Gregor Samarow
Kreuz und Schwert
Gregor Samarow

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Infolge der letzten Depeschen aus Paris hatte der Marschall Mac Mahon, welcher sein ganzes Leben über Soldat gewesen war und einem Befehl seines Vorgesetzten gegenüber nur den Gehorsam kannte, dem Kaiser erkläre, daß er, der bestimmten Weisung des Grafen Palikao folgend, nunmehr jeden Gedanken an die Rückkehr nach Paris aufgebe und sofort nach Norden marschieren werde, um auf diesem Wege sich mit seiner Armee dem in Metz eingeschlossenen Marschall Bazaine zu nähern, wenn nicht der Kaiser die Vollmachten der Regentschaft zurückziehe und die oberste Leitung der Regierung und das Kommando der Armee wieder übernehmen wolle.

Dies hatte der Kaiser bestimmt abgelehnt, und so zog denn diese Armee, auf welche sich die letzte Hoffnung des 513 kaiserlichen Frankreichs gründete, in angestrengten Märschen nordwärts.

Fast stündlich erhielten der Kaiser und Mac Mahon Depeschen von Paris, in welchen der Kriegsminister ihnen mitteilte, daß ihr Umgehungsmarsch vortrefflich gelänge, daß der Kronprinz von Preußen und seine Armee weit entfernt sei und daß es unzweifelhaft gelingen werde, nach Metz vorzudringen.

Dieser Mitteilung aus dem Kriegsministerium durchaus entgegen, gewann der Marschall Mac Mahon durch die Fühlung seiner Vorposten mit dem Feinde immer mehr die Überzeugung, daß sehr bedeutende und immer massenhafter sich verdichtende feindliche Streitkräfte gegen ihn herangezogen würden, und am 31. August war er gezwungen, die Richtung zu verändern und an der Festung Sedan einen Stützpunkt zu suchen, um gegen die immer stärker und dichter ihn umgebenden feindlichen Kräfte Stellung nehmen zu können.

Er telegraphierte dem Kriegsminister um ein Uhr fünfzehn Minuten auf dessen dringende Anfrage um Nachricht, daß er gezwungen sei, sich nach Sedan zu begeben.

Diese lakonische Mitteilung war die letzte, welche von Mac Mahon nach Paris an den Kriegsminister gelangte.

Bald darauf schloß sich der Ring um den Kaiser und seine Armee, und die erste Nachricht, welche demnächst wieder nach Paris gelangte, sollte diejenige von der Gefangennahme Napoleons und seines ganzen Heeres sein.

Der Kaiser hatte schon bei dem Beginn des Marsches den kaiserlichen Prinzen mit seinem Gouverneur nach Mézières gesandt, um von dort nötigenfalls nach Belgien gehen zu können, da die Gesundheit des zarten und reizbaren Kindes die furchtbare Aufregung dieser Tage nicht länger ertragen konnte.

Schweigend, in kalter, scheinbar gleichgültiger Apathie, hatte er seinen Sohn umarmt, der laut weinend immer wieder und wieder sich an die Brust seines Vaters warf, dessen Hände küßte und denselben beschwor, ihn bei sich zu behalten. Die Bewegung, welche im Moment des Abschieds auf dem Gesicht des Kaisers zuckte, schien mehr 514 körperlichem Schmerz als innerem Seelenleiden anzugehören. Nachdem das arme, weinende Kind endlich von ihm entfernt war, stieg der Kaiser schweigend und gleichgültig wieder in seinen Wagen und fuhr durch die vorrückenden Truppen, welche ihn nur selten noch mit dem früher so lauten und begeisterten »vive l'empereur!« begrüßten.

Der Kaiser sprach nicht; in der Ecke seines Wagens zusammengesunken, saß er da, eine Zigarette nach der anderen rauchend und mit stumpfen, trüben Blicken die Regimenter musternd, an denen er vorüberfuhr. So war er nach Sedan gekommen, langsam nur hatte sein Wagen durch die mit Truppen gefüllten und oft von Artillerie und Kavallerie versperrten Straßen nach der Mairie vorrücken können, einem Gebäude mit breiter Front und einem von Säulen getragenen Balkon, in welchem das Quartier für den Kaiser bereitet war.

Der Marktplatz war gefüllt mit Truppen. Zwei Kürassierposten standen vor der Mairie, alle Fenster waren geöffnet, und aus allen diesen Fenstern blickten sorgende, angstvolle Gesichter.

Die ruhigen Einwohner von Sedan, dieser stillen Provinzialgarnisonsstadt, welche stets allen großen Weltereignissen ferngestanden und auch beim Beginn des Krieges kaum daran gedacht hatten, daß sie je etwas von demselben zu sehen bekommen würden, diese an ein ruhiges, fast beschauliches Stilleben gewöhnte Bevölkerung sah sich urplötzlich in den Mittelpunkt der großen Katastrophe versetzt, welche die Welt erschütterte.

Der Kaiser, der von der Höhe seiner Macht und seines Glanzes in schnell aufeinander folgenden Fällen so jäh herabgestürzt war und sich bereits auf der letzten Stufe vor dem gähnenden Abgrund befand, war mit einem Male mitten unter ihnen, und draußen in weiten Kreisen zogen sich, wie hereinflüchtende Landleute berichteten, in immer dichteren Kreisen jene furchtbaren deutschen Heerscharen zusammen, welche alle Träume von der Unbesiegbarkeit Frankreichs so grausam zerstört hatten und vor welchen der Schrecken und das Entsetzen einhergingen.

515 Der sechsspännige Wagen des Kaisers mit den Pikörs in der grüngoldenen Livree und mit den prächtigen Pferden des Marstalls, welche so frisch und mutig aussahen, als hätten sie nur eine Abendspazierfahrt im Bois gemacht, fuhr an der Mairie vor.

Die Wachen salutierten, der Prinz von der Moskowa und der General Reille, welche mit dem Kaiser gefahren waren, sprangen herab und, auf ihren Arm gestützt, stieg Napoleon langsam und schwerfällig, unsicher von dem Schlag auf den Boden tretend, aus dem Wagen. Er blieb einen Augenblick unter dem Säulenvorsprung der Mairie stehen und blickte über den mit Menschen gefüllten Platz und über die Fenster der umliegenden Häuser hin.

Sein Auge fiel auf das Standbild des Marschalls Turenne, welches in der Mitte des Platzes der Mairie gegenüber sich erhob. Lange blickte er dies so ruhig und fest inmitten des wogenden Treibens dastehende Bild an. Seine Brust hob sich unter einem tiefen Atemzug und leise sagte er zu dem neben ihm stehenden General:

»Warum müssen die großen Männer, welche die Nation hervorbringt, vergehen, ohne einen Ersatz für den Verlust zu hinterlassen! Einst hatte Frankreich diesen Feldherrn, der heute leider nur von Erz inmitten unserer Armee steht, – und dort drüben? – sie haben ihren Moltke.«

Langsam sich umwendend, legte er seinen Arm in den des Fürsten von der Moskowa und stieg die Treppe hinauf zu den im ersten Stock für ihn bereiteten Zimmern, während der General Reille mit den Generalen Castelneau und Vaubert, welche inzwischen mit dem Doktor Conneau im zweiten Wagen herangefahren waren, folgte. Der Maire und einige Gemeindevertreter von Sedan, welche den Kaiser am Fuß der Treppe erwarteten, folgten ihm in sein Zimmer und begrüßten ihn, indem sie die Hoffnung ausdrückten, daß das Glück Frankreichs sich wenden und der Sieg wieder die Adler der kaiserlichen Armee umschweben werde.

Napoleon hörte gleichgültig, beinahe ungeduldig diese Worte an, dann entließ er die Deputation und die Generale und zog sich, nur von Doktor Conneau begleitet, in sein 516 Schlafzimmer zurück, woselbst bereits sein Leibchirurg verschiedene Instrumente ausgebreitet hatte.

Der Kaiser blieb in seinem Zimmer, während die Geschütze durch die Straßen der Stadt rollten, um ihre Positionen ringsumher einzunehmen, und während Regimenter auf Regimenter heranzogen, um die Wälle der Festung noch einmal mit einer lebendigen Mauer einzuschließen und den erbleichenden Ruhm Frankreichs und das Zusammensinken des Kaiserreichs zu verteidigen.

Nur der Marschall Mac Mahon, welcher alle französischen Positionen beritten und mit seiner unermüdlichen Kraft all die Truppen zu Mut und Ausdauer angefeuert hatte, wurde am späten Abend noch in das Zimmer seines Souveräns eingeführt.

Er fand den Kaiser bleich und abgespannt auf einem Ruhebett liegend, eine Lampe mit dunklem Schirm erleuchtete kaum diesen stillen Raum, welcher mehr einem Krankenzimmer glich als dem Hauptquartier des Imperators einer großen Nation, der sich anschickte, in einer letzten Entscheidungsschlacht um seine mühsam errungene und so lange behauptete Krone zu kämpfen. Mit einem matten, schmerzlichen Lächeln richtete sich der Kaiser ein wenig empor und sagte:

»Ich muß Kräfte sammeln, mein lieber Marschall, diese ganze letzte Zeit hat mich schwer angegriffen und fast erschöpft – ich werde aller Kräfte bedürfen, deren dieser arme, gebrochene Körper noch fähig ist. Denn nicht wahr, morgen wird es zur Entscheidung kommen?«

»Ich glaube, Sire,« erwiderte Mac Mahon, »daß man uns morgen angreifen wird. Von allen Seiten sind die feindlichen Truppen herangezogen, und sie werden uns schwerlich Zeit zur Ruhe und Erholung lassen. Aber«, fuhr er fort, indem er seine schlanke, nervige Gestalt fest emporrichtete, »ich bin voll Mut und Hoffnung, Sire, noch kann alles gut werden. Der Ring, mit dem sie uns umgeben haben, kann unmöglich sehr fest und dicht geschlossen sein, und wenn es uns gelingt, ihn zu durchbrechen und Bazaine dann von Metz aus einen Vorstoß hierher macht, so ist die Vereinigung erreicht und der Feind befindet sich 517 in einer sehr gefährlichen Lage. Die Truppen sind vom besten Geiste beseelt, und wenn das alte Glück der französischen Waffen uns nur einen Augenblick wieder lächelt, so können wir in kurzer Zeit mehr gewonnen haben, als mir bisher verloren.«

»Und was sagt Wimpffen? Ich habe viel Vertrauen zu seinem militärischen Blick.«

»General Wimpffen«, erwiderte der Marschall, »ist wie ich der Meinung, daß es weit besser und vorsichtiger gewesen wäre, nach Paris zu marschieren als diese Umgehung zu versuchen, welche der Graf von Palikao so kategorisch gefordert hat. Da wir nun aber einmal hier sind, so teilt der General Wimpffen, der alle unsere Positionen inspiziert hat, soweit dies gestern nach seiner Ankunft möglich war, meine Ansicht, daß, wenn es uns gelingt, die feindlichen Linien zu durchbrechen und den Weg nach Metz zu erzwingen, alles wieder gutgemacht werden könne.«

»Nun,« sagte der Kaiser, »möge der Genius Frankreichs Ihre Hoffnungen erfüllen.«

Er sank einen Augenblick sinnend in sich zusammen, seine matten, erschöpften Züge drückten wenig Zuversicht in die soeben gesprochenen Worte aus.

»Sire,« sagte Mac Mahon, indem er einen Schritt näher zu dem Kaiser herantrat, – »ich muß Eure Majestät noch einmal darauf aufmerksam machen, daß nach allen meinen Nachrichten der Weg über Mézières nach Paris noch frei ist, – wenn Eure Majestät heute abend noch abreisen, so können Sie ungefährdet nach der Hauptstadt kommen und vielleicht«, fügte er etwas zögernd hinzu, »wäre dies das Beste, denn die Ereignisse in Paris könnten eine kräftige Hand erfordern, während hier – erlauben mir Eure Majestät ganz aufrichtig zu sprechen – während hier die notwendige Rücksicht auf die Sicherheit Ihrer Person den militärischen Maßregeln einen gewissen Zwang auflegt. Wenn Eure Majestät daher –«

Napoleon unterbrach den Marschall durch eine Bewegung seiner Hand.

»Man soll keine Rücksicht auf meine Person nehmen,« sagte er, »ich bin ein einfacher Soldat, der das Schicksal 518 der Armee teilt, ich will nichts anderes sein, – dies ist der Platz, der in diesem Augenblick meines Namens und den Traditionen meiner Familie allein würdig ist, die Kaiserin vertritt mich vollständig in Paris, – hier liegt die Entscheidung, – hier will ich bleiben und ich bitte Sie, bei Ihren Operationen ganz so zu verfahren, als ob ich nicht bei der Armee wäre.«

Der Marschall verneigte sich.

»Ich habe da«, sprach Napoleon weiter, »eine kurze Proklamation an die Armee aufgesetzt, welche in wenigen Worten dasselbe sagt, was ich Ihnen soeben ausgesprochen, – ich glaube, daß es nur günstig auf die Stimmung der Armee wirken kann, wenn die Soldaten wissen, daß ich jedes Los mit ihnen teilen will, statt mich in die Sicherheit weit hinter den Kampfeslinien zurückzuziehen. Lassen Sie die Proklamation so viel als möglich bekannt machen.«

Der Herzog von Magenta näherte sich schweigend dem Tisch, nach welchem der Kaiser hindeutete, nahm das auf demselben liegende, mit der kleinen, zierlichen Handschrift Napoleons beschriebene Papier und durchflog dessen Inhalt.

»Nicht wahr?« sagte der Kaiser, dessen Blicke prüfend auf dem Gesicht des Marschalls ruhten, – »nicht wahr, das muß einen günstigen, ermutigenden Eindruck auf die Truppen machen?«

»Es ist das,« erwiderte Mac Mahon ruhig, – »was in diesem Augenblick zu sagen übrigbleibt.«

»Nun aber«, sagte der Kaiser, »ruhen Sie sich aus, mein lieber Marschall; wenn die Natur Sie auch von Eisen und Stahl gemacht hat, so bedürfen Sie dennoch des Schlafes und der Erholung. Bedenken Sie, daß von Ihrer Kraft und Ihrem klaren Blick morgen das Schicksal unseres Vaterlandes abhängt.«

»Die Zeit der Ruhe, Sire, wird kommen,« erwiderte Mac Mahon, »wenn wir den Sieg erfochten haben, an welchen jeder Soldat bis zum letzten Augenblick glauben muß.«

Er verneigte sich vor dem Kaiser, der ihm von seinem Ruhebett aus die Hand hinstreckte, und verließ mit festem, sporenklirrendem Tritt das halbdunkle Zimmer.

519 Napoleon sah ihm lange nach.

»Eine starke Hand ist in Paris nötig,« sagte er, – »aber ich habe diese starke Hand nicht mehr, – – würde ich dies Paris von heute lenken können? – Nein, nein – hier allein bin ich an meinem Platz – wenn der Sieg sich zu uns neigt, so bin ich hier inmitten der Armee wieder der Herr Frankreichs – und wenn wir unterliegen – – nun, so kann ich hier allein würdig fallen, – ohne in dem blutigen Schlamm der Revolution zu versinken, welche in Paris bereits aus den Tiefen heraufgärt!«

»Er hofft noch, – dieser tapfere Soldat,« flüsterte er dann, »oh, daß ich es auch könnte. – Aber diese absterbenden Nervenfäden, diese erschlafften Muskelfasern haben mit der Kraft des Wollens auch die Fähigkeit zu wünschen und zu hoffen verloren. Und die Hoffnung, welche man die treueste, die letzte Freundin des Menschen nennt, hat mich verlassen. Die starre Ruhe des Todes hat sich in meine Gebeine gesenkt, ich habe nur noch Gefühl für den Schmerz, für das Leiden.«

Er sank zurück auf das gegen die Lehne seines Ruhebetts gestützte Kissen, seine verworrenen grauen Haare fielen über die Schläfen herab, sein Bart hing ungeordnet über die Lippen, seine Augen schlossen sich und ohne das schmerzhafte Zucken, welches von Zeit zu Zeit über sein erdfahles Gesicht fuhr, hätte man glauben können, daß eine Leiche in diesem einsamen, dunklen Zimmer läge, zu welchem von fernher nur die dumpfen Stimmen der Hunderttausende herüberdrangen, die sich in weitem Umkreis draußen gegenüberstanden, um sich in furchtbarem Ringen zu zerfleischen und zu vernichten, – und doch hatten die bleichen, schmerzhaft zuckenden Lippen dieses kranken, hilflosen und verzweifelnden Mannes das Wort gesprochen, welches alle jene Krieger, die Blüte zweier großen Nationen, zu mörderischem Vernichtungskampf gegeneinander getrieben.

Lange hatte der Kaiser so in dumpfer Erstarrung dagelegen, dann richtete er sich langsam empor und stand von seinem Ruhebett auf; in mühsamer und schwerfälliger Bewegung ließ er sich am Fuß desselben auf die Knie nieder und stützte das Gesicht auf seine gefalteten Hände.

520 Man hörte nichts als seine tiefen, fast röchelnden Atemzüge. Keine Worte drangen von seinen Lippen. Aber diese Atemzüge klangen wie eine verzweifelnde Klage, wie der Hilferuf einer zum Tode ermatteten Seele.

Betete er zu dem Fatum, auf dessen unerbittliches Walten er am Tage seines Ruhms und seines Glücks so fest vertraut hatte? Betete er zu dem Gott, den er in den prächtigen Tempeln seines Reiches bekannt hatte und zu welchem schon so viele, auf ihre eigene Kraft stolze Seelen sich im Augenblick der Not und der Verzweiflung gewendet hatten – wer möchte in den Tiefen dieses geheimnisvollen, rätselhaften Herzens lesen? –

Nach einiger Zeit richtete sich der Kaiser wieder empor.

Hoffnung und Mut hatte er nicht in seinem Gebet gefunden, aber stille und ruhige Ergebung lag auf seinen Zügen.

Er bewegte die Glocke, ließ sich von seinem Kammerdiener entkleiden und befahl, ihn am anderen Morgen in der ersten Frühe zu wecken.

Die Nacht legte sich über den matten und gebrochenen Imperator und über die mutigen, tapferen Heere, welche sich voll Kampfeslust und Siegeshoffnung gegenüberstanden.

*

Während die französische Armee mit dem Mut der Verzweiflung, um die Festung Sedan zusammengedrängt, den entscheidenden Zusammenstoß erwartete, hatte sich der König Wilhelm von Preußen beim Dunkelwerden nach dem Dorfe Vendresse, etwa eine Meile südlich von Sedan, begeben.

Hier war die erste Staffel des großen Hauptquartiers angelangt, und das Quartier Seiner Majestät in dem freundlichen, schloßähnlichen Landhause des Herrn Haumont eingerichtet worden.

Das Dorf Vendresse lag weit ab von der eigentlichen Truppenaufstellung, und es herrschte hier eine tiefe Ruhe, welche kaum hätte vermuten lassen, daß so ungeheure Truppenmassen in der nächsten Nähe vereinigt und bereit seien, am folgenden Tage eine Entscheidungsschlacht zu schlagen.

521 Das Leibkürassierregiment (Schlesisches Nr. 1) hatte um zwei Uhr mittags enge Kantonnements zwischen Artois les Verviers, Chateau les Cassines und Vendresse bezogen, und eine Schwadron dieses herrlichen Eliteregiments gehörte mit zu der geringen militärischen Besatzung des kleinen Orts, in welchem der königliche Oberfeldherr der deutschen Armee sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte.

Seine Majestät hatte, gleich nachdem er den vierspännigen Reisewagen verlassen, in dem größten Zimmer des Haumontschen Hauses den Tee befohlen, zu welchem sich das ganze militärische Gefolge versammelte.

Der General von Moltke, welcher am Mittag bei Bésace beim König eingetroffen war, wo Seine Majestät bereits die Überzeugung gewonnen, daß es hier zur Entscheidung kommen werde und infolgedessen die Schlacht für den nächsten Tag befohlen hatte, trat in seiner ruhigen, festen und bescheidenen Haltung und mit so heiteren, klaren und sicheren Blicken, als handle es sich um ein großes Friedensmanöver, ein.

In dem Zimmer, wo neben dem Teetisch eine Art von Büffett mit kalter Küche und verschiedenen Getränken eingerichtet war, hatten sich bereits die königlichen Flügeladjutanten und das übrige unmittelbare Gefolge Seiner Majestät eingefunden.

Hier sah man den Oberhof- und Hausmarschall, den Grafen Pückler, in dem Kampagneüberrock mit den Generalleutnantsschulterstücken, welcher die Funktionen des Oberhofmarschalls ebenso sicher und unermüdlich auf dem Parkett der Säle des Berliner Schlosses als auf den Schlachtfeldern ausübte und Seine Majestät den König auf allen Feldzügen begleitet hatte und in allen Gefechten an seiner Seite gewesen war. Die schmächtige, aber dabei ernste und würdevolle Gestalt des Oberhof- und Hausmarschalls stand ruhig in militärischer Haltung da. Aus seinem freundlichen, wohlwollenden Gesicht mit dem weißen Haar blickten die hellen, klaren Augen scharf und prüfend umher, jedes Detail des Dienstes überwachend und jedes Winks seines königlichen Herrn gewärtig.

Hier sah man ferner den Hofmarschall Grafen Perponcher, Oberst der Kavallerie des zweiten 522 Gardelandwehrregiments, den Oberst von Albedyll, den Generaladjutanten von Treskow und die kommandierenden Offiziere der Stabswache: Rittmeister Albedyll vom Kürassierregiment Königin, die Leutnants von Galen und Fürst von Lynar, und den Leibarzt Doktor von Lauer.

Der König ging dem General von Moltke, welcher noch einige Meldungen von den Vorposten empfangen hatte, lebhaft einige Schritte entgegen.

»Nun, mein lieber General,« sagte er, indem er dem Lakaien die einfache Tasse, aus welcher er seinen Tee genommen hatte, reichte, »haben Sie neue Meldungen erhalten, sind unsere und die feindlichen Stellungen noch dieselben, und sind wir sicher, daß die große Entscheidung, der wir so lange nacheilen, uns morgen nicht mehr entgehen kann?«

»Ich bin dessen ganz sicher,« erwiderte der General in seiner einfachen, schlichten Weise, »alle französischen Truppen haben sich bis zum Abend hier nach der Festung Sedan dirigiert, und es muß daher dieser Mittelpunkt von Marschall Mac Mahon als Sammelplatz der ganzen Armee bestimmt sein. Dann aber muß er schlagen, denn weitergehen kann er nicht, da die belgische Grenze alle seine Bewegungen hindert.«

»Aber«, sagte der König, »Sie wissen, daß wir die Nachricht erhalten haben, daß der kaiserliche Prinz bereits in Mézières angekommen ist. Wahrscheinlich wird der Kaiser Napoleon, von dem man nichts berichtet hat, auch dort sein, um sich auf diesem Wege nach Paris zu begeben. Müßte man nicht annehmen, daß Mac Mahon ebenfalls mit seiner Armee auf diesem Umwege nach Paris zurückkehren möchte, von wo er sich im französischen Interesse niemals hätte entfernen sollen? Werden wir«, fuhr er fort, »noch imstande sein, den Franzosen diesen Umweg nach Paris abschneiden zu können?«

»Nein, Majestät,« erwiderte der General von Moltke, »dazu sind wir noch nicht weit genug vorgerückt – wir würden nicht imstande sein, jenen Weg zu verlegen, wenn die französische Armee noch in dieser Nacht oder im Laufe des morgenden Tages denselben einschlüge. Aber«, sagte 523 er kopfschüttelnd, »ich fürchte das nicht, die französische Armee ist durch die Märsche der letzten Tage in ihrem ganzen Gefüge erschüttert und bedarf einige Tage der Ruhe, wenn nicht der weitere Rückzug zu einer wirklichen Flucht werden soll, bei welcher sie in volle Auflösung geraten müßte. Dann aber, Majestät,« sagte er, und ein leichtes sarkastisches Lächeln zuckte in den feinen Linien seines Mundes, »scheint es mir nicht in der Absicht Mac Mahons zu liegen, nach Paris zurückzukehren – er glaubt uns ja zu umgehen und wird nach Metz hin vorstoßen wollen, um Bazaine zu entsetzen, was man ja von Paris aus ihm zur Pflicht gemacht hat, wie alle Nachrichten besagen, die von dorther zu uns gedrungen sind.«

»Welche Verblendung«, sagte der König; »ist es nicht, als ob die Vorsehung selbst die Geister unserer Feinde verwirrte, um den frevelhaften Friedensbruch zu rächen? – quos deus vult perdere –« flüsterte er leise, den Kopf neigend, und blieb einige Sekunden in schweigendem Sinnen stehen.

Der Prinz Karl von Preußen in seiner noch so kräftig ritterlichen, seinem königlichen Bruder so ähnlichen Haltung trat herein.

Ihm folgte der Erbgroßherzog von Mecklenburg-Schwerin und noch andere Generale und Offiziere des Gefolges.

Der König begrüßte die fürstlichen Herren und blieb dann noch lange in eingehender Unterhaltung mit dem General von Moltke stehen, bald den einen, bald den anderen der Offiziere heranrufend und die Dispositionen zu der auf den anderen Morgen befohlenen Schlacht erteilend.

Endlich war alles besprochen und geordnet.

»Morgen zu früher Stunde will ich aufbrechen,« sagte der König, »um die Entwickelung der Aktion übersehen zu können. Wohin meinen Sie, daß ich am passendsten meine Pferde beordern soll?«

»Ich habe dazu, Majestät,« erwiderte der General von Moltke, »das Dorf Chéhéry zwischen Chémery und Chevenge am passendsten gefunden, von dort werden Eure Majestät leicht die Höhe erreichen, von der aus 524 Allerhöchstdieselben das ganze Feld übersehen können, aus welchem die Aktion sich entwickeln muß.«

»Gut,« sagte der König, »also nach Chéhéry. Und nun lassen Sie uns ruhen, meine Herren, wir werden alle unsere Kräfte für morgen bedürfen: Sie besonders, General von Moltke,« fügte er hinzu, indem er dem General die Hand reichte, »sollten sich schonen und ausruhen, denn es wird morgen harte Arbeit geben. Die Franzosen werden uns den Sieg nicht leicht machen und haben starke Positionen.«

Der General verneigte sich schweigend.

Der König verabschiedete sich von den fürstlichen Herrschaften und zog sich in sein Zimmer zurück.

Es war eines jener großen, bequem eingerichteten Schlafzimmer, in welchem in einer Vertiefung der Wand ein großes und breites Bett mit seinen schwellenden Matratzen und Kissen zu stehen pflegt. Dies Bett war herausgenommen. An seiner Stelle stand das eiserne Kampagnebett des Königs, nur zwei Fuß vom Boden hoch, mit wenig Polsterwerk und einer leichten Decke ausgestattet. Eine Lampe brannte auf dem von einigen Lehnstühlen umgebenen Tisch in der Mitte des Zimmers. Die Kohlen eines kleinen Feuers verglühten im Kamin.

Der König trat ernst und sinnend an den Tisch, auf welchem eine Mappe mit den letzten persönlichen Korrespondenzen sich befand. Er knöpfte den Uniformrock auf, ließ sich in einen der um den Tisch stehenden Lehnstühle nieder, öffnete die Mappe und zog einen Brief aus derselben hervor, den er aufmerksam durchlas. Langsam faltete er ihn dann zusammen und legte ihn mit einer gewissen peinlichen Sorgfalt wieder an seine Stelle.

»Der Kaiser Alexander hat recht,« sagte er, »der Sturz des Kaiserreichs in Frankreich würde unberechenbare Zustände herbeiführen, die eine Quelle der Unruhe für ganz Europa werden könnten. Die revolutionären Mächte sind in Frankreich zahlreich und mächtig, und wenn das Gefüge des Kaiserreichs zusammenbricht, möchte sich kaum eine Hand finden, die ihrer Herr werden könnte. Ich werde wahrlich nichts tun, um dies Kaiserreich zu stürzen, das in wahnsinniger Verblendung mich zum Krieg gedrängt hat. 525 Der Kaiser muß des Krieges müde sein, und wenn er nach Paris zurückkehrt, wenn Friedensvorschläge von ihm kommen, so werde ich gewiß alles tun, was mit der Ehre Deutschlands vereinbar ist, um der Welt den Frieden wiederzugeben – aber hängt der Bestand des Kaiserreichs von mir ab? Wird dieser schwache, gebrochene Napoleon sich halten können, wenn er eine siegreiche und ihm ergebene Armee nicht mehr zu seiner Verfügung hat?«

Er saß einige Augenblicke in schweigendem Nachdenken da.

»Als ich damals, fast noch ein Knabe, an der Seite meines Vaters hier in Frankreich war, da handelte es sich darum, jenen ersten Napoleon unschädlich zu machen, der Krieg galt ihm noch mehr als Frankreich. Heute ist das anders,« sagte er, aufstehend, indem er die Hand fest auf den Tisch stützte, »heute gilt es, den Übermut der französischen Nation zu brechen, die so viele gute und vortreffliche Eigenschaften hat, aber die Deutschland keinen gleichberechtigten Platz neben sich gönnen will. Wenn dies Ziel erreicht ist, wenn der vermessene Friedensbruch gesühnt ist, dann mag immerhin dieser Napoleon und sein Haus weiter in Frankreich regieren, wenn es ihm gelingt, dies unruhige Volk zu beherrschen.«

Er trat langsam zu seinem Feldbett heran und streckte die Hand nach der Glocke aus, welche auf einem kleinen Tisch neben demselben stand. Da fiel sein Auge auf die kleine Taschenuhr, welche an der Wand neben dem einfachen Lager hing, und deren leises, regelmäßiges Ticken durch das stille Zimmer tönte.

Ein Ausdruck tiefer Rührung erschien auf dem Gesicht des Königs, er streckte die Hand über das Bett hin nach der kleinen silbernen Uhr und zog sie langsam und vorsichtig mit dem daranhängenden Schlüssel auf.

»Welch eine lange Reihe von Jahren«, sagte er, »hat dieser kleine Zeiger durchlaufen, in seinem gleichmäßigen Gang Sekunde an Sekunde reihend und immer in dem stillen, kleinen Kreis sich bewegend, während die Welt sich so tief verändert hat, während so vieles versunken und vergessen und so vieles Neue erstanden ist. Es war im Jahre 526 1814,« fuhr er, immer den Blick auf die Uhr geheftet, fort, »als mein Vater mir diese Uhr in Neufchâtel schenkte, und mir ist seit jener Zeit ihr Schlag immer der letzte Ton gewesen, der in meinen Schlaf hineinklang, der erste, der mich am neuen Tage begrüßte. Damals lag eine schwere, dunkle Zeit hinter uns, die Morgenröte einer neuen, glänzenden Epoche war angebrochen, aber wer hätte damals voraussehen oder nur ahnen können, zu welcher Größe die Hand Gottes Preußen führen würde? Wer hätte ahnen können, daß es mir bestimmt sein würde, die Krone zu tragen und all dies Große zu vollbringen – was würde er sagen, mein Vater, mit dem ernsten, stillen und innigen Blick, wenn er sehen könnte, was aus seinem Preußen geworden ist – und sie, meine Mutter, die an gebrochenem Herzen starb – was würde sie sagen, wenn sie unsere Truppen hier siegreich in dem Lande sehen könnte, dessen Heere sie einst flüchtend bis zu den äußersten Grenzen ihres Landes vor sich her trieben?

Il était permis à la gloire d'un Frédéric de nous tromper sur nos moyens‹« sagte er, in Erinnerungen versunken – »si toutefois nous nous sommes trompés«, fügte er noch leiser hinzu.

»Si toutefois nous nous sommes trompés«, sagte er mit festem Ton –, »ja es war ein prophetisches Wort, welches der edle Geist meiner Mutter ihr eingab. Sie hat sich nicht getäuscht und«, rief er, die Hände über der kleinen Uhr faltend und den Blick aufwärts richtend, »sie sehen herab in diesem Augenblick auf mich, die lieben, unvergeßlichen Eltern, sie sehen, daß es ihrem Sohn vergönnt ist, ihre Demütigungen, ihre Leiden zu sühnen, ohne den Beistand der Fremden wie damals – nur mit deutschen Waffen und mit deutscher Kraft. Und ihre Blicke werden auch morgen auf mir und meinem Heere ruhen, ihr Segen wird mit mir sein, – und dann muß ja auch Gott mit mir sein.«

Leise bewegte er die Lippen und fromme, freudige Zuversicht strahlte aus seinen Augen, während der Schlag der kleinen Uhr mit demselben regelmäßigen Klang, wie in jener alten, längstvergangenen Zeit, in seinen Händen 527 tönte. Dann hing er die Uhr langsam und vorsichtig wieder über seinem Bett auf und bewegte die Glocke.

Der Kammerdiener Engel trat ein.

In wenigen Augenblicken war der König entkleidet und streckte sich auf sein einfaches Lager nieder, indem er dem Kammerdiener befahl, seinen Militärmantel über die Decke zu legen.

Der Kammerdiener löschte die Lampe aus und verließ leise das Zimmer, in welchem man bald nur noch die ruhigen Atemzüge des Königs und das leise Ticken der kleinen Uhr über seinem Bette hörte. – – –

Die Herren des Hauptquartiers hatten sich in ihre Quartiere zurückgezogen.

Der Hofstallmeister von Rauch gab die Befehle für den Aufbruch der Pferde des Königs.

Der General von Moltke hatte in dem Augenblick, in welchem er das Quartier des Königs verließ, einige Meldungen erhalten. Dann zog er sich in sein in der Nähe des Haumontschen Hauses belegenes, einfaches Quartier zurück, noch einmal in schweigendem Nachsinnen über eine auf dem Tisch seines Wohnzimmers ausgebreitete Karte gebeugt, die Stellung der Truppen überblickend und in seinen Gedanken das Spiel dieser großen Maschine ordnend, welche so scharf ineinandergriff, als würde sie von mechanischen Federn bewegt, und in welcher doch jedes Glied aus schlagenden und fühlenden Menschenherzen zusammengesetzt war.

»Hier bei Bazeilles«, sagte er, mit dem Finger auf die Karte deutend, »wird die Aktion beginnen und dorthin muß ich noch eine Instruktion senden, um ganz sicher zu sein, daß nichts versäumt wird.«

Er trat an seinen Schreibtisch und warf mit raschen Zügen einige Zeilen auf das Papier, das er verschloß und versiegelte. Dann öffnete er die Tür des Nebenzimmers, in welchem sein Adjutant sich befand und sagte:

»Ein Ordonnanzoffizier soll sogleich diesen Brief zum General von der Tann tragen, der in der Nähe von Wadelincourt sein Hauptquartier hat. Das Leibkürassierregiment steht hier in der Nähe, lassen Sie einen Offizier desselben hierher kommandieren.«

528 Der Adjutant entfernte sich und kehrte nach etwa einer Viertelstunde, während welcher der General aufmerksam und nachdenkend die Karte betrachtet hatte, indem sein Finger, leise über dieselbe hinfahrend, verschiedene Linien beschrieb, zurück.

Ihm folgte ein schlanker Offizier in der Uniform des schönen schlesischen Eliteregiments, mit dem weißen Waffenrock und dem schwarzen Sammetkragen, den blitzenden Stahlhelm auf dem Haupt. Die bleichen Züge des jungen Mannes waren freudig bewegt und die Blicke seiner dunklen Augen richteten sich ehrfurchtsvoll auf den großen Feldherrn, der ihm langsam einen Schritt entgegentrat.

»Sekondeleutnant von Rothenstein vom Leibkürassierregiment Schlesisches Numero eins«, sagte der junge Offizier, indem er, die Hand am Helm, vor den General trat.

Der General neigte leicht das Haupt, er nahm einen Brief von seinem Schreibtisch und sagte mit kurzem, befehlendem, dabei aber doch zugleich freundlich verbindlichem Ton:

»Ich bitte Sie, sogleich zum General von der Tann zu reiten, den Sie in der Nähe von Remilly an der Maas finden werden, um ihm diese Order zu überbringen. Je schneller Sie dorthin kommen, um so besser wird es sein; Sie werden dann zum großen Hauptquartier zurückkehren und Rapport erstatten. Lassen Sie sich bei Ihrem Eskadronschef abmelden und reiten Sie ohne Zeitverlust.«

Der Leutnant von Rothenstein wandte sich in kurzer, militärischer Bewegung um und verließ das Zimmer, in welchem kurze Zeit darauf das Licht erlosch.

Auch der große, unermüdliche Lenker dieser Truppenmassen, die im meilenweiten Umkreis ihren eisernen Ring um den Feind geschlossen hatten, suchte endlich die kurze Ruhe, welche für ihn genügte, um seinem Geist und seinem Körper die Spannkraft wiederzugeben.

Der Leutnant von Rothenstein schwang sich in den Sattel, orientierte sich auf einer Handkarte über die einzuschlagende Richtung und sprengte dann auf dem zum Dorf hinausführenden Feldwege in die Nacht hinein.

Einzelne Wolken, von einem leichten Winde getrieben, zogen über den Himmel dahin und bedeckten zeitweise die 529 herabfunkelnden Sterne. Die Straße zog sich in manchen Windungen zunächst durch freie Felder, dann zu bewaldeten Hügeln hin.

Schon in den nächsten Ortschaften begann es von Truppen zu wimmeln, welche größtenteils in Biwaken lagerten und von allen Seiten her nach dem einen Mittelpunkt von Sedan zusammengezogen waren.

Der junge Mann ritt weiter und weiter, das Anrufen der Posten und Feldwachen kurz erwidernd, hie und da einen raschen Gruß mit einem herantretenden Kameraden austauschend, einen Schluck aus der freundlich dargebotenen Feldflasche nehmend oder sich durch einige Fragen über die weiter einzuschlagende Richtung seines Weges orientierend.

Es waren bunte, lebensvolle Bilder, welche sich in wechselnden Zwischenräumen vor den Blicken des jungen Offiziers öffneten, – bald eine Strecke einsam scheinenden Waldes, Feldwachen am Rande des Weges hinter vorspringendem Gebüsch, – bald hellodernde Biwakfeuer, Menschen und Pferde in mannigfaltigen Gruppen darumgelagert, – bald Dörfer und Gehöfte, angefüllt mit all dem regen Leben, welches den Sitz größerer oder kleinerer Kommandos umgibt.

Aber alle diese wechselnden Bilder vermochten nicht den traurigen Ernst zu verscheuchen, welcher auf dem Gesicht des Herrn von Rothenstein lag und dieses jugendfrische, schöne Gesicht wie eine graue Wolke beschattete. Der junge Mann versank oft in eine tiefe Träumerei, und in langsamerem Schritt, den Kopf auf die Brust herabgesenkt, ritt er dahin, bis irgendein Geräusch an der Seite des Weges ihn aufschreckte und, seiner Mission sich erinnernd, mit schnellem Schenkeldruck sein Pferd zu rascherer Gangart antrieb.

Er blickte zu den über dem dunkeln Himmel dahinfliegenden Wolken auf, und mit einem schmerzlichen, fast bitteren Zucken seiner Lippen sagte er leise vor sich hin:

»Ritter, treue Schwesterliebe
Widmet Euch dies Herz.
Fordert keine andre Liebe –«

530 Seine Worte verloren sich in einem schweren Seufzer, – schweigend ritt er eine Strecke weiter und sprach dann mit dumpfer Stimme:

»Und ein Jahr hat ers getragen,
– Trägt's nicht länger mehr –

Warum?« rief er dann laut, – »warum kann ich diese Erinnerung nicht aus meiner Seele, – warum kann ich dies Bild nicht aus meinem Herzen reißen? Es ist ja doch das größte Unglück wahrlich nicht, – die Welt steht mir groß und weit offen, – und es gibt ja noch viele Herzen, die mir freundlicher entgegenschlagen möchten, – und doch – doch,« – rief er in fast zornigem Ton, – »doch kann ich sie nicht vergessen, – doch sehe ich dies Auge Tag und Nacht vor mir, – dies Auge, aus welchem die Seligkeit aller Himmel strahlen müßte, wenn sein Blick sich liebend entzündete! – Ich kann sie nicht vergessen, – und ich will sie nicht vergessen,« fügte er leiser hinzu, – »ich habe nicht die Kraft, dies Gefühl zu bekämpfen, – wie soll ich es überwinden?

Hat sie in diese weiße Rose, die Blume der kalten Freundschaft, die sie mir gab, eine Zauberkraft gelegt, wie sie einst in jenem Kleinod wohnte, das die Gemahlin Karls des Großen in die Wassertiefe bei Aachen versenkte und das den gewaltigen Kaiser an das bezauberte Ufer fesselte? Die Blume ist verwelkt und vertrocknet, die Blume, die alle meine Hoffnungen zerstörte, – und doch ruht sie auf meiner Brust, doch kann ich sie nicht von mir werfen, wie ich die Liebe, die törichte, hoffnungslose Liebe nicht töten kann! Wäre es nicht besser, mich, den zu einsamem, liebeleerem Leben von den ersten Tagen meines Daseins an Verurteilten, träfe eine jener Kugeln, welche diejenigen dahinraffen, die mit so vielen Banden der Liebe an das Leben gefesselt sind, um die so viele Augen weinen? – um mich würde niemand weinen, – die Kameraden würden mich ein wenig vermissen, – ein wenig an mich denken, – und dann, – dann wäre ich vergessen, – verweht wie das Blatt, das der Wind über das Feld treibt!«

Eine Feldwache rief ihn an.

Nach einigen rasch gewechselten Worten ritt er in scharfem Trabe weiter in die Nacht hinein. 531

 


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