Gregor Samarow
Kreuz und Schwert
Gregor Samarow

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Fünfzehntes Kapitel

Als der Graf Rivero in das Zimmer seines Hotels zurückkehrte, eilte ihm Julia entgegen, schlang ihren Arm zärtlich um seinen Hals und blickte ihm mit liebevoller, fragender Teilnahme in das Gesicht; fast erschrak sie über den starren Schmerz, der auf den Zügen ihres Vaters lag. Diese Augen, in denen sonst das Feuer stolzer Siegeszuversicht leuchtete, blickten matt und traurig zu Boden, schlaff hingen die Lippen herab, aus denen sonst so beredte Worte voll klarer Schärfe und warmer Begeisterung geflossen waren. Wie gebrochen lehnte der Graf sein Haupt an Julias Schulter, und einige Augenblicke hörte man nur seine tiefen Atemzüge in dem hohen, stillen Zimmer.

Julia wagte nicht das Schweigen zu unterbrechen, sie wartete schweigend, bis der Graf sich wieder aufrichtete und, die Hand auf ihr Haupt gelegt, mit einer dumpfen, aus tiefer Brust heraufdringenden Stimme sprach:

»Ich habe eine schwere Stunde durchlebt, meine Tochter, die Arbeit, die begeisterte Hingebung meines ganzen Lebens ist verloren, ich habe sie einer Sache geweiht, welche dem Untergang verfallen ist und welche niemals zu den Zielen gelangen wird, welche so herrlich und glänzend vor meinem inneren Blick dastanden.«

Er ließ sich erschöpft in einen Lehnstuhl zur Seite des Kamins niedersinken, welches hier in dem für die Aufnahme fremder und nordischer Gäste bestimmten Zimmer angebracht war und in dem die letzten Kohlen eines leichten Feuers eben verglimmten.

286 »Du hast dein Leben dem Dienste der heiligen Kirche gewidmet,« sagte Julia, indem sie sich auf ein kleines Taburett zu den Füßen des Grafen niederließ, »sollte es möglich sein, mein Vater,« fuhr sie fort, »daß die Kirche dem Untergang geweiht wäre?«

»Die Kirche, meine Tochter,« sagte der Graf, indem ein lichter Strahl zum ersten Male wieder seine Augen erhellte, »die Kirche kann niemals untergehen! Jene ewige unsichtbare Kirche, welche auf dem Felsengrund der ewigen Wahrheit erbaut ist und durch den Kitt des heiligen Blutes Christi zusammengehalten wird. Aber diese unsichtbare Kirche, dieses Reich Gottes, das die Geister umfaßt in allen Gebieten der Erde, hat eine äußere, sichtbare Form, eine Form, aufgebaut in dem Lauf der Jahrhunderte und durch das Recht der Jahrhunderte geheiligt, diese Form, dieser große, herrliche, schimmernde Tempel, zu dessen Gewölbe ich voll begeisterter Andacht emporschaute, dessen Pforten zu verteidigen ich die Arbeit meines Lebens einsetzte, dieser Tempel, meine Tochter, wird zusammenbrechen, weil diejenigen, welche berufen sind, ihn zu hüten und zu schützen, ihn zu einem Asyl der Gläubigen aus allen Völkern zu machen und von dessen Altar das erlösende Wort der Freiheit durch alle Zonen der Erde erschallen zu lassen, weil diese in verhängnisvoller Verblendung den Tempel der Luft und dem Licht verschließen wollen, weil sie den Fluch statt des Segens von seinem Altar ertönen lassen, weil sie die Welt in Ketten hinter sich herziehen wollen, statt die Feuersäule der Wahrheit und der Freiheit vor ihr herzutragen. Der Tempel wird leer werden,« fuhr er fort, indem seine Blicke sich weit öffneten, als stiege eine Vision vor ihm auf, »seine Mauern werden zusammenstürzen und diejenigen unter ihrem Sturz begraben, welche seine Hallen verödeten, und die späteren Geschlechter werden über die Trümmer des Baues dahinschreiten, der für die Ewigkeit gegründet schien. Doch Gott muß es also wollen,« sagte er dann mit dem Ton ruhiger Ergebung, »seine Kirche kann nicht untergehen, und vielleicht will sein allmächtiger Ratschluß, daß nur die Wölbung des Firmaments die Kuppel ihres Tempels, nur die hohen Berge seine Pfeiler seien. Hatte doch auch der 287 Erlöser selbst für seine heilige Lehre nur diesen Tempel des Höchsten und Erhabensten, in welchem Gott auf Erden sich offenbart. Dieser edle Greis«, fuhr er fort, »auf dem Stuhle Petri, an dessen reiner Seele kein Makel haftet, er folgt den Ratschlägen derer, welche, wie einst die Pharisäer und Schriftgelehrten, den Buchstaben auf den Altar erhoben und den Geist fesselten, und doch nennt er sich den Stellvertreter dessen, der da sprach: ›Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig‹. Ich bin losgelöst, meine Tochter,« sagte er dann, indem er das Haupt Julias in seine Hände nahm und ihr lange in die Augen blickte, – »tief innerlich losgelöst von der Kirche, welche hier am Altar von St. Petri ihren Mittelpunkt hat, und welche bald in dem dreifach gekrönten Oberpriester ihren unfehlbaren Gebieter wird verehren sollen, indem sie so dem Diener eine Eigenschaft beilegt, welche nur der Herr besitzt und das erste seiner Gebote umstürzt: ›Du sollst keine anderen Götter haben neben mir‹. Vielleicht wird bald der Bann dieser Kirche auf mir ruhen, auf mir,« sagte er mit schmerzlich zitternder Stimme, »der einer ihrer treuesten und opferbereitesten Diener war. Wirst du, meine Tochter,« fuhr er fort, »dich auch von mir wenden, wirst du mich auch verurteilen, wenn ich werde sagen und tun müssen, was meine heiligste, gläubigste Überzeugung ist?«

Julia nahm die beiden Hände ihres Vaters sanft von ihrem Haupt und drückte sie an ihre Lippen.

»Mein Geist ist zu schwach, mein Vater,« sagte sie, »mein Blick ist zu trübe, um die Wahrheit zu erkennen, mein Herz allein kann den Weg zu Gott finden und hat ihn gefunden in allen trüben Stunden meines Lebens, – mein Herz aber gehört dir, mein Vater, dir, mit allen seinen Schlägen, mit aller seiner Liebe, an dich glaube ich, dir vertraue ich, und wohin du mich führst, da werde ich Gott finden, und wenn die Priester der Kirche dich verdammen, so wirst du mein Priester, mein Lenker und mein Leiter sein. Und solltest du irren, mein Vater, so wird dein Irrtum so schön, so edel und so heilig sein, daß ich einst vor den Gott der ewigen Liebe werde treten können, um mich gläubig zu deinem Irrtum zu bekennen.«

288 Sie sah mit begeisterten, leuchtenden Augen zu ihrem Vater empor.

»So ist denn mein früheres Leben abgeschlossen,« sprach dieser, »wir werden einsam, fern von der Welt und uns allein leben, Gott hat meine Vermessenheit, mit der ich in seinem Dienst mit Menschenherzen glaubte spielen zu dürfen, schwer bestraft, – vielleicht wird er in der Stille und in der Einsamkeit mich den Weg zur Wahrheit, den Weg zum ewigen Heil finden lassen. Doch nun, meine Tochter,« sagte er nach einigen Augenblicken stillen Nachdenkens, »ist unseres Bleibens nicht hier, ich bin ein Verdächtiger in den Mauern Roms und werde bald vielleicht ein Geächteter sein. Wir müssen fort, schnell fort von hier aus den Grenzen der päpstlichen Herrschaft, wir müssen heimlich fortgehen,« sagte er mit bitterem Lächeln, »denn vielleicht würde man mich, den man einst mit Ehren und Auszeichnungen überhäufte, nicht frei ziehen lassen. Nimm deine wertvollsten Sachen zu dir und halte dich bereit, wir wollen unter dem Schein eines Ausflugs in die Berge Rom verlassen und die Grenze zu gewinnen suchen. Unser Gepäck kann hier bleiben, unsere Diener werden es später uns nachführen, ihnen wird man, wenn ich einmal fort bin, keine Hindernisse in den Weg legen. Bereite alles unbemerkt vor und laß einen Wagen bestellen. In einer Stunde müssen wir fort sein, der morgende Tag darf uns nicht mehr auf römischem Gebiet finden.«

Julia küßte noch einmal die Hand ihres Vaters und ging in ihr Zimmer.

Der Graf blieb in tiefe Gedanken versunken auf seinem Lehnstuhl vor dem Kamin sitzen. Eine tiefe Stille herrschte im Zimmer, nur matt drang das Geräusch der Straße durch die geschlossenen Fenster herauf und der leise Ton der Pendelschwingung einer Stutzuhr auf dem Kamin maß in gleichmäßiger Regelmäßigkeit die dahineilenden Sekunden.

Plötzlich zuckte der Graf zusammen und fuhr aus seinem träumenden Sinnen empor, er saß einen Augenblick aufgerichtet in seinem Sessel, lauschend beugte er sich vor, seine Augen öffneten sich weit, wie in tiefem Erstaunen. 289 Dann neigte er sein Haupt näher und näher zu der Öffnung des Kamins, in welchem die letzte Glut erloschen war.

»Es ist seine Stimme,« flüsterte er, »sein eigentümlicher Akzent. Es ist keine Täuschung möglich. Diese einzelnen Worte, welche ich vernommen habe, – welch ein Geheimnis öffnet sich mir da auf so wunderbare Weise! Fast ist es unmöglich, daß er es wagt, hier vor den Augen aller Welt zu erscheinen – und doch –«

Er lauschte wieder einige Augenblicke schweigend, dann ließ er sich auf die Knie vor dem Kamin nieder, beugte sich ganz zu demselben herab und streckte seinen Kopf, soweit es möglich war, in die Öffnung.

Fast eine Viertelstunde blieb er unbeweglich in dieser Stellung, dann richtete er sich wieder empor und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder; sein Gesicht war bleich, seine Lippen zitterten, in tiefen Atemzügen hob und senkte sich seine Brust.

»Entsetzlich,« rief er, »entsetzlich, welch ein furchtbarer Abgrund hat sich da vor meinen Blicken geöffnet! Wenn dieser furchtbare Plan wahnsinnigen Hasses ausgeführt werden sollte, die ganze Welt würde in ihren Fugen erbeben, – und was kann ich tun, ich, der Verurteilte, der Geächtete? Würde man meinem Worte glauben – und ich darf nicht hier bleiben! Darf ich meine Freiheit, darf ich das Glück und die Zukunft meiner Tochter in Gefahr bringen?«

Er ging abermals sinnend auf und nieder.

»Doch vor allem«, sagte er dann, »muß ich wissen, ob mich mein Ohr nicht getäuscht hat, ob es wirklich seine Stimme war, ob seine mächtige, eiserne Hand diesen furchtbaren Plan lenkt und leitet.«

Er trat rasch zu dem neben der Tür hängenden Glockenzug und ließ denselben laut erklingen.

Ein Kellner trat ein.

»Ich bin in meinem Raum ein wenig beschränkt,« sagte der Graf in ruhigem, gleichgültigem Ton, »wäre es nicht möglich, noch ein Zimmer mehr zu erhalten, am liebsten das hier neben meiner Wohnung? Wenn es auch nicht unmittelbar zusammenhängt, so ist es doch leicht, 290 von einer Tür zur anderen auf dem Korridor zu gelangen, und es würde mir sehr nützlich sein, um Besuch empfangen zu können, der mich hier in meinem eigentlichen Wohnzimmer geniert.«

Der Kellner zuckte die Achseln.

»Ich bedaure sehr, Herr Graf,« erwiderte er, »wir würden Ihrem Wunsche gern entgegenkommen, aber es wird sich kaum machen lassen, denn die Zimmer dieser Etage sind sämtlich besetzt, und gerade die unmittelbar hier anstoßenden sind von einem Herrn bewohnt, der wahrscheinlich längere Zeit, vielleicht den ganzen Winter über, hier bleiben wird.«

»Das trifft sich unangenehm«, sagte der Graf. »Wer ist denn der Herr, den mir der Zufall hier zum Nachbar gegeben hat?«

»Mister Brooklane, ein Engländer,« erwiderte der Kellner, »der schon seit einiger Zeit hier wohnt, – er ist allein mit einem Diener hier und bewohnt eine Reihe von vier Zimmern, – wenn der Herr Graf großen Wert darauf legen, das Zimmer nebenan zu haben, so würde sich Mister Brooklane vielleicht bereit finden lassen, dasselbe abzutreten, falls er es, wie ich glaube, entbehren kann. Der Herr Graf müßten dann die Güte haben, ihn selbst darum zu bitten, er ist ein sehr artiger und höflicher Herr und wird vielleicht aus Rücksicht für die junge Gräfin eines seiner Zimmer abtreten.«

»Mir liegt in der Tat viel daran,« sagte der Graf, »und ich will den Herrn gern persönlich um diese Gefälligkeit bitten. Ist er zu Hause?«

»Zu Befehl, Herr Graf; es ist soeben ein junger Künstler zu ihm gegangen mit einer großen Mappe, wahrscheinlich wird er wieder einige Skizzen und Zeichnungen kaufen, er ist sehr freigebig gegen die Künstler und zahlt ihnen gern hohe Preise.«

»So fragen Sie den Herrn,« sagte der Graf, »ob ich ihm meine Aufwartung machen könne.«

Der Kellner ging hinaus und kehrte nach einigen Augenblicken mit der Mitteilung zurück, daß es Mister Brooklane sehr erfreulich sein würde, den Herrn Grafen zu empfangen.

291 Dann schritt er voraus, öffnete die dritte Tür auf dem Korridor und führte den Grafen in einen geschmackvoll und wohnlich eingerichteten Salon mit dem Ersuchen, einen Augenblick zu warten, da Mister Brooklane sogleich erscheinen werde.

Als der Kellner dem Engländer den Besuch des Grafen gemeldet hatte, saß derselbe in einem kleinen, an dem Schlafzimmer gelegenen Kabinett, dessen Wand an die Wohnung des Grafen Rivero stieß, neben einem offenen Kamin, beschäftigt, den Inhalt einer großen Mappe zu betrachten, welche ein junger Mann im einfachen schwarzen Sammetrock, wie ihn die römischen Maler zu tragen pflegen, ihm vorlegte.

Mister Brooklane, – jener Mann mit dem blonden, ergrauenden Haar, welcher in dem auf der Straße della Porta San Sebastiano seiner harrenden Wagen aus der Versammlung der Gesellschaft der Rächer in den Thermen des Caracalla nach dem Albergo di Europa zurückgekehrt war, – erhob, als der Kellner nach kurzem Klopfen die leicht verschlossene Tür öffnete, ruhig mit fragendem, aber vollkommen gleichgültigem Ausdruck das Haupt, indem er eine Zeichnung, die er in der Hand hielt, langsam auf seinen Schoß sinken ließ, so daß die weiße Seite sich nach oben wandte. Als der Kellner ihm den Besuch des Grafen Rivero gemeldet hatte, beauftragte er denselben, den Grafen in den Salon zu führen, und sagte mit einem leicht englisch anklingenden Akzent zu dem jungen Maler, während der Kellner im Begriff war, die Tür wieder zu schließen:

»Wir haben ja die Skizzen durchgesehen, – diese hier wünsche ich zu behalten und bitte Sie um den Preis dafür.«

Der junge Maler, dessen gebräuntes Gesicht, dessen schwarzer, kurzer Bart, dessen dunkle, feurige Augen das alte Quiritenblut der Trasteverer verrieten, neigte ehrerbietig das Haupt.

Der Kellner schloß die Tür.

»Diese Aufnahmen sind gut,« sagte Mister Brooklane in reinem Italienisch, welches nur durch den eigentümlichen, scharfen und bestimmten Akzent sich von dem römischen Dialekt unterschied, – »die Aufnahmen sind gut und lassen 292 die Verhältnisse der Höhe und Entfernung genau erkennen. Aber es fehlt noch an einer Reihe wichtiger Punkte; es ist wesentlich notwendig, zu wissen, wie das Gewölbe sich zu der Ausdehnung der Aula verhält, und ob aus derselben irgendein Weg nach außerhalb mit Leichtigkeit gefunden werden könnte, um die Pulvervorräte hineinzuschaffen und den zündenden Faden zu leiten, dessen Funke alle diese so weit verzweigten Träger der geistlichen Tyrannei hier auf einmal der Vernichtung weihen soll.«

»Es ist nicht leicht,« sagte der junge Maler, »diese Aufnahmen zu machen, der Zutritt zur Aula ist schwer. Nur im Gewande eines Kapuziners habe ich Eingang finden können, alle Messungen habe ich nur durch möglichst gleichmäßige Schritte vornehmen können, alle Zahlen habe ich im Kopfe behalten müssen, das ist eine mühsame und langwierige Arbeit. Aber ich werde sie vollenden,« fuhr er mit blitzenden Augen fort, »Barbarino Falcone ist gewohnt durchzuführen, was er unternommen hat, und bis jetzt hat noch niemand den frommen Kapuzinerbruder beargwöhnt, der voll heiliger Erbauung die Stätten betritt, auf welchen die Vertreter der katholischen Welt aller Erdteile sich versammeln sollen.«

Mister Brooklane stand auf, schloß den Plan, welchen Barbarino ihm gegeben, in einen Schrank mit verschiedenen Fächern und sagte:

»Ich hoffe, bald die ergänzenden Angaben zu erhalten und werde die Dienste nicht vergessen, welche du, mein junger Freund, unserer Sache geleistet hast, dieser großen und herrlichen Sache, welche die Menschen rächen soll für tausendjährige tyrannische Mißhandlung.«

Er schritt dem jungen Mann durch sein Schlafzimmer voran und trat in den Salon, wo er den Grafen mit kalter, etwas steifer Höflichkeit begrüßte.

Barbarino, seine große Mappe unter dem Arm, durchschritt mit ehrerbietiger Verneigung das Zimmer und verließ dasselbe durch die auf den Korridor führende Tür.

»Ich habe mir erlaubt, mein Herr,« sagte der Graf, indem sein Blick sich mit scharfer, forschender Beobachtung auf das Gesicht Mister Brooklanes richtete und namentlich 293 dessen Augen zu erfassen suchte, die sich unter müde herabfallenden Lidern zu Boden senkten, – »ich habe mir erlaubt, Ihre Zeit einen Augenblick in Anspruch zu nehmen, um Ihnen eine vielleicht unbescheidene Bitte vorzutragen. Sie sind allein hier, wie ich höre, und im Besitz einer Reihe von Zimmern, deren Sie vielleicht nicht alle bedürfen, – ich habe eine Dame, meine Tochter, bei mir und bin im Raum beschränkt. Vielleicht würden Sie die Güte haben, mir eines Ihrer Zimmer abzutreten.«

Mister Brooklane sann einen Augenblick nach, als überlege er die an ihn gestellte Bitte. Dann sagte er mit höflichem Ton, immer seine Augen unter den halb verschlossenen Lidern verhüllend:

»Ich bin gern bereit, den Wünschen und Bedürfnissen einer Dame in jeder Weise entgegenzukommen, für meine Person bedarf ich nur wenig Raum, aber ich habe eine Menge von Kunstsachen erworben, welche Platz in Anspruch nehmen. Erlauben Sie mir, daß ich mir die Sache einen Tag überlege und Ihnen dann sagen darf, ob ich mich so einzurichten vermag, daß ich ein Zimmer entbehren kann.«

Er schien die Unterredung für beendet zu halten, der Graf aber, welcher noch immer vergebens einen Blick des verschleierten Auges Mister Brooklanes zu erfassen versucht hatte, sagte im Ton höflicher, gleichgültiger Konversation:

»Sie beabsichtigen längere Zeit hier in Rom zu bleiben, mein Herr? Ich kenne die Stadt und alle ihre Schätze genau und kann vielleicht meine Erkenntlichkeit für Ihr freundliches Entgegenkommen gegen meine Wünsche dadurch beweisen, daß ich mich Ihnen als Führer anbiete.«

»Sie sind sehr freundlich,« erwiderte Mister Brooklane, »ich werde von Ihrem gütigen Anerbieten gern Gebrauch machen. Ich will den ganzen Winter hier bleiben, um alle Kunstschätze Roms zu betrachten und genau zu studieren.«

»Der Winter wird auch in anderer Beziehung interessant werden,« erwiderte der Graf, »durch das hier sich versammelnde Konzil, – doch das wird Sie weniger 294 interessieren, diese Frage wird in Ihrem Vaterlande kaum Interesse erregen.«

»Sie erregt mein Interesse in besonderem Grade, mein Herr,« erwiderte Mister Brooklane, »ich bin Katholik, und Sie werden wissen, daß wir in England strengere und eifrigere Katholiken sind, als unsere Glaubensbrüder in katholischen Ländern.«

»Ich habe versucht,« sagte der Graf, »die Aula zu sehen, in welcher das Konzil gehalten werden soll und welche für die Beratung instand gesetzt wird, aber es ist sehr schwer, dorthin zu dringen, auch höre ich,« fuhr er in gleichgültigem Ton fort, »daß in diesen Tagen beschlossen sein soll, den Sitz der Beratung in einen anderen Raum zu verlegen, da die Aula sich als vollkommen ungeeignet erwiesen haben soll.«

Ein leises Zucken fuhr über das gleichgültige Gesicht Mister Brooklanes, eine Sekunde öffneten sich seine Augen, sein fragender Blick voll Spannung traf den Grafen. Dieser Blick hatte ein eigentümliches Feuer, welches wie von innen heraus durch die bläuliche Pupille hervorleuchtete, – es war ein wunderbar eigentümliches Auge, das man, wenn man es einmal gesehen, unter Tausenden hätte heraus erkennen können, unmittelbar darauf aber senkten sich die Lider wieder herab, und in gleichgültigem, ruhigem Ton sagte er:

»Ich habe einmal Gelegenheit gehabt, die Aula zu sehen, doch mir hat es scheinen wollen, als ob dieselbe nicht ganz für ihren Zweck passe. Nun, man wird ja leicht einen anderen Ort finden können.«

Nach einigen kurzen, allgemeinen Bemerkungen verabschiedete sich der Graf und kehrte, von Mister Brooklane artig bis zur Türe begleitet, nach seiner Wohnung zurück.

»Er ist es,« sagte er, dort mit großen Schritten auf- und niedergehend. »Er versteht es meisterhaft, wie niemand, seine Mienen, seine Haltung, selbst seine Züge und seine Gestalt zu verändern. Auch sind die Jahre über ihn hingegangen und erleichtern es ihm, sich unkenntlich zu machen, aber das Auge kann er nicht verändern, dieser 295 Blick, den ich nur eine Sekunde lang gesehen habe, hat ihn mir verraten, – der Plan ist wahnsinnig, unerhört, fast unausführbar, aber wenn er von dem unergründlichen Geist, von der eisernen und doch so feinen, geschmeidigen Hand dieses Mannes gelenkt wird, der alle Hindernisse überwindet, der allen Nachforschungen entgeht, so kann er dennoch, trotz aller Unwahrscheinlichkeit, trotz aller Unmöglichkeit, gelingen.«

Lange stand er sinnend da.

»Ich muß fort von hier,« sagte er, »ich muß mein künftiges Leben für mich und mein Kind retten. Es ist ja auch keine unmittelbare Gefahr vorhanden, und wenn ich vor diesem ungeheuren Verbrechen warne, so genügt ja die einfachste Aufmerksamkeit, um es zu verhindern, und ich muß diese letzte Pflicht erfüllen, aber erst dann, wenn ich in Sicherheit bin.«

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und füllte einen großen Briefbogen mit den Linien seiner kräftigen und klaren Handschrift, dann siegelte er den Brief mit einem kleinen Petschaft, das er an der Kette seiner Uhr trug, und betrachtete sinnend den erkaltenden Siegellack.

»Zum letztenmal sei dieses Siegel gebraucht,« sagte er traurig, »es wird meiner warnenden Botschaft den unmittelbaren Weg an die rechte Stelle öffnen.«

Julia trat ein. Sie war im einfachen Kostüm für eine Landpartie gekleidet, ein leichter Plaid hing über ihrem Arm.

»Ich bin bereit, mein Vater,« sagte sie, »laß uns gehen, – einem Leben voll Frieden und stillen Glückes entgegen.«

Der Diener des Grafen meldete, daß der Wagen bereit sei.

Der Graf reichte seiner Tochter den Arm.

»Ich werde spät in der Nacht wiederkommen,« sagte er zu seinem Diener. »Erwarte mich und trage diesen Brief im Laufe des Abends nach dem Vatikan, in die Wohnung Seiner Eminenz des Kardinalstaatssekretärs.«

Er überreichte dem Diener den Brief, den er vorher geschrieben, schritt ruhig und lächelnd mit seiner Tochter sprechend die Treppen hinab und stieg in den vor dem Hotel haltenden Wagen.

296 »Nach dem Campo Militare!« rief er dem Kutscher zu. »Haben wir noch Zeit, den Monte Mario zu erreichen?«

»Gewiß, gewiß, wenn Sie mit der Rückkehr nicht eilig sind, Exzellenza,« erwiderte der Kutscher, und mit einem leichten Peitschenschlag trieb er die Pferde an, während der Graf mit einer Handbewegung die tiefe Verneigung der Kellner erwiderte.

An einem kleinen, einfachen Hause vor der Porta Angelika befahl er zu halten.

Erstaunt blickte Julia ihn an.

»Ich habe noch einen Besuch zu machen,« sagte der Graf, »und zugleich die Pflicht zu erfüllen, einen verhängnisvollen Fehler meines früheren Lebens wieder gutzumachen. Begleite mich, meine Tochter, du kennst die Sache, um die es sich handelt, ich habe keine Geheimnisse vor dir.«

Er befahl dem Kutscher zu warten, stieg die Treppe hinauf und zog die Glocke an der Tür eines Vorsaales im ersten Stock.

Eine alte Dienerin öffnete.

»Ist der Marchese Pallanzoni zu Hause?« sagte der Graf.

»Zu Befehl, Exzellenza,« sagte die Alte mit einem erstaunten Blick auf diesen so vornehmen Herrn und auf die so schöne, elegante Dame an seiner Seite. »Der alte Herr muß wohl zu Hause sein, da er, von der Gicht gelähmt, sich schon seit lange kaum von seinem Lehnstuhl erheben konnte.«

Sie schritt dem Grafen voran und führte denselben durch das Vorzimmer in ein helles, geräumiges Wohngemach, in welchem in einem großen Lehnstuhl, die Füße auf ein hohes Kissen gestützt und in Decken gehüllt, ein alter Mann von fünfundsechzig bis siebenzig Jahren in dunklem Hausrock saß. Die Züge dieses Mannes waren von edlen Linien, in seinen dunklen Augen funkelte noch der letzte Schimmer früheren Feuers, aber das ganze Gesicht war zerwühlt von Leidenschaften und körperlichen Schmerzen, ungeordnet hingen die spärlichen weißen Haare von 297 seinen Schläfen herab, und matt lagen die welken Hände auf seinem Schoß.

Beim Eintritt des Grafen machte er einen schwachen Versuch, sich zu erheben, aber kraftlos sank er wieder zusammen und sagte schmerzlich lächelnd mit einer hohlen Stimme:

»Verzeihen Sie, Herr Graf, wenn ich mich nicht erheben kann, um Sie zu begrüßen, meine Kraft ist zu Ende. Sie haben mich der Not und dem Elend entzogen, aber Sie werden mich dem Leiden und der Krankheit des Alters nicht entziehen können, – diesen Leiden, die ich so sehr verdient habe durch alle Sünden meines früheren Lebens. – Was führt Sie zu mir? Fast muß ich fürchten, daß Sie es müde geworden sind, mich mit so unverdienter Güte zu überhäufen, und daß Sie mich meinem traurigen, elenden Schicksal wieder überlassen wollen.«

Der Graf machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

»Ich komme, Sie um einen Dienst zu bitten, Herr Marchese,« sagte er.

Der Marchese sah ihn verwundert an.

»Einen Dienst von mir?« sagte er, mit dem Kopf schüttelnd, »welchen Dienst könnte ich armer, gebrochener Mann noch leisten? Aber sprechen Sie,« fuhr er fort, »befehlen Sie über mich.«

Und indem er sich zur Seite beugte, zog er mit seiner zitternden Hand einen Sessel für Julia heran.

»Sie haben«, sagte der Graf, »auf meinen Wunsch einer Dame, die ich Ihnen einst zuführte, Ihre Hand und Ihren Namen gegeben.«

Der alte Marchese blickte noch erstaunter auf den Grafen und ließ einen schnellen, forschenden Blick über Julia hingleiten, als wollte er fragen, ob etwa jene Dame gestorben sei und er dieser jungen, schönen Erscheinung hier abermals seinen alten und edlen Namen geben solle.

Der Graf bemerkte diesen Blick und sprach mit strengem Ton weiter:

»Jene Dame, mein Herr, welche in Paris lebt, hat sich unwürdig gemacht, Ihren Namen zu führen.«

298 »Ah,« sagte der Marchese, und ein bitteres, fast höhnisches Lächeln zuckte um seine Lippen, – »dieser Name war einst sehr edel und sehr rein, – doch das ist lange her, – lange, lange, und jene Dame hat nicht viel mehr daran zu verderben gehabt.«

»Jene Frau,« fuhr der Graf fort, »welche sich Madame Marchesa nennt, sollte, wie ich Ihnen gesagt habe, einer großen und heiligen Sache dienen, sie hat sich dieses Dienstes unwürdig gemacht und muß aus der Stellung entfernt werden, in welcher sie schadet und verderblich werden kann. Deshalb wünsche ich, daß Sie sogleich einen der besten Advokaten Roms zu sich rufen lassen. Sie werden durch denselben Ihrer Gemahlin, der Marchesa Pallanzoni, schreiben lassen, daß Sie die ihr erteilte Erlaubnis, in Paris zu leben, zurücknehmen, daß Sie ihr befehlen, sogleich zu Ihnen zurückzukehren um Sie in Ihrer Krankheit zu pflegen, und daß Sie ihr nach Paris keine Geldmittel mehr senden würden.«

»Ah,« sagte der Marchese abermals, »es scheint, ich habe meiner Gemahlin Gelder gesendet.«

»Sie hat in Ihrem Namen,« erwiderte der Graf, »die Mittel zu ihrer dortigen glänzenden Existenz erhalten, diese Mittel werden ihr nicht ferner zugehen, aber es ist nicht nötig, daß irgend weiter über die Quelle, aus welcher dieselben geflossen sein möchten, gesprochen werde. Sie werden dabei bleiben, daß sie von Ihnen kommen.«

Der Marchese neigte zum Zeichen gehorsamer Zustimmung das Haupt.

»Wenn die Marchesa Ihrem Befehl, zu Ihnen zurückzukehren, nicht Folge leistet, was bestimmt geschehen wird,« fuhr der Graf fort, »so werden Sie durch Ihren Notar die Scheidung von Tisch und Bett beantragen und den Prozeß, er koste, was er wolle, durchführen. Zugleich werden Sie in einem großen Pariser Journal eine Anzeige veröffentlichen, in welcher Sie jedermann davor warnen, der Marchesa Pallanzoni etwas auf Ihren Namen zu leihen.«

»Hat man meiner Gemahlin auf meinen Namen etwas geliehen?« fragte der Marchese im Ton selbstspottenden Humors.

299 Der Graf antwortete nicht. Er zog eine kleine Karte aus seiner Schreibtafel, setzte eine kurze Notiz darauf und reichte sie dem alten Mann hin.

»Die Adresse der Marchesa und darunter diejenige meines Bankiers in Wien, durch den Sie stets Nachricht zu mir gelangen lassen können, und hier«, sagte er, indem er ein Paket Banknoten in die zitternde Hand des Marchese legte, »die Mittel für die ersten Auslagen an Ihren Rechtsbeistand. Ich erwarte, daß in küzester Zeit jene Person, welche sich des in sie gesetzten Vertrauens unwürdig erwiesen, unschädlich gemacht sei. Und nun noch eins,« sagte er, »haben Sie Legitimationspapiere?«

»Ich habe einen Paß,« erwiderte der Marchese, »welcher von der römischen Regierung ausgestellt, aber allerdings seit mehreren Jahren nicht erneuert worden ist.«

Er öffnete die Schublade eines im Bereich seiner Hand stehenden Schranks, suchte einige Augenblicke darin herum und reichte dem Grafen ein großes zusammengefaltetes Stück Papier.

Dieser überflog es und sagte:

»Das genügt, ich bitte, mir dies Papier auf einige Zeit zu überlassen und werde es Ihnen dann wieder zurückgeben.«

Der Marchese war gewohnt, dem Grafen schweigend und unbedingt zu gehorchen. Er gab daher seiner Verwunderung keine Worte und neigte nur zustimmend den Kopf.

»Nun leben Sie wohl,« sagte der Graf, indem er dem Marchese mit dem Ausdruck teilnehmenden Mitleids die Hand reichte, »ich werde Gott bitten, daß er Ihre Leiden mildere, und seien Sie vollkommen beruhigt, – was ich Ihnen gewährt, wird Ihnen nicht entzogen werden.«

Er reichte Julia den Arm und führte sie die Treppe hinab zum Wagen.

»Jetzt habe ich alles getan,« sagte er tief aufatmend, als sie auf der alten Via Triumphalis vor der Porta Angelika dahinfuhren, »um diesem dämonischen Weibe wenigstens die Macht zu nehmen, welche ich in verhängnisvoller Verblendung einst in ihre Hand legte. Was sie jetzt noch 300 tun kann, wird nicht in mein Schuldbuch eingetragen werden.«

Der Abend dunkelte bereits, als der Monte Mario sich vor ihnen erhob.

Die Straße war leer. Der Graf rief dem Kutscher, zu halten.

»Mein Freund,« sagte er, »ich wünsche so schnell als möglich die Grenze zu erreichen, kannst du mich dahin führen?«

Der Kutscher sah den Grafen ganz erstaunt an.

»Das kann ich wohl, Exzellenza, auf sicherem Wege, – und meine Pferde sind stark und kräftig, – aber –« sagte er zögernd und sein Blick ruhte mit einem eigentümlich fragenden und forschenden Ausdruck auf den Insassen seines Wagens, welche er für vornehme und elegante Touristen gehalten hatte, und welche nun plötzlich ein so auffallendes und verfängliches Ansinnen an ihn stellten.

Der Graf zog eine goldgefüllte Börse und eine Brieftasche mit Banknoten aus seiner Tasche.

»Siehst du, mein Freund,« sagte er, »das ist alles, was ich bei mir führe, es ist genug, um dich zeitlebens zu versorgen. Es soll dein sein, sowie du mich sicher an die Grenze geführt hast, und ich will nur so viel davon behalten, um mit der Eisenbahn zur nächsten Stadt zu fahren. Du wirst begreifen, daß es dein Vorteil ist, mich nicht den Briganten in die Hände zu führen. Du würdest das, was ich besitze, mit ihnen teilen müssen, und es würde nur wenig auf dich fallen, während, wenn du mich ehrlich und sicher zur Grenze bringst, alles auf rechtmäßige Weise dein ist.«

Dem Kutscher schien das einzuleuchten.

»Damit du ganz sicher bist,« fuhr der Graf fort, »will ich die Hälfte meiner Barschaft in deine Hände legen, die andere Hälfte erhältst du, wenn ich die Grenze erreicht habe. Nimmst du an?«

»Ich nehme an,« erwiderte der Kutscher, »und Eure Exzellenza sowie die schöne Signora sollen mit mir zufrieden sein.«

Der Graf reichte dem Kutscher die Börse, während er die Brieftasche wieder in seine Tasche steckte, dann zog er 301 vor den Augen des seinen Bewegungen aufmerksam folgenden Vetturins einen kleinen, zierlichen Revolver mit sechs Läufen aus der Tasche, spannte den Hahn und legte die Waffe neben sich.

»Vorwärts!« rief er dann.

Der Kutscher schwang seine Peitsche, die kräftigen Pferde griffen in scharfem Trabe aus, und in ernstes Schweigen versunken, fuhren der Graf und seine Tochter durch die in dunkelrotem Abendlicht erglühte Landschaft dahin.

 


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