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24. Kapitel.

Wer an einen Gott, an eine Vorsehung glaubt, der wird sehr oft die Erfahrung machen, daß der Lenker der Ereignisse die Fäden derselben gerade dann zusammenzieht, wenn man es am allerwenigsten erwartet und wenn die Hoffnung darauf verschwinden will.

In Fort Guadeloupe ging es jetzt recht einsam zu. Die Komantschen hatten wiederholt recht beherzigenswerte Lehren erhalten, und infolgedessen hatten ihre Häuptlinge beschlossen, sich nicht mehr in die Angelegenheiten der Weißen zu mischen. So hatte das Fort nichts mehr von ihnen zu befürchten. Die Apachen hielten für Juarez die Grenzdistrikte besetzt, und die Jäger und kriegsfähigen Männer, die sonst im Fort verkehrt hatten, waren alle auch dem Zapoteken gefolgt. Darum also gab es kein Leben mehr im Fort, und die Langeweile war als böser Gast nun eingekehrt.

Es war am Spätnachmittag. Resedilla saß an dem Fenster der Schenkstube, wo sie ihren gewohnten Platz hatte, und strickte. Sie war etwas bleich geworden; aber diese Blässe gab ihr etwas ungemein Sanftes und Liebes. Der Grund ihres schönen Auges schien sich vertieft zu haben, und um ihre Lippen lag ein Zug stiller Ergebenheit und Resignation, der sie nicht so lebensfroh, aber fast noch schöner, noch weiblicher erscheinen ließ, als sie früher gewesen war.

An dem anderen Fenster saß Pirnero. Er hatte ein Buch in der Hand, aber er las nicht in demselben, sondern seine Augen schweiften dorthin, wo die Sonne sich dem Horizont näherte. Auch er hatte sich verändert. Es war fast, als ob sein Kopf kahler geworden sei. Seine Stirn lag in Falten, seine Lippen waren zusammengepreßt, und seine Augen blickten finster.

Es herrschte eine tiefe, unerquickliche Stille in der Stube, die keiner von den beiden unterbrechen zu wollen schien.

Endlich räusperte sich der Alte. »Hm!« machte er. »Miserables Wetter!«

Resedilla antwortete nicht.

»Ganz miserables Wetter!« wiederholte er nach einer Weile.

Sie antwortete jetzt ebensowenig wie vorher.

»Nun?« rief er da im zornigen Ton. – »Was, Vater?« fragte sie jetzt. – »Miserables Wetter!« – »Es ist ja ganz schön draußen!«

Da drehte er das Gesicht nach ihr herum, blickte sie so erstaunt an, als ob sie etwas ganz Unbegreifliches gesagt hätte, und fragte sie in pikiertem Ton:

»Wie? Was? Schön soll das sein?« – »Natürlich, Vater!« – »Wieso denn, he?« – »Nun, so blicke doch nur hinaus!« – »Das habe ich bereits den ganzen Tag getan; aber etwas Schönes sehe ich nicht. Da ist die Sonne, da sind Bäume und Sträucher, der Fluß, einige Häuser und Vögel, aber Menschen sehe ich nicht. Oder siehst du etwa welche?« – »Ja«, lächelte sie. – »Wo denn?« – »Nun, zunächst sind ja wir beide da.« – »Wir beide? Das ist auch was Rechtes!« – »Und sodann sehe ich gerade jetzt drüben die Lydia.« – »Die Lydia? Die alte Negerin, die dort Wäsche aufhängt? Wir zwei und die? Sind das etwa Menschen?« – »Ich denke doch!« – »Unsinn!« – »Nun, was verstehst du denn eigentlich unter Menschen?« – »Leute, die bei mir einkehren und einen Julep trinken oder im Laden irgend etwas kaufen, Leute, mit denen man sich unterhalten kann, Leute, mit denen man ein Geschäft macht.« – »Ah so! Dann hast du recht, dann allerdings gibt es hier bei uns keine Menschen mehr«, sagte sie, fast traurig. – »Ja, keine Menschen, keinen einzigen, nicht einmal einen Schwiegersohn.«

Pirnero blickte seine Tochter bei diesen Worten scharf an. Sie senkte das Gesicht, über das sich eine tiefe Röte verbreitete, aber sie antwortete nicht.

»Nun?« sagte er. – »Was?« fragte sie. – »Was sagst du zu diesem Wort?« – »Zu welchem?« erkundigte sie sich, obgleich sie ganz genau wußte, was er meinte. – »Zu dem Wort Schwiegersohn?« – »Rechnest du so einen auch zu den Menschen?« versuchte sie zu scherzen. – »Na und ob! Ein Schwiegersohn ist ein höchst bedeutungsvoller Mensch. Ohne ihn gibt es keinen Schwiegervater, keine Schwiegermutter und keine Schwiegertochter. Wo er fehlt, da gibt es weder Großvater noch Enkel, da gibt es weder Hochzeit noch Kindtaufe noch Patengeld. Eine solche armselige Geschichte mag der Teufel holen.«

Ein leiser Seufzer ertönte von Resedillas Platz her. Ihr Vater achtete gar nicht darauf und fuhr fort:

»Gerade so ist's bei uns.«

Er mochte jetzt eine Äußerung erwartet haben, denn er horchte nach Resedilla hin, da er aber nichts zu hören bekam, rief er:

»Nun?« – »Was?« – »Gerade so ist es bei uns.« – »Ja, Patenbriefe gibt es nicht, die sind alle geworden.« – »Dummes Ding! Rede ich denn von meinem Laden, in dem mir allerdings gerade die Patenbriefe ausgegangen sind? Ich rede ja von weiter niemandem als von dir. Ja. Und das merkst du nicht? Wo hast du denn deinen Verstand und deine Ohren, he? Und wer ist schuld daran?« – »An dem Verstand?« – »Den meine ich nicht, denn den hast du von mir; das kommt von dem Forterben vom Vater auf die Tochter. Ich meine vielmehr den Schwiegersohn. Was habe ich mir da für Mühe geben müssen. Weißt du es noch?« – »Ja«, antwortete sie, damit sich seine Laune nicht verschlimmere. – »Da war dieser Kleine André. Besinnst du dich auf ihn?« – »Ja.« – »Ein hübscher, niedlicher Kerl!« – »Hm!« – »Was hast du denn? Der Kerl paßte ganz gut. Er war Brauer und hatte ganze Beutel voll Nuggets. Dann kam der nächste.«

Sie fragte nicht, wen er meinte. Darum rief er zu ihr hinüber:

»Nun?« – »Was?« – »Der nächste. Weißt du, wer das war?« – »Nein.« – »Ja, so ist es! Unsereiner gibt sich die größte Mühe, um es zu einem Schwiegersohn zu bringen, und sie weiß nicht einmal, welche Anbeter sie gehabt hat. Den Amerikaner meine ich.« – »Welchen Amerikaner?« – »Nun, der auf dem Kanu den Fluß heraufkam.« – »Ah! Geierschnabel etwa?« – »Ja.« – »Pfui!« – »So? Ah! Was pfuist du denn? Er war ein berühmter Scout, und der Lord hatte ihn geschickt. Wegen der Nase hättest du keine Sorge zu haben gebraucht; die hätten nur deine Töchter bekommen, nicht aber deine Söhne. Das ist die Folge der Abstammung vom Vater auf die Tochter und von der Mutter auf den Sohn. Und dann kam der dritte.«

Sie senkte das Köpfchen noch tiefer als vorher.

»Nun?« sagte er. – »Was?« – »Der dritte kam!« – »Ja.« – »Wer war das?« – »Meinst du – meinst du Gerard?« fragte sie stockend. – »Ja. Der war mir der liebste. Dir nicht auch?« – »Ja«, hauchte sie, nachdem sie eine Weile gezögert hatte. – »Donnerwetter. Ein berühmter Kerl! Nicht?« – »Ja.« – »Tapfer!« – »Ja.« – »Stark und hübsch!« – »Ziemlich.« – »Und dabei doch sanft wie ein Kind und fromm wie ein Lamm.« – »Das ist wahr.« – »Und reich! Diese Büchse mit dem Kolben von Gold. Weißt du noch, als er ein Stück davon herabschnitt?« – »Ich war ja dabei.« – »Er war erst inkognito da; aber ich hatte ihn längst durchschaut.« – »Du?« fragte sie. – »Ja, ich! Glaubst du das etwa nicht?« – »Ich habe nichts davon bemerkt.« – »Natürlich. Weißt du, was ein Diplomat ist?« – »Ja.« – »Ein Diplomat ist ein Mann, welcher Rußland seine Gedanken verbirgt, weil Frankreich nicht weiß, was England von Schweden und Norwegen denken soll. Verstanden?« – »Ja.« – »Gerade so habe ich es auch gemacht. Ich habe euch meine Gedanken so fein, so gut versteckt, daß ihr gar nicht ahntet, daß ich überhaupt welche hatte.« – »Ja, so sahst du aus«, lachte sie. – »Nicht wahr? Das war ein Meisterstück. Ich habe die ganze Politik im Kopf. Die Schlacht da draußen am Fluß habe ich lange vorher gewußt Auch den Sieg habe ich mir im stillen vorher geweissagt Darum schoß ich so tapfer mitten unter die Franzosen hinein.« – »Du?« fragte sie. – »Ja. Oder zweifelst du etwa?« – »Hm!« – »Na, was hast du denn? Alle Welt weiß, daß ich acht oder neun erschossen und auch einige erstochen habe. Und dann das Massaker droben in der Bodenkammer.« – »Hast du da auch einige erschossen?« – »Hm!« brummte er verlegen. »Nein.« – »Oder erstochen?« – »Nein. Ich fand keine Gelegenheit dazu, denn der Gerard war damit fertig, ehe ich nur anfangen konnte. Der arme Teufel! So lange zwischen Leben und Tod zu schweben! Das war eine Sorge! Nicht?« – »O Vater, eine sehr große!« – »Ja. Endlich, endlich war wieder Hoffnung da. Weißt du, was ich mir da einbildete?« – »Nun?« – »Daß er dir einen Heiratsantrag machen würde.«

Resedilla zog vor, zu schweigen.

»Oder wenigstens eine Liebeserklärung.«

Auch jetzt gab sie keine Antwort.

»Nun?« rief Pirnero. – »Was denn?« – »Ist nichts derartiges vorgekommen, he?« – »Nein.« – »Also kein richtiger Antrag?« – »Nein.« – »Auch kein kleines, verstohlenes Anträgelchen?« – »Nein.« – »So ein Kuß auf die Hand oder auf die Wange?« – »Nein.« – »Oder so ein bißchen in den Arm oder in das Ohr gezwickt?« – »Auch nicht.« – »Oder so ein gelinder, heimlicher Liebestritt auf die Füßchen?« – »Nein.« – »Donnerwetter! Hat er dir denn nicht wenigstens einmal die rechte oder die linke Hand gequetscht?« – »Als er fortging?« – »Da war's bereits zu spät. Aber mit den Augen hat er wenigstens einmal gezwinkert?« – »Ich kann mich nicht besinnen.« – »Da hat man's. Was habe ich gezwickert und gezwinkert, gequetscht, gekniffen und gepufft, als ich deine Mutter kennenlernte! Wir Alten hatten die Liebe viel besser weg als ihr Jungen. Dieser Gerard! So ein feiner Kerl! Und doch erst, als er fortgegangen ist, hat er dir die Hand gequetscht. Der Esel! Herrjeh, wäre das ein Schwiegersohn gewesen! Hat er dir denn nicht gesagt, wohin er wollte?« – »O ja.« – »Was? Dir hat er es gesagt?« – »Ja.« – »Und mir nicht? Sakkerment! Das will ich mir verbitten! Solche Heimlichkeiten, solche Techtelmechteleien kann ich nicht leiden und dulden. Das ist ja gerade so verschwiegen, als ob ihr ein Liebespaar wäret. Das will ich mir verbitten. Aber wie kommt es denn, daß es dir erst jetzt einfällt?« – »Erst jetzt?« meinte sie verlegen. – »Ja. Du hast immer gesagt, daß du nicht weißt, wohin er ist.« – »Ich habe es gewußt.« – »Ah, sieh doch einmal an! Und warum sagtest du es mir nicht?« – »Es war ja Geheimnis!« – »Himmelelement! Geheimnisse habt ihr miteinander?« – »Nur dieses eine, lieber Vater.« – »Das geht nicht. Das würde ich nicht einmal von meiner Tochter und meinem Schwiegersohn dulden. Ich müßte alles wissen, alles, sogar wieviel Küsse sie sich pro Stunde geben. Dadurch bekommt man eine gewisse Übersicht, die sehr notwendig ist, wenn man die Ehe der Tochter mit der eigenen vergleichen will. Also was für ein Geheimnis ist es?« – »Ich sollte nichts sagen, Vater, aber die Zeit, in der er zurückkehren wollte, ist vorüber, und nun bekomme ich Angst.« – »Angst? Sapperlot, das klingt schlimm! Ist's denn gefährlich?« – »Ja, zumal er noch so schwach war, als er ging.« – »Nun, so rede, um was handelt es sich denn?« – »Um – er wollte – oh, mein Gott!«

Resedilla hielt mitten im Satz inne. Ihr Auge starrte durch das Fenster; ihr Gesicht hatte die Starrheit und Bleichheit des Todes angenommen, und ihre beiden Hände waren nach dem Herzen gefahren, wo sie fest liegenblieben.

Pirnero bemerkte die Richtung ihres Blickes. Er trat zum Fenster und sah hinaus. Da kam ein Reiter langsam die Gasse herauf. Ihm folgten fast ein Dutzend schwerbepackte Maultiere, und hinter diesen ritt ein zweiter Reiter neben einer Reiterin.

»Kreuzhimmelbataillongranatenbombenstiefelknecht – das ist er ja«, schrie Pirnero und stürmte zur Tür hinaus.

Da erhielt auch Resedilla wieder Leben. Ihr Busen begann sich zu bewegen, ihre Hände sanken herab, fuhren aber sofort wieder empor nach den Augen, denen eine Tränenflut der Erleichterung entstürzte.

»Er ist's, er ist's«, schluchzte sie. »Gott sei Dank! Gott sei Dank! Oh, so darf ich ihn nicht sehen, so nicht, nein, so nicht!«

Sie fühlte, daß sie sich ihm jubelnd an die Brust stürzen würde, und darum floh sie hinauf in ihre Kammer, wo sie schon so viele, viele Tränen geweint hatte.


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