollten, erwartete, wollte der König die in den letzten Tagen unterbrochenen regelmäßigen Morgenbeschäftigungen wieder aufnehmen, zu denen neben der Durchsicht und Beantwortung von eingegangenen Briefen und Depeschen auch die Mitteilung des wesentlichsten Inhalts der Tagespresse und Zeitschriften gehörte, welche der König stets mit Aufmerksamkeit verfolgte und deren Sichtung und Vorlesung dem langjährigen vertrauten Diener des Monarchen, dem Geheimen Hofrat Schneider, oblag, der ihn während des ganzen Feldzugs begleitete, um stets die wenigen Mußestunden mit der den König interessierenden Lektüre auszufüllen.

Wenige Augenblicke, nachdem der Kammerdiener dem Geheimen Hofrat, welcher stets in der Nähe des Königs sein Quartier hatte und, rüstig und unermüdlich wie sein Herr, vom frühen Morgen an auf war, den Befehl des Königs überbracht hatte, trat dieser in das einfache Zimmer des königlichen Heerführers der deutschen Streitmächte.

Der Geheime Hofrat trug, wie immer bei dem Vortrag, einen schwarzen Frack und weiße Krawatte – von allen seinen Orden nur die Dienstschnalle im Knopfloch, – sein frisches Gesicht mit den jugendlich hellen Farben, dem freundlichen, wohlwollenden Lächeln, in welchem stets ein leiser Zug von gutmütiger Ironie sich zeigte, den hellen, klaren, scharfblickenden Augen, in welchen sinnig tiefer Ernst mit freundlicher Herzlichkeit und heiterer Schalkhaftigkeit sich vermischte, hätten ebensowenig wie die elastischen Bewegungen seiner kurzen, etwas vollen Gestalt das Alter von fünfundsechzig Jahren erraten lassen, in welchem er stand und welches nur durch das ganz weißgewordene dichte und glattgescheitelte Haar äußerlich zur Erscheinung kam.

Der Hofrat trat ebenso ruhig, frisch und heiter hier in das Kriegsquartier des Königs, wie er in dessen Zimmer im Berliner Palais zu erscheinen gewohnt war. Das einzige Zeichen, daß er im Krieg und im Feldlager sich befand, 599 bestand in einem weißen Bart, der sein Gesicht umgab und dasselbe in eigentümlicher Weise veränderte. Er hielt eine große schwarze Mappe unter dem Arm und in der Hand eine hohe, runde Mütze von schwarzem, glänzendem Ledertuch, genau von der Form, wie die Landwehrmänner von 1813 sie einst trugen, und über dem weit vorstehenden Schirm dieser Kopfbedeckung sah man die Kokarde mit dem weißen Landwehrkreuz und der Inschrift: »Mit Gott für König und Vaterland.«

Als Schneider in das Zimmer trat, saß König Wilhelm vor einem großen Tisch in der Mitte desselben, auf welchem die Mappen mit den dem Hauptquartier folgenden Papieren und Korrespondenzen geöffnet ausgebreitet lagen und auf dem eine mit Nadeln besteckte Karte des Terrains um Sedan sich befand.

Der König hatte nachdenkend den Kopf in die Hand gestützt und schien in tiefes Sinnen verloren. Er richtete sich bei dem Geräusch der Tür nicht empor, und seine Gedanken schienen ihn den Eindrücken der Außenwelt zu entfremden.

Der Geheime Hofrat blieb einige Augenblicke an der Tür stehen, nachdem er sich tief verbeugt hatte. Als der König immer noch schweigend und unbeweglich dasaß, räusperte er sich und machte, fest auftretend, einige Schritte vorwärts.

Langsam, wie aus einem Traum erwachend, erhob König Wilhelm das Haupt.

»Guten Morgen, Schneider,« sagte er dann, indem ein freundliches, wohlwollendes Lächeln einen Augenblick um seine Lippen spielte, ohne daß jedoch der tiefernste Ausdruck aus seinen Zügen verschwand, – »guten Morgen, Schneider, Sie sind pünktlich und matinös wie immer – wie ein richtiger Soldat der alten Schule«, fügte er mit einem Seitenblick auf die große Landwehrmütze des Hofrats hinzu, indem wieder ein leiser Schimmer von Heiterkeit über sein Gesicht flog. »Das war ein großer, großer Tag gestern,« fuhr er dann fort, bevor der Hofrat antworten konnte, »ein Tag, gewaltig erschütternd und unvergeßlich. Ich bin noch unter dem Eindruck des Ereignisses, welches 600 mich erfaßt hat wie ein unmittelbares Eingreifen der Hand Gottes.«

»Und das ist es auch, Majestät,« erwiderte der Geheime Hofrat mit seiner vollklingenden, tiefen Stimme, »das ist es auch, – wenn die Welt einmal lange ihre eigenen Wege gegangen ist und sich gründlich verfahren hat, dann muß der liebe Gott wohl selbst eingreifen und Ordnung machen – und diesmal hat er es hoffentlich auf lange Zeit getan.«

»Ja, ja,« sagte der König, »auf lange Zeit. Das, was hier geschehen ist, zieht einen Strich zwischen Vergangenheit und Zukunft – eine neue Zeit beginnt – während mein Leben sich zum Abend neigt.«

Und wieder versank er in tiefes Sinnen.

»Majestät,« sagte der Geheime Hofrat, indem er nahe herantrat und seine Mappe neben sich auf die Erde stellte, »ich habe noch nicht an die Zukunft gedacht, die sich aus den gewaltigen Ereignissen dieser Tage entwickeln wird, – sie wird kommen, wie Gott es will, sie wird über mein Grab dahinschreiten, und die kommende Generation mag sehen, wie sie mit ihr fertig wird. Aber, Majestät,« fuhr er fort, »an die Vergangenheit habe ich gedacht, recht lange gedacht, und das hat mir viel Freude gemacht und auch viel Vertrauen in die Zukunft gegeben. An diesem großen Sieges- und Ehrentage habe ich an jene Zeit der Trauer und Demütigung gedacht, als Preußen von diesen Franzosen zu Boden geworfen und in den Staub getreten wurde. Hier in Sedan habe ich an Tilsit gedacht und an all die schweren Jahre, die darauf folgten, – an alle Herzen,« fügte er mit zitternder Stimme hinzu, »welche in jener Zeit verzagten und brachen, an all den Kummer und all das Elend, für welches Leipzig und Waterloo noch immer nicht die richtige und vollgültige Vergeltung waren. Heute, Majestät,« fuhr er fort, indem er mit blitzenden Augen stolz den Kopf erhob, »heute ist der Tag der wahren, endlichen Vergeltung für die Zeit von Jena und Tilsit, – heute haben uns keine Russen und Schweden, keine Engländer und Österreicher geholfen. Heute hat der König von Preußen allein mit seinen deutschen Bundesgenossen Frankreich niedergeworfen und das napoleonische Kaiserreich vor sich gebeugt. Heute 601 bin ich zufrieden, Majestät, heute ist geschehen, was ich einst in fester Zuversicht in Berlin Eurer Majestät zu sagen gewagt habe. Heute, Majestät,« fügte er hinzu, indem über sein tief bewegtes Gesicht ein leichtes, scherzhaftes Lächeln glitt und indem er seine Landwehrmütze ein wenig erhob, »heute ist der Kurmärker wieder einmal mit seinen dröhnenden Schritten auf die Weltbühne getreten.«

Der König hob den Kopf empor und blickte mit freundlich wohlwollendem Lächeln auf seinen alten Diener.

»Ja, Schneider,« sagte er, »es ist ein braver, tüchtiger Mensch, der alte Kurmärker Wilhelm Schulze, der unter dem frischen Duft der immergrünen Tannenbäume aufwächst und so kräftig dreinschlägt für König und Vaterland. Gott erhalte die alte Mark und alle, die es treu mit ihr meinen.«

Er reichte dem Hofrat Schneider in herzlicher Bewegung die Hand hin und zog dieselbe dann schnell zurück, als dieser sich niederbeugte, um seine Lippen darauf zu drücken.

»Und Gott erhalte der alten Mark,« sagte der Hofrat, mit inniger Liebe zu dem König emporblickend, »ihre treuen, heldenmütigen Fürsten, die aus Brandenburg Preußen gemacht und die durch Preußen das ganze Deutschland zu Heil und Ehre geführt haben. – Was sich heute hier vollzieht, Majestät,« fuhr er fort, »das geht weit hinaus über alles, was bisher die Könige von Preußen und das Volk von Preußen und Deutschland je getan haben, dieser Erfolg ist noch gewaltiger und größer als die Siege von 1866, – anfangs August sind Eure Majestät ausgezogen in den Krieg gegen das stolze, gefürchtete Frankreich, und heute – vier Wochen später – sind die Heere der großen Nation vernichtet, der Kaiser gefangen und alles beendet!«

»Alles beendet?« sagte der König, indem er erstaunt in das von stolzer Freude leuchtende Gesicht des Geheimen Hofrats blickte, – »alles beendet? – Nein, Schneider,« fuhr er, den Kopf schüttelnd, fort, – »wie wenig kennen Sie das französische Volk! – Heute fängt der Krieg in Frankreich erst an – und viel Blut wird noch vergossen werden, bevor der Welt der Friede wiedergegeben werden kann.«

602 Traurig sinnender Ernst lag in dem Blick, mit welchem er in die draußen hin und her wogenden Morgennebel hinausschaute.

»Eure Majestät halten zu Gnaden,« sagte der Hofrat ganz betroffen, »wenn ich mir Allerhöchstihre Worte nicht zu erklären vermag, – nachdem die französischen Armeen geschlagen und der Kaiser gefangen ist, – wie sollte da der Krieg noch weitergeführt werden, was sollte da dem Frieden entgegenstehen?«

»Mit wem sollten wir Frieden schließen,« sagte der König, – »der gefangene Napoleon, der die Regierung an die Regentschaft übertragen hat und nicht einmal das Kommando seiner Armeen führt, ist dazu nicht imstande, – und die Kaiserin Eugenie in Paris – unter dem Einfluß der dortigen Volksstimmung – was wird sie tun, – was wird sie tun können?«

Abermals blieb er lange in sinnendes Schweigen versunken, das der Hofrat nicht zu unterbrechen wagte.

»Wir stehen noch vor großen und schweren Kämpfen,« sagte er dann, »Metz ist noch zu nehmen, – Straßburg – Paris – – Paris wird sich verteidigen und uns Mühe genug machen, der wahre Krieg, der bitterböse Nationalkrieg fängt jetzt erst an und unseren braven Truppen steht noch ein harter Winterfeldzug bevor.«

Der Flügeladjutant von Alten trat herein und meldete, daß der Wagen Seiner Majestät bereit sei.

»Noch keine Meldung von General von Moltke?« fragte der König.

»Nein, Majestät«, erwiderte Herr von Alten.

»So will ich nach dem Schlachtfeld hinausfahren«, sagte der König. »Ich habe das mit Moltke verabredet. Er wird mich dann dort treffen. Adieu, Schneider«, sagte er, dem Geheimen Hofrat freundlich zunickend, setzte den Helm auf und verließ das Zimmer.

Auf den Wink des Flügeladjutanten fuhr der königliche Wagen heran. Die Stabswache rangierte sich, die Offiziere des Gefolges stiegen zu Pferde und schnell fuhr der König durch die mit lauten, jubelnden Hurrarufen ihn begrüßenden Truppenabteilungen, die vor dem Dorfe und an der Chaussee 603 entlang biwakierten, dem Schlachtfelde zu. In Chéhéry traf der Kronprinz mit dem königlichen Zuge zusammen und stieg zu seinem Vater in den Wagen – eine ganze Reihe schwerer Batterien der preußischen, bayerischen und württembergischen Korps versperrten den Weg, und man konnte nur mit Mühe die Straße für den Wagen und das Gefolge des Königs frei machen. In gespannter Erwartung blickte der König voraus auf den von Höhenzügen oft verdeckten Weg hin, – endlich in der Nähe von Cheveuge, als der Weg eine Höhe erreichte, ritt General von Moltke heran – der greise Feldherr sprang mit jugendlicher Leichtigkeit vom Pferde und trat ruhig, in dienstlicher Haltung, an den Wagenschlag.

Der König stieg aus, – der Kronprinz folgte ihm, – Seine Majestät trat, indem er den General durch einen Wink aufforderte, ihm zu folgen, an den Rand der Chaussee, überschritt den schmalen, trockenen Graben und blieb in einiger Entfernung auf dem Acker stehen. Auf der Chaussee dehnte sich in weiter Reihe um den königlichen Wagen das Gefolge des Königs und des Kronprinzen aus; in der Nähe stand ein kleines Haus mit einer jener französischen Gastwirtschaften, welche man Buvette nennt und welche dazu dienen, den Vorüberreisenden einen Trunk des einfachen roten Landweins und vielleicht ein Brot und eine Schnitte Kalbfleischpastete darzubieten; über der Tür dieses Hauses sah man ein Schild mit der Inschrift: Mr. Alexandre, menuisier ébéniste. Hinter den Fenstern dieses Hauses blickten einige bleiche, scheue Gesichter nach dem glänzenden, zahlreichen Gefolge und nach dem Könige, dem Kronprinzen und dem General von Moltke hin, von deren Gespräch in diesem Augenblick das Schicksal der Hunderttausende abhing, die das weite Tal ringsum erfüllten.

»Majestät,« sagte der General mit seiner klaren Stimme, – »wir haben gestern abend noch sehr spät mit dem General Wimpffen über die Kapitulation verhandelt, – der General war tief erschüttert und schmerzlich bewegt über das traurige Schicksal, daß er, vor wenig Tagen aus dem Innern Afrikas eingetroffen, hier im Augenblick einer solchen Katastrophe das Kommando habe übernehmen müssen.«

604 »Ich verstehe das«, sagte der König, mit dem Kopf nickend.

»Er wollte Weiterungen machen,« fuhr General von Moltke fort, – »und erklärte sich an die Befehle des Kaisers, seit derselbe sich gefangen gegeben, nicht mehr für gebunden, – er versuchte bessere Bedingungen zu erlangen und bemerkte, daß bei einer Wiederaufnahme des Kampfes sich die Situation ändern könne, da er bei der schnellen Übernahme des Kommandos die Verhältnisse nicht genügend überblickt habe und andere Dispositionen treffen könne.«

»Unmöglich«, sagte der König, indem er mit einem raschen Blick das Tal und die Truppenaufstellungen um Sedan umfaßte.

Der Kronprinz zuckte lächelnd die Achseln.

»Ich habe ihm ebenfalls, wie Eure Majestät zu bemerken die Gnade hatten, erwidert: unmöglich«, sagte General von Moltke, – »und ihm anheimgegeben, sich durch seine Offiziere überzeugen zu lassen, daß er vollkommen umzingelt sei und daß seine Armee keine Bewegung machen könne, – auch hat er keine Munition und keine Lebensmittel, – er wollte eine Bedenkzeit von vierundzwanzig Stunden, um sich mit seinen Generalen zu beraten, – ich habe auch das abgeschlagen und ihm erklärt, daß um neun Uhr die Feindseligkeiten beginnen sollten, wenn bis dahin die Kapitulation nicht vollzogen sei. Graf Bismarck erklärte ihm von seinem politischen Standpunkt aus dasselbe, – er sagte, daß Deutschland so oft von Frankreich angegriffen worden sei und daß wir um so mehr materieller Garantien bedürften, als kaum noch eine Regierung in Frankreich existiere, welche eine Bürgschaft für die Bedingungen des Friedens bieten könne.«

Über die tief ernsten Züge des Königs glitt einen Augenblick ein leichtes Lächeln.

»Da war also Militär und Diplomatie einig – was früher so oft nicht der Fall war«, sagte er.

»Wenn das der alte Blücher erlebt hätte,« rief der Kronprinz, – »er würde sein Urteil über die Diplomatie zurücknehmen!«

605 »Doch nun, Majestät,« fuhr der General von Moltke fort, »da bis jetzt keine Meldung vom General Wimpffen gekommen ist, so habe ich Befehl gegeben, daß alle schweren Batterien aus der Umgegend herangezogen werden, um die Beschießung von Sedan zu beginnen. Die Batterien rücken in ihre Positionen und ich bitte um Eurer Majestät Befehl, wann das Feuer eröffnet werden soll.«

Der König blickte über die Ebene hin, welche so still im friedlichen Morgenlicht dalag – nur leichte Rauchsäulen kräuselten über der Festung empor, und man hörte ringsumher nur das dumpfe Rollen der schweren Batterien, die in ihre Positionen einrückten, bereit, auf ein Wort aus dem Munde des Kriegsherrn Zerstörung, Tod und Verderben über dieses Stück Erde zu ergießen, das gestern schon so viel Blut getrunken hatte.

Ein Zug milder Wehmut erschien auf seinem Gesicht.

»Lassen Sie«, sprach er, »alle Batterien ihre Positionen einnehmen, – aber reiten Sie sofort zurück und nehmen Sie die Verhandlungen wieder auf – es ist meine Pflicht, alles zu versuchen, um das entsetzliche Blutvergießen zu vermeiden. Melden Sie mir dann das Resultat, bis dahin behalte ich mir meinen Befehl über das Bombardement der Festung vor.«

»Hier ist der Text der einzelnen Paragraphen der Kapitulation,« sagte der General, dem König ein Papier überreichend, – »wie ich ihn in der Nacht aufgesetzt, – die Entlassung der Offiziere auf Ehrenwort ist nach Eurer Majestät Befehl darin aufgenommen, – es ist die einzige Konzession, die ich nach pflichtmäßiger Überzeugung für zulässig halte.«

Der König durchlas das Papier aufmerksam, reichte es dem Kronprinzen und gab es dann dem General mit zustimmendem Kopfnicken zurück.

»Ich habe nun Eurer Majestät noch zu melden,« sagte der General, »daß der Kaiser Napoleon schon früh die Festung verlassen und nach Eurer Majestät gefragt hat, – es scheint, daß er es scheue, unter seinen Soldaten zu bleiben –«

»Welch ein Fall – von solcher Höhe!« sagte der König.

606 »Ich habe mich zum Kaiser hinaus begeben,« fuhr General von Moltke fort, – »Graf Bismarck war schon bei ihm, – der Kaiser hat mich beauftragt, Eurer Majestät seine Bitte um Milderung der Kapitulationsbedingungen zu überbringen, – ich habe dies versprochen, – ihm aber auch gesagt, daß ich seine Bitte nicht befürworten kann.«

»Es ist unmöglich«, sagte der König ernst und ruhig. – »Wo ist der Kaiser jetzt?« fragte er dann.

»In der Nähe von Donchery, Majestät,« erwiderte der General, »ich habe Befehl gegeben, ihm ein passendes Unterkommen zu suchen.«

Der König sann einige Augenblicke schweigend nach.

»Wenn die Kapitulation unterzeichnet ist,« sagte er dann, – »werde ich zum Kaiser kommen, – er ist leidend, – ich kann ihm nicht zumuten, den steilen Berg hinaufzufahren oder zu reiten, – er ist freiwillig aus der Festung herausgekommen und hat das von meinen Truppen besetzte Terrain betreten, – damit hat er den ersten Schritt zur persönlichen Begegnung getan, – ich kann ihm also wohl einen Gegenbesuch machen. – Lassen Sie ihn das wissen, und nun«, fuhr er fort, »gebe Gott, daß Sie mir bald die vollzogene Kapitulation senden können, damit nicht noch neue Opfer fallen müssen.«

Der General verabschiedete sich, stieg zu Pferd und sprengte davon.

Der König stieg mit dem Kronprinzen wieder in den Wagen und fuhr nach der Höhe über Donchery, um dort die Entscheidung abzuwarten.

Hier umgaben den König und seinen Sohn die Prinzen Karl und Albrecht von Preußen, die Großherzöge von Sachsen und Baden, der Herzog von Sachsen-Koburg, der Prinz Luitpold von Bayern, der Erbgroßherzog von Mecklenburg-Schwerin, der Prinz Wilhelm von Württemberg und alle Offiziere des königlichen und kronprinzlichen Hauptquartiers, – eine glänzende Versammlung deutscher Fürsten, umringt von den siegreichen Truppen aller deutschen Länder und Stämme, hoch über der Ebene, in welcher die gefangene Armee Frankreichs und sein gefangener Kaiser zu den Füßen des siegreichen Königs lagen.

607 Es war elf Uhr vorüber – der König hatte sich auf einen zur Abgrenzung der Feldmarken errichteten Stein gesetzt und sich ein wenig Brot und kaltes Fleisch aus seinem Wagen bringen lassen, als der Generalstabsoffizier Hauptmann von Alten heransprengte, die Meldung brachte, daß die Kapitulation vollzogen sei, und den Befehl des Königs erbat, daß die siebenhundert auf Sedan gerichteten Geschütze wieder aufprotzen dürften, da das Bombardement nicht mehr nötig sei.

Die Fürsten umringten den König mit lauten Glückwünschen, und dieser warf einen dankbaren Blick zum Himmel empor, da ein neues, furchtbares Blutbad erspart war.

Bald erschien der General von Moltke mit der vollzogenen Kapitulationsurkunde.

Der König nahm mit feierlichem Ernst dies verhängnisvolle Papier, las dasselbe durch und reichte es dann seinem Generaladjutanten, Generalleutnant von Treskow, mit dem Befehl, es laut vorzulesen.

Das ganze Gefolge drängte sich so nahe als möglich um den König und die Fürsten, und der General von Treskow las mit lauter Stimme die Kapitulation vor, welche, obgleich ihre Grundbestimmungen ja schon bekannt waren, dennoch wie ein märchenhafter Traum klang.

Als er geendet, sprach der König mit bewegter Stimme, in seiner einfachen, schlichten und dadurch um so tiefer ergreifenden Weise seinen Dank für die Taten der Armee ihren Fürsten und Führern aus, wies aber zugleich darauf hin, daß der Feldzug noch nicht beendet sei und die Armee schlagfertig bleiben müsse.

Dann befahl er die Pferde vorzuführen und, von allen Fürsten und dem ganzen großen Gefolge begleitet, ritt er die Höhe hinab nach Bellevue hin.

Der Kaiser Napoleon hatte sich einen Augenblick in das neben dem Salon befindliche Schlafzimmer des Herrn Amour zurückgezogen und sich dann wieder in den Glassalon niedergesetzt, um den König zu erwarten.

Der König ritt nicht in den Hof des Schlosses ein, sondern stieg an dem Seitenturm vom Pferde und trat mit dem Kronprinzen und den Prinzen Karl und Albrecht 608 an den Eingang, empfangen von dem lauten Hurra der württembergischen Artilleristen und eines präsentierenden bayerischen Bataillons.

Die übrigen Fürsten und das ganze Gefolge blieb vor dem Schlosse zu Pferde.

An den Stufen der Treppe erschienen die französischen Generale, – hier blieben auch die Prinzen Karl und Albrecht zurück, und der König stieg mit dem Kronprinzen allein die Treppe hinauf.

Der Kaiser trat aus dem Glassalon dem König entgegen – er trug den blauen Interimsrock der französischen Generalsuniform, die rote Feldmütze und wie am gestrigen Schlachttage die Medaille für den italienischen Feldzug und das Schwert des schwedischen Schwertordens neben dem Stern der Ehrenlegion.

Als der Kaiser den König erreicht hatte, nahm er seine Feldmütze ab, der König streckte ihm die rechte Hand entgegen, – der Kaiser, welcher die Mütze in der Rechten hielt, ergriff die Hand des Königs mit der Linken und stand einen Augenblick bewegt und leise zusammenschauernd still, – dann begrüßte er den Kronprinzen, der nun auch in dem Glassalon zurückblieb, und trat mit dem König allein in den mittlern Salon, dessen Tür der Kronprinz schloß.

Einen Augenblick standen sich die beiden Monarchen, der siegreiche König und der geschlagene, gefangene Kaiser, stumm gegenüber.

»Ich bedaure, Sire,« sagte der König sanft, ohne jede Härte in seiner Stimme, »daß es dahin hat kommen müssen daß wir uns so gegenüberstehen, – Gott hat mir den Sieg in dem Krieg gegeben, der mir erklärt worden ist –«

»Nicht ich, Sire,« fiel der Kaiser ein, »habe den Krieg gewollt, – die öffentliche Meinung in Frankreich hat mich gezwungen, den Krieg zu beginnen.«

»Davon bin ich überzeugt,« erwiderte der König, – »Eure Majestät haben den Krieg geführt, um der öffentlichen Meinung genug zu tun, – aber Ihre Minister haben diese öffentliche Meinung gemacht, – künstlich hervorgerufen.«

Der Kaiser seufzte.

609 Eine kleine Pause trat ein.

»Die französische Armee, Sire,« sagte der König, »hat, wie ich mit Achtung anerkennen muß, mit hoher Tapferkeit sich geschlagen und uns den Sieg schwer genug gemacht.«

»Ja, es sind brave Soldaten,« erwiderte der Kaiser trübe, – »aber die Disziplin war ihnen abhanden gekommen, – Eurer Majestät Truppen sind bewundernswürdig in der Disziplin.«

»Die preußische Armee«, bemerkte der König, »hat es sich stets zur Aufgabe gestellt, sich alle neuen und guten Ideen anzueignen und die Erfahrungen anderer Nationen zu benützen.«

»Ihre Artillerie, Sire,« sagte der Kaiser in lebhafterem Ton, als er bisher gesprochen, »ist die beste der Welt, – sie gewann die Schlacht, – durch Ihre Artillerie bin ich persönlich besiegt!«

Der König verbeugte sich.

»Die Artillerie besonders ist stets bemüht gewesen, aus den Erfahrungen aller Nationen zu lernen«, erwiderte er.

»Und mit hoher Bewunderung«, sagte der Kaiser, »hat mich auch Ihre Kavallerie erfüllt, – sie umgab Ihre Armee wie mit einem Schleier, der es unmöglich machte, deren Bewegungen zu erkennen.«

»Prinz Friedrich Karl«, fuhr er dann fort, »entschied das Schicksal des gestrigen Tages, – seine Armee durchbrach unsere wichtigsten Stellungen.«

»Prinz Friedrich Karl?« fragte der König erstaunt, – »Eure Majestät täuschen sich, – die Armee meines Sohnes stand vor Sedan und trug wesentlich zum Gewinn der Schlacht bei.«

»Und wo ist Prinz Friedrich Karl?« fragte der Kaiser verwundert.

»Er steht mit sieben Armeekorps vor Metz, Sire«, erwiderte der König.

Das fast graue Gesicht des Kaisers wurde noch bleicher, seine Augen schlossen sich, und er faßte krampfhaft die Lehne des Sessels.

610 »Ich glaubte, die Armee des Prinzen wäre unserem Marsch ebenfalls gefolgt«, sagte er, mühsam seine Fassung wieder gewinnend.

Abermals stockte die Unterhaltung einige Augenblicke.

»Darf ich Eure Majestät fragen,« sagte der König, »ob Sie irgendwelche Vorschläge für Friedensverhandlungen zu machen haben?«

Beinahe erschrocken antwortete der Kaiser:

»Ich habe keine Vorschläge zu machen, Sire, – ich habe keine Macht, – ich bin Gefangener –«

»Und mit wem würde ich unterhandeln können?« fragte der König weiter.

»Die Kaiserin und ihre Minister, Sire,« erwiderte Napoleon, »sind die legale Regierung in Frankreich, – ich kann nichts tun, – nichts vorschlagen, – ich bin nur noch ein einfacher Soldat, – ein Kriegsgefangener Eurer Majestät.«

»Wenn es Eurer Majestät genehm ist,« sagte der König abbrechend, »so werde ich Befehl geben, das Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel für Ihre Aufnahme in Bereitschaft zu setzen, es wird Eurer Majestät dort an keiner Bequemlichkeit fehlen.«

Ein eigentümliches, halb bitteres, halb wehmütiges Lächeln zuckte eine Sekunde über das Gesicht des Kaisers.

»Ich bedaure,« fuhr der König freundlich fort, »die Gastfreundschaft, welche Eure Majestät mir in Paris erwiesen, nicht unter erfreulicheren Verhältnissen erwidern zu können.«

Der Kaiser verneigte sich schweigend.

»So leben Sie denn wohl, Sire,« sagte der König, – »möchte bald der Friede möglich werden.«

Er drückte dem Kaiser die Hand, der ihn bis zur Treppe begleitete, nachdem er in dem Glassalon sich vom Kronprinzen verabschiedet hatte.

»Die Güte des Königs hat mich tief gerührt«, sagte er dabei mit zitternder Stimme zum Kronprinzen, – eine Träne rollte aus seinem Auge über die welke, eingefallene Wange herab, – er trocknete sie schnell mit dem Handschuh, den er in der Hand hielt.

611 Der Kaiser blieb in der Tür stehen, bis der König und der Kronprinz zu Pferde gestiegen waren und, noch einmal grüßend, mit dem ganzen Gefolge davonsprengten.

Napoleon aber kehrte in das Haus zurück, rief die Generale seiner Umgebung und erteilte ruhig wie zur Zeit des Friedens seine Befehle für die Reise nach Wilhelmshöhe, die in der Frühe des nächsten Tages angetreten werden sollte. Dann entließ er die Generale, um bis zur Stunde des späten Diners allein zu bleiben.

Nach der Entfernung des Königs rückten bald auch die württembergischen Batterien ab, es blieb nur die Wache von den Leibkürassieren zurück, und stille Einsamkeit umgab diese letzte Wohnung des gefallenen Kaisers auf dem Boden Frankreichs.

Napoleon hatte sich in das neben dem Salon befindliche Bibliothekzimmer zurückgezogen und trat vor den großen, offenen Bücherschrank mit langen Reihen elegant gebundener Bücher.

Sein Auge flog gleichgültig über die Titel hin, welche die Namen aller französischen Klassiker zeigten – endlich heftete sich sein Blick auf eine große, in Broschürenform kartonierte Lieferung der illustrierten Ausgabe seines Werks »Das Leben Cäsars«, welche zur Seite auf einigen Bänden von Buffon lag.

Er nahm dies Heft und betrachtete sinnend die auf dem Umschlag befindliche Vignette, welche den großen römischen Imperator von Emblemen seiner Apotheose umgeben darstellte.

»Das Leben Cäsars!« sagte er seufzend, – »hier – an diesem Tage! – Er fiel auf der Höhe seiner Macht, – aber sein Werk fiel nicht mit ihm – seine Erben bestiegen den Thron, dessen Grundsäulen er errichtet – das römische Volk weinte um ihn und errichtete ihm Altäre! – Er war glücklicher, als er blutend zu den Füßen der Bildsäule des Pompejus lag, – ich habe lebend vor meinem siegreichen Gegner gestanden, – und ich muß weiter leben – leben und leiden!«

Er ließ sich in einen weiten Fauteuil sinken und schlug das Heft aufs Geratewohl auf.

612 Betroffen blickte er auf die Überschrift des Kapitels, welche die geöffneten Blätter ihm zeigten.

»Les Germains dans la Gaule« las er leise – und ein trauriges Lächeln flog über sein Gesicht.

Dann las er, langsam die Blätter umschlagend, dies Kapitel seines Werkes über die Geschichte einer fernen Vergangenheit, – während die Geschichte der Gegenwart sich anschickte, über ihn hinweg das Leben der Völker auf neue Bahnen zu führen.

 


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