Gregor Samarow
Kreuz und Schwert
Gregor Samarow

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

In höchster Unruhe und Aufregung wogte die Bevölkerung von Paris auf den Straßen umher. Diese unerwartet schnell aufeinander folgenden Nachrichten von verlorenen Schlachten, welche auch nicht durch eine einzige Siegesnachricht unterbrochen waren, hatten um so erschütternder gewirkt, als jene gleich zu Anfang des Feldzugs verbreitete Nachricht über die Aufreibung der ganzen deutschen Armee und die Gefangennahme des Kronprinzen von Preußen die Siegeszuversicht bis auf das äußerste gesteigert hatte.

Die Wirkung, welche die den Gefühlen der Pariser so wenig entsprechende Reihenfolge von verlorenen Schlachten hervorbrachte, war indes keine niederschlagende gewesen, und die Überzeugung von der Unbesiegbarkeit der französischen Waffen war durch diese so handgreiflichen und empfindlichen Lehren noch nicht erschüttert. Das Nationalgefühl sträubte sich, die Überlegenheit der deutschen Waffen anzuerkennen, und man suchte für deren überraschende und unaufhaltsame Erfolge andere Gründe.

484 Die Vernünftigeren fanden diese Grunde in der Unfähigkeit der Führer. Die Masse suchte überall den Verrat – als ob es möglich und denkbar sei, daß der Kaiser und die Marschälle das kaiserliche Frankreich verraten könnten, während doch ihrer aller Stellung und Existenz ausschließlich auf dem siegreichen, dem mächtigen Frankreich beruhte.

Die Stadt Paris, welche nun seit zwanzig Jahren fast das Bild der Ruhe und der regelmäßigen Ordnung dargeboten hatte, begann eine revolutionäre Physiognomie anzunehmen, und allmählich tauchten aus den Tiefen der entlegenen Stadtviertel jene düsteren, unheimlichen und fremdartigen Gestalten empor, welche man niemals in dem glänzenden Treiben der kaiserlichen Hauptstadt gesehen hatte und welche jedesmal auf der Oberfläche erscheinen, sobald die ersten Windstöße großer politischer Orkane durch die Luft zittern. Der General Trochu hatte die Nationalgarde und die Garde mobile zu einer Armee organisiert, welche hübsch genug aussah, wenn sie über die Boulevards defilierte, die voll Begeisterung ihre Käppis auf die Bajonettspitze steckte und dem General zujubelte, so oft er sie bei sich vorbeidefilieren ließ, was er mit besonderer Vorliebe fast täglich tat.

Aber ganz vermochte diese so vortrefflich aussehende Armee die Pariser nicht zu beruhigen, denn in zu bedenklicher Nähe der Hauptstadt bewegten sich bereits diese deutschen Truppen, welche man in einem einzigen Vorstoß bis Berlin hatte zurückwerfen wollen, und mit ängstlicher Spannung richteten sich aller Blicke hinaus nach Osten hin, wo Bazaine in Metz eingeschlossen war und wo Mac Mahon, der Held von Magenta, zu welchem das Vertrauen trotz seiner Niederlage unerschüttert blieb, die Armee von Chalons gesammelt hatte, um den eingeschlossenen Bazaine zu entsetzen.

Es lag wie ein dumpfer Traum auf dieser ganzen, so leicht erregbaren Bevölkerung von Paris. Man konnte und wollte nicht daran glauben, daß Frankreich noch weiter geschlagen werden könnte. Es mußte ja täglich die Nachricht anlangen, daß die von dem Grafen Palikao so bestimmt 485 in Aussicht gestellten Siege endlich erfochten seien, und diese unruhige, gärende Menge, deren Aufregung von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde wuchs, zog bald unter begeisterten Kriegsgesängen über die Boulevards hin, bald drängten sie sich vor den Tuilerien und vor dem Palais Bourbon zusammen, um die neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz zu vernehmen.

Während so ganz Paris in fieberhafter Aufregung zitterte, saß in einem kleinen Hinterzimmer des Café de Madrid eine Gesellschaft von etwa zehn bis zwölf Personen beisammen.

Die vorderen Räume des Cafés waren dicht gefüllt von einer unaufhörlich zu und ab strömenden Menge, welche in lauter und lärmender Unterhaltung sich ihre Vermutungen, ihre Hoffnungen und Befürchtungen mitteilte.

In dem abgeschlossenen Hinterraum aber, welcher durch eine Glastüre von den übrigen Lokalitäten abgetrennt war, herrschte ein dumpfes, finsteres Schweigen, und die hier versammelten Personen schienen von den großen Ereignissen da draußen wenig berührt zu werden, oder aber durch dieselben so niedergeschlagen zu sein, daß sie die sonst so lebhafte Unterhaltungsgabe, welche den Parisern unter allen frohen und traurigen Verhältnissen eigentümlich bleibt, ganz verloren hatten.

Hier saß der fenische General Cluseret, ein kräftig gebauter Mann mit starkem, scharf geschnittenem Gesicht, kurzem Haar und militärisch gestutztem Bart, in dessen brennenden Augen ein dunkles, dämonisches und wildes Feuer blitzte, während um seine festgeschlossenen Lippen ein Zug höhnischer Verachtung lag. Er stürzte ein kleines Glas jenes starken, meist glühend servierten französischen Punsches hinunter und rief, indem er das Glas von sich stieß und sich gegen die Lehne seines Stuhles zurückwarf, mit dem Ton unterdrückten Grimmes:

»Es ist alles vergeblich! Diese Welt ist eine Herde von Schafen, nichts Besseres wert, als von den Wölfen gefressen zu werden, die sie zu ihren Tyrannen gemacht haben. Ich werde mich wahrlich auf die Seite dieser Tyrannen schlagen,« rief er mit lautem Hohnlachen, »das ist 486 in der Tat ein besserer Beruf, als sich Mühe zu geben und zu arbeiten für diesen Pöbel von Sklaven, der noch stolz auf seine Ketten ist.«

In düsterem Schweigen saßen die übrigen einen Augenblick nach diesen heftigen Worten.

Varlin, der Buchbinder, welcher die Internationale, die er einst mit Tolain gegründet, zuerst auf den Weg der politischen Konspiration geführt hatte, blickte finster vor sich nieder.

Pindi, der Zimmermann, welcher die Statuten der Gewerkvereine organisiert hatte, ein noch junger Mann mit blassem, nervösem Gesicht voll geistigen Lebens, stand auf und ging schweigend in dem kleinen Zimmer auf und nieder.

Auch Vesinier, der sonst so scharfe und schlagfertige Redner, war noch mehr als sonst gebückt und in sich zusammengezogen, und sein sonst so höhnisches Gesicht zeigte nur tiefe Niedergeschlagenheit und Entmutigung.

Nur der alte Delescluzes hob seinen, an die alten Philosophen erinnernden Kopf mit dem grauen Haar und Bart und den hellen, klaren Augen und der langen, scharfgeschnittenen Nase empor und sagte:

»Sie müssen nicht ungerecht sein gegen dieses Volk, welches so lange unter dem Druck der Tyrannei seine eigene Kraft zu brauchen verlernt hat. Es muß erst wieder aufatmen, zu sich selber kommen, dann werden wir es organisieren und leiten können. In diesem Augenblick wirkt der Stumpfsinn der langen Unterdrückung und die Betäubung der so plötzlichen Schläge zusammen, um dem öffentlichen Geist die Elastizität zu rauben. Warten wir –«

»Warten!« rief Cluseret, indem er verächtlich die Achseln zuckte und mehrere Male mit den Fingern schnippte. »Worauf sollen wir warten, worauf können wir überhaupt noch warten, nachdem diese Augenblicke unbenutzt vorübergegangen sind? Dieser Kaiser, welcher das Volk so lange geknechtet und unterdrückt, hat es jetzt in einen Abgrund von Schande und Elend gestürzt. Seine Generale sind geschlagen, seine Macht ist gebrochen, fast wie ein Geächteter irrt er an den Grenzen des Landes mit einer zweimal besiegten Armee umher, und dennoch ist er noch der Kaiser, 487 dennoch erhebt sich keine Stimme aus diesem entnervten Volk, um seine Absetzung auszusprechen, um ihn zu verurteilen und alle seine Kreaturen der vernichtenden Strafe zu überweisen – nein, dieses Volk, das so lange entbehrt und gearbeitet hat für das elende Kaiserreich, hat jetzt keinen anderen Gedanken, als sich in dessen Uniformen zu stecken, die Waffen zu ergreifen und hinauszuziehen, um sein Blut zu vergießen für das, was man die Verteidigung, die Rettung des Vaterlandes nennt in kindischer Verblendung, was doch nichts weiter ist als die Rettung dieses tyrannischen, blut- und goldgierigen Kaisertums. Ja,« fuhr er nach einem tiefen Atemzug fort, indem er seine brennenden Blicke über die finsteren Gesichter Varlins und der übrigen gleiten ließ, – »ja – es ist wahr, zur Schande Frankreichs, daß dieses Volk sich erhebt, um das Kaisertum zu schützen, – um diesem elenden Zerrbild eines Cäsars die Möglichkeit zu geben, einen halbwegs anständigen Frieden zu schließen und dann hierher zurückzukommen, um von neuem seinen Fuß auf euren Nacken zu setzen!«

»Niemals!« rief Varlin, das Auge mit dem stechenden, zuckenden Blick von unten aufschlagend, – »niemals, – er darf nicht nach Paris zurückkehren –«

»Darf nicht?« fiel Cluseret ein, indem er abermals laut und höhnisch auflachte, – »darf nicht? – und warum darf er nicht? – werdet ihr ihn daran hindern, – ihr, die ihr euch doch geduldig beugt vor dieser lächerlichen Regentin, die in seinem Namen hier Dekrete erläßt und die diesem Gecken von Trochu schon den Marschallstab zeigt, um ihn, während die fremden Tyrannenknechte von außen heranrücken, auf diejenigen schießen zu lassen, welche etwa meinen möchten, daß Frankreich besser regiert werden könnte als durch Madame Napoleon? – Schämt euch,« sagte er, die Hand leicht auf Varlins Schulter legend, – »schämt euch, – ihr habt mir das Kommando eurer Armee angeboten, – dieser Armee, die ihr hier organisieren wolltet, während ich die amerikanischen Sektionen formierte, – ihr habt mich von New York hierhergerufen, – ich bin mit Freuden eurem Rufe gefolgt, indem ich euch sagte: Wenn ich komme, so wird es heißen: Wir oder nichts, Paris wird 488 unser sein oder Paris wird aufgehört haben zu existieren – – und nun?« fragte er dumpf, – »ich bin gekommen, – ich habe alles so günstig gefunden als möglich, – die Prätorianer des Tyrannen sind weit von Paris entfernt, – sie sind geschlagen, – das Schwert des Kaiserreichs ist zerbrochen, – wo aber,« rief er mit schneidendem Ton, – »wo ist die Armee des Volkes, die ich führen soll?«

Ein lauter, vielstimmiger Jubelruf drang vom Boulevard her durch die vorderen Räume herein.

»Hört ihr sie,« rief Cluseret, – »hört ihr die Armee des Volkes?« – Sie jubeln diesem schwatzhaften Gouverneur von Paris zu, der sie hinausführen will, um sie im Kampf gegen die Feinde des Kaisers schlachten zu lassen und um mit ihren Leichen diesen schwankenden Thron zu stützen. – Ich will zurückkehren über den Ozean und den Staub Europas von meinen Füßen schütteln, – denn diese alte Welt ist verloren für die Freiheit, – verloren und versunken in eigener Jämmerlichkeit und Schwäche.«

Die Rufe draußen wurden lauter und lauter, man hörte, wie in den vorderen Räumen alles an die Türen und Fenster lief – und vive Trochu!vive la garde nationale! – ertönte es im Café selbst durch die Glastüre des Hinterzimmers.

Varlin sprang auf.

»Es muß etwas geschehen!« rief er, – »so darf es nicht weiter gehen, – wir müssen handeln, – ein Sieg draußen und unsere Sache wäre verloren.«

»Sie ist verloren«, – sagte Cluseret achselzuckend und wendete sich zur Tür.

Delescluzes trat ihm entgegen und streckte die Hand aus, um ihn zurückzuhalten.

Die anderen eilten ebenfalls herbei – alles sprach durcheinander.

Da öffnete sich rasch die Tür und in die lebhaft erregte Gesellschaft trat lächelnd und die Melodie einer Chansonnette zwischen den Zähnen pfeifend Raoul Rigault, gekleidet mit der ihm eigentümlichen zweifelhaften Eleganz, den Hut seitwärts auf den Kopf gedrückt, ein Glas vor den großen, etwas blöde blickenden Augen, ein kleines 489 Stöckchen in der Hand, eine imitierte Regaliazigarre im Munde.

Ihm folgte ein alter, fast sechzigjähriger Mann von kräftiger Haltung und noch jugendlich elastischen Bewegungen, dessen ernstes, regelmäßig und scharf geschnittenes Gesicht die Züge des Mr. Brooklane zeigte, der im Albergo di Europa in Rom an der Seite des Grafen Rivero gewohnt hatte, – nur trug er den weißgrauen Bart nicht und seine ganze Erscheinung zeigte nicht wie dort die Eleganz des vornehmen Mannes, sondern die reinliche Einfachheit eines Arbeiters in seiner Sonntagstracht. Seine Augen waren durch eine dunkle, graue Brille bedeckt.

Mit seinem unzerstörbaren Lächeln auf den Lippen blickte Raoul Rigault ganz verwundert auf alle diese finsteren und aufgeregten Gesichter hin.

»Nun, meine Freunde,« rief er, mit dem Stöckchen an seinen etwas abgenutzten Stiefel schlagend, – »was gibt es? – ihr scheint unzufrieden zu sein; – warum? – ich begreife das nicht, in einer Zeit, in welcher die Ereignisse uns die Hälfte unserer Arbeit abnehmen!«

»Sie werden uns unsere ganze Arbeit abnehmen,« rief Cluseret, indem er versuchte, an Raoul Rigault vorbei nach der Tür zu gelangen, – »unsere ganze Arbeit, – und deren Frucht dazu, – das geschlagene Kaiserreich wird ein noch schlimmerer Tyrann sein als je vorher –«

»Das Kaiserreich?« – rief Raoul Rigault ganz erstaunt, – »das Kaiserreich? – wer spricht denn noch davon? –«

»Jene Haufen da draußen,« sagte Cluseret, die Zähne aufeinander beißend, – »jene Haufen, die ich nicht mit dem edlen Namen des Volkes bezeichnen will, – sie rufen zum Kampf gegen die Fremden, unter deren Schlägen der lächerliche Thron dieses Augustulus zusammenbrechen müßte, wenn sich nicht dies – Volk – erhöbe, um ihn zu verteidigen!«

»Hört mich an, meine Freunde,« sprach Raoul Rigault mit einem überlegenen Lächeln, – »hört mich an! Ihr seid alle älter und reicher an Erfahrungen als ich, – aber –« er schüttelte achselzuckend den Kopf, – »ich sehe doch 490 klarer als ihr! Es geschieht auf meinen Antrieb und unter Leitung meiner Freunde, daß jene da draußen schreien und diesem kleinen pathetischen Trochu den Kopf verdrehen, daß er sich für den Retter des Vaterlandes, für einen Jean d'Arc hält.«

Und selbstgefällig dieses Wortspiel belächelnd, setzte er sich vor dem Tische nieder, ließ sein Augenglas herabfallen und sah mit seinen stumpfen Augen die Gesellschaft an, während sein Begleiter sich hinter ihn stellte,

»Sie«, rief Cluseret, – »Sie regen diese Menge an, – Sie unterstützen das Kaiserreich? –«

»Das ist lächerlich, – das ist vermessen, – das ist kindisch!« – rief man durcheinander.

Raoul Rigault hob die Hand mit seinem Stöckchen empor.

»Ich habe gesagt: hört mich an,« – sprach er mit ruhiger, etwas näselnder Stimme, – »und ihr könnt in der Tat nichts Besseres tun, – denn während ihr hier brütet und tobt, habe ich beobachtet – überlegt – gehandelt.«

Das unruhige Stimmengewirr schwieg, – man setzte sich, Cluseret blieb, die Hand auf den Tisch gestützt, vor Raoul Rigault stehen, den brennenden Blick auf das blasse, etwas aufgeschwemmte, gleichgültige Gesicht des jungen Mannes gerichtet.

»Zunächst«, fuhr dieser fort, – »habe ich euch hier Herrn Antonio Valori vorzustellen, welcher von Italien, von Rom kommt und euch Nachrichten von dort zu bringen hat.«

Er deutete auf den Mann mit der grauen Brille, welcher neben Raoul Rigaults Stuhl trat und leicht den Kopf neigend und in sicherer Haltung, ohne eine Spur von Verlegenheit oder Befangenheit, in fast akzentlosem Französisch sprach:

»Ich habe euch eine Botschaft zu bringen – und eine Aufforderung an euch zu richten.«

»In wessen Auftrag?« fragte Varlin, indem er einen forschenden Blick auf den Fremden richtete.

»Im Auftrage«, erwiderte der Fremde kalt und ruhig, »der Freunde der Freiheit in Italien. Ich habe keine 491 Legitimation«, fuhr er fort. »Es bedarf auch derselben nicht. Es genügt, daß die Botschaft und die Aufforderung an euch gelangt. Eure Sache wird es sein, darnach zu handeln. Die Befreiung der Welt«, sprach er weiter, »hängt von der Freiheit der Völker lateinischen Stammes ab, denen die übrigen folgen werden, weil sie ihnen folgen müssen, und die Freiheit der lateinischen Völker war niedergedrückt durch das Papsttum und das französische Kaiserreich, welche sich gegenseitig unterstützten, um die Welt in Fesseln zu halten. Der Augenblick der Befreiung ist da. Das französische Kaiserreich ist gezwungen gewesen, in seiner Not um die eigene Existenz seine Hand von Rom zurückzuziehen, und in kürzester Zeit werden die Truppen des Königs Viktor Emanuel, welcher der Diener der Revolution ist und der Republik die Wege bereitet, in Rom einziehen und damit die Befreiung Italiens vollenden, indem sie den einen Mittelpunkt der Welttyrannei für immer zusammenbrechen.«

»Ist das gewiß?« fragte Cluseret.

»Es ist so gewiß,« erwiderte der Fremde, »daß die militärischen Maßregeln bereits vollkommen vorbereitet sind, und daß die kurze Zögerung, welche die persönlichen Gefühle des Königs Viktor Emanuel noch veranlassen, in kurzem überwunden sein wird.«

»Dort handelt man«, rief Cluseret, die Hand auf den Tisch schlagend, »und hier –«

»Hier muß man gleichfalls so handeln«, sagte der Fremde. »Hier muß man vor allem so schnell als möglich das in allen seinen Fugen krachende Kaiserreich zusammenschlagen, damit es für immer unmöglich werde, dem Papsttum noch im letzten Augenblick Hilfe zu bringen oder dasselbe etwa später wieder aufzurichten.«

»Ihr hört es,« rief Cluseret, »ihr hört es. Und dabei schreit dies verblendete Volk nach Waffen, um gegen die Feinde des Kaiserreichs zu kämpfen!«

Raoul Rigault stand auf.

»Ihr habt die Botschaft unserer Freunde in Italien gehört,« sagte er, indem er sein Glas wieder vor das Auge drückte. »Hört nun, was geschehen muß, um in ihrem Sinn zu handeln und auch unsererseits unsere Pflicht zu 492 erfüllen. Ich weiß,« fuhr er fort, »daß Monsieur Napoleon, welcher ein wenig das Wanken seines Thrones verspürt, den dringenden Wunsch hegt, mit der Armee, welche er bei sich hat, unter die Mauern von Paris zurückzukehren, weil er nur ein sehr mittelmäßiges Vertrauen zu diesen glänzenden Truppen des Generals Trochu hegt. Er kalkuliert ganz richtig,« sagte er, mit seinem Stöckchen einige Male durch die Luft schlagend, »denn hier unter den Mauern von Paris würde er Gelegenheit haben, mit den Herren Preußen bald zu einem Friedensschluß zu kommen, und dann würde es ihm nicht schwer werden, seine gute und getreue Residenz wieder in die wünschenswerte Ordnung zu bringen. Und würden wir dann etwas unternehmen, so würden jene Soldaten von Weißenburg und Fröschweiler sehr geneigt sein, sich hier auf dem Straßenpflaster die Lorbeeren zu pflücken, welche sie auf den Schlachtfeldern nicht erreichen konnten. Die Ausführung dieses Planes, welchen auch der Marschall Mac Mahon von seinem militärischen Standpunkt mit vollem Recht unterstützt und billigt, müßte um jeden Preis hintertrieben werden, wenn wir aus diesen Niederlagen des Kaiserreichs unsere Früchte ziehen wollen. Ich habe deshalb überall die Bevölkerung von Paris lauter und lauter rufen lassen, daß man nach Metz ziehen müsse, um den heldenmütigen Marschall Bazaine, der sich dort hinter sichere Mauern zurückgezogen hat,« fügte er hohnlachend hinzu, – »zu befreien. Und dieser vortreffliche General Trochu unterstützt mich dabei auf das ausgezeichnetste, indem er überall pomphaft verkündet, daß er stark genug sei, um Paris zu verteidigen, – er wünscht natürlich den Kaiser und die Armee durchaus nicht hierher zu ziehen, da bei deren Anwesenheit die Despotie seiner Herrschergewalt bald ausgespielt wäre. Mac Mahon«, fuhr er fort, »hat nun seinen Marsch nach dem Norden, der ihn mitten in die feindliche Armee hinein und zum kaudinischen Joch führen muß, angetreten. Aber noch einmal hat man in Courcelles angehalten; Herr Rouher, der mit dem Instinkt der Selbsterhaltung erkannt hat, wo die einzige Möglichkeit des Kaiserreichs liegt, ist dorthin geeilt und ist, wie ich ebenfalls bestimmt weiß, mit einer Order des Kaisers 493 zurückgekommen, welche den Marschall Mac Mahon zum Chef der Armee von Paris ernennt und den Rückmarsch der Armee hierher anordnet, dessen Ausführung das Kaiserreich wahrscheinlich retten würde. Dies ist die augenblickliche Lage,« fuhr er in so leichtem Ton fort, als spräche er von den gleichgültigsten Tagesereignissen, – »in diesem Augenblick werden sich die ausgezeichneten Minister, welche den Herren Grammont und Ollivier folgten, in den Tuilerien versammeln, um die Botschaft des Kaisers zu beraten. Es ist durchaus notwendig, daß der Plan des Kaisers verworfen werde und Mac Mahon den bestimmten Befehl erhalte, nach der belgischen Grenze weiter zu marschieren, um von dorther Bazaine in Metz zu erreichen.«

Ein Blitz des Verständnisses leuchtete in dem Blick Cluserets auf. Seine finsteren Züge erhellten sich und schweigend nickte er mehrmals mit dem Kopf.

»Aber wenn nun die Vereinigung mit Bazaine gelingt?« fragte Varlin, »wenn nun jene Armeen, bei denen der Kaiser sich selbst befindet, einen Erfolg erringen –«

»Das ist unmöglich,« fiel Raoul Rigault mit überlegener Miene ein, indem er eine Karte aus der Tasche zog und auf dem Tisch ausbreitete. »Seht hier,« fuhr er fort, indem er mit dem Finger auf diese Karte deutete, »hier steht die feindliche Armee – hier die eine, dort die andere. Auf dieser Linie zieht der Kaiser mit der niedergeschlagenen und entmutigten Armee Mac Mahons wie ein untergehendes, verblassendes Meteor, und hier,« sagte er, indem er die Spitze seines Stöckchens fest auf den Punkt der Karte stützte, »hier wird es sein, hier werden sie ihn fangen. Hier wird dieser stolze Adler, der so lange Frankreich mit seinen Krallen zerfleischte, in den Staub niedersinken.«

Cluseret war mit scharfer Aufmerksamkeit den Bewegungen gefolgt, welche die Hand Raoul Rigaults über die Karte hin gemacht hatte.

»Es ist wahr,« rief er lebhaft, »es ist wahr, es kann nicht anders kommen! Er ist verloren, wenn er dorthin geht!«

Und mit einer gewissen Bewunderung blickte er auf Raoul Rigault, welcher lächelnd und unbeweglich dastand.

494 »Ihr seht,« fuhr der junge Mann dann immer in demselben leichten Ton fort, »daß, wenn jene Armee, welche Herr Napoleon noch um sich hat, zertrümmert sein wird, wenn er selbst flüchtig oder gefangen ist, daß dann diese Bande, welche sich in diesem Augenblick noch auf dem possenhaften Thron hier breit macht, von selbst nach allen vier Winden verfliegen und daß uns die Zukunft gehören wird. Es kommt also alles darauf an, daß jetzt in dem Tuileriengarten und auf dem Tuilerienplatz so laut als möglich geschrien wird: ›Nach Metz! Zur Befreiung von Bazaine! Rettet Bazaine!‹ – Es wäre doch möglich,« fügte er mit einem Ton unbeschreiblicher Verachtung hinzu, »daß in irgendeinem ministeriellen Gehirn ein Funke von Vernunft oder wenigstens von dem Instinkt der Selbsterhaltung aufblitzen könnte und daß man Mac Mahon von seinem Marsch zum Untergang zurückriefe, und das muß um jeden Preis verhindert werden. Und deshalb,« sagte er, sich aufrichtend und mit seinem Stöckchen auf die Karte schlagend, »deshalb dienen uns jene Leute, die da draußen schreien, am besten. Je mehr Truppen hinausgesandt werden, um so schneller wird hier im Mittelpunkt das Kaiserreich zusammenbrechen.«

»Und wenn es zusammenbricht,« sagte Varlin, der in brütendem Sinnen dagesessen hatte, – »werden wir seine Erben sein, und nicht diese Helden der hohlen Phrase, dieser Herr Jules Favre, der uns einst in seiner glänzenden Wohnung so weise Vorträge über die Notwendigkeit der Herrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter hielt, – werden sie nicht die Erben der zusammenbrechenden Gewalt sein, um das Volk mit der Geisel des Kapitals noch schlimmer zu mißhandeln, als es das Kaiserreich mit den Bajonetten getan?«

»In der Tat,« sagte Raoul Rigault, indem er sich ruhig zu Varlin wendete, »sie werden die Erben der Macht sein, die ersten Erben. Lassen wir sie ruhig diese Erbschaft antreten, wir bedürfen dieser schwachen Köpfe, damit sie die Gliederung der alten Gesellschaft zerstören, alle Ordnung aufhören machen, alle Autorität vernichten. Das werden sie sehr schnell besorgen, – denn darin sind sie 495 Meister,und in kurzer Zeit werden sie es dahin bringen, daß, während alles auseinanderfällt und sich zersetzt, wir die einzig organisierte Macht sein werden. Dann wird unsere Zeit gekommen sein, – dann«, sagte er mit einem entsetzlichen Lächeln, »wird die Zeit für meine große elektrische Batterie da sein und für meine chemischen Mittel, um die letzten Reste – – –«

»Er hat recht, – er hat recht,« – rief Cluseret, indem er Raoul Rigault auf die Schulter schlug, – »er hat recht, – er ist wahrhaftig der Stärkste von uns allen, und während wir uns alle niederdrücken ließen, hat er klar gesehen und energisch gehandelt!«

»Ja, in der Tat, – er hat recht,« sagte der Fremde ruhig, – »tun Sie alle, was er Ihnen sagt, – helfen Sie den Tyrannen in jene Falle zwischen den feindlichen Armeen drängen, aus welcher es kein Entrinnen gibt, – denn dort liegt die Entscheidung, – sobald er dort vernichtet ist, wird diese schwankende Autorität, welche hier noch im letzten Aufflackern ihre ersterbende Macht in den Tuilerien fristet, von selbst erlöschen, – und auch weiter hat er recht, – mögen dann immerhin diese Schwätzer der liberalen Bourgeoisie die nächsten Erben der zusammenbrechenden Macht sein, – sie werden schnell genug die Bahn für uns freimachen, – wir in Italien werden zunächst freie Hand haben, unsere Ketten zu zerbrechen, und wir werden dann stark genug sein, um euch die Hand zu reichen, wenn die nahe Stunde der vollen Freiheit auch bei euch gekommen sein wird.«

Varlin wollte noch etwas sagen, – Cluseret rief:

»Auf, ans Werk, – auf die Boulevards – nach den Tuilerien!«

Die Tür wurde geöffnet – schnell trat Paschal Grousset, einer der Redakteure des Rappel, ein junger Mann mit blassem, abgelebtem Gesicht, zurückgestrichenen Haaren und einem dichten Schnurrbart, herein. – Ihm folgte La Cecilia, ein Italiener, der früher unter Garibaldi gedient hatte und jetzt in Paris als tätiges Mitglied der politischen Internationale lebte. Sein Gesicht mit der scharf hervorspringenden, gekrümmten Nase, den unter starken, etwas 496 zusammengezogenen Augenbrauen klar und kalt hervorblickenden Augen, der hohen Stirne und den starken Backenknochen zeigte kaltblütige Entschlossenheit, während die unter dem herabhängenden Schnurrbart stark hervortretende volle Unterlippe Verachtung aller Gefahr und jene aus einem vielbewegten, abenteuerlichen Leben stets entspringende Gleichgültigkeit gegen die wechselnden Verhältnisse des Lebens ausdrückte. Der Maler Courbet begleitete beide, – ein kleiner, starker Mann mit dichtem, hochgescheiteltem Haar und vollem Bart, dessen kleines, etwas zusammengedrücktes Gesicht wenig Geist, aber viel kleinliche Wichtigkeit in seinen faltigen Zügen und in seinen scharf, aber etwas unstet blickenden Augen trug.

»Soeben durchläuft die Nachricht Paris,« – rief Paschal Grousset, »daß Bazaine aus Metz einen Ausfall gemacht und die deutschen Armeen zurückgedrängt habe, – ich sah Palikao nach den Tuilerien fahren, – man sagt, der Kaiser und Mac Mahon wollten auf Paris rücken, – es sind wichtige Entscheidungen im Gange –«

»Wenn diese Nachrichten wahr sind,« sprach La Cecilia, – »so werden die deutschen Armeen in eine bedenkliche Lage kommen –«

»Ihr hört es«, sagte Raoul Rigault.

»Vorwärts, – hinaus!« – rief Cluseret, – »es gilt, dem Kaiserreich den Gnadenstoß zu geben und es auf den Weg des Verderbens zu drängen!«

Während Raoul Rigault Paschal Grousset über die soeben hier besprochenen Gesichtspunkte verständigte, ruhte La Cecilias Blick forschend auf dem Fremden, der ruhig und schweigend dastand.

Dieser bemerkte es, – in natürlicher Bewegung erhob er die Hand und berührte mit der Spitze des Fingers seine Lippen.

La Cecilia neigte den Kopf und folgte Cluseret, der bereits mit mehreren anderen die vorderen Räume durchschritten hatte und über die Boulevards dahineilte, schnell die dichten Menschenmassen durchschneidend, welche sich sprechend, rufend und lebhaft gestikulierend nach den Tuilerien hindrängten.

497 Ein Mann mit blondem Vollbart, in der Bluse eines Arbeiters und eine Mütze mit großem Schirm tief in das Gesicht gedrückt, näherte sich dem Fremden, welchen Raoul Rigault als Antonio Valori eingeführt hatte.

»Verzeihen Sie,« sagte er, – »Sie kommen aus Italien, – aus Rom, – glauben Sie wirklich, daß dort etwas geschehen werde, und daß nicht wieder ein verfehltes Unternehmen –«

»Die Sache ist dort sicher, – gut vorbereitet und wird diesmal nicht fehlschlagen, da wir uns keinen kaiserlichen Chassepots gegenüber befinden werden,« erwiderte der Fremde, indem er etwas verwundert und betroffen den eben Eingeführten ansah.

»Ich bin nur«, sagte dieser, »ein wenig zweifelhaft gewesen, weil man nichts davon hört, daß die Anführer sich regen. Garibaldi ist ruhig und Mazzini –«

»Mazzini ist gefangen«, fiel der Fremde ein, »und Garibaldi wird zu seiner Zeit auftreten. Vielleicht wird er den Dank Italiens der verbrüderten französischen Republik darbringen.«

Er brach das Gespräch, das ihm lästig zu sein schien, ab und wandte sich dem Eingang zu, durch welchen Raoul Rigault und Courbet sich nach den Boulevards hinwendeten.

»Er ist es,« sagte der Mann in der Bluse, dem Fremden nachblickend, – »es ist kein Zweifel. Vielleicht müßte ich ihm nachgehen, um zu sehen, wo er bleibt. Aber wozu sollte das jetzt nützen, wir haben mit uns allein genug zu tun. Und ich muß zunächst nach den Tuilerien, um Botschaft zu bringen, wie es hier steht.«

Er schritt über den Boulevard hin und verlor sich in der Menschenmenge, welche auf dem gegenüberliegenden Trottoir sich nach den Tuilerien zu bewegte.

Raoul Rigault hatte seinen Arm in den des Courbet gelegt und schritt in etwas gezierter Haltung, das Glas fortwährend vor den Augen, durch die Rue de la Paix und über die Place Vendome hin.

»Das Schicksal der Zukunft«, sagte er mit seiner affektierten, leisen, etwas näselnden Stimme, »hängt jetzt von der Geduld unserer guten Freunde und von der Dummheit 498 dieser Madame Badinguet und ihrer Minister ab. Wäre ich ein alter Grieche, so möchte ich den Zeus anrufen, um uns beizustehen, – es würde«, fügte er in zynischem Tone hinzu, »für ihn keine schwere Arbeit sein, nachdem er für uns den Kopf des Generals von Moltke erleuchtet hat, um die kaiserlichen Prätorianer zu schlagen, nun auch in den Köpfen dieser Minister den erforderlichen Grad von dichtester Finsternis zu erzeugen, damit sie das Kaiserreich vollständig in den Abgrund stürzen, an dessen Rande es hin und her taumelt.«

Sie schritten über die Place Vendome.

»Sehen Sie, mein Freund,« sagte Courbet, indem seine Blicke sich voll giftigen Hasses zu der Bildsäule Napoleons I. emporrichteten, welche jene hochragende Ehrensäule krönte, die Frankreich einst dem Ruhm seiner großen Armee errichtete, – »sehen Sie, jedesmal, wenn ich hier vorbeigehe, so reizt es mich, dies elende Monument zu zerstören, viel weniger, weil es das Bild der Tyrannei und des blutigen Cäsarismus ist, als weil es auf eine so schreckliche Weise allem Kunstgeschmack Hohn spricht.«

»Warten Sie, mein Freund,« erwiderte Raoul Rigault, indem er mit seinem Stöckchen durch die Luft einen Hieb gegen das Denkmal des Ruhmes der französischen Waffen führte, »warten Sie ein wenig, wenn unsere Zeit kommt, so wird all dieser Kram einer lächerlichen Vergangenheit verschwinden. Wo meine chemischen Mittel nicht ausreichen, werden wir die mechanischen zu Hilfe nehmen. Wenn jener Herr da oben, dem sie seinen Überrock und seine Stiefel ausgezogen haben, die sie doch jetzt so gut hätten brauchen können, wenn er hier unten im Staub liegt, dann können Sie ihn malen, er wird dann ebenso schmutzig sein, wie Ihre badenden Mädchen, – die alle Fluten des Ozeans dann nicht wieder rein waschen können.«

Sie hatten die Rue de Rivoli erreicht und mischten sich in die immer dichter nach den Tuilerien herandrängenden Volkshaufen.

In dem Conseilsaal der Tuilerien waren die neuen Minister versammelt, welche dem schnell vor der Wucht der gewaltigen Ereignisse verschwundenen Ministerium Grammont-Ollivier gefolgt waren.

499 Tiefer Ernst lag auf allen Gesichtern. In einem der Lehnstühle, welche den großen, mit einer grünen Decke bedeckten Tisch umgaben, saß der Fürst Latour d'Auvergne, welcher die schwierige Aufgabe übernommen hatte, die Beziehungen des halb schon zu Boden geworfenen Frankreichs zu den auswärtigen Mächten zu pflegen und bei den europäischen Kabinetten ein Wort der moralischen Unterstützung für Frankreich zu erbitten, nachdem der Herzog von Grammont es versäumt hatte, dem in dem Nimbus seiner Vollmacht dastehenden Kaiserreich irgendwelche Allianzen in Europa zu verschaffen.

Der Fürst, ein Mann von etwa vierzig bis fünfundvierzig Jahren, mit einem runden, vollen Gesicht, das sein kurz geschnittener Vollbart umgab, und mit klaren, dunklen Augen, aus welchen aber nicht der starke Geist und die willenskräftige Entschlossenheit leuchteten, welche erforderlich gewesen wären, um eine so schwierige Situation zu beherrschen, war beschäftigt, die Berichte und Depeschen zu durchfliegen, welche ihm in dem Augenblick, da er sich zum Conseil begab, überreicht worden. Aber bei jedem neuen Papier, das er durchflog, wurde seine Miene düsterer, und in trüber Resignation den Kopf schüttelnd, blickte er auf die Berichte, deren jeder ihm die Kunde von einer neuen fehlgeschlagenen Hoffnung brachte.

Am anderen Ende des Tisches war der Minister des Innern, der frühere Seine-Präfekt Chevreau, ein kräftiger, untersetzter Mann von fast fünfzig Jahren, mit lebhaften, hervorstechenden Augen, in eifriger Unterhaltung mit dem zum Handelsminister ernannten Journalisten Clement Duvernois begriffen, einem blonden, etwas vollen jungen Mann von kaum fünfunddreißig Jahren, von regelmäßigen, ein wenig schlaffen Gesichtszügen, der in seinem Wesen und in seiner Haltung eine gewisse Sorglosigkeit zeigte, die ihn auch in dieser schwierigen, verhängnisvollen Situation nicht ganz verließ.

Der Finanzminister Magne mit seinem glattrasierten, ruhig lächelnden Gesicht, den weißen Haaren und den kleinen, listig zusammengekniffenen Augen sprach mit dem Kriegsminister, Grafen Palikao, dem Präsidenten des 500 Kabinetts und dem in diesem Augenblick jedenfalls bedeutungsvollsten aller Minister, da das Schicksal des Krieges ja auch zugleich das Schicksal Frankreichs und der Dyuastie war.

Der General Cousin de Montauban, welcher für seinen chinesischen Feldzug zum Grafen von Palikao ernannt war, und welcher, während die übrigen Minister im schwarzen Morgenanzug erschienen waren, die große Generalsuniform trug, war ebenso ruhig, sicher und fast heiterer als der Finanzminister. Das weiße Haar des Kriegsministers kontrastierte auf eine eigentümliche Weise mit seinen dunklen, in jugendlichem Feuer blitzenden Augen und mit der dunklen Farbe seines militärisch geschnittenen Schnurrbartes. Auf seinem Gesicht lag Entschlossenheit und Mut, aber mehr Verschlagenheit als klare und große Intelligenz, und in seiner Haltung zeigte er mehr die Geschmeidigkeit und Feinheit des Hofmannes als die Festigkeit des Soldaten.

Der Baron Jérôme David, welcher das Portefeuille der öffentlichen Arbeiten übernommen hatte, ging allein mit großen Schritten im Kabinett auf und nieder. Auf seinem Gesicht mit den gedrungenen, festen Zügen, dem kurzen Haar und etwas vorstehenden, funkelnden Augen, dem kleinen, aufwärts gedrehten Schnurrbart, arbeitete eine heftige Erregung. Er schien, in leisen Selbstgesprächen die Lippen bewegend, seine Gedanken zu ordnen, um Mittel und Wege zu suchen, das Kaiserreich und die Dynastie, denen er so nahe stand, von dem vernichtenden Schlage zu retten, der sie so schnell und unerwartet getroffen.

Der kalte, elegante und undurchdringliche Admiral de Genouilly, der kalte und geschmeidige Justizminister Grandpéré, der etwas steif und pedantisch blickende Unterrichtsminister Jules Brame schauten ruhig aus dem Fenster über die sich draußen immer dichter ansammelnde Menge hin und schienen ruhig zu erwarten, was die Zukunft aus Frankreich, aus dem Kaiserreich und aus ihnen machen würde.

Ein Huissier trat ein und näherte sich dem Grafen von Palikao, dem er einige Worte zuflüsterte.

Der Graf stand auf und begab sich in das Vorzimmer.

Hier befand sich in schwarzer, eleganter Kleidung jener Mann, welcher kurz zuvor im Café de Madrid der 501 Versammlung der Führer der Internationalen beigewohnt hatte. Hier, wo sein Gesicht nicht mehr von dem breiten Schirm der Arbeitermütze bedeckt war, konnte man die abgelebten, von Leidenschaft zerrissenen Züge dieses ursprünglich regelmäßigen Gesichtes mit den tiefliegenden, matten Augen deutlich erkennen.

»Ah, Herr Lenoir«, sagte Graf Palikao, indem er mit einer gewissen vornehmen Überlegenheit diesem sich tief und demütig verneigenden Mann entgegentrat. »Was bringen Sie? – wenn es nichts besonders Wichtiges ist, so suchen Sie mich später auf, ich bin in diesem Augenblick zu sehr beschäftigt, Ihre Majestät wird sogleich erscheinen.«

»Ich wußte,« sagte der mit dem Namen Lenoir Angeredete, »daß um diese Zeit ein Conseil stattfinden soll und habe mich gerade deshalb beeilt, noch vorher hierher zu kommen, da ich voraussetzte, daß die Nachrichten, welche ich bringe, vielleicht auf Eurer Exzellenz Entschluß von Einfluß sein möchten.«

»Nun, lassen Sie hören«, sagte der Graf Palikao, indem er in eine Fensternische trat und Herrn Lenoir einen Wink gab, ihm zu folgen.

»Exzellenz,« sagte dieser mit leiser Stimme, »in kurzer Zeit wird Rom von den italienischen Truppen besetzt sein. Ein Bote von Italien ist an das hiesige Revolutionskomitee gesendet, um die Nachricht zu überbringen und zugleich aufzufordern, daß man hier alles zum Sturz des Kaiserreichs tun möge.«

Graf Palikao zuckte die Achseln.

»Das war zu erwarten,« sagte er, »wir können das nicht hindern, mögen sie jetzt tun, was sie wollen. Später,« sagte er, die Lippen aufeinanderbeißend, – »später werden wir rechnen und dann werden sie fühlen, was es heißt, uns im Augenblick der Not und Gefahr auf solche Weise zu behandeln. Und hier?« fragte er weiter.

»Hier ist die Parole ausgegeben,« erwiderte Herr Lenoir, »auf jede Weise zu verhindern, daß der Kaiser und Mac Mahon auf Paris zurückkehren, weil man überzeugt ist, daß der Marsch nach der Grenze die Armee des 502 Marschalls Mac Mahon und den Kaiser ins Verderben stürzen werden.«

Ein feines Lächeln flog über das Gesicht des Grafen Palikao.

»Sie sind verblendet,« sagte er, »diese Herren Revolutionäre, und das ist ein Glück für uns. Sie denken nur daran, für den Augenblick eine wirklich militärische Autorität von Paris fernzuhalten. Sie sehen es nicht, daß ihre augenblickliche Freiheit, hier in den Straßen etwas Unfug zu treiben, sehr schnell verschwinden wird, wenn dort draußen erst unsere Waffen wieder siegreich sein werden, wenn unsere Armeen sich vereinigt haben und den Feind im Innern des Landes einschließen, – für uns ist es gut, sehr gut, so finden wir Unterstützung bei unseren Feinden. Ich danke Ihnen, mein Herr,« sagte er leichthin, »fahren Sie fort, zu beobachten, und seien Sie meiner Erkenntlichkeit gewiß.«

Mit leichtem Kopfneigen wandte er sich ab und kehrte in den Conseilsaal zurück.

Herr Lenoir sah ihm ganz erstaunt nach.

»Wer ist nun eigentlich Herr in Frankreich?« flüsterte er vor sich hin, – »dieser glänzende General hier in den Tuilerien oder der kleine Raoul Rigault in dem Hinterstübchen des Café de Madrid?«

Kopfschüttelnd verließ er das Zimmer und schritt über die Korridors nach einer Seitentreppe hin, welche zum Tuilerienhof hinabführte.

»Die Sache bricht zusammen,« sagte er in tiefem Sinnen und immerfort den Kopf schüttelnd, während er die Stufen hinabstieg, »es wird Zeit sein, an die Zukunft zu denken, denn ich habe nur eine sehr geringe Neigung, mich unter den Trümmern dieses zusammenstürzenden Gebäudes begraben zu lassen.«

Er durchschritt den inneren Hof des Palastes, mischte sich unter die Menge und wandte sich dann über die Place la Concorde nach der Richtung des Boulevards von Malesherbes hin.

*

Kaum war der Graf Palikao in das Conseil zurückgekehrt, als ein Huissier die zu den inneren Gemächern führenden Flügeltüren aufriß und mit lauter Stimme rief:

503 »Die Kaiserin!«

Die Minister traten zu ihren Stühlen und begrüßten mit tiefer Verneigung Ihre Majestät die Kaiserin-Regentin, welche raschen und elastischen Schrittes in das Zimmer eintrat.

Die Kaiserin Eugenie trug ein einfaches Kleid von schwerem, schwarzem Seidenstoff, ein goldenes Kreuz am schwarzen Bande um den Hals. Keine Schleife, kein Edelstein schmückten ihr einfach geflochtenes, goldblondes Haar. Sie sah bleich und angegriffen aus, ihre großen, tiefblauen Augen glühten in fast fieberhaftem Glanz und waren von dunklen Ringen umgeben, während der zarte Teint ihres Gesichtes in fast durchsichtiger Blässe sich gegen ihre dunkle Toilette abhob.

Die Kaiserin erwiderte mit einer zugleich stolzen und anmutigen Neigung des Kopfes die Begrüßung der Minister und trat rasch an den großen Lehnsessel in der Mitte des Tisches, auf welchem sonst der Kaiser Napoleon Platz zu nehmen pflegte.

Der Graf Palikao setzte sich zu ihrer Rechten, Herr Magne zu ihrer Linken, die übrigen Minister folgten der Reihe nach.

»Es wird Ihnen bereits bekannt sein, meine Herren, daß seine Majestät der Kaiser durch den Präsidenten des Senats ein Dekret hierhergesandt hat, nach welchem Mac Mahon zum Oberkommandanten von Paris ernannt wird. Zugleich hat der Kaiser mir seine Absicht mitteilen lassen, mit der Armee des Marschalls, welche in diesem Augenblicke bei Rheims steht, hierher zurückzukehren und den Feind unter den Mauern von Paris zu erwarten. Ich habe Sie, meine Herren, um mich versammelt, um Ihren Rat zu vernehmen, was diesem kaiserlichen Dekret gegenüber zu tun sei.«

Der General Palikao verneigte sich gegen Ihre Majestät, deren Blick sich fragend auf ihn richtete, und sprach mit seiner feinen, etwas leisen, aber scharf akzentuierten Stimme:

»Seine Majestät der Kaiser, Madame, welcher Allerhöchst Ihnen die Regentschaft übertragen, als er mit der 504 Armee ins Feld rückte, hat ohne Zweifel das Recht, in jedem Augenblick die Regentschaft wieder aufzuheben und selbst die Leitung der Regierung in die Hand zu nehmen. Dies hat seine Majestät jedoch nicht getan, und solange dies nicht geschehen, kann ein aus dem Lager des Kaisers datiertes Dekret nur dann verfassungsmäßige Gültigkeit haben, wenn es von Eurer Majestät mit Ihren Ministern zur Ausführung für geeignet befunden wird. Bei aller tiefen Ergebenheit, die uns alle hier für die Person des Kaisers erfüllt, sind wir dennoch verpflichtet, diese Verfügung zu prüfen und ihre Ausführung zu sistieren, wenn wir sie dem Wohle Frankreichs nicht angemessen finden. Ich glaube, daß alle anwesenden Herren Minister hierin mit mir vollkommen einig sein werden.

Die Kaiserin neigte einen Augenblick das Haupt auf die Brust, dann ließ sie den trüben und traurigen Blick über die versammelten Minister hingleiten und sprach:

»Lassen Sie uns keine Zeit verlieren, meine Herren, die verfassungsmäßige Gültigkeit oder Ungültigkeit des kaiserlichen Dekrets und die Kompetenz der Regentschaft zu diskutieren, lassen Sie uns nicht die Sache über der Form vergessen. Der Kaiser ist der Herr, und ich würde mich stets verpflichtet fühlen, jedem seiner Dekrete zu gehorchen, wenn diese Dekrete in voller Erkenntnis der Verhältnisse gegeben sind und zum Wohl Frankreichs führen können. Sie haben, Herr Minister, den Marsch nach der belgischen Grenze trotz der bereits aus Chalons erfolgten Gegenvorstellung des Feldmarschalls Mac Mahon für eine militärische Notwendigkeit erklärt. Sie sind der Meinung, daß durch diesen Marsch die Verbindung mit Bazaine hergestellt werden könne, und daß diese Verbindung alle Schmach und alles Unglück der letzten Zeit wieder gutmachen werde«, fügte sie mit einem funkelnden Blick hinzu. »Ist das noch heute Ihre Meinung und diejenige der anderen Herren, dann müssen wir Mac Mahon den Befehl senden, unter allen Umständen vorwärts zu marschieren und den Kaiser beschwören von seinem Entschluß zurückzukommen.«

»Es ist meine bestimmte Meinung, Madame,« sagte der General Palikao, »daß, wenn Mac Mahon mit seiner 505 Armee in schnellen Märschen nach der belgischen Grenze vorgeht und sich von dort, wo man ihn gar nicht erwartet, und er keinen Widerstand findet, auf Metz wirft, Frankreich gerettet sein wird. Jene beiden großen Armeen werden sich dann vereinigen, um die Deutschen, die im feindlichen Lande mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen haben, zu umfassen und in einem neuen Feldzug alles wieder zu erringen, was im ersten verloren war. Dies ist meine militärische Ansicht, und ich kann durch keine Gegengründe von derselben zurückgebracht werden.«

»Und die militärische Ansicht muß maßgebend sein,« rief die Kaiserin, »denn vom militärischen Erfolg hängt ja Frankreichs Zukunft ab und die unsrige«, flüsterte sie kaum hörbar vor sich hin, indem sie die Spitzen ihrer zitternden Finger aneinanderdrückte. »Nur auf die eigene Kraft müssen wir uns stützen,« fuhr sie mit fester Stimme fort, »denn alle Freunde, welche das mächtige Frankreich in Europa hat, stehen heute schweigend zur Seite oder sind bereits unsere Feinde.«

»Leider ist es so,« sagte der Fürst Latour d'Auvergne, »die Vertreter Frankreichs an den europäischen Höfen begegnen kalter Zurückhaltung oder vorwurfsvoller Verwunderung über den so unvorbereitet begonnenen Krieg –«

»Wir werden diese Erfahrungen nicht vergessen,« rief die Kaiserin mit vor Zorn bebenden Lippen, »und der Tag wird einst kommen, an dem Frankreich sich erinnern wird.«

»England verkennt in trauriger Weise«, sagte der Fürst Latour d'Auvergne, »seine eigenen Interessen, indem es Frankreich niederbeugen läßt. Die Stunde wird kommen, wo man dort vergeblich die Allianz der Westmächte wird wiederherstellen wollen, welche Lord Palmerston einst ins Leben rief und welche der Welt Gesetze gab. Das einzige Wohlwollen,« fuhr er fort, »das uns entgegentritt, zeigt uns Rußland. Dieses Rußland, dem wir einst Sebastopol zerbrachen und das Schwarze Meer nahmen.«

»Und dem«, rief die Kaiserin lebhaft, »wir einst werden wiedergeben können, was es verloren – reich und doppelt wiedergeben, wenn es uns jetzt die Hand reichen will! 506 Sprechen Sie, Fürst, was schreibt Fleury? – können wir von Rußland etwas erwarten? Ein einziger ernster Schritt von jener Seite würde genügen, um uns aus aller Not zu befreien. Die ganze preußische Macht ist hier, die Ostgrenzen Deutschlands stehen offen. Ein Wort des Kaisers Alexanders wiegt für uns zwei gewonnene Schlachten. Sprechen Sie!«

Der Fürst wandte die Blätter des Berichtes, den er in der Hand hielt, mit einer gewissen Verlegenheit zögernd hin und her.

»Madame,« sagte er, »der Kaiser Alexander hat in sehr freundlicher und in sehr liebenswürdiger Weise dem General Fleury seine Teilnahme an den Unglücksfällen, welche den Kaiser betroffen, ausgesprochen. Er scheint besorgt zu sein, daß zu den äußeren Niederlagen innere Unruhen in Frankreich hinzutreten könnten, und will an den König Wilhelm schreiben –«

»Nun?« fragte die Kaiserin, zitternd vor Spannung.

»Um den König zu bitten,« fuhr der Fürst Latour d'Auvergne fort, »daß er alles tun möge, um das Kaiserreich und die Dynastie zu erhalten, welche allein die Garantien eines dauernden Friedens bieten könnten und für die Ruhe und Ordnung in Europa von hoher Wichtigkeit seien.«

Eine fast leichenfarbige Blässe legte sich über das Gesicht der Kaiserin. Sie faltete die Hände auf den Tisch und blickte starr vor sich hin.

»Das also ist es,« sagte sie mit tonloser Stimme, »was der beste Freund, den wir noch in Europa finden, für uns tun kann? So weit sind wir gesunken, daß der Kaiser von Rußland nur noch die Bitte an unseren Sieger für uns hat, die Dynastie zu schonen und die Krone nicht von unserem Haupte zu schleudern? Das ist hart, sehr hart«, fuhr sie fort, indem ihre großen Augen sich mit Tränen füllten. »Aber«, rief sie dann, den Kopf emporwerfend, während ihre Blicke durch den Tränenschleier hindurch in flammendem Feuer leuchteten, »das ist auch gut, das zeigt uns den Weg der Rettung! Ist Frankreich allein nicht stark genug, um diesen Feind zurückzuwerfen, der in eiliger Überraschung uns für den Augenblick übermannt hat? Lassen wir alle 507 Gedanken an eine Hilfe vom Ausland. Denken wir nur an unseren eigenen Mut und unsere eigene Kraft. Graf Palikao,« fuhr sie in ruhigem Ton fort, »Sie waren also der Meinung, daß aus militärischen Gründen der Marsch Mac Mahons nach dem Norden notwendig sei?«

»Ich bin dieser Meinung, Madame,« erwiderte der Graf Palikao, »und wenn in militärischer Beziehung ich meine Autorität auch nicht über diejenige des Marschalls Mac Mahon, noch weniger über diejenige Seiner Majestät des Kaisers zu stellen wagen will, so habe ich doch einen weiteren, hochwichtigen Grund, um auf meiner Meinung zu bestehen, einen Grund, welchen weder der Marschall noch der Kaiser dort inmitten ihrer Armee zu beurteilen vermögen. Dieser Grund ist der, Madame, daß die ganze Bevölkerung von Paris sich in hoch aufgeregtem Zustande befindet, daß man, ich muß es Eurer Majestät sagen, sehr eingenommen gegen den Kaiser ist, dem man die bisherigen Niederlagen schuld gibt, und daß man vor allen Dingen auf das bestimmteste die Befreiung Bazaines verlangt, von dem man die Rettung Frankreichs erwartet. Wenn nun in diesem Augenblick, Madame, bei dieser hoch aufgeregten öffentlichen Stimmung in Paris, eine Maßregel getroffen wird, welche der allgemeinen Meinung so gerade entgegenläuft, wenn der Kaiser, statt Bazaine zu befreien, hierher zurückkehren würde, so würde sich ein Sturm der Entrüstung gegen die Regierung richten, ein Sturm, Madame, den die Nationalgarde und der General Trochu nicht zu beschwören imstande sein möchten, und bevor der Kaiser mit der Armee Mac Mahons unter den Mauern von Paris angekommen wäre, würde Eure Majestät vielleicht gezwungen sein, die Hauptstadt zu verlassen und den Zentralsitz der Regierung den Händen Ihrer bittersten Feinde zu überlassen.«

Das dumpfe Stimmengeräusch der in dem Tuileriengarten und dem Karussellplatz versammelten Menge wurde immer lauter und lauter. Man unterschied einzelne Rufe, welche zum Schloß herübertönten und in die Fenster des Konseilzimmers hereinschallten.

»Nach Metz! Nach Metz!« hörte man rufen. »Rettet Bazaine!«

508 Die Kaiserin lauschte diesen Rufen.

»Jene Stimmen da draußen, Madame,« fuhr der Graf Palikao fort, »bestätigen meine Worte über die öffentliche Meinung, und in einem Augenblick, wie der gegenwärtige, ist die öffentliche Meinung eine Macht, mit der man rechnen muß. Ich wiederhole Eurer Majestät, wenn diese Menge da unten erführe, daß der Kaiser, statt zur Entsetzung Bazaines vorzugehen, nach Paris zurückkehrt, so würde ein einziger Schrei der Wut und der Entrüstung in ganz Paris sich erheben, und ich würde es nicht mehr mit der persönlichen Sicherheit Eurer Majestät für vereinbar halten, daß Sie hier bleiben. Dann aber«, fuhr er fort, »würde Frankreich verloren sein, dann würde es den Mittelpunkt einer legalen Regierung verlieren und neben den äußeren Gefahren würde zu der Revolution vielleicht der Bürgerkrieg hinzutreten.«

Die Kaiserin richtete den fragenden Blick auf Herrn Chevreau, Minister des Innern.

»Sie müssen ja die Stimmung in Paris am besten kennen, wie denken Sie darüber, Herr Minister?«

»Madame,« erwiderte Herr Chevreau, »ich kann Eurer Majestät nur bestätigen, daß die Stimmung so ist, wie der Herr Graf von Palikao sie geschildert hat. Ich glaube für die Ruhe nicht einstehen zu können, wenn die letzte Armee, die wir noch im Felde haben, hierher zurückmarschiert.«

Clement Duvernois und die anderen Minister bestätigten die Erklärung des Ministers des Innern.

»Und Sie, Herr Baron Jérôme David,« fragte die Kaiserin, sich zu dem Minister der inneren Arbeiten wendend, welcher in heftigem inneren Kampf dasaß und seinen kleinen Schnurrbart unruhig zwischen den Fingern drehte, »was sagen Sie uns? Sie haben den Kaiser noch in Chalons gesehen.«

»Madame,« rief Baron Jérôme David, »ich muß Eurer Majestät bekennen, daß ich durchdrungen war von der Richtigkeit des Entschlusses, welchen der Kaiser und der Marschall Mac Mahon gefaßt hatten, daß ich mich überzeugt hatte, wie gefährlich die Stellung der preußischen Armee werden würde, wenn sie zwischen Metz und Paris 509 hineinzugehen gezwungen würde. Aber, Madame,« fuhr er fort, »das, was ich hier höre und was ich in der Stadt gesehen habe, läßt mich allerdings zweifeln, ob es möglich sei, jenen Entschluß auszuführen, und ob dadurch nicht hier für die Regierung und das Kaiserreich größere Gefahren heraufbeschworen würden, als die äußeren Feinde sie uns bringen können. Wenn nun gar die persönliche Sicherheit Eurer Majestät in Frage kommt, so weiß ich in der Tat nicht –«

»Nun, meine Herren,« rief die Kaiserin, »ich bin entschlossen! Wir können hier am Mittelpunkt die Lage der Dinge unzweifelhaft besser übersehen, als dies für den Kaiser möglich ist, der in der Einsamkeit des Lagers, von feindlichen Armeen umschwärmt, nicht den vollkommen freien Blick bewahren kann. Ich habe dem Kaiser die Gründe auseinandergesetzt, welche mich bewogen haben, gegen seinen Beschluß nochmals zu protestieren. Und Sie, Herr Graf von Palikao, senden Sie sofort dem Marschall Mac Mahon den Befehl, unter allen Umständen seinen Marsch nach dem Norden fortzusetzen.«

»Und ich werde hinzufügen,« sagte der Graf Palikao, »daß, wenn der Marschall Bedenken haben sollte, den Befehl auszuführen, ich mich sogleich zur Armee begeben würde, um meinerseits das Kommando zu übernehmen und den Marsch, von welchem nach meiner Überzeugung die Rettung Frankreichs abhängt, durchzuführen. Ich schwöre Eurer Majestät, daß ich dazu bereit und meiner Erfolge gewiß bin.«

Die Kaiserin neigte das Haupt.

Der Graf Palikao ergriff eine Feder und begann mit schnellen Zügen auf den vor ihm liegenden Bogen zu schreiben.

Es war eine tiefe, lautlose Stille im Zimmer, – man hörte nur die Atemzüge dieser Minister, welche, die letzten Diener des versinkenden Kaiserreichs, hier die letzten Zuckungen seines Daseins vor sich sahen, ohne die Mittel zu seiner Rettung finden zu können.

Die Kaiserin hatte einen Crayon ergriffen und fuhr mit demselben sanft über das Papier, – von draußen her begannen von neuem laute Rufe, und deutlich konnte man 510 die Worte unterscheiden: »Rettet Bazaine, – Bazaine zu verlassen ist Verrat am Vaterlande, – nach Metz, nach Metz!«

Die Kaiserin zog mit dem Bleistift, den sie in ihrer zarten weißen Hand hielt, immer deutlichere Linien über das Papier, – diese Linien formten sich zu Buchstaben, und diese Buchstaben bildeten den Namen – Marie Antoinette, – den Namen dieser unglücklichen Königin, welche in den Mauern dieses verhängnisvollen Schlosses ebenfalls die letzten, ratlosen Diener des Königtums um sich gesehen hatte, – welche auch durch diese Fenster von denselben Plätzen herauf die Rufe des Volkes gehört hatte, – diese Rufe, die immer gebietender, immer herrischer geworden waren, bis sie die stolze Königin nach dem Schaffot begleiteten, wo sie ihr Haupt dem Fallbeil beugte.

Die Kaiserin starrte mit großen Augen diesen Namen an, der sich unwillkürlich unter ihrer Hand gebildet, als ob das Verhängnis dieselbe geführt hätte.

»Gefällt es Eurer Majestät,« sagte Graf Palikao, »das Telegramm zu genehmigen, welches ich zur Absendung an Seine Majestät den Kaiser entworfen habe?«

Die Kaiserin zuckte zusammen, – rasch fuhr sie mit dem Bleistift über das Papier, so daß unter dichten schwarzen Strichen der Name der armen, leidensvollen Fürstin verschwand, deren Erinnerungen sie stets mit so viel Vorliebe gepflegt und gesammelt hatte.

»Lesen Sie«, sagte sie kurz.

Der Graf von Palikao erhob den Bogen, den er beschrieben, und las mit fester Stimme:

»Wenn Eure Majestät Bazaine verlassen, so ist die Revolution in Paris, welche die Kaiserin und die Regierung in die höchste Gefahr setzt. Paris wird sich gegen jeden Angriff von außen schützen, – die Festungswerke sind fertig. Sie sind dem Kronprinzen von Preußen, welcher die Gefahr merkt, in die Ihr Umgehungsmarsch ihn bringt und seine Richtung verändert hat, um wenigstens sechsunddreißig Stunden voraus, – Sie haben nur einen Teil der Truppen vor sich, welche Metz blockieren und welche Ihr Marsch von dort abzieht. Jedermann fühlt hier die Notwendigkeit, 511 Bazaine freizumachen, und die Angst, mit der man Ihnen folgt, ist entsetzlich, – die Kaiserin teilte mir den Brief mit, in welchem Eure Majestät anzeigen, daß Sie die Armee auf Paris führen wollen, – ich bitte Eure Majestät, auf diese Idee zu verzichten, welche als ein Aufgeben der Armee von Metz erscheinen würde.«

Er hielt einen Augenblick inne und las dann weiter:

»An den Marschall Mac Mahon!

»Die Kaiserin und der Ministerrat halten es für notwendig, daß Sie Ihren Marsch nach Norden fortsetzen, um die feindlichen Armeen zu umgehen und auf diesem Wege zu Bazaine zu gelangen. Wenn Sie den Marsch nicht ausführen wollen, so fordern Sie Ihre Entlassung und ich übernehme das Kommando und die Verantwortlichkeit der Ausführung.«

Er schwieg.

Die Kaiserin blickte fragend umher.

»Sie sind mit dem Beschluß und mit den Depeschen einverstanden, meine Herren Minister?« fragte sie.

Alle diese Männer, die da schweigend, ernst und unbeweglich um sie her saßen, neigten zustimmend ihre Häupter.

Der Baron Jérôme allein fuhr empor, – er strich mit der Hand über die Stirn, als wolle er seine Gedanken ordnen, und schon öffnete er die Lippen, um zu sprechen, da erscholl von unten herauf mit verdoppelter Kraft von tausend und tausend Stimmen der Ruf:

»Nach Metz – nach Metz, – rettet Bazaine, – rettet die Armee von Metz!«

Der Baron Jérôme David zuckte zusammen bei diesen Rufen, – seine Lippen schlossen sich wieder, und wie vor dem Urteil des Schicksals sich beugend, neigte auch er das Haupt zur Genehmigung der Beschlüsse des Ministerrats und der Depeschen des Grafen Palikao.

Die Kaiserin erhob sich.

»So lassen Sie denn die Telegramme abgehen,« sagte sie, »Gott wolle es fügen, daß alles sich zum Heil Frankreichs wende.«

Und mit leichter Neigung des Hauptes schritt sie zur Tür, um sich in ihre Gemächer zu begeben.

512 Ernst und traurig verließen die Minister das Zimmer.

Draußen aber wogte die Menge hin und her, immer lauter und lauter rufend: »Nach Metz, – nach Metz!« und in den dichtesten Gruppen konnte man den Feniergeneral Cluseret sehen, welcher die aufgeregten Mengen immer mehr erhitzte und in unermüdlicher Beredtsamkeit ihnen die Notwendigkeit auseinandersetzte, daß die Armee Mac Mahons nach dem Osten marschiere, um Bazaine, die Hoffnung Frankreichs, zu befreien.

Raoul Rigault stand, auf den Arm Courbets sich stützend, unter den Bäumen des Tuileriengartens, – sein Lorgnon im Auge, blickte er zu dem alten Bau des Königs- und Kaiserschlosses empor und sagte, mit seinem Stöckchen an den Stiefel schlagend:

»Nicht wahr, mein Freund, – es müßte ein schönes Schauspiel sein, diesen Sitz der Tyrannei einmal in vollen Flammen zu sehen? Man hat unrecht gehabt, dieses Nest stehen zu lassen, in welchem sich immer von neuem diese Rasse der Kaiser und Könige festsetzt, – das nächste Mal wird man das besser machen!«

 


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