Gregor Samarow
Kreuz und Schwert
Gregor Samarow

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Dreißigstes Kapitel

Während der König Wilhelm, begrüßt von dem Jubelruf seiner siegreichen Truppen, durch die erleuchteten Ortschaften hin am Abend der Schlacht nach Vendresse zurückfuhr, während der General von Wimpffen voll Verzweiflung über das traurige Schicksal, welches seine militärische Karriere auf diese Weise beendete, mit dem Grafen Bismarck und dem General von Moltke über die Kapitulationsbedingungen verhandelte, während der Kaiser Napoleon in der Geburtsstadt Turennes einsam über die Hinfälligkeit irdischen Ruhms und irdischer Größe nachdachte, sank die Nacht tiefer und tiefer auf das Schlachtfeld herab, auf welchem am Tage vorher die Blüte der Jugend zweier großer Nationen im heißen Vernichtungskampf sich gegenübergestanden hatte.

Die siegreichen und die besiegten Truppen hatten sich von diesem Felde des Schreckens zurückgezogen – die Schlacht war zu Ende. Alle, die geschlagen hatten, blickten hoffnungsfreudig oder schmerzvoll und finster in die Zukunft. Sie alle gedachten nicht mehr der vergangenen Stunden, sie sahen nicht das furchtbare, stille Nachspiel dumpfer, verzweiflungsvoller Leiden und Schmerzen auf dem weiten Plan, auf welchem so viel heldenmütige Selbstaufopferung, so viel tapfere Todesverachtung geübt worden war, – Aufopferung, – Todesverachtung – wie schön, wie groß klingen diese Worte! Wie lassen sie das Herz höher schlagen in kühner Aufwallung! Wie haben sie die Dichter aller Zeiten begeistert zu herrlichen Gesängen, von Homer und Pindar bis zu Körner und Schenkendorf!

Wenn das Opfer nur immer vollzogen werden könnte durch einen gewaltigen, vernichtenden Streich, wenn der Tod sich dem Haupte der Helden nahte, wie der aus den Wolken herabzuckende Blitzstrahl, im lichten Flammenschein das Leben und die Empfindungen zerstörend. Aber nicht alle sind auserwählt, so zu fallen, sanft und freundlich berührt vom raschen Kuß des Todesengels, der seine Lippen auf ihre stolzerhobene Stirn drückt und mit schneller Wendung die lodernde Fackel verlöscht.

574 Anders und schrecklich zeigt sich der Genius der Zerstörung, wenn er wie ein bleiches, kaltes Gespenst, das Haupt umwallt von den Schlangen tausendfacher Qualen, einherfährt durch die Nacht über ein blutgetränktes Schlachtfeld. Glücklich die Toten, welche da auf der kalten Erde liegen, die Kugel im Herzen, das noch tags vorher so liebevoll und hoffnungsreich schlug, die Glieder zerrissen, welche so kräftig sich spannten, das Gehirn verspritzt, das die Träume künftigen Glückes erfüllte – sie haben geendet, hinter ihnen liegt die irdische Welt mit ihren Freuden, aber auch mit ihren Leiden, – sie sind eingegangen zu ewiger Verklärung und zu ewigem Frieden, den der staubgeborene Mensch vergeblich sucht in dieser Welt des Kampfes, der Feindschaft, des Neides und der Bosheit.

Aber die Sterne, welche heraufziehen am nächtlichen Himmel über die Stätte des Kampfes der Menschen, die Gott zu Brüdern geschaffen, sie blicken nicht nur herab auf die Toten, welche die Rechnung ihres Lebens geschlossen und ihre Hoffnungen und Wünsche, ihren Kummer und ihre Leiden hinübergenommen haben in den alles versöhnenden Schoß der Ewigkeit – der zitternde, matte Strahl der Lichter des Firmaments, welche die Hand der ewigen Allmacht und Liebe entzündete, senkt sich auch nieder auf jene Tausende, welche, von der zerstörenden Waffe getroffen, zu Boden gesunken sind, ohne daß die Wurzeln des Lebens durchschnitten wurden, und welche daliegen, verstümmelt, blutend, leidend in allen Fasern ihres Wesens, ohne das Gefühl des Bewußtseins ihrer Leiden verlieren zu können, und welche starren Blickes emporschauen zum Himmel, die verzweifungsvolle Frage auf den bleichen Lippen, warum sie geboren wurden, um so viele Leiden zu ertragen, warum der Engel des Todes sie nur gestreift hat mit seinen Flügeln, ohne ihnen die Wohltat der Vernichtung zu gewähren.

Diese Unglücklichen, einsam Leidenden und Verzweifelnden sehen sie nicht, die jubelnden Sieger auf der einen Seite, die finsteren Besiegten auf der anderen, – sie sind allein unter dem dunklen Gewölbe des Himmels, das für ihre Klagen kein Echo, für ihre Leiden keinen Trost hat, – 575 allein mit dem Tode, der ihnen nicht nahen wollte in der flammenden Wetterwolke der Schlacht, der wie eine kalte Schlange langsam ihre Glieder umwindet und sich heranringelt zu dem fühlenden, leidenden Herzen, das mit der letzten Kraft seiner Lebenswärme in hoffnungslosen Schlägen sich müht und quält. –

Doch nein – wo der Himmel schweigt, wo die Sterne kalt und teilnahmslos herabblicken, da regt sich die Liebe und das Erbarmen, welche Gott in seine Geschöpfe legte und welche nach den Taten des Hasses das Werk der Barmherzigkeit beginnen. Von allen Seiten ziehen sie heran unter dem Zeichen des roten Kreuzes, die Kolonnen, welche dem Dienst der christlichen Liebe geweiht sind, die Ambulanzen mit den Ärzten, den Johannitern, den barmherzigen Schwestern und Diakonissinnen, diesen Priesterinnen der tätigen Liebe, die den Spuren des Dämons der Zerstörung unermüdlich folgen in reinerem und schönerem Gottesdienst, als er jemals vor den Altären der hochgewölbten Dome geübt wurde. Sie bringen den Leidenden Hilfe, den Verschmachtenden Erquickung, den Verzweifelnden Trost und gläubige Ergebung.

Aber neben diesen Dienern und Boten des Heils, des Lichtes und der Liebe öffnen sich auch von der anderen Seite die finsteren Abgründe des Verbrechens und aus ihnen hervor steigen, von den Geistern niedriger Habgier getrieben, jene Gestalten hervor, welche zweifeln lassen an der göttlichen Abstammung unseres Geschlechts, und welche fast zu dem Glauben berechtigen, daß auch der Hölle die Macht gegeben ist, ihre Geschöpfe in unsere zwischen Licht und Finsternis schwebende Welt heraufzusenden.

Hoch aufgetürmt lagen die Leichenhaufen an der Stelle, an welcher die tapferen preußischen Bataillone den Angriff der französischen Kürassiere abgeschlagen hatten und an welcher der Leutnant von Rothenstein schwer getroffen vom Pferde gesunken war.

Stunden waren vergangen seit jenem wilden Kampf, einsam und still war diese Stelle, nur von weither drangen die Stimmen der biwakierenden Truppen herüber, – starr und bleich lag der junge Offizier in der weiß und schwarzen 576 Uniform des berühmten Regiments der schlesischen Kürassiere auf dem vom Nachttau befeuchteten Boden. Der Helm war von seinem Haupt gesunken, ein Säbelhieb hatte seine Stirn gestreift und seine Haare klebten, von Blut durchströmt, an seinen Schläfen. Er hatte die Hände auf seine Brust gedrückt, Blut rieselte zwischen seinen starren Fingern hervor und seine gebrochenen Augen waren von den herabgesunkenen Lidern halb bedeckt. Um ihn her lagen französische Kürassiere und Pferde, – alle tödlich getroffen. Das Leben schien von dieser Stelle gewichen und der bleiche, starre Tod lag auf allen diesen Körpern, welche noch vor kurzer Zeit von Kraft und Kampfesmut geschwellt waren.

Da zuckten die Augenlider des unbeweglich am Boden ausgestreckten Offiziers, sie senkten sich vollständig über die halb offenstehenden, gebrochenen Augen herab und hoben sich dann wieder empor. Der starre Ausdruck des Todes war aus den Augen verschwunden und mit großen, verwunderten Blicken schauten dieselben in das vom Sternenschein matt erhellte Dunkel. Ein langer, mühsamer Atemzug hob die Brust des jungen Mannes. Er machte eine Bewegung, um sich emporzurichten, aber die Kraft versagte ihm, ein schwerer, drückender Schmerz lastete auf seiner Brust, er hatte ein Gefühl, als sei sein linker Fuß an den Boden geheftet, und ein brennender Schmerz in der linken Schulter machte ihm jede Bewegung unmöglich. Dumpfes Fieber zitterte durch seine Glieder und betäubte seine Gedanken, ein quälender Durst dörrte seine Zunge und seinen Gaumen, und allmählich gewaltsam seine Gedanken sammelnd, kam er zum Bewußtsein seiner Lage, – er sah die Leichen um sich her, er fühlte seine hilflose Einsamkeit, und der entsetzliche Gedanke, hier, umringt von den Schauern des Todes, zu verschmachten, ließ ihn fast die kaum wiedergewonnene Kraft des Denkens verlieren.

Dann aber regte sich in ihm der mächtige Instinkt der Lebenserhaltung, welchen die Natur in jedes geschaffene Wesen gelegt, und er versuchte, sich zu erheben, um irgendwie einen erquickenden Trunk zu erlangen. Aber jede Bewegung war mit unendlicher Mühe verbunden, seine ganze Kraft war durch Blutverlust erschöpft, der rechte Arm und 577 der rechte Fuß waren die einzigen Glieder, deren Nerven und Muskeln noch dem Willen gehorchten.

Langsam richtete er sich, auf die Hand und das Knie gestützt, empor, mit mächtiger Anstrengung den Schwindel überwindend, der ihn erfaßte.

Kein Bach, keine Wasserpfütze zeigte sich seinen Blicken. Nichts als zerstampftes, trockenes Gras und verstümmelte Leichen umher.

Aber mit seiner letzten Kraft kroch er, immer auf das Knie und die Hand sich stützend, zu einem in seiner Nähe halb von seinem Pferd bedeckt liegenden französischen Kürassier, um zu versuchen, ob in den Taschen des Toten eine Feldflasche zu finden sei. Auf das gefallene Pferd gestützt, beugte er sich zu dem Toten hinüber, der in der krampfhaft geschlossenen Hand seinen Karabiner hielt, und dessen Gesicht, von einer Kugel zwischen beide Augen getroffen, ihn in gräßlicher Verzerrung anstarrte.

Er überwand den Schauder vor diesem furchtbaren Anblick, und indem er sich mit der Brust auf das tote Pferd lehnte, senkte er seine Hand in die Uniformtasche des gefallenen Soldaten, und der tote Feind bot ihm hier, so fern von aller Hilfe der Lebenden, die ersehnte Labung. Er fand eine kleine, mit Korbgeflecht umzogene Flasche. Mühsam öffnete er dieselbe mit den Zähnen und sog mit durstigem Zug den darin befindlichen Rotwein ein.

Ein neues Gefühl des Lebens durchströmte ihn, seine Blicke wurden freier, seine Gedanken klarer, sein Blut begann zu rollen und die Hoffnung hob das in diesem zertrümmerten Körper fast erstarrte Herz zu neuen Schlägen empor. Er strengte seine ganze Kraft an, um einen Hilferuf erschallen zu lassen, der vielleicht die Sanitätskolonnen zu seiner Rettung herbeiziehen konnte, aber es drang nur ein matter Ton aus seinen Lippen und traurig ließ er den Kopf auf den Sattel des toten Pferdes sinken.

Der Trunk aus der Feldflasche des französischen Kürassiers hatte zwar seine Kräfte gestärkt und neue Lebenswärme durch seine Glieder strömen lassen, aber er begann nun auch den Schmerz seiner Wunde zu fühlen, welchen er in seiner früheren Betäubung kaum empfunden hatte, und 578 sein ganzer Körper erzitterte unter dem schneidenden Wehgefühl in seinen verwundeten Gliedern. Der Schmerz wurde so überwältigend, daß von neuem seine Sinne sich verwirrten. Er versank in einen traumartigen Zustand, eine glühende Hitze erfüllte seinen Kopf, heiße Atemzüge strömten aus seinem Munde und wunderbar verworrene Phantasiebilder stiegen vor seinem Geiste auf. Er sah einzelne Momente seines vergangenen Lebens mit photographischer Treue vor sich, in rascher Folge flogen sie an ihm vorüber, bis endlich ein kleines, blühendes Rosengebüsch vor ihm erschien, – inmitten desselben stand eine Gestalt in weißem Gewande. Sie hatte das Gesicht abgewandt, aber dennoch erkannte er diese Gestalt, er sah die Züge dieses Gesichtes, obgleich sie ihm nicht zugekehrt waren, wie es sich sinnend zu den Blumen herabbeugte.

In zitternder, atemloser Bewegung blickte er auf diese Gestalt hin, da wandte sie sich um und schwebte wie von duftigem Wolkenhauch getragen zu ihm heran. Ein warmes Licht glänzte ihm aus ihren Augen entgegen, sie reichte ihm eine weiße Rose – seine Augen füllten sich mit Tränen, er streckte seine Hand aus, um die kalte, traurige Blüte zu empfangen, aber wie er sie berührte, da erglühte die Blume in dunklem Purpur und strömte ihm einen Duft entgegen, der alle seine Sinne mit Entzücken erfüllte – und der purpurne Glanz der Rose leuchtete auf dem bleichen Antlitz der holden Gestalt wider, die sich ihm entgegenbeugte. Ein Strom von Liebe ergoß sich aus ihren Augen, er fühlte den warmen Atem ihres Mundes an seiner Stirn – – –

Da drangen Stimmen an sein Ohr – wie zurückkehrend aus einer anderen Welt öffnete er die Augen – die Erinnerung seiner Lage kam ihm zurück, freudige Hoffnung durchströmte ihn – es waren ja Menschen in der Nähe, die Rettung war gewiß.

Er sah dunkle Gestalten, welche sich über die Toten beugten, sie trugen kleine Blendlaternen in den Händen, deren helles Licht seine flackernden Streifen über das Feld hinsendete.

Mit aller Kraft, deren er fähig war, erhob er das Haupt und stieß einen langen, durch die Nacht hinhallenden Hilferuf aus.

579 Und der Ruf wurde gehört. Eine der Gestalten wendete ihre Laterne nach ihm hin und kam mit schnellen, leisen Schritten heran. Es war ein Mann in einem dunkeln Mantel, einen runden Hut tief in das Gesicht gedrückt. Ihm folgte rasch eine weibliche Gestalt.

Der verwundete Offizier glaubte eine Diakonissin zu erkennen, und erschöpft von der Anstrengung und der Aufregung schloß er die Augen.

Da fühlte er sich berührt an seinem verwundeten Arm. Ein jäher Schmerz durchzuckte ihn, rasch schlug er die Augen wieder auf und wollte den Mund öffnen, um seinem Retter zu danken. Aber was er vor sich sah, war nicht das Bild eines helfenden Arztes, nicht die sanften Züge einer barmherzigen Schwester.

Der Mann, welcher, über ihn gebeugt, seinen Arm hielt, hatte ein graugelbes Gesicht mit starken, unheimlichen Zügen, seine tiefliegenden Augen funkelten wild und schauerlich unter der breiten Hutkrempe hervor und in ihrem Blick lag nichts von helfender, erbarmender Liebe.

Neben ihm kniete, vom Schein der brennenden Laterne beleuchtet, ein mageres, häßliches Weib, ihre grauen Haare hingen verworren um den Kopf, ihre gelben, knöchernen Arme waren mit Blut befleckt, blutiger Schlamm lag auf ihrem Gesicht und machte dessen wilden Ausdruck noch entsetzlicher.

»Hier werden wir etwas finden,« sagte der Mann mit heiserem Ton in dem französischen Patois der Gegend, »hier ist eine Uniform mit Silbertressen – hier wird eine Uhr, hier wird Geld sein.«

»Schnell, schnell,« rief das Weib, »dort hinten bewegt sich etwas auf dem Felde. Man wird kommen, um die Verwundeten zu suchen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Mit schnellem, geschicktem Griff öffnete der Mann den Küraß, nicht achtend des schmerzvollen Stöhnens, das der verwundete Offizier, der von Entsetzen fast gelähmt war, ausstieß.

»Hier erst die Ringe!« rief das Weib, das den Handschuh von der linken Hand des Herrn von Rothenstein gerissen hatte, – »das ist ein guter Fund«, – und rasch 580 zog sie den Siegelring von dem Finger des jungen Mannes und warf ihn in einen Sack, der um ihre Schultern hing.

»Hier ist noch ein Ring,« sagte sie dann, »es ist ein Diamant, groß und wertvoll – –«

Und sie versuchte, einen kleinen Ring mit einem à jour gefaßten Diamant von dem kleinen Finger des Verwundeten zu ziehen.

»Er sitzt fest,« rief sie, »wir haben keine Zeit. Das Messer her!«

Der Mann reichte ihr ein großes, scharfes Messer.

Mit einem schnellen Schnitt trennte sie die Haut von dem Finger und riß den Ring herunter.

Herr von Rothenstein zuckte zusammen und stieß einen gellenden Schrei aus.

»Verdammt,« rief der Mann, »er wird uns die Patrouillen auf den Hals rufen! Drück ihm die Kehle zu!«

Das Weib stürzte sich über den Verwundeten her und umspannte seinen Hals mit einem so zähen Griff ihrer dürren Finger, daß sie ihn erwürgt haben würde, wenn nicht der starke Kragen seiner Uniform den Druck gemildert hätte.

Der Mann hatte inzwischen unter der Uniform die Uhr des Verwundeten hervorgezogen und tastete auf seiner verwundeten Brust umher, um zu suchen, ob er noch andere Wertgegenstände finden könnte.

Herr von Rothenstein trug an einer goldenen Kette in einem Etui die weiße Rose, welche ihm einst Gräfin Gabriele im Garten von Rensenheim gegeben. Dies Etui hatte eine Kugel von dem Herzen des jungen Mannes abgehalten und seitwärts gelenkt, es hing plattgedrückt an der Brust herab, – der Mann entdeckte es und versuchte es von der Kette loszureißen.

Da erwachte in dem verwundeten Offizier die letzte Kraft der Verzweiflung, als er diese heilige Erinnerung seiner Liebe von den räuberischen Händen der Unmenschen bedroht sah. Er erhob seine unverwundete rechte Hand, um sich zu verteidigen und stieß dabei an den Karabiner des toten Franzosen. Mit übermenschlicher Anstrengung löste er dessen starre Finger von der Waffe, hob den Lauf des Gewehrs gegen den Kopf des über ihn gebeugten Mannes 581 und drückte den Stecher. Der Karabiner entlud sich, die Kugel durchdrang den Kopf des Räubers, der mit einem kurzen Schrei sich hoch aufbäumte und dann als eine leblose, schwere Masse auf den Verwundeten niederfiel.

»Verdammter Preuße!« rief das Weib, indem sie ihre Finger so fest um den Hals des Herrn von Rothenstein drückte, daß derselbe Atem und Besinnung verlor.

Aber bereits klangen von der anderen Seite Stimmen herüber und das rote Licht von Fackeln durchdrang die Nacht. Der Schuß war gehört worden. Der Galopp eines Pferdes erschallte in unmittelbarer Nähe.

Rasch sprang das Weib empor, stieß einen kurzen Pfiff aus, schloß ihre Blendlaterne und verschwand wie ein geisterhafter Schatten in dem Dunkel der Nacht.

Auch die anderen Laternen, welche in einiger Entfernung wie zitternde Irrlichter über den Leichen hin und her geschwebt hatten, erloschen.

Wenige Augenblicke darauf sprengte ein Reiter in der Uniform der Johanniter, die weiße Binde mit dem roten Kreuz auf dem Arm, heran, parierte sein Pferd vor den Leichen, welche den verwundeten Offizier umgaben und rief mit lauter Stimme:

»Woher der Schuß? Was geht hier vor?«

Herr von Rothenstein, halb erstickt durch den letzten Griff, mit welchem das geflüchtete Weib seinen Hals umspannt hatte und erdrückt von der Last des über seine Brust gestürzten Mannes, hatte nur die Kraft, in einer letzten Anstrengung mit heiserer Stimme zu rufen:

»Zu Hilfe! Zu Hilfe!«

Der Reiter sprang aus dem Sattel, zog seinen Säbel und näherte sich, sein Pferd am Zügel haltend, langsamen und vorsichtigen Schrittes dem Verwundeten.

Befremdet blickte er, das Auge anstrengend, durch die Dunkelheit auf alle diese leblosen, unbeweglichen Gestalten und schien sich keine Rechenschaft darüber geben zu können, von welcher von ihnen der erstickte Hilferuf ausgegangen sei, den er soeben vernommen.

Er tastete umher, bis seine Hand endlich das noch lebenswarme Gesicht des Herrn von Rothenstein berührte.

582 »Mein Gott,« rief er, den toten Körper, welcher auf dem jungen Manne lag, zur Seite werfend, »wer sind Sie? Was ist hier vorgegangen?«

»Preußischer Offizier,« flüsterte Herr von Rothenstein leise, ohne die Augen öffnen zu können, – »Räuber –«

Die Stimme versagte ihm, er versank in tiefe Ohnmacht.

»Hierher,« rief der Johanniter laut über das Feld hin, »hierher, schnell zu Hilfe!«

Aus dem dunklen Schatten der Nacht fuhr rasch ein großer, mit Stroh gefüllter Leiterwagen heran. Einige Verwundete waren bereits auf die Strohbündel gebettet, zwei barmherzige Schwestern saßen auf dem Wagen, Ärzte und Mannschaften der Krankenträgerkompagnie mit Fackeln folgten.

Licht fiel auf den Ort des Schreckens. Man sah die toten französischen Reiter, auf dem gefallenen Pferde den preußischen Kürassieroffizier, und gekrümmt danebenliegend den Leichnam des Räubers, mit verzerrten Gesichtszügen und durchschossenem Kopf.

»Entsetzlich,« rief der Johanniter, ein junger Mann mit bleichen, regelmäßigen Gesichtszügen, blauen Augen und blondem Vollbart, – »wir sind gerade zur rechten Zeit gekommen, um ein furchtbares Verbrechen zu verhüten und vielleicht einen tapferen Landsmann zu retten. Kommen Sie her, Doktor, und sehen Sie, was zu tun ist.«

Der Arzt trat heran. Die barmherzigen Schwestern waren vom Wagen gestiegen und warteten, bis ihre Hilfe nötig sein würde.

Der Doktor kniete neben dem Verwundeten, legte die Hand an seine Stirn und betastete prüfend seine Glieder.

»Er ist schwer verwundet,« sagte er – »aber es ist Leben in ihm. Wir müssen versuchen, ihn zu retten. Fürs erste gilt es, die Lebenskraft ein wenig zu stärken, damit er den Transport aushält.«

Er öffnete eine an seinem Hals hängende Feldflasche, aus welcher ein starker, aromatischer Duft hervordrang, und hielt sie an die Lippen des Verwundeten.

583 »Ein feuchtes Tuch, um seine Stirn zu kühlen!« rief er dann, während Herr von Rothenstein Tropfen für Tropfen die belebende Flüssigkeit einsog.

Schnell eilte eine der barmherzigen Schwestern, ein weißes, mit Wasser und Essig getränktes Tuch in der Hand, herbei.

Der Doktor zog die Flasche zurück. Die barmherzige Schwester beugte sich über den Verwundeten und legte das Tuch um seine Stirn, während der Johanniter eine Fackel ergriffen hatte, deren Strahl die Szene hell beleuchtete.

Als die barmherzige Schwester den kühlenden Umschlag um die blutende Stirn des Verwundeten legte, zuckte sie wie im jähen Schreck zusammen, ein leiser Schrei drang aus ihren Lippen, und sie machte eine Bewegung, als wolle sie aufspringen und sich zurückziehen. Dann aber beugte sie sich wieder vor und drückte das Tuch mit ihren beiden Händen fest auf das Haupt des Verwundeten.

Herr von Rothenstein schlug langsam die Augen auf. Sein träumender, unsicherer Blick fiel auf das von dem Fackelschein beleuchtete Gesicht der barmherzigen Schwester – seine Augen öffneten sich weit und groß, als sähe er eine überirdische Erscheinung vor sich. Ein Ausdruck unendlichen Glückes erleuchtete sein bleiches, in schmerzlichen Linien verzogenes Gesicht und leise, kaum hörbar, als fürchte er, durch den Ton seiner Stimme die vor ihm erscheinende Vision zu verscheuchen, flüsterte er:

»Gabriele – Gabriele – Sie hier – oh, mein Traum, mein Traum, – er ist Wahrheit, glückliche, selige Wahrheit geworden!«

In unbeschreiblicher Verwirrung blickte die barmherzige Schwester in das verklärte Gesicht des Verwundeten. Unbeweglich kniete sie vor ihm, die Hände an seine Schläfen gedrückt, während der Doktor die in der Nähe liegenden französischen Kürassiere untersuchte, ohne eine Spur von Leben in ihnen zu entdecken.

Herr von Rothenstein suchte mit seiner rechten unverwundeten Hand auf seiner Brust. Er fand das goldene, von der feindlichen Kugel plattgedrückte Etui, hob dasselbe 584 empor und rief mit fieberhaft leuchtenden Blicken: »Hier, Gabriele, hier die weiße Rose – sie hat auf meinem Herzen geruht, sie hat den Tod von demselben abgewehrt, sie ist rot geworden, rot von meinem Blut –«

Noch immer kniete Gabriele unbeweglich vor ihm, aber in dem Schein der Fackel färbte sich ihr zartes, bleiches Gesicht mit dunklem Purpur, und aus ihren Augen strahlte im warmen Widerschein die helle Glut zurück, welche aus den Blicken des Verwundeten leuchtete.

»So war mein Traum,« rief Herr von Rothenstein mit kräftiger Stimme, – »so habe ich Sie gesehen! Es ist Wahrheit, glückliche Wahrheit!«

Ein zitternder Schauer flog durch seinen Körper. Langsam senkten sich seine Augenlider herab – – seine Kraft war erschöpft.

»Sie haben einen Bekannten wiedergefunden?« fragte der Johanniter in höflichem Ton, durch welchen eine innige, bewegte Teilnahme hindurchklang, als Gabriele sich erhob und, den Blick fortwährend auf den bleichen, jungen Mann gerichtet, in unruhiger Verlegenheit dastand.

»Es ist Herr von Rothenstein,« sagte sie mit leiser Stimme, »den ich oft im Hause meiner Eltern gesehen.«

»Ich bin der Baron von Rantow«, sagte der Johanniter, sich artig verneigend, »und darf vielleicht um den Namen Ihrer Eltern bitten«?

»Mein Vater ist der Graf Spangendorf,« erwiderte Gabriele, »sein Gut liegt am Rhein, und Herr von Rothenstein stand früher bei den Husaren in Düsseldorf.«

»Wir müssen ihn retten«, rief der Baron von Rantow. »Und es wird gelingen; haben wir ihn aus den Händen dieser unmenschlichen Leichenräuber befreien können, so hat die Vorsehung nicht gewollt, daß er sterben sollte.«

Er rief die Krankenträger heran.

Herr von Rothenstein wurde sorgsam und vorsichtig auf das Strohlager des Wagens gehoben, Gabriele setzte sich neben ihn, Herr von Rantow stieg zu Pferde, und der Zug bewegte sich weiter über das Schlachtfeld hin, um die Verwundeten unter Obdach und zu heilender Pflege zu führen. 585

 


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