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16. Kapitel.

Unterdessen war der Jäger zu dem scheinbar noch ohnmächtigen Offizier getreten, hatte die Uniform ausgezogen und den Degen abgelegt, um an Stelle dieser Sachen seine eigenen Kleidungsstücke wieder anzuziehen, dann entfernte er sich, nachdem er dem regungslos Daliegenden noch den Knebel und die Fesseln abgenommen hatte.

Jetzt war Geierschnabels Zeit gekommen. Er schwang sich wieder über die Mauer herüber und schritt, ohne sich um den Offizier, um den er ja nun unbesorgt zu sein brauchte, zu bekümmern, dem sich Entfernenden nach. Dabei hatte er die Klugheit, seine Stiefel auszuziehen, so daß es nun ganz unmöglich war, daß seine Schritte gehört werden konnten.

Er folgte seinem Vordermann langsam durch mehrere Straßen, bis dieser sein Hotel erreichte. Dort blieb Grandeprise eine ganze Weile stehen und stieg, als ihm das Warten zu lange dauerte, über den Zaun, um durch den Hof nach seinem Gelaß zu gelangen.

Geierschnabel schritt sinnend eine kleine Strecke weiter. Es war jetzt die Nacht sehr vorgeschritten, und über den Anhöhen des Ostens begann sich ein falbes Licht auszubreiten.

Da wurde in kurzer Entfernung ein Tor geöffnet, aus dem zwei Reiter hervorkamen. Am Tor stand ein Mann.

»Adios, Señores«, grüßte er. »Glückliche Reise!« – »Adios«, antwortete einer von den zweien. »Der Handel, den Sie gemacht haben, ist nicht schlecht zu nennen.«

Sie ritten davon, und der Mann verschwand hinter dem Tor. Geierschnabel blickte den Reitern nach, oder vielmehr, er horchte ihnen nach, denn von ihren Gestalten waren nicht einmal die Umrisse deutlich zu erkennen gewesen.

»Bei Gott«, murmelte er, »die Stimme des Reiters war ganz genau diejenige, die dort bei dem gefesselten Offizier mit dem famosen Jäger gesprochen hat. Aber das muß eine Täuschung sein, da diese Reiter eine Reise antreten, während Cortejo und Landola nach ihrem Hotel zurückgekehrt sind.«

Er schritt sinnend eine kleine Strecke weiter und blieb endlich wieder überlegend stehen.

»Der Teufel traue sich und noch weniger anderen«, brummte er. »In dieser schlechten Welt, in der es keinen guten Menschen gibt, wird der beste Mensch von den anderen betrogen. Diese beiden Spitzbuben sind so fein und schlau, daß selbst ein Geierschnabel sich gratulieren kann, wenn es ihm gelingt, sie ein einziges Mal zu überlisten. Das sicherste ist doch das beste. Ich werde mich erkundigen, obgleich in diesem Wigwam, was sie hier Hotel oder Gasthaus nennen, noch keine Menschenseele wach sein wird.«

Er kehrte nach dem Hotel zurück. Seit der Anwesenheit der Franzosen hatten alle dieser Häuser, wo früher an den alten Gebräuchen festgehalten wurde, sich den europäischen Sitten anbequemt. Es waren da Kellner, Kellnerinnen und Hausknechte zu finden. Ein Geist von der letzten Sorte erschien, als Geierschnabel die Glocke zum dritten Male in Bewegung gesetzt hatte. Er machte ein höchst schläfriges und verdrießliches Gesicht und fragte:

»Wer klingelt denn mitten in der Nacht?« – »Ich«, antwortete Geierschnabel gelassen. – »Das merke ich. Aber was sind Sie denn?« – »Ein Fremder.« – »Auch das merke ich. Und was wollen Sie?« – »Mit Ihnen sprechen.« – »Sogar das bemerke ich. Aber ich habe keine Zeit. Gute Nacht.«

Der Hausknecht wollte die Tür schließen, aber Geierschnabel war vorsichtig und rasch genug, ihn daran zu hindern. Er ergriff ihn beim Arm und fragte, obgleich der Hausknecht viel älter schien als er selbst:

»Mein lieber Sohn, warte noch einen Augenblick. Weißt du, was ein Frank ist?«

Der Mann war über diese Frage ganz verblüfft.

»Ja«, antwortete er. »Ein französisches Geldstück, das den fünften Teil eines Duro oder Dollars wert ist.« – »Schön, mein Sohn. Und weiß du auch, was ein Duro oder Dollar ist?« – »Fünfmal so viel als ein Frank.« – »Sieh, du weißt das ganz genau. So einen Duro und noch fünf Franken, also zwei Dollar oder zehn Franken gebe ich dir, wenn du deinen lieblichen Mund öffnen willst, um mir einige kleine Fragen zu beantworten.«

Das war dem Mann noch selten vorgekommen. Er starrte den splendiden Fremden an und fragte:

»Ist das wahr, Señor?« – »Ja. Und außerdem will ich dich Sie nennen, während ich Sie bisher du genannt habe.« – »So geben Sie zuerst einmal das Geld.« – »Nein, nein, mein Sohn. Erst mußt du mir sagen, ob Sie mir antworten wollen, dann werden Sie sehen, ob du das Geld sogleich und ehrlich ausgezahlt bekommst.« – »Gut. Ich werde antworten.« – »Das freut mich. Hier haben Sie zehn Franken.«

Geierschnabel griff in die Tasche, zog einen Lederbeutel und drückte dem Hausknecht ein Geldstück von dem angegebenen Wert in die Hand.

»Señor«, meinte da dieser, »ich danke Ihnen. Unsereiner braucht seinen Schlaf sehr notwendig, aber für so ein Trinkgeld stehe ich zu jeder Zeit auf. Fragen Sie.« – »Es ist nicht viel, was ich zu fragen habe. Logieren heute viele Fremde hier?« – »Nicht sehr viele. Zehn oder elf.« – »Sind dabei drei, die zusammengehören?« – »Nein, wenigstens glaube ich es nicht. Alle wohnen einzeln, außer zweien, die zusammen ein Zimmer genommen haben.« – »Kennen Sie die Namen dieser Señores?« – »Der eine ist Don Antonio Veridante und der andere dessen Sekretär.« – »Ein dritter ist nicht dabei?« – »Ein dritter kam mit ihnen, wohnt aber nicht bei ihnen.« – »Wie heißt er?« – »Ich weiß es nicht« – »Was ist er?« – »Auch das weiß ich nicht. Er geht sehr einfach gekleidet, fast wie ein armer Vaquero oder Jäger.« – »Sind diese drei Personen am Abend ausgegangen?« – »Sie sind seit Einbruch der Nacht fort.« – »Aber sie sind wiedergekommen?« – »Ich habe nichts bemerkt.« – »Ich habe einige vertrauliche Worte mit diesem Jäger oder Vaquero zu sprechen. Wird dies möglich sein?« – »Werden Sie es verantworten, wenn ich ihn wecke, falls er überhaupt daheim ist?« – »Er ist daheim. Und verantworten werde ich es. Gibt es einen Raum, in dem wir sein können, ohne belauscht zu werden?« – »Er schläft nur in einer Hängematte und kann Sie also bei sich empfangen, wann er will. Soll ich ihm einen Namen nennen?« – »Ja. Sagen Sie ihm, Don Velasquo d'Alcantara y Perfido de Rianza y Hallendi de Salvado y Caranna de Vesta-Vista-Vusta wünscht ihn zu sprechen.«

Geierschnabel sagte diesen Namen in einem so adelsstolzen Ton, daß der dienstbare Geist gar nicht daran zweifelte, daß der Sprecher berechtigt sei, ihn zu tragen. Nur fiel es dem Hausknecht gar nicht leicht, diese Worte mit einem Male zu behalten. Er bat daher:

»Wollen Sie mir den Namen nicht noch einmal nennen, Don Velasquo? Wir sind auf so vornehme Señores noch nicht eingerichtet.« – »Noch nicht eingerichtet? Mit dem Gedächtnis? Gut. Wenn ich hier verkehre, wird diese Schwäche weichen. Ich bin Don Velasquo d'Alcantara y Perfido de Rianza y Hallendi de Salvado y Caranna de Vesta-Vista-Vusta.« – »Schön. Jetzt weiß ich es sehr genau. Entschuldigen Sie, daß ich Sie an der Tür warten lasse, aber in dem Zimmer schlafen die Maultiertreiber auf der Diele.« – »Tut nichts. Ich will weder die Treiber, noch die Diele in ihrer Ruhe stören!«

Der Hausknecht ging. Vom Hof aus führte eine Holztreppe nach den Räumen empor, die hier mit der Bezeichnung Fremdenzimmer beehrt wurden. Der Mann klopfte leise an eine der Türen. Grandeprise war erst vor wenigen Minuten nach Hause gekommen und schlief noch nicht. Er lag angekleidet in der Matte.

»Wer ist's?« fragte er, erstaunt über dieses Klopfen. – »Der Hausmeister. Darf ich einmal hereinkommen?« – »Ja.« – »Mit dem Licht?« – »Immerhin.«

Die Tür öffnete sich leise, damit kein anderer Gast geweckt werde, und der Mann trat ein.

»Was gibt es denn?« fragte der Jäger erstaunt, befremdet und besorgt zu gleicher Zeit. – »Señor, es ist ein Fremder unten, der Sie zu sprechen wünscht.« – »Wer?« – »Ein hoher Herr von Adel. Es ist ein Don – Don – Don Alcanto de Velasquo y Rifeda de Percantara y Hallmanza de Rillendo y Carvado de Salranna y Vesta de Vista y Vusta.«

Der Jäger schüttelte den Kopf.

»Was will er?« – »Er redete von einer freundschaftlichen Besprechung.« – »Ist er von hier?« – »Nein, jedenfalls nicht.«

Das beruhigte Grandeprise; aber dennoch fragte er:

»Woher weiß dieser Don, daß ich hier wohnte?« – »Er muß Sie kennen, denn als ich sagte, daß Sie wie ein Vaquero oder Jäger gekleidet seien, da schickte er mich herauf.« – »Nun, da bin ich neugierig. Er mag kommen!«

Grandeprise brannte, als der Hausknecht sich entfernt hatte, sein Licht an und blickte nach dem Revolver, ob dieser auch im Schuß sei. Nach dem, was heute vorgekommen war, mußte er immerhin auf eine nicht sehr angenehme Überraschung vorbereitet sein.

Da trat der Fremde ein und zog die Tür hinter sich zu, deren Riegel er obendrein vorsichtig vorschob. Die beiden blickten einander ganz erstaunt an. Das hatte keiner von ihnen erwartet.

»Alle Teufel!« rief der eine. – »Alle Wetter!« der andere. – »Geierschnabel!« – »Ihr hier?« – »Wie kommt Ihr hierher nach Mexiko?« – »Nein, wie kommt Ihr her?« – »Ich sah Euch doch bei Juarez!« – »Und ich sah Euch nach dem Rio del Norte gehen. Euer Gesicht kenne ich, aber Euren Namen noch nicht.« – »Grandeprise.« – »Grandeprise? Der dort drüben am Ufer von Texas haust?« – »Ja.« – »Ah, Euer Name hat, soviel Euch betrifft, einen guten Klang, aber es ist auch etwas Widerwärtiges dabei.« – »Wieso?« – »Es gibt einen großen Schuft, der ebenso heißt.« – »Ah! Kennt Ihr ihn?« – »Sehr gut sogar«, nickte Geierschnabel. – »Persönlich?« – »Persönlich und par Renommee.« – »Ist das möglich? Hört, ich suche diesen Kerl schon seit langer Zeit!«

Geierschnabel blickte ihn befremdet an.

»Ihr sucht ihn?« fragte er. – »Ja.« – »Hm. Hm. Und Ihr habt ihn noch nicht gefunden?« – »Leider nicht.« – »So. Hm, hm. Ich denke, ein Jäger muß doch Augen haben!« – »Hoffentlich habe ich welche!« – »Ja, aber ob sie sehen gelernt haben?« – »Ich bin überzeugt davon.« – »Ich nicht. Ich bezweifle es sogar sehr.«

Die Miene Grandeprises verfinsterte sich.

»Soll ich etwa annehmen, daß Ihr mich beleidigen wollt?« fragte er. – »Nein. Aber setzt Euch doch einmal in Eure Hängematte und erlaubt mir, mich da dieses Stuhles zu bedienen. Dann werde ich Euch etwas sagen, was wir näher zu besprechen haben werden.« – »Setzt Euch! Was ist's, das Ihr mir zu sagen habt?«

Geierschnabel setzte sich auf den Stuhl, spuckte sein Primchen mit einem dicken Saftstrahl über die ganze Stube, biß sich ein neues, gewaltiges Stück Kautabak ab, und erst dann, als dieses in der Backe den gehörigen Platz gefunden hatte, begann er:

»Ich will Euch in aller Freundschaft bemerken, daß Ihr entweder ein ungeheurer Schurke oder ein ganz bedauerlicher Schwachkopf seid!«

Da glitt der andere blitzschnell aus der Hängematte, zog den Revolver, postierte sich vor den Sprecher und drohte:

»Hölle und Teufel! Wißt Ihr, wie man auf ein solches Wort zu antworten pflegt?«

Geierschnabel nickte phlegmatisch mit dem Kopf und meinte:

»Unter Jägern mit dem Messer oder mit der Kugel, falls die Sache nicht zu beweisen ist.« – »Ich hoffe aber nicht, daß Ihr sie beweisen könnt, Master!« – »Pah! Regt Euch nur nicht auf! Was Geierschnabel einmal sagt, das hat er auch durchdacht und überlegt, und das pflegt er auch zu beweisen. Steckt Eure Drehpistole ein und hört mich an. Habe ich unrecht, so bin ich dabei, wenn wir uns die Hälse brechen wollen.«

Der andere behielt den Revolver in der Hand, ließ sich aber finsteren Blickes in die Hängematte zurückgleiten und entgegnete:

»So redet! Aber nehmt Euch in acht! Ein Wort zu viel, und meine Kugel sitzt Euch im Kopf!« – »Oder Euch die meine!« lachte Geierschnabel. »Ihr behauptet, mich zu kennen, und täuscht Euch da doch gewaltig. Meine Kugel hätte heute schon einige Male Zeit und Gelegenheit, vielleicht auch Veranlassung gehabt, Euch im Kopf zu sitzen.« – »Wieso?« – »Das ist Nebensache. Zunächst habe ich Euch zu beweisen, daß Ihr entweder ein Bösewicht oder ein Schwachkopf seid.« – »Ich werde auf diesen Beweis vergebens warten.« – »Ihr werdet ihn sofort erhalten. Antwortet mir einmal aufrichtig. Ihr wart in Verakruz?« – »Ja.« – »Dort lerntet Ihr zwei Männer kennen, einen Don Antonio Veridante und dessen Sekretär?« – »Ja.« – »Ihr kamt mit ihnen gestern nach Mexiko und hieltet am Abend draußen auf dem Friedhof die Wache, als diese beiden Männer eine Leichenschändung und einen Betrug ausführten?«

Grandeprise blickte ganz erstaunt auf.

»Wie kommt Ihr zu dieser Frage?« meinte er. – »Beantwortet sie!« – »Ja, ich hatte die Wache; aber es ist dabei weder von einer Schändung noch von einem Betrug die Rede.« – »Davon seid Ihr überzeugt?« – »Ich schwöre tausend Eide darauf!« beteuerte Grandeprise. – »Nun, ich will Euch glauben. Aber damit beweist Ihr, daß Ihr zwar kein Schurke, aber dafür ein gewaltiger Schwachkopf seid.«

Der andere wollte abermals aufbrausen, aber Geierschnabel fiel ihm schnell in die Rede:

»Seid ruhig! Ich bringe Beweise. Eure beiden Begleiter wurden gefangengenommen? Nicht wahr?« – »Leider ja.« – »Um sie zu befreien, schlugt Ihr einen Offizier nieder und holtet die Kerle heraus?«

Da erschrak Grandeprise.

»Alle Wetter!« meinte er. »Woher wißt Ihr das?« – »Sagt erst, ob es die Wahrheit ist oder nicht.« – »Ich kann es nicht leugnen. Es war ein wohlgelungener Trapperstreich, auf den ich stolz sein kann, und ich hoffe, daß Ihr als Kamerad mich nicht verraten werdet!« – »Ich bin kein Verräter. Ich hätte Euch längst verraten können und beneide Euch keineswegs um diesen Streich, den Ihr einen wohlgelungenen Trapperstreich nennt. Das war er nicht; aber wißt Ihr, was er im Gegenteil war?« – »Nun?« – »Ein recht dummer Jungenstreich!« – »Master Geierschnabel ...« brauste Grandeprise auf. – »Ruhig, ruhig«, antwortete der Genannte. »Ich werde Euch auch das beweisen. Vorher aber sagt mir doch einmal, woher Ihr eigentlich jenen Schurken Grandeprise kennt?« – »Warum fragt Ihr?« – »Weil ich weiß, daß ich Euch dienlich und behilflich sein kann.«

Grandeprise blickte dem Sprecher forschend in das Gesicht und erwiderte dann:

»Alle Welt weiß, daß Geierschnabel ein ehrlicher Kerl und ein tüchtiger Westmann ist. Vor so einem muß man Respekt haben, und darum will ich es ruhig hinnehmen, daß Ihr so mit mir redet, wie ein anderer es niemals wagen dürfte. Ich will Euch sagen, daß dieser Seeräuber Grandeprise mein ärgster Feind ist und daß ich ihn bereits seit langen Jahren suche, um endlich einmal Abrechnung mit ihm zu halten.« – »So, so«, lachte Geierschnabel. »Das ist lustig. Ihr sucht den Kerl und habt ihn doch. Und nachdem ich mir mit anderen die größte Mühe gegeben habe, ihn aufzufinden und festzusetzen, da holt Ihr ihn wieder heraus und laßt ihn entlaufen!« – »Ich verstehe Euch nicht«, meinte Grandeprise. – »Das glaube ich. Wer so einen dummen Jungenstreich verübt hat, der pflegt dann die klügeren Leute nicht zu verstehen. Ich muß Mitleid haben und Euch das Verständnis erleichtern. Ist Euch der Name Cortejo bekannt?« – »Ja«, antwortete der Gefragte sehr kurz. – »Es gibt einen Cortejo in Mexiko und einen drüben im Mutterland. Beide sind die größten Schufte auf der Erde, und sie haben sich den allergrößten engagiert, um ihre Schlechtigkeiten auszuführen.« – »Wer ist das?« – »Landola, den Ihr Grandeprise nennt.« – »Ah! Ihr kennt auch diesen ersteren Namen?« – »Sehr gut sogar. Ist Euch der Name Rodriganda bekannt?« – »Ja. Es gibt ein Grafengeschlecht dieses Namens.« – »Dieses Geschlecht ist sehr reich. Es waren zwei Brüder da, bei denen die beiden Cortejos als Verwalter angestellt waren. Diese letzteren wollten den Reichtum an sich bringen. Den einen Grafen machten sie wahnsinnig und den anderen scheintot. Als er begraben war, gruben sie ihn aus, weckten ihn auf und ließen ihn durch Landola in die Sklaverei verkaufen. Der eine Cortejo hatte einen Sohn, dieser wurde gegen einen Sohn des Rodriganda ausgewechselt, und so kam die Grafschaft in die Hände der Cortejos. Bei dieser Geschichte spielt nun allerlei Mord und Totschlag nebenbei. Personen, die im Wege standen, wurden beseitigt, eine Reihe Personen setzte Landola auf einer wüsten Insel aus, wo sie fast zwanzig Jahre lang im Elend schmachteten. Das war zu viel, da mußte der liebe Gott einmal mit Keulen dreinschlagen, und so haben sich einige Kerle, zu denen auch ich gehöre, zusammengetan, um diesen Menschen das Handwerk zu legen.«

Als Geierschnabel einhielt, fiel Grandeprise ein:

»Landola ist ein Schurke ersten Ranges. Aber was Ihr von den Cortejos sagt, ist wohl übertrieben.« – »Wort für Wort wahr! Ich werde es Euch erzählen!«

Geierschnabel gab nun dem irregeleiteten Jäger eine gedrängte, aber vollständige Darstellung alles dessen, was er selbst wußte. Grandeprise hörte mit immer wachsendem Erstaunen zu, und nachdem der Erzähler geendet hatte, rief er:

»Herrgott! Und diesen Cortejo habe ich gerettet!« – »Ihr?« fragte Geierschnabel überrascht. – »Ja. Oh, nun wird mir alles klar. Ohne mich wäre er blind gewesen und verschmachtet.« – »Sakkerment! Das müßt Ihr erzählen.« – »Ich werde es tun, obgleich ich mich dabei gewaltig blamiere. Ich fange an zu glauben, daß ich dumm gehandelt habe.« – »Oh, noch zehnmal dümmer, als Ihr vielleicht ahnt. Aber erzählt! Dadurch kommt nun endlich Licht in diese dunkle Sache.«

Grandeprise berichtete alles von dem Augenblick an, da er Pablo Cortejo am Rio Grande getroffen hatte, bis zu den Ereignissen des gegenwärtigen Tages. Geierschnabel hörte mit großer Spannung zu, dann sagte er:

»Hört, Master, es gibt doch noch einen Gott im Himmel. Dieser ist es, der mir den Gedanken eingegeben hat, Euch hier aufzusuchen, denn nun weiß ich, wo wir die spurlos Verschwunden finden werden. Aber nun wir gegenseitig alles wissen, sollt Ihr auch das erfahren, was Ihr noch nicht wißt, und damit will ich beweisen, daß Ihr wie ein Schwachkopf gehandelt und einen dummen Jungenstreich begangen habt. Wißt Ihr denn, wer dieser Advokat Antonio Veridante eigentlich ist?« – »Nun?« – »Gasparino Cortejo!« – »Unmöglich!« – »Freilich! Er sucht seinen Bruder! Heute abend wollte er eine Leiche in den leeren Sarg des noch lebenden Grafen Ferdinando legen. Wir erwischten ihn. Ihr aber habt ihn wieder befreit.« – »Ich wiederhole es, das ist unmöglich!« – »Pah! In diesem Fall wird Euch das andere noch viel unmöglicher erscheinen.« – »Was?« – »Wißt Ihr denn, wer der Sekretär dieses Veridante, des Gasparino Cortejo, eigentlich war?« – »Nicht wirklich sein Sekretär?« – »O nein! Ratet es einmal!« – »Ich rate es nicht.« – »Nun, dieser Sekretär war kein anderer als der, den Ihr so vergeblich gesucht habt, nämlich Henrico Landola, der Seeräuberkapitän Grandeprise.«

Der Jäger stand wie erstarrt da. Er war bereits vorher von der Hängematte aufgesprungen und bot nun mit seinen ausgestreckten Armen, seinem offenen Mund und seinen weitaufgerissenen Augen ein Bild des verkörperten Erstaunens, des Fleisch gewordenen Entsetzens.

»Der ...?« rief er endlich – »Der – der soll Henrico Landola gewesen sein?« – »Ja. Er hat Euch betrogen, getäuscht und ausgelacht, und Ihr habt ihm vertraut, habt ihm alles aufs Wort geglaubt, Ihr seid der Mitschuldige ihres Verbrechens geworden. Und zuletzt, als wir diesen Menschen, der eigentlich ein Teufel ist, festgenommen hatten, da habt Ihr Freiheit, Ehre, Reputation und selbst das Leben daran gesetzt, um ihn zu befreien, so daß diese Schlange nun wieder stechen und töten kann wie vorher. Ist das nicht ein dummer Jungenstreich, der gar nicht zu begreifen ist?«

Grandeprise holte tief und gepreßt Atem und erwiderte:

»Wenn alles möglich ist, so doch dieses nicht. Ich werde doch meinen Stiefbruder kennen.« – »Ah! Er ist noch dazu ein so naher Verwandter von Euch?« – »Ja. Diese Verwandtschaft war und ist der Fluch meines Lebens.« – »Nun, so sind Eure Augen erst recht nicht zu begreifen.« – »Und ich sage doch, er ist es nicht!« – »Pah! Sie beide, Cortejo und er, haben es mir unten in der Gruft selbst gestanden, daß sie es sind!« – »Wirklich? Gewiß und wahrhaftig?« – »Bei Gott und allen Heiligen! Habt Ihr denn gar nicht bemerkt, daß beide sich die Gesichter mit Kleister oder irgendeinem ähnlichen Mittel beschmiert und so verändert hatten, daß allerdings ein sehr scharfes Auge dazu gehört hätte, hinter diese Schminke zu blicken?«

Da endlich fiel es Grandeprise wie Schuppen von den Augen.

»Mein Gott«, rief er, »ja, das muß es gewesen sein. So oft ich die Stimme dieses Sekretärs hörte, war es mir, als ob sie mir bekannt sei. Sie stieß mich von ihm ab. Oh, ich Esel aller Esel! Meine Dummheit ist geradezu grenzenlos gewesen. Geierschnabel, Ihr habt noch viel zu wenig gesagt, als Ihr mich einen Schwachkopf nanntet. Ich gebe Euch die Erlaubnis, noch ganz andere Worte zu gebrauchen.« – »Na, na«, lachte der andere gutmütig. »Ich könnte zwar Worte suchen wie Ochse, Rhinozeros und so weiter, aber ich will das lieber unterlassen. Sobald einer seine Fehler bekennt, hat er schon begonnen, ein gescheiter Mann zu sein.« – »Aber die Folgen«, rief Grandeprise. – »Welche Folgen?« – »Daß ich bei dieser Leichengeschichte Wache gestanden habe, daß ich mich an einem Offizier vergriffen und die Gefangenen befreit habe! Wie habt Ihr das denn herausbekommen?«

Geierschnabel erzählte auch das.

»Nein, wie dumm von mir«, meinte Grandeprise. »Und ich glaube wirklich, daß dieser Offizier während der ganzen Zeit besinnungslos dagelegen habe. Wißt Ihr denn, daß Ihr mich anzeigen müßt?« – »Wenn wir streng nach dem Gesetz gehen, so habt Ihr allerdings sehr recht. Hm! Hm!« – »Werdet Ihr es tun?« – »Es ist das freilich eine verwickelte Geschichte. Aber Ihr seid Jäger wie ich und sonst ein braver Kerl. Wir sind Kameraden, und in der Savanne haben wir unsere eigenen Regeln und Gebräuche. Was kümmern uns die Gesetze anderer? Sodann müssen wir noch zweierlei bedenken. Erstens wird es nicht anders und besser, wenn ich Euch anzeige, denn die beiden Geflohenen bekommen wir doch nicht zurück. Und zweitens ist es ein Glück, daß Ihr mir in die Hand gelaufen seid. Es ist dadurch Licht in unsere Angelegenheit gekommen, und wir haben den Ort kennengelernt, wo wir die Cortejos und den Landola zu suchen haben.« – »Wo?« – »Im Kloster della Barbara zu Santa Jaga.«

Da klärte sich plötzlich das Gesicht Grandeprises auf.

»Ihr irrt!« sagte er. »Wir haben sie viel näher. Ihr glaubt nicht, wie leicht wir sie haben können.«

Geierschnabel ließ ein fast mitleidiges Lächeln sehen und entgegnete:

»Da habt Ihr sehr recht, ich glaube es allerdings nicht!« – »Und doch sollt Ihr in kurzem überzeugt sein.« – »Wohl nicht! Ihr meint, daß Landola und Gasparino Cortejo sich hier im Hotel befinden?« – »Woher wißt Ihr das?« – »Oh, als ich hinter der Mauer stand, hörte ich ja, daß sie Euch versprachen, nach Verlauf einer halben Stunde hierzusein.« – »Sie sind auch hier.« – »Habt Ihr sie gesehen?« – »Das allerdings nicht.« – »Nun seht! Sie wollten Euch hier einlassen, aber Ihr habt über die Mauer steigen müssen.« – »Ah! Auch das habt Ihr beobachtet?« – »Ja. Ihr seht hieraus, daß der Geierschnabel dem Grandeprise doch wohl etwas überlegen ist, obgleich man seine alte Posaune für eine Höllenmaschine gehalten hat, hahaha! Könnt Ihr in das Zimmer kommen?« – »Zu jeder Minute.« – »Gut, wollen sofort nachsehen.« – »Wir werden sie wecken, und dann sollen sie mir alles bezahlen, was ich bisher bezahlen mußte!« – »Unsinn! Wir werden sie nicht wecken, denn sie werden gar nicht dasein.« – »So kommen sie noch!« – »Hm! Ich habe so eine Ahnung und glaube nicht, daß sie mich täuschen wird. Kommt, wollen sehen!«

Die Männer nahmen das Licht zur Hand und schlichen sich leise, um niemanden zu wecken, nach dem betreffenden Zimmer. Dasselbe war nicht verschlossen. Sie konnten ungehindert eintreten. Geierschnabel hatte recht. Die Gesuchten waren nicht da.

»Sie werden aber doch zurückkehren«, behauptete Grandeprise. – »Meint Ihr? Da wären sie dumm genug. Mit Tagesanbruch wird man in der ganzen Stadt die Geschichte von dem falschen Offizier und den entkommenen Gefangenen wissen. Dann beginnen die Nachforschungen, und diese zwei Menschen sind klug genug, sich nicht so lange herzusetzen, bis sie ergriffen werden. Sie sind bereits fort.« – »Und mich hätten sie hiergelassen?« – »Warum nicht? Soll ich Euch das beweisen?« – »Wie wollt Ihr das anfangen?« – »Sehr einfach. Schaut einmal her.«

Geierschnabel hatte mit dem Licht auf die Diele geleuchtet und gesucht und hob etwas auf, was er Grandeprise hinhielt:

»Was ist das?« – »Straßenkot«, antwortete der Gefragte. – »Fühlt ihn an! Wie findet Ihr ihn?« – »Er ist allerdings noch naß und weich.« – »Wann haben die Kerle diese Stube verlassen, ehe sie nach dem Gottesacker gingen?« – »Bei Anbruch des Abends.« – »Nun, von daher kann der Kot nicht stammen, denn da wäre er hart und trocken geworden. Das, was wir hier sehen, ist vor kaum dreiviertel Stunden von dem Stiefel abgetreten worden. Sie sind also dagewesen.« – »So haben sie mich abermals betrogen!« – »Ich bin überzeugt davon!« – »Ah, ich weiß ein sicheres Mittel, um zu sehen, ob sie nach ihrer Befreiung aus dem Kerker hiergewesen sind. Sie legten ihre Uhren ab, als sie nach dem Kirchhof gingen. Sie wollten sie nicht beschädigen. Hinter dem Spiegel müßten sie noch stecken.«

Geierschnabel ging hin und sah nach.

»Fort!« sagte er. »Seht Ihr's! Während der halben Stunde, die sie Euch Zeit gaben, haben sie sich aus dem Staub gemacht. Sie haben Euch los sein wollen.« – »Donnerwetter! Das wird ihnen aber doch nicht gelingen! Sie sind gewiß nach Santa Jaga, und dort werden wir sie erreichen. Wenigstens darin werde ich mich nicht täuschen.« – »Da will ich Euch nicht unrecht geben. Aber hört meinen Rat! Die Polizei wird sehr rasch ausfindig machen, daß die Flüchtlinge hier gewohnt haben. Seid Ihr dann noch da, so ist es um Euch geschehen.« – »Ihr habt recht. Ich gehe fort. Aber wohin?« – »Natürlich mit mir. Ihr müßt unbedingt dem Herrn Leutnant alles erzählen. Euer Gepäck ist nicht groß, und das Pferd laßt Ihr da.« – »Es ist mein Eigentum.« – »Gut, so nehmt es mit. Der Hausknecht ist da. Bezahlt ihm Eure Zeche, so seid Ihr fertig. Meine Anwesenheit ist ein guter Vorwand, Euern Fortgang zu rechtfertigen.«

Das geschah. Nach zehn Minuten ritt Grandeprise zum Tor hinaus, und Geierschnabel ging neben ihm. Als sie bei dem Pferdevermieter vorbeikamen, stand dieser vor der Tür. Er schien, seit man ihn geweckt hatte, nicht wieder zur Ruhe gegangen zu sein. Geierschnabel benützte diese Gelegenheit und blieb bei ihm stehen. Er grüßte höflich und erkundigte sich:

»Habt Ihr viele Pferde im Stall, Señor?« – »Heute nur drei«, lautete die Antwort. – »Verkauft Ihr zufälligerweise eins davon?« – »Verleihen, ja, aber verkaufen nicht. Ich brauche sie selbst. Die zwei letzten, die ich nicht behalten konnte, habe ich heute nacht verkauft.« – »An wen?« – »An zwei Fremde.« – »Woher kamen sie?« – »Aus Querétaro.« – »Und wohin wollten sie?« – »Nach La Puebla.«

Geierschnabel ließ sich das Äußere der Fremden beschreiben und bekam die Überzeugung, daß es wirklich Cortejo und Landola gewesen seien.

Als er mit Grandeprise in seinen Gasthof kam, ließ er Kurt wecken. Dieser erstaunte sehr, als er erfuhr, was sich während seines Schlafes zugetragen hatte. Erst erzählte Geierschnabel, und dann kam die Reihe an Grandeprise, der seine Fehler eingestand, ohne sie beschönigen zu wollen. Sofort wurde beschlossen, den Flüchtigen nachzureiten. Kurt hatte erst mit Herrn von Magnus und dem Alkalden zu sprechen. Er konnte also nicht augenblicklich fort. Es verstand sich von selbst, daß bei den genannten Herren die Beteiligung Grandeprises an den gestrigen Ereignissen mit Schweigen übergangen werden sollte. Um seiner Sicherheit willen mußte er sofort aufbrechen. Geierschnabel ritt mit ihm. Es wurde ausgemacht, daß beide in Tula warten sollten, bis Kurt mit Peters zu ihnen gestoßen seien.

Daß Cortejo und Landola beim Pferdeverleiher angegeben hatten, sie kämen aus Querétaro und wollten nach La Puebla, also in einer ihrer eigentlichen, entgegengesetzten Richtung, das konnte niemanden irremachen, denn sie hatten vorausgesetzt, daß man sich nach ihnen erkundigen werde.

Die Kunde von dem Geschehenen verbreitete sich am Morgen rasch in der Stadt. Die Polizei geriet in eine fieberhafte Tätigkeit und entdeckte, wie Geierschnabel vermutet, bald, wo die Entflohenen gewohnt hatten. Auch auf Grandeprise und selbst Geierschnabel kam der Verdacht. Der Hausknecht konnte angeben, daß noch während der Nacht ein fremder, reicher Don gekommen sei, der den Jäger oder Vaquero abgeholt hatte. Man erkundigte sich, wie er geheißen und ausgesehen habe, und von diesem Augenblick an war im schwarzen Buch der Polizei zu lesen, daß man nach einem gewissen Don d'Alasquo Velantario y Carfedo de Peranna y Rivado de Salmanza y Hillenda de Vesta y Vista de Vusta vigiliere, der eine ungeheure Nase besitze, die sich jeder als Warnungszeichen dienen lassen möge.


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