Gregor Samarow
Kreuz und Schwert
Gregor Samarow

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Die Kürassierdoppelposten standen am 14. August vor der Präfektur in Metz und in dichter Menge eilten die Adjutanten und Ordonnanzoffiziere durch das große Tor des weiten Gebäudes, in welchem das Hauptquartier Seiner Majestät des Kaisers Napoleon III. sich befand. Truppen aller Waffen sah man in wogendem Gedränge auf den Straßen hin und her ziehen – vermischt mit den 411 Bewohnern der Stadt und mit Landleuten der Umgegend, welche hereingekommen waren, teils um Schutz zu suchen, teils um etwas Neues über die Operationen dieser Armee zu hören, auf welche das ganze Frankreich so hohes Vertrauen gesetzt hatte, und von der man noch immer eine plötzliche, gewaltige Erhebung erwartete, welche die feindlichen Armeen wieder über die Grenzen Frankreichs zurückwerfen würde. Die armen Landleute, welche hereingekommen mit mehr oder weniger Lebensmitteln, die sehr willkommen waren und gut bezahlt wurden, mußten jammernd und wehklagend die Stadt wieder verlassen, da man wohl die von ihnen gebrachten Lebensmittel brauchen konnte, nicht aber die Zahl der zu Ernährenden vermehren durfte. So fanden denn überall und namentlich nach den Toren hin heftige und lebhafte Szenen statt, indem die Soldaten, ihren erhaltenen Befehlen gemäß, die Dorfbewohner der Umgegend wieder aus der Festung hinausführen und oft Gewalt anwenden mußten, da die unglaublichsten Erzählungen, welche an die Legenden des Dreißigjährigen Krieges erinnerten, den deutschen Armeen vorausgingen. Die ganze Stadt und das Lager vor derselben bot das Bild der Unordnung, Zerfahrenheit und Ratlosigkeit dar, und selbst unter den im Dienste befindlichen Truppen machte sich bereits jene Lockerung der Disziplin bemerkbar, welche bei den so leicht erregbaren französischen Soldaten nach allen Niederlagen gar schnell einzutreten pflegt.

Um die Präfektur her herrschte nicht mehr jene ruhig ehrerbietige Stille, welche in der ersten Zeit, als das große Hauptquartier hier aufgeschlagen worden, die kaiserliche Residenz umgab, – sowohl die Truppen als die Bewohner der Stadt drängten sich hier zusammen und standen Kopf an Kopf bis in den Hof hinein, – denn hier am Mittelpunkte, in welchem alle Nachrichten zusammenliefen, von welchem alle Befehle ausgingen, hoffte man am schnellsten und sichersten Nachricht zu erhalten über die Engagements mit dem nahe herandrängenden Feinde und über die Pläne, welche beschlossen wären, um endlich mit entscheidender Kraft dem weiteren Vorgehen der deutschen Heere entgegenzutreten.

412 Kaum blieb der Weg bis zum Eingang in die Präfektur für die Generale und Adjutanten frei, welche unausgesetzt kamen und gingen und von der neugierigen Menge mit Fragen bestürmt wurden. Sie gaben freilich keine Antwort auf alle diese Fragen, sondern begnügten sich, achselzuckend und kopfschüttelnd davonzueilen, – aber dies Schweigen war auch eine Antwort, – denn hätten sie gute Nachrichten zu geben gehabt, hätten sie endlich die so lang ersehnte Siegesbotschaft bringen können, – sie würden nicht geschwiegen, sondern laut das Jubelwort ausgerufen haben, das Wort der Befreiung von dem Banne der Furcht und des Schreckens, der auf allen Herzen lag.

Denn Furcht und Schrecken begann zu herrschen unter den Bewohnern der jungfräulichen, uneinnehmbaren Festung Metz, welche sich so sicher hinter den noch von keinem Belagerer erstiegenen Wällen gefühlt und fest geglaubt hatten, daß der Kaiser von hier nur hinausziehen werde, um den siegreich vordringenden Heeressäulen in das Herz Deutschlands zu folgen, – Furcht und Schrecken verbreitete sich auch in der Armee, welche noch vor kurzem so zuversichtlich von der militärischen Promenade nach Berlin gesprochen hatte. Mac Mahon, der Unüberwindliche, der Held von Malakoff, der Sieger von Magenta, war geschlagen, und alle löwenmutige Tapferkeit seiner Soldaten hatte nichts weiter retten können als die Ehre; – man hatte von Tag zu Tag erwartet, daß dieser berühmteste und populärste Marschall der französischen Armee seine Truppen wieder sammeln und in der vordersten Reihe der französischen Aufstellung erscheinen würde, denn die kurzen offiziellen Bulletins ließen das erwarten, – statt dessen aber erfuhr man durch Privatnachrichten von seinem immer weiteren Rückmarsch nach Chalons hin; – dann war die Nachricht eingetroffen, daß der General Frossard geschlagen und sein ganzes Korps in voller Auflösung zurückgeworfen sei, – das Ministerium in Paris war verschwunden, wie ein Nichts verweht vor dem Hauch dieses furchtbaren Sturmes, der immer drohender von den Grenzen daherbrauste, und immer mehr war die Hoffnung geschwunden, immer mehr aber war auch die Aufregung gestiegen, immer mehr das 413 Vertrauen gesunken, – das Vertrauen in den Kaiser, in die Regierung und in die Heerführer, – und immer lauter und kühner erhoben sich die anfangs nur leise murrenden Stimmen – sie wurden hörbar bis zur nächsten Umgebung des Kaisers hin, der sich selten nur auf den Straßen sehen ließ, und von dem Volke und den Truppen mit eisigem Schweigen empfangen wurde.

Dann hatte der Marschall Bazaine den Oberbefehl über die ganze französische Armee erhalten, und wie alles Neue Hoffnungen erweckt, so hatte auch diese Ernennung einen Augenblick die Herzen wieder erfrischt und aufgerichtet; denn man wußte ja, daß der Marschall Bazaine ein Soldat war, der von unten herauf gedient und sich bis zur höchsten militärischen Würde aufgeschwungen hatte, – aber er war keine populäre Persönlichkeit, seine Erfolge in Mexiko waren zweifelhafter Natur gewesen, und die Verbindung, in welcher sein Name mit dieser für die Ehre Frankreichs und den Wohlstand so vieler Familien wenig vorteilhaften Expedition stand, trug nicht dazu bei, das Vertrauen in ihn zu verstärken. Dazu kam, daß der Kaiser immer noch da war, und solange er da war, doch eigentlich allein den Oberbefehl führte, und wie in solchen Fällen großen nationalen Unglücks immer ein Schuldiger gesucht wird, und wie man diesen Schuldigen immer am liebsten in dem am höchsten Stehenden findet, so hatte auch in Metz, in der den Kaiser umgebenden Armee, bereits das Wort ein Echo gefunden, welches der Deputierte Jules Favre im Corps législatif gesprochen, – das Wort: »Der Kaiser muß von der Armee entfernt werden!« Es blieb nur noch das Wort zu sprechen übrig: der Kaiser muß von der Regierung entfernt werden – und auch dies Wort, bei welchem noch vor wenigen Wochen ganz Frankreich, von den Pyrenäen bis zum Kanal, erbebt wäre, schwirrte bereits durch die Luft.

Eben waren wieder mehrere Kuriere mit Depeschen in den Hof der Präfektur geritten, eifrig wurden sie umdrängt und mit Fragen bestürmt, aber noch ehe sie antworten konnten, las man auf ihren Mienen, daß sie Gutes nicht zu verkünden hätten.

»Keine Nachrichten von der Flotte?« rief ein vom 414 Wein erhitzter Voltigeur dem letzten Kurier zu, der eben vom Pferde stieg, – »wozu haben wir unsere Marine, welche den Mund so voll genommen, – wenn sie jetzt nicht da ist, um diesen Deutschen in den Rücken zu fallen, um sie zu zwingen, uns zu Atem kommen zu lassen?«

»Dazu ist wenig Aussicht,« sagte der Kurier mit bitterem Lachen, indem er in das große Tor trat, – »die preußischen Patrouillen streifen bis höchstens zwei Meilen vor den Toren von Metz.«

Und mit einem halblauten Fluch trat er in die Tür der Präfektur.

»Zwei Meilen von hier!« riefen verschiedene Stimmen aus den Gruppen der Bürger und Soldaten in der Nahe, – »zwei Meilen vor den Toren der Festung – haben denn diese Preußen Flügel? – sie sind überall –«

»Und dabei wird Kriegsrat auf Kriegsrat gehalten,« sagte der Voltigeur hohnlachend, – »aber zu einem Entschluß können sie nicht kommen, die Herren Generale – und der Kaiser am wenigsten, – und wenn sie endlich etwas beschließen, dann kommt nichts weiter dabei heraus, als daß wir uns unnütz totschießen lassen müssen, – Gottes Blut!« rief er, die geballte Faust gegen die Fenster der Präfektur erhebend, – »ich wollte –«

»Ruhig, mein Freund,« sagte ein riesiger Kürassier, welcher aus einer danebenstehenden Gruppe herantrat und mit eisernem Griff die erhobene Faust des Voltigeurs erfaßte, – »ruhig – es steht einem guten Franzosen und kaiserlichen Soldaten sehr schlecht an, über die Kommandeurs in solcher Weise zu sprechen, – am allerwenigsten, wenn wir Unglück gehabt haben und jeder das Seinige tun muß, um den Ruhm der Armee wiederherzustellen.«

Der Voltigeur warf einen bösen Blick auf den Kürassier, doch mochte seine athletische Gestalt und feste Haltung ihm keine Neigung einflößen, etwas zu erwidern.

Er schwieg und wendete sich pfeifend zu einer anderen Gruppe.

Während unter den Gruppen, und namentlich unter den von den Ereignissen so unmittelbar berührten Bewohnern von Metz, immer mehr Äußerungen der Angst 415 und Besorgnis über die so unmittelbare Nähe der preußischen Armee laut wurden, richtete sich plötzlich die Aufmerksamkeit auf einen Ordonnanzoffizier des Kaisers, welcher mit eifriger Eile durch die Menge den Weg für einen ihm folgenden Herrn in Zivil frei machte.

Man war hier im Hauptquartier der Armee so an militärische Erscheinungen gewöhnt, daß dieser einfache Mann im schwarzen Überrock mit der Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch, welcher von einem kaiserlichen Adjutanten nach dem Hauptquartier geführt wurde, die allgemeine Aufmerksamkeit erregte.

Derjenige, auf welchen alle diese neugierigen, forschenden Blicke sich richteten, schritt ruhig und langsam, ohne rechts oder links zu blicken, vorwärts. Seine Haltung war aufrecht und kräftig, aber dennoch merkte man an derselben, sowie an den kränklichen Zügen seines Gesichtes, mit weißem Haar und Bart, sein hohes Alter. Sein lebhaftes, dunkles Auge schien den Gedanken zu folgen, welche ihn beschäftigten, und wenig von den Dingen zu merken, die ihn äußerlich umgaben.

»Es ist ein Minister, der aus Paris kommt«, hörte man in den Gruppen flüstern.

»Es ist ein Diplomat, der wegen der Intervention der neutralen Mächte kommt«, sagte ein anderer, während der Gegenstand aller dieser Bemerkungen sich, dem Adjutanten folgend, mehr und mehr dem Eingang der Präfektur näherte.

»Nein, nein,« rief eine Stimme, »es ist kein Minister, ich kenne ihn! Ja, ja, es ist der General Changarnier –«

»General Changarnier! General Changarnier!«tönte es durch die Gruppen fort, während alle Blicke sich mit verschärfter Neugier auf diesen alten Mann richteten, dessen Name in der französischen Armee stets einen guten Klang gehabt hatte, wenn er auch seit längerer Zeit fast vergessen war – von dem aber jedermann wußte, daß er zu den entschiedensten Gegnern des Kaiserreichs und Napoleons III. persönlich gehörte und daß er Gefängnis und Verbannung wegen seines Widerstandes gegen die Aufrichtung des kaiserlichen Thrones erduldet hatte.

416 Das Erscheinen dieses Mannes in diesem Augenblick, in der Residenz des Kaisers, mußte etwas bedeuten, und wenn der General Changarnier zu Napoleon III. kam, so konnte das nur etwas Gutes bedeuten. Es konnte nur das bedeuten, daß in diesem Augenblick der höchsten Gefahr die edelsten und besten Kräfte Frankreichs alle Sonderinteressen und Parteiungen vergessen wollten, um lediglich und ausschließlich dem Heile des Vaterlandes sich zu widmen. Mit jenem feinen Instinkt, mit welchem jede größere versammelte Masse des Volks sofort das innerste und eigentlichste Wesen einer augenblicklichen Situation begreift, erfaßte auch hier diese ganze unruhig bewegte Menge in einem Augenblick jenen Gedanken, und ohne daß man wußte oder hören konnte, wessen Stimme sich zuerst erhoben, erschallte plötzlich laut und einstimmig über den Hof der Präfektur der Ruf:

»Es lebe der General Changarnier!«

Der General, welcher gerade im Begriff war, in die Eingangstür des Hotels zu treten, wandte sich um und blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Seine dunklen, feurigen Augen flogen wie erstaunt und fragend über diese Menge hin, welche ihn, den so lange Geächteten, Verbannten und von aller Welt Vergessenen, hier so unerwartet mit diesem freudigen Zuruf begrüßte. Ein halb wehmütig-schmerzliches, halb bitteres Lächeln flog über sein bleiches Gesicht, über die tief gefurchten Züge hin.

Er erhob leicht das Haupt und verneigte sich dankend.

Eine augenblickliche tiefe Stille trat ein.

»Es lebe Frankreich!« rief der General, gleichsam als Antwort auf die ihm persönlich dargebrachte Huldigung.

Und alle Welt stimmte in diesen Ruf des Generals ein, welcher einfach und klar den Punkt bezeichnete, in dem sich jetzt die Wünsche und die Anstrengungen aller Franzosen vereinigen mußten.

Einige Stimmen ließen sich hören, welche riefen:

»Es lebe der Kaiser!«

Aber sie blieben vereinzelt und fanden selbst unter den Soldaten der Garde nur ein dumpfes Echo, sie verhallten unter den mehrmals sich wiederholenden Rufen:

417 »Es lebe Frankreich!«

Einen Augenblick bewegte sich eine der zurückgezogenen Gardinen des ersten Stockwerks.

War es der Kaiser, welcher von dort aus die Szene beobachtet hatte, welche hier in dem Hof seiner Residenz stattfand? Hatte er es gehört, wie hier zum erstenmal seit einer langen Reihe von Jahren, ohne jede Absicht, ohne jede Agitation, der Instinkt des Volkes Frankreich und das Kaisertum voneinander trennte, den Thron und die Dynastie zurückstellend hinter jenen großen Begriff des Vaterlandes, welcher das einzige Feste ist in den Herzen der Franzosen, die sich seit langer Zeit daran gewöhnt haben, die Könige und Kaiser kommen und gehen zu sehen, bald beklatscht und bejubelt, bald ausgezischt auf jener großen Bühne der Weltgeschichte.

Der General Changarnier neigte noch einmal grüßend den Kopf und folgte dann dem Adjutanten in das Innere des Hotels. Er stieg die Treppe hinauf und wurde unmittelbar durch die mit Kurieren und Ordonnanzoffizieren angefüllten Vorzimmer in das Kabinett des Kaisers geführt.

In der Mitte dieses Zimmers stand ein großer Tisch, auf welchem eine Karte des Kriegsschauplatzes ausgebreitet war, Nadeln mit farbigen Knöpfen und kleine Fähnchen bezeichneten die Stellung der Truppen. Daneben lagen in ungeordneten Haufen eröffnete und nicht eröffnete Berichte, Telegramme, halb beschriebene Blätter auf den Stühlen und Tischen und auf dem Parkettfußboden umher.

Der Kaiser, in dem Überrock der Generalsuniform mit dem kleinen Kreuz und dem Stern der Ehrenlegion und den militärischen Medaillen, stand, die Hand auf die Lehne des Sessels gestützt, neben dem Tisch in der Mitte. Sein Gesicht war bleich, fast aschfarben, seine Wangen tief eingefallen, seine schmalen Lippen preßten sich, wie zur Unterdrückung körperlicher Schmerzen, fest aufeinander. In seinen tiefliegenden Augen glänzte die fieberhafte Erregung, welche übermäßige geistige Anstrengung und lange Schlaflosigkeit hervorruft. Sein Haar war sorgfältig frisiert, sein Bart in langen Spitzen zur Seite gedreht, und die Haltung seiner Gestalt hatte durch die Anstrengung, welche er anwandte, 418 die körperliche Schwäche und Erschöpfung zu überwinden, etwas Gezwungenes und Steifes, das ihm sonst nicht eigentümlich war. Ebenso gezwungen erschien sein sonst so gewinnendes und verbindliches Lächeln, als er dem General Changarnier entgegenging, und ihm die Hand zur Begrüßung reichte, welche der General mit einer leichten Verbeugung ruhig und kalt ergriff, ohne ihren Druck zu erwidern.

»Ich danke Ihnen, Herr General,« sagte der Kaiser mit einer etwas heiseren und matten Stimme, »daß Sie gekommen sind, mir Ihren Rat und Beistand zu geben. Ihr Erscheinen bei mir beweist, daß Sie, wie ich nicht gezweifelt habe, über persönliche Verstimmung und Gegnerschaft erhaben sind, wenn es sich darum handelt, der Gefahr zu begegnen, welche Frankreich bedroht.«

»Sire,« erwiderte der General Changarnier in festem, kaltem, aber durchaus höflichem Tone, »ich habe in Ihnen in diesem Augenblick nichts anderes zu sehen als den Souverän, welchen sich mein Vaterland durch die Willenserklärung einer überwiegenden Majorität gegeben hat, dessen Beruf es in diesem Augenblick ist, das Vaterland durch eine Vereinigung aller seiner Kräfte aus seiner Not und schweren Bedrängnis zu erretten, einer Not und Bedrängnis,« fügte er hinzu, »deren Veranlassung und Schuld mir zu erörtern in diesem Augenblick nicht zusteht. Ich wünsche von Herzen,« fuhr er mit wärmerem Ton fort, »daß alle Franzosen denken möchten wie ich, und daß es, den Feinden Frankreich gegenüber, keine Parteien und politischen Meinungen, sondern nur Franzosen geben möge. Ich wünsche auch,« fügte er hinzu, »daß es Eurer Majestät gelingen möge, durch Vereinigung aller nationalen Kräfte Frankreich zu retten und sich auf diese Weise ein neues und von allen Patrioten ohne Ausnahme anerkanntes Anrecht auf die Führung der Nation zu erwerben.«

»Setzen Sie sich, Herr General,« sagte der Kaiser, welcher unsicher schwankend, als bekämpfe er quälende Körperschmerzen, dagestanden hatte, indem er sich in einen neben dem großen Tisch stehenden Sessel niedersinken ließ.

Der General folgte der Einladung des Kaisers und erwartete ruhig und ernst dessen weitere Mitteilung.

419 »Die Lage ist eine schwierige und gefährliche,« sagte der Kaiser, indem er, sich in seinen Sessel zurücklehnend, erleichtert aufatmete, »aber sie ist keine verzweifelte. Ihre reiche militärische Erfahrung, Herr General, wird gewiß imstande sein, einen Weg zu finden, um alles noch zum Guten zu wenden. Und wenn Sie sich entschließen könnten, von neuem Ihren Degen für unser Vaterland zu ziehen, so würde nicht nur ich, – daran würde Ihnen wohl weniger liegen,« fügte er mit traurigem Lächeln hinzu, »sondern auch Frankreich Ihnen ewige Dankbarkeit schulden.«

»Ich muß Eurer Majestät sogleich bemerken,« sagte der General, »daß ich eine aktive Beteiligung an militärischen Operationen abzulehnen die Pflicht habe. Ich bin alt, sehr alt,« fügte er hinzu, »und die Jahre der Untätigkeit zählen doppelt; wenn auch mein Geist noch klar und mein Wille noch kräftig ist, so bin ich doch nicht mehr Herr über die gebrechliche Maschine, welche das notwendige Werkzeug zur Ausführung auch des besten und kräftigsten Willens bildet. Ein General, der eine Armee gegen den Feind führen soll, muß unumschränkter Herr über seinen Körper sein – und das, Sire, bin ich nicht mehr«, fügte er mit einem leichten Seitenblick auf die gebrochene Gestalt des Kaisers hinzu, der die Augen niederschlug und tief aufseufzte.

»Meine geistige Tätigkeit«, sprach der General dann weiter, »und die Resultate meiner Erfahrungen stehen Eurer Majestät, welche in diesem Augenblick Frankreich vertritt, zur Verfügung, den Rat aber, den ich geben kann, muß ich jüngeren und festeren Kräften überlassen in Ausführung zu bringen.«

»Auch dadurch, Herr General,« sagte der Kaiser, »werden Sie dem Vaterland einen großen und unvergeßlichen Dienst leisten, und für jeden Offizier der französischen Armee wird es eine Ehre und Freude sein, mit Eifer und Anstrengung die Ratschläge des Generals Changarnier auszuführen.«

Der General schwieg. Kein Zug seines Gesichtes zeigte, daß diese freundlichen Worte des Kaisers einen Eindruck auf ihn machten.

420 »Hier, Herr General,« sagte Napoleon, indem er mit der Hand auf die mit Nadeln besteckte Karte deutete, »sehen Sie die Stellung unserer Truppen und diejenige des Feindes, soweit es mir möglich geworden, mich darüber zu informieren. Leider ist das schwer,« fügte er hinzu, »denn die preußische Taktik hat, wie es scheint, eine ganz neue Verwendung der Kavallerie eingeführt, indem sie den Kern ihrer Aufstellung durch Massen von Reiterei wie mit einem dichten und undurchdringlichen Schleier umzieht, so daß es fast unmöglich wird, irgendwelche genaue Nachrichten über ihre Stellung und Bewegung zu erhalten; doch im allgemeinen werden die auf der Karte angegebenen Positionen die richtigen sein.«

Der General Changarnier erhob sich, stützte leicht die Hand auf den Tisch und warf einen Blick auf die Kriegskarte und die auf derselben befindlichen Truppenbezeichnungen. Ein eigentümliches, halb wehmütiges, halb schalkhaft spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen, und mit feiner Betonung sagte er:

»Es ist lange her, seit ich zum letztenmal mit Eurer Majestät eine Karte mit solchen Nadeln musterte – damals handelte es sich um die Dislokationen der Regimenter zur Deckung von Paris gegen revolutionäre Unternehmungen –«

Der Kaiser ließ den Kopf auf die Brust sinken.

»Vergessen wir die Vergangenheit, General,« sagte er leise, »ich wollte Frankreich damals auf meine Weise retten gegen die inneren Feinde – habe ich unrecht gehabt, so werden Sie mir dies am besten beweisen, wenn Sie mir jetzt beistehen, das Vaterland gegen den äußeren Feind zu retten.«

Der General prüfte lange schweigend die Karte und die Nadeln auf derselben.

»Sire,« sagte er dann, »nicht um zu kritisieren, nicht um zu tadeln oder zu beschuldigen, sondern um den Weg zur Rettung zu finden, muß ich Ihnen sagen, daß von Anfang an ein schwerer und verhängnisvoller Fehler in der Aufstellung der französischen Armee begangen worden ist. Sie haben Ihre Korps zerstreut und ohne feste Verbindung untereinander auf einer weiten Linie echelonniert, somit 421 dem Feinde Gelegenheit gegeben, durch einen wuchtigen Vorstoß die Armee auseinander zu sprengen und zugleich auf jedem Punkt Ihren zerstreuten Korps eine erdrückende Übermacht gegenüberzustellen. Dieser Fehler hat sich schwer gerächt, um so schwerer, da Sie dem Feinde zugleich Gelegenheit gegeben haben, die Offensive zu ergreifen, was ihm zugleich ein großes moralisches Übergewicht gibt, da die französischen Truppen für die Defensive unendlich weniger geeignet sind und bei notwendigen retrograden Bewegungen leicht den Elan verlieren, der eine notwendige Bedingung ihres siegreichen Erfolges bildet. Dieser Fehler ist begangen und hat sich schwer gerächt. Ihn klar zu erkennen, ist notwendig, um ihn zu verbessern. Was versäumt worden und was so schweren Schaden gebracht hat, muß nunmehr gutgemacht werden. Ein direktes Vorgehen in diesem Augenblick ist absolut unmöglich. Die Armee des Marschalls Mac Mahon, welche sich wieder sammeln und konsolidieren muß, kann nicht schnell genug hierher kommen, auch ist der Feind bereits zu weit vorgedrungen – ich sehe, daß seine Spitze unmittelbar vor uns steht und daß seine Bewegungen, so sehr dieselben auch verschleiert sein mögen, doch darauf hinausgehen, sich zwischen Chalons und Metz zu werfen, also die französischen Korps vollständig auseinanderzuschlagen. Die einzige Möglichkeit also, Sire, ist die, daß die Armee von Metz, welche nach meiner Überzeugung schon zu lange gezögert hat, unverzüglich den Rückzug antrete, um sich in Chalons, oder wenn es sein muß, vor Paris mit der Armee Mac Mahons zu vereinigen und dort im Herzen Frankreichs, unter Hinzuziehung einer allgemeinen und ausgedehnten Volksbewegung, den Feind zu erwarten. Diese Bewegung hätte«, fuhr er fort, »schon längst ausgeführt sein sollen, denn es wird jetzt nur noch wenig Zeit für dieselbe übrigbleiben, und es ist sehr fraglich, ob sie ohne Schlacht wird ausgeführt werden können; denn den Feinden muß natürlich alles daran liegen, eine Vereinigung der französischen Armeen um jeden Preis zu verhindern und womöglich die ganze Armee von Metz hier in der Festung einzuschließen, wo sich eine so große Anzahl von Truppen auf die Dauer nicht halten kann.«

422 »Metz einschließen?« sagte der Kaiser mit ungläubigem Lächeln, »eine solche Festung im feindlichen Lande, welche die einschließende Armee von zwei Seiten decken müßte, halten Sie das für möglich? Es wäre ein in der Kriegsgeschichte unerhörtes Beispiel.«

»Die preußische Taktik«, sagte der General ruhig, »hat uns seit dem Jahre 1866 viele solche Beispiele gezeigt, und soweit ich den Feldzug und die Bewegungen des Feinde verfolgt habe, kann seine Absicht keine andere sein. Die Sicherheit und Präzision, mit welcher der preußische Generalstab die Truppenmassen wie die Figuren eines Schachbrettes bewegt, ist erstaunlich. Ich würde diesem Generalstab und diesen Truppen gegenüber niemals auf eine Unmöglichkeit rechnen, sollte sich dieselbe auch aus den bisherigen Erfahrungen der Kriegsgeschichte begründen lassen.«

»Sie würden also –« fragte der Kaiser.

»Ich würde, Sire,« sagte der General, »ohne eine Stunde Verzug die ganze Armee in Eilmärschen nach dem Innern des Landes zurückziehen, um unter jeder Bedingung und selbst auf die Gefahr von Verlust hin die Verbindung mit Mac Mahon herzustellen, und ich würde in Metz nur die zur Verteidigung des Platzes notwendige Garnison zurücklassen, welche immerhin genügen wird, ein sehr bedeutendes preußisches Korps hier festzuhalten.«

Der Kaiser dachte einen Augenblick nach.

»Dasselbe sagte mir Bazaine«, sagte er dann. »Aber ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, Herr General,« fuhr er fort, »daß ich in einem Rückzug, namentlich in einem so eiligen und schnellen Rückzug, eine große Gefahr für die Stimmung und den Mut des ganzen Landes erblicke. Die bisherigen Niederlagen haben schon decouragiert, einen solchen Rückzug würde man überall als eine definitive Flucht ansehen. Auch ist eine so rasche Bewegung mit dem großen Train, den die Armee mit sich führen muß, sehr schwer auszuführen, – sollte es nicht möglich sein, Mac Mahon hier zu erwarten und, gestützt auf die feste Position von Metz, den Feinden eine Schlacht anzubieten?«

Der General zuckte mit einer leichten, ungeduldigen Bewegung die Achseln.

»Mac Mahon kann bei der furchtbaren Erschütterung, welche seine Korps erlitten haben, nicht so schnell vorgehen, daß es den Feinden nicht gelingen sollte, zwischen die beiden Armeen zu dringen. Die einzige Möglichkeit, die Verbindung wiederherzustellen, liegt in dem schleunigen Rückmarsch der Armee von Metz. Und wenn Eure Majestät«, fuhr er lebhaft fort, »von dem Train gesprochen haben, so verstehe ich diese Rücksicht nicht. Die Armee zieht sich in ihr eigenes Land zurück, wo sie überall in ausreichendem Maß Verpflegung finden kann, sie bedarf des Trains nicht, und mir erscheint es viel besser, denselben mit allem Proviant hier zu lassen, denn man wird dessen hier nie zu viel haben können.«

»Welch einen Eindruck«, sagte der Kaiser halb für sich, »würde die Zurücklassung des Trains auf die Armee machen, und wie demoralisierend würde der Gedanke einer wirklichen Flucht wirken müssen, und in Paris,« sagte er dann laut, »welche Schwierigkeiten würden der Regierung in Paris erwachsen, wenn dorthin entstellte und übertriebene Nachrichten von einem solchen übereilten Rückzug dringen würden!«

»In militärischen Fragen«, sagte der General Changarnier fest und bestimmt, »dürfen nur militärische Rücksichten maßgebend sein. Wollen Eure Majestät auf die Stimmung in Paris oder in Frankreich Rücksicht nehmen, so werden Sie niemals mit einem Feinde wie Preußen Krieg führen können, und damit, Sire,« fuhr er fort, während der Kaiser schweigend zu Boden blickte, – »komme ich auf einen zweiten Punkt, über den ich, da Eure Majestät mich im Namen Frankreichs um meinen Rat gefragt haben, Ihnen in rücksichtsloser Offenheit meine Ansicht aussprechen muß. Sie haben, Sire,« sagte er, sich wieder neben den Kaiser setzend, »dem Marschall Bazaine den Oberbefehl über die ganze Armee übertragen, – ich weiß nicht,« fuhr er fort, »wodurch Sie zu dieser Wahl bestimmt worden sind, auch bin ich weit entfernt, dieselbe kritisieren zu wollen, – ich würde, wenn ich heute ein Kommando in der Armee führte, mich dem von Ihnen ernannten Oberbefehlshaber ebenso unbedingt unterordnen, als dies der Marschall Mac 424 Mahon getan hat, denn Sire, einer muß den Oberbefehl führen und die Zeit einer großen und ernsten Krisis hat für persönliche Eifersucht keinen Raum – jedes Nachgeben an eine solche Regung käme dem Hochverrat in diesem Augenblick gleich; – aber Sire, damit wirklich ein einheitlicher Oberbefehl stattfinden könne, ist eines notwendig – dringend notwendig –«

»Und?« fragte Napoleon, indem er den trübe verschleierten Blick zu dem General erhob.

»Es ist notwendig,« fuhr Changarnier fort, »daß Eure Majestät auf der Stelle das Hauptquartier des Marschalls verlassen; denn solange Sie hier anwesend sind, wird derselbe niemals in Wirklichkeit der Höchstkommandierende sein, – Eure Majestät sind der Souverän – der Marschall kann es nicht unterlassen, Ihnen seine Pläne mitzuteilen, Sie werden über dieselben Ihre Ansicht aussprechen, und diese Ansicht kann der Marschall wieder nicht unbeachtet lassen, – auf diese Weise ist er nicht absoluter Herr seiner Handlungen, was ein General im Felde immer sein soll – und vorzugsweise in einer so ernsten Zeit, wie die gegenwärtige.«

Napoleon saß schweigend in seinen Stuhl zusammengesunken, – die Spitzen seiner Finger, welche auf seinen Knien ruhten, zitterten in unruhig nervöser Bewegung.

Der General blickte hochaufgerichteten Hauptes zu dem gebrochenen Kaiser hinüber, welcher in seinen schwachen Händen die zerbröckelnde Macht Frankreichs hielt, während immer näher und näher in geheimnisvollen Windungen die deutsche Armee heranrückte, – deren Bewegungen man instinktartig spürte, ohne sie genau ermitteln und verfolgen zu können.

Ein Ordonnanzoffizier meldete den Marschall Bazaine.

»Bleiben Sie noch einen Augenblick,« sagte der Kaiser zu dem General Changarnier, der sich erhob, »der Marschall hat vielleicht eine neue Nachricht zu bringen.«

Der Marschall Bazaine trat ein. Seine kurze, gedrungene, etwas volle Gestalt hatte militärische Festigkeit in ihrer Haltung, doch keine Geschmeidigkeit und Eleganz in ihren Bewegungen. Sein etwas aufgeschwemmtes Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart zeigte eine gewisse 425 zurückhaltende Verschlossenheit, und der etwas trübe Blick seiner Augen schien, wenn er sich auch fest und gerade auf denjenigen richtete, mit dem er sprach, dennoch seinen eigentlichen und letzten Gedanken zu verhüllen.

Der Marschall verneigte sich tief vor dem Kaiser und begrüßte dann mit kalter Höflichkeit den General Changarnier, der seinen Gruß noch kälter, noch zurückhaltender erwiderte.

»Der General teilt vollkommen Ihre Ansicht, Herr Marschall,« sagte Napoleon, »daß die Armee von Metz nach Chalons zurückgeführt und daß diese Bewegung so schnell als möglich ausgeführt werden müßte.«

»Ich freue mich, Sire,« sagte der Marschall Bazaine in kaltem Ton, »der Zustimmung einer solchen militärischen Autorität wie der Herr General und hätte nur gewünscht, daß derselbe in der Lage gewesen wäre, die vollendete Tatsache zu billigen, statt einem Plane zuzustimmen, dessen Ausführung mit jedem Augenblick schwieriger wird; denn ich muß Eurer Majestät mitteilen, daß die Patrouillen des Feindes sich immer mehr der Festung nähern, und daß die Bewegungen der feindlichen Armee, soweit dieselben erkennbar, durch die bestimmte Absicht geleitet zu sein scheinen, unsern Rückzug auf Chalons zu verhindern. Ich glaube kaum, daß es möglich sein wird, denselben ohne eine Schlacht zu bewerkstelligen.«

»So möge die Schlacht geliefert werden!« rief der General Changarnier, – »selbst unter den größten Schwierigkeiten, selbst beinahe zu spät, ist der Rückzug dieser Armee auf Chalons noch der einzige Weg des Heils. Gelingt dieser Rückzug nicht, so sehe ich das Schlimmste vorher, die Armee wird einzeln von überlegenen Streitkräften aufgerieben werden.«

»Der General Changarnier rät, den Train zurückzulassen«, sagte der Kaiser.

»Das ist unmöglich, Sire«, erwiderte der Marschall Bazaine. »Den Train zurücklassen, hieße die Armee demoralisieren, das hieße in Paris und in ganz Frankreich alle Hoffnungen und allen Mut vernichten, das allein wäre schädlicher als eine verlorene Schlacht.«

426 »Sie werden aber niemals«, bemerkte der General Changarnier, »mit diesem ganzen komplizierten Train den Rückzug so schnell bewerkstelligen können, um eine Schlacht zu vermeiden.«

»Dann ist die Schlacht besser«, erwiderte der Marschall, »als ein Rückzug, der einer Flucht gliche und der die ganze Armee auf lange Zeit unbrauchbar machen müßte.«

»Tun Sie,« sagte der Kaiser erschöpft, »was Sie für notwendig halten, – Sie tragen die Verantwortung, mein lieber Marschall, Sie müssen auch die volle Freiheit des Entschlusses haben, und um Ihnen diese zu jeder Zeit zu gewähren, habe ich mich entschlossen, Metz zu verlassen und mich heute noch über Verdun nach Chalons zu begeben.«

»Ich danke Eurer Majestät für diesen Entschluß«, sagte der Marschall Bazaine. »Eure Majestät kennen«, fuhr er fort, »meine tiefe Ergebenheit und meine unerschütterliche Treue gegen Ihre Person. Aber gerade diese Ergebenheit, Sire, lähmt mein Handeln, solange Eure Majestät persönlich im Hauptquartier sind. Meine Entschlüsse werden freier und leichter, meine Aktionen kräftiger und rücksichtsloser sein, wenn ich nicht mehr neben den militärischen Notwendigkeiten die persönliche Sicherheit Eurer Majestät zu berücksichtigen haben werde. Eure Majestät müssen als Souverän politische Rücksichten nehmen, ich erkenne das an, aber diese politischen Rücksichten hindern und lähmen in diesem Augenblick meine militärischen Bewegungen, und ohne diese Rücksichten – verzeihen mir Eure Majestät – wäre die Armee von Metz vielleicht schon gerettet.«

»Haben Sie denn die Güte,« sagte der Kaiser tief aufseufzend, »einen Eisenbahntrain zu bestellen, der mich und den kaiserlichen Prinzen mit meinen Equipagen sofort nach Verdun führt, von wo ich morgen nach Chalons weitergehen will. Wollen Sie auch dem Prinzen Napoleon den Befehl erteilen, sich ebenfalls sogleich nach Chalons zu begeben.

»Ich danke Ihnen, Herr General«, sagte er, sich zu Changarnier wendend. »Ich bitte Sie, nach Paris zurückzukehren und werde Ihnen dankbar sein, wenn Sie die Güte haben wollen, dort der Kaiserin Mut einzusprechen und ihr Ihren Rat zu erteilen.«

427 Er erhob sich und reichte dem General Changarnier mit offener Herzlichkeit die Hand, welche derselbe diesmal kräftig drückte.

»Gott segne Eure Majestät,« sagte er, – »Gott schütze Frankreich!«

Er ging langsam hinaus, sich an der Tür noch einmal vor dem Kaiser verneigend, und wenige Augenblicke darauf hörte man vom Hof abermals den lauten Ruf dringen.

»Es lebe der General Changarnier!«

»Ich möchte so gern«, sagte der Kaiser, als er mit dem Marschall Bazaine allein geblieben war, »den kaiserlichen Prinzen von hier fortschicken. Das arme Kind leidet unendlich unter diesen traurigen Ereignissen. Seine Gesundheit ist immer noch schwach und alle diese Nervenerschütterungen wirken sehr schädlich auf ihn ein, aber die Kaiserin beschwört mich fortwährend, ihn hier zu behalten, da sein Erscheinen in Paris den ungünstigsten Eindruck machen würde. Und doch«, fuhr er düster zur Erde blickend fort, »möchte ich dieses Kind, auf dem die ganze Zukunft Frankreichs beruht, von mir entfernen. Ich fürchte,« sagte er, den Blick wie fragend auf den Marschall richtend, »daß ich vom Unglück gezeichnet bin und daß mein Stern sich zum Untergang neigt. – Ich werde mich großen Gefahren aussetzen müssen, ich kann gefangen werden, ich möchte die Zukunft des Prinzen nicht an mein Schicksal knüpfen.«

»Eure Majestät wissen,« sagte der Marschall, »daß ich sehr wenig mit dem Rat einverstanden bin, den man in diesem Augenblick von Paris aus erteilt, wo man kaum in der Lage ist, die Situation richtig zu beurteilen. Hat doch noch der letzte Rat, den Herr Ollivier Ihnen von dort aus erteilte, den damals noch so leicht möglichen Rückzug der Armee von Metz verhindert, weil das«, fügte er bitter lächelnd hinzu, »einen schlechten Eindruck auf die Kammer machen würde, – das war der letzte Dienst, den jener Mann mit dem leichten Herzen Eurer Majestät und dem Vaterland bewies. Diesmal aber«, fuhr er fort, »hat Ihre Majestät die Kaiserin recht. Was in Paris geschehen kann, Sire, ist unberechenbar, ich würde es für höchst gefährlich halten, Ihren einzigen Sohn, den Erben Ihrer Krone, nach Paris 428 zu schicken, wo vielleicht morgen schon eine revolutionäre Bewegung die Regentschaft stürzen kann.«

»Sie halten das für möglich,« fragte der Kaiser, »nachdem noch vor kurzem das ganze Volk von Frankreich in so großer Majorität für mich und das Kaiserreich votiert hat?«

»Paris ist nicht Frankreich, Sire,« sagte der Marschall Bazaine. »Paris ist eine wilde, chaotische Masse, welche in dem Augenblick, in dem die ganze Kraft des Kaiserreichs von äußeren Feinden in Anspruch genommen wird, in eine gefährliche Gärung geraten kann. Das Kaiserreich, Sire, der Mittelpunkt Frankreichs, ist in diesem Augenblick bei der Armee, und zwischen Ihren Armeen muß nach meiner Überzeugung der kaiserliche Prinz bleiben. Ich besorge übrigens«, fuhr er fort, als der Kaiser mit schmerzlich verzogenen Zügen schlaff zusammensank, »keine dauernde Gefahr in Paris. Die Bewegungen dort werden einem ernsten Willen und einer kompakten militärischen Macht gegenüber immer wieder in nichts zusammensinken, sie könnten nur bedeutungsvoll werden, wenn sie den Repräsentanten der Zukunft Ihrer Dynastie in ihren Kreis einzuschließen vermöchten. Behalten Eure Majestät den Prinzen bei sich und sollte ja, was ich noch nicht glauben will, die Gefahr noch ernster und größer werden, so senden Sie ihn nach Belgien oder nach England, damit vor allen Dingen die Zukunft sichergestellt sei. Ich«, fuhr er mit festem Ton fort, »garantiere Eurer Majestät eines: das ist eine kräftige und intakte Armee – ich werde den Rückzug versuchen, ich werde schlagen, wenn es sein muß, um dies durchzusetzen. Sollte aber alles erfolglos sein, so werde ich jedenfalls diese Armee Eurer Majestät erhalten, damit, wenn Sie zum Friedensschluß gezwungen werden, Ihnen augenblicklich das Mittel zu Gebote steht, die aufgärenden Elemente der Empörung in Paris wieder niederzuschmettern. Seien Eure Majestät überzeugt, da wo ich bin, wird die kaiserliche Fahne wehen; wenn auch Paris, wenn ganz Frankreich sich von Ihnen abwenden, so werde ich an der Spitze meiner Armee Ihnen Paris und Frankreich wieder erobern!«

Der Kaiser streckte dem Marschall die Hand hin, welche 429 dieser ergriff, indem sein sonst so kaltes und gleichgültiges Gesicht eine tiefe Bewegung zeigte.

»So bitte ich Sie denn, Herr Marschall,« sagte Napoleon, »meine Equipagen nach dem Bahnhof zu senden und meinen Wagen vorfahren zu lassen. Ich will sofort abreisen.«

Der Marschall ging hinaus.

»So ist der Moment gekommen,« sagte Napoleon, indem er die Hände über seine Knie faltete und die hoffnungslosen trüben Blicke aufwärts richtete, »den ich immer und immer wieder hinauszuschieben versuchte, hoffend, daß der Stern meines Glücks mir noch einen letzten Strahl senden würde. Ich habe die Regierung Frankreichs den Händen der Minister übergeben, welche heute noch meine Diener sind, und welche vielleicht morgen schon mich verlassen haben werden oder mit der Kaiserin der Revolution weichen müssen. Ich habe jetzt auch das Kommando über meine Armee abgegeben. Szepter und Schwert ist meinen Händen entfallen, und nur wie ein Theaterschmuck sitzt diese Krone noch auf meinem Haupt, und der Sturm zerrt an dem kaiserlichen Mantel um meine Schultern. – In wenigen Stunden werde ich auf der Flucht vor den feindlichen Heeren sein. Der Kaiser ein Flüchtling in seinem Lande, ohne Heimat, ohne Stätte, um mit Ruhe sein Haupt darauf niederzulegen und dabei«, sagte er, sich in krampfhafter Bewegung zusammenkrümmend, »tobt das Fieber in meinen Nerven, und die Schmerzen zernagen meinen Körper. O mein Gott! Wenn ich gefehlt habe, so trifft mich dein Gericht mit furchtbarer Härte, und doch habe ich Frankreich so sehr geliebt, und doch habe ich niemanden mit Absicht wehe oder unrecht getan, – aber ich will alles ertragen, ich will nicht murren und den Kelch zu Ende leeren. Nur, o mein Gott!« rief er, die gefalteten Hände erhebend und die brennenden Blicke inbrünstig emporrichtend, »schütze und erhalte meinen Sohn und laß ihn, das unschuldige Kind, nicht mit mir in den Abgrund versinken, der sich unter meinen Füßen öffnet!«

Einige Augenblicke blieb er schweigend, immer den Blick aufwärts gerichtet, immer die Hände gefaltet, in 430 seinem Stuhl sitzend. Dann erhob er sich langsam und bewegte die Glocke auf seinem Tisch.

»Meine Ärzte!« befahl er dem eintretenden Kammerdiener.

Nach kurzer Zeit traten der Doktor Nélaton und der Baron Larrey in das Zimmer.

Doktor Nélaton mit seinem bleichen, geistvollen Gesicht und seiner weichen, geschmeidigen Gestalt näherte sich dem Kaiser, ergriff, ohne dessen Aufforderung abzuwarten, seine Hand, um den Puls zu untersuchen, während der Baron Larrey, eine kräftige Gestalt mit markierten Zügen, in einiger Entfernung stehenblieb.

»Ich will abreisen«, sagte der Kaiser mit matter Stimme, »und mich nach Chalons begeben. Ich bitte Sie, meine Herren, mich zu begleiten.«

»Gott sei Dank,« sagte Doktor Nélaton, »daß Eure Majestät diesen Entschluß gefaßt haben, Sie bedürfen der Ruhe ganz unbedingt, es ist unmöglich, daß eine menschliche Organisation das länger aushält, was Eure Majestät hier in dieser Aufregung leiden müssen.«

»Werde ich auf dem Wege, der mir bevorsteht, weniger leiden?« sagte Napoleon, »wird die Krankheit, welche den Kaiser verzehrt, den Flüchtling verschonen? – Doch mein Weg ist mir vorgezeichnet, ich muß ihn gehen. Aber so kann ich nicht abreisen, es wird noch eine Operation nötig sein.«

Er erhob sich mühsam und begab sich, von Doktor Nélaton gestützt, in sein neben dem Kabinett liegendes Schlafzimmer, und der Baron Larrey folgte. Und einige Zeit hindurch tönten durch die geschlossene Tür hindurch die schmerzlichen Rufe, das laute, angstvolle Stöhnen des leidenden Kaisers, dessen Körper die Krankheit zerrüttete, während sein Thron unter ihm zu wanken begann.

Nach einer halben Stunde trat der kaiserliche Prinz, zur Abreise bereit, in das Kabinett des Kaisers.

Das arme Kind, welches so plötzlich von den Höhen der glänzendsten irdischen Herrlichkeit in die furchtbaren Szenen eines blutigen und verhängnisvollen Krieges gestürzt war, sah bleich und abgespannt aus. Seine Haltung 431 war gebückt und schwankend, sein Gesicht blaß und eingefallen, und die großen, tiefliegenden Augen, von dunklen Ringen umgeben, waren mit Tränen gefüllt.

Unmittelbar nach ihm trat der Maire und die Munizipalität von Metz ein. Tiefe Niedergeschlagenheit lag auf allen Zügen.

Der kaiserliche Prinz trat an das Fenster und lehnte den Kopf leise weinend an die Brüstung, während die Vertreter der Stadt schweigend das Erscheinen des Kaisers erwarteten.

Die Türe des Schlafzimmers öffnete sich, Napoleon, von seinen beiden Ärzten gefolgt, trat herein. Er sah noch bleicher aus als vorher, aber auf seinen Zügen lag eine ruhige, fast heitere Ergebung. Seine Augen blickten freier und klarer, ein starker Äthergeruch umgab ihn, und er hob öfter ein mit Eau de Cologne getränktes Taschentuch, das er in der Hand hielt, zu seinem Munde empor.

Der kaiserliche Prinz eilte seinem Vater entgegen und hing sich, zärtlich zu ihm emporblickend, an seinen Arm, als suche er in diesen Tagen, in welchen alles um ihn her zusammenbrach, eine Stütze bei demjenigen, den er so lange als oberste Autorität, fast als die Vorsehung auf Erden anzusehen gewohnt war.

Der Kaiser trat zu dem Maire von Metz heran und sagte mit ernster, fester Stimme:

»Ich verlasse Sie, meine Herren, in einem schweren und unglücklichen Augenblick, aber mein Mut ist ungebrochen, und mein Glaube an die Zukunft Frankreichs ist unerschütterlich. Ich bitte Sie, meine Herren, erhalten Sie die gleichen Gefühle in Ihrer Brust und suchen Sie sie allen Bewohnern von Metz einzuflößen. Was auch kommen möge, Gott wird Frankreich nicht verlassen, und alles wird sich zum Guten wenden. Leben Sie wohl und bleiben Sie auf der Höhe der Aufgabe, welche diese Zeit jedem Franzosen, jedem Patrioten auferlegt.«

Er trat zu jedem einzelnen der Deputierten heran und reichte ihm die Hand.

»Eure Majestät und Frankreich können auf uns zählen«, sagte der Maire, unfähig vor innerer Bewegung, mehr zu sprechen.

432 Und dann verließen diese Vertreter der auf ihre Unüberwindlichkeit so stolzen Festungsstadt, welche noch vor so kurzer Zeit den Kaiser voll Siegeszuversicht begrüßt hatten, das Zimmer.

»Laß uns gehen«, sagte der Kaiser, indem er seinen Arm um die Schulter des kaiserlichen Prinzen legte und noch einmal mit seinem Blick das Zimmer umfaßte, welches so schwere Erinnerungen in sich schloß.

Schnell wurde die Tür geöffnet. Bleich, mit verstörten Gesichtszügen stürzte der Marschall Le Boeuf in das Zimmer.

»Ich kann nicht ertragen,« rief er, »Eure Majestät abreisen zu sehen, ohne Ihnen ein Wort des Abschieds zu sagen, ohne ein Wort der Verzeihung von Ihnen zu hören für das, was ich verschuldet, was ich, Gott ist mein Zeuge, ohne bösen Willen und im guten Glauben verschuldet habe, alles getan zu haben, was mein Pflicht mir gebot. Verzeihung, Sire, Verzeihung!«

Er eilte zum Kaiser hin, ergriff dessen Hand und drückte, fast in die Knie sinkend, seine Lippen auf dieselbe.

Der Kaiser sah mit weichem Blick, voll innigen Mitleids auf diese zusammenbrechende Gestalt des sonst so hoch und stolz einhertretenden Marschalls.

»Es ist jetzt nicht der Augenblick,« sagte er mit milder Stimme, »Verschuldungen der Vergangenheit zu richten. Sie werden einst Frankreich Rechenschaft zu geben haben, ich wünsche, daß Sie das zu tun imstande sein mögen. Was Sie an mir verschuldet haben, vergebe ich Ihnen von ganzem Herzen.«

»Oh, Sire,« rief der Marschall, »lassen Sie mich als gemeinen Soldaten in die Armee treten, um wenigstens mein Blut für Frankreich vergießen zu können.«

»Ich habe nichts mehr zu bestimmen,« sagte der Kaiser, »der Marschall Bazaine wird darüber verfügen, ob und wie Sie Ihre Kraft dem Dienst und der Rettung Frankreichs widmen können. Leben Sie wohl!«

Er winkte freundlich mit der Hand und ging hinaus, während der Marschall Le Boeuf, den Kopf in beide Hände stützend, in einen Sessel niedersank.

433 Im Hof der Präfektur stand der kaiserliche Wagen, der Marschall Bazaine am Schlage, den Kaiser erwartend. Eine Schwadron Kürassiere umgab die Equipage.

Der Kaiser stieg mit dem kaiserlichen Prinzen ein. Der Marschall setzte sich ihm gegenüber. Napoleon ließ einen langen Blick über die dichten Massen hingleiten, welche bis an den Wagen herandrängten.

Er erhob seinen Hut und grüßte, den Kopf neigend, nach beiden Seiten, während die Pferde anzogen.

Einzelne Stimmen riefen:

»Es lebe der Kaiser!«

Aber sie verklangen bald, und durch die schweigende Menge, welche in allen Straßen auf und nieder wogte, fuhr der Wagen nach dem Bahnhof hin.

 


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