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12. Kapitel.

Um die Situation zu begreifen, in die Landola und Cortejo geraten waren, ist es notwendig, nach Verakruz zurückzugehen, wo Kurt mit Geierschnabel und Kapitän Wagner mit dem Matrosen Peters sich nach dem Bahnhof begaben, um sich nach den beiden Flüchtlingen zu erkundigen.

Als sie auf dem Bahnhof anlangten, bemerkten sie einen französischen Soldaten. Er trug den Arm in der Binde und schien soeben als Weichensteller funktioniert zu haben.

Kurt trat auf ihn zu und fragte ihn im reinsten Französisch:

»Sind Sie hier angestellt, Kamerad?«

Der Soldat erkannte mit seinem geübten Blick sofort, daß er einen Offizier in Zivil vor sich habe.

»Ja, Monsieur«, antwortete er in einem sehr höflichen Ton. »Ich bin blessiert und warte auf das Schiff, um nach der Heimat zu gehen. Bis dahin mache ich mich nützlich, um einige Centimes zu Tabak zu verdienen.«

Kurt griff in die Tasche und gab ihm ein Fünffrankenstück.

»Hier, Kamerad, rauchen Sie! Wie lange sind Sie heute hier beschäftigt?«

Der Mann nahm das Geldstück, griff zum Dank salutierend an seine Mütze und erwiderte:

»Ich danke Ihnen Monsieur. Ich bediente bereits drei Züge.« – »Wann ging der letzte ab?« – »Vor vielleicht einer Stunde.« – »Wohin?« – »Nach Lomalto. Weiter geht es nicht.« – »Sind Zivilisten mitgefahren?«

Der Soldat machte ein sehr pfiffiges Gesicht, kniff die Augen listig zusammen und antwortete:

»Eigentlich nicht.« – »Aber uneigentlich wohl?« – »Das darf ich nicht verraten.« – »Warum nicht?« – »Ich bin Weichensteller, und der, der sie mitnahm, ist mein Vorgesetzter.« – »Gut, er hat sie also nicht mitgenommen. Wie viele Personen sind es gewesen?« – »Oh, nur drei. Sie hätten recht gut im Kupee des Zugführers Platz gefunden.«

Kurt wußte nun ganz genau, daß sie wirklich in diesem Kupee mitgefahren waren. Er fragte weiter:

»Wie sahen sie aus?«

Der Soldat beschrieb sie. Als er fertig war, meinte der Kapitän:

»Sie waren es, sie waren es! Aber wer der dritte gewesen ist, das kann ich nicht sagen. Bei mir an Bord war er nicht mit.« – »Wir werden es schon noch erfahren. Wann geht der nächste Zug?« – »In drei Stunden erst. Die Maschine muß von Lomalto wiederkommen. Sie bringt mehrere Wagen voll Kameraden mit.« – »Ein Güterzug geht nicht vorher?« – »Nein.« – »Ich danke, Kamerad!«

Kurt drehte sich zu den drei Gefährten und schritt mit ihnen davon.

»So sind sie also entkommen!« sagte der Kapitän. »Und daran bin ich allein schuld. Was ist da zu tun?« – »Wir müssen uns in Geduld fassen, lieber Freund«, antwortete Kurt. »Jedenfalls sind sie nach Mexiko. Leider gehen mir da drei volle Stunden verloren. Ich hoffe jedoch, sie in Mexiko abzufassen.« – »Ah, ich habe einen Boten abzusenden, der nach der Hauptstadt und dann nach der Hacienda del Erina soll, um meine Schiffsberichte zu überbringen«, meinte der Kapitän. »Würden Sie ihm erlauben, sich Ihnen anzuschließen, Herr Leutnant?« – »Ganz gern, vorausgesetzt, daß er mir nicht hinderlich wird.« – »Das befürchte ich nicht. Würde Ihnen hier mein Peters recht sein?« – »Sogar angenehm. Er kennt auch wohl die beiden Flüchtlinge?« – »Genauer noch als ich. Wie steht es, Peters?«

Der Gefragte zog eine sehr erfreute Miene und antwortete:

»Hm, ich möchte wohl, Kapt'n.« – »Du kannst doch ein wenig Spanisch?« – »Na, was man so für andere braucht.« – »Und ein paar Worte Französisch?« – »Genug, um ihnen sagen zu können, wie gewaltig gut ich ihnen bin.« – »So komme mit an Bord! Ich will die Sachen in Ordnung bringen, und du mußt deine Instruktion erhalten. Wo treffen wir uns wieder, Herr Oberleutnant?« – »Am besten in der Tabagie hier am Bahnhof.« – »So bitte ich, mich einstweilen zu beurlauben.« – »Gehen Sie immerhin! Zu dem, was wir noch zu besprechen haben, gibt es dann auch noch Zeit!«

Der Kapitän schritt mit Peters dem Wasser zu. Kurt aber kehrte um und begab sich wieder nach dem Bahnhof, Geierschnabel natürlich an seiner Seite. Er trat sofort in die Expedition des Stationschefs, der ihn mit neugierigem Blick empfing.

»Darf ich fragen, wann der nächste Zug nach Lomalto geht?« fragte Kurt, obgleich er bereits von dem Soldaten Auskunft erhalten hatte.

Der Beamte blickte nach der Uhr.

»In zweieinhalb Stunden«, antwortete er. »Wünschen Sie vielleicht mitzufahren?« – »Ja.« – »Tut mir leid. Zivilisten und Fremde sind ausgeschlossen.« – »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle.«

Kurt zog ein Papier aus der Tasche und reichte es dem Chef. Dieser hatte kaum die wenigen Zeilen gelesen, so machte er eine tiefe Referenz und sagte:

»Ich bin Ihr Diener, Herr Leutnant. Wie viele Plätze brauchen Sie?« – »Drei.« – »Sie werden ein Kupee erster Klasse erhalten.« – »Danke! Hat der Zug Anschluß an die Diligence?« – »Der vorige, aber dieser nicht. Überhaupt ist diese Diligence ein wahrer Marterkarren, dem ich mich niemals anvertrauen möchte. Wünschen Sie, recht schnell in der Hauptstadt zu sein?« – »Ja.« – »So rate ich Ihnen, zu reiten.« – »Ich habe keine Pferde.« – »Oh, hier hat jedermann Pferde. Halten Sie sich nur einige Zeit in diesem Land auf, so sind Sie geradezu gezwungen, sich Pferde zu kaufen.« – »Ich beabsichtigte, das in der Hauptstadt zu tun.« – »Warum dort, wo sie um vieles teurer und doch nicht besser sind?« – »Hat man bereits hier Gelegenheit?« – »Eine ganz vortreffliche sogar. Ich selbst habe einige hochfeine Tiere dastehen. Es waren Privatpferde von Offizieren, die nach der Heimat zurückkehrten und sich nicht mit ihnen schleppen wollten. Sie sind billig. Wollen Sie sich dieselben ansehen?« – »Zeigen Sie.« – »Kommen Sie. Wenn wir einig werden, brauchen Sie in Lomalto auf keine Diligence zu warten, und ich verlade Ihnen die Tiere bis dahin ohne alle Kosten.«

Der Handel wurde abgeschlossen. In Zeit von einer halben Stunde befand Kurt sich im Besitz von drei braven Pferden, die alles zu halten schienen, was der Chef versprochen hatte.

»Gott sei Dank!« meinte Geierschnabel. »Nun kann ich meine Beine endlich wieder einmal über ein Pferd hängen. Wäre das nicht bald geworden, so hätte ich aus lauter Verzweiflung versucht, mich auf meine Nase zu setzen und auf ihr im Galopp davonzureiten.«

Es fehlte wohl noch eine Stunde bis zum Abgang des Zuges, als Kapitän Wagner mit Peters erschien.

»Junge, kannst du reiten?« rief Geierschnabel dem letzteren entgegen. – »Warum?« fragte Peters. – »Wir haben Pferde gekauft. Von Lomalto bis Mexiko wird geritten. Weißt du, was ein Sattel ist?« – »Ein Sattel ist ein Ding, von dem mich keiner herunterbringt.« – »Wirklich?« – »Ja. Denkst du etwa, in den Seemarschen gibt es keine Pferde? Ich saß schon als Junge auf dem wildesten Hengst.« – »Das ist dein Glück, wir haben keine Zeit, dich alle fünf Minuten sechsmal aufzuheben.«

Sie setzten sich zusammen, und Wagner erzählte in kurzem sein Zusammentreffen mit Don Ferdinando und die Reise nach der Südseeinsel. Das alles war Kurt bereits aus der Erzählung Geierschnabels bekannt, nach dessen Bericht er nun dem Kapitän erzählte, was seit der Landung in Guaymas geschehen war. Wagner hörte mit der größten Spannung zu. Am Schluß rief er bestürzt:

»So sind sie also abermals verschwunden?« – »Leider ja. Aber ich hoffe zu Gott, daß es mir gelingt, ihre Spur aufzufinden. Und dann wehe denen, mit denen ich abzurechnen habe.« – »Vielleicht haben wir bereits ihre Spur«, meinte Geierschnabel. – »Wieso?« fragte Kurt. – »Hm! Ich habe so meine Gedanken. Wohin gehen dieser Landola und dieser Cortejo? Jedenfalls dahin, wo die anderen sind.« – »Das kann richtig sein; wir müssen die beiden auf alle Fälle wiederfinden. Dann werden wir auch erfahren, welches Ziel sie haben.« – »Aber das kann lange dauern«, sagte Wagner. »Ich darf meine braven Jungens nicht so lange der Fieberluft von Verakruz aussetzen.« – »So suchen Sie einen nahen, aber gesunden Hafen auf.« – »Gut, ich werde im Bermeja-Busen warten.«

Der brave Kapitän war über das Schicksal seiner Freunde so betrübt, daß es schwer wurde, ihn zu beruhigen. Er erging sich in den kräftigsten Ausdrücken gegen Cortejo und Genossen; dem wurde aber sehr bald ein Ende gemacht, indem das Signal zum Einsteigen ertönte.

Kurt überzeugte sich, daß die drei Pferde gut verladen waren, dann bestieg er mit Peters und Geierschnabel das ihm angewiesene Kupee. Der Abschied von Wagner war ein kurzer, aber herzlicher. Noch als der Zug in Bewegung war, schwenkte er den Hut und rief:

»Gute Fahrt, Herr Leutnant! Bringen Sie alle glücklich herbei und schlagen Sie den anderen, den Schuften, die Köpfe zu Brei.«

Nach zwei Stunden erreichten sie Lomalto. Dort kam der Zugführer selbst herbeigesprungen, um dienstfertig das Kupee zu öffnen. Kurt hatte bemerkt, daß es derselbe sei, der vorher von hier nach Verakruz gefahren war. Jedenfalls hatte der weichenstellende Soldat diesen und keinen anderen gemeint. Darum fragte er ihn, gleich auf den Strauch schlagend:

»Sie sind mit dem vorigen Zug mit drei Zivilisten von Verakruz hierhergefahren?«

Der Mann getraute sich nicht, eine Unwahrheit zu sagen.

»Ja, Monsieur«, antwortete er in unsicherem Ton. – »Befürchten Sie keine Unannehmlichkeiten«, beruhigte ihn Kurt. »Ich wünsche nur zu wissen, wohin sie sich gewandt haben.« – »Ah, ich danke! Sie sind nach Mexiko.« – »Wissen Sie das genau?« – »Ja. Sie saßen mit in meinem Kupee und erkundigten sich ganz genau nach dem gegenwärtigen Zustand des Weges nach der Hauptstadt.« – »Das kann nur zum Schein gewesen sein.« – »Nein, denn ich sah sie alle drei in die Diligence steigen, die hier an der Bahn hielt.« – »Ich danke.«

Kurt gab dem Soldaten ein Trinkgeld. Der Mann machte vor Freude, so glücklich davongekommen zu sein, die tiefste Referenz und beeilte sich dann, die Pferde in eigener Person auszuladen.

Nachdem einiger Proviant gekauft worden war, saßen die drei Männer auf und trabten davon. Geierschnabel, der hier bekannt war, hatte das Amt des Führers übernommen.

Als sie nach langem und beschwerlichem Ritt die Hauptstadt vor sich sahen, hatte sich Peters als guter Reiter bewährt; aber bei dem schlechten Weg war es ihnen doch nicht gelungen, die Diligence einzuholen, die von acht kräftigen, ausdauernden Pferden gezogen wurde. Sie wußten, daß der Wagen bereits am Vormittag die Hauptstadt erreicht hatte, während die Sonne sich jetzt zu senken begann.

»Wo nun die Kerle finden in einer solchen Stadt?« fragte Geierschnabel. »Geht zum Teufel mit Euren Straßen und Gassen, in denen man einer Posaune wegen arretiert wird. Im Urwald oder in der Prärie sollten mir die Halunken wohl schwerlich entkommen!« – »Ich kenne zwei Wege, sie zu finden«, meinte Kurt. – »Wirklich? Welche wären das?« – »Es sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht versucht hätten, im Palast de Rodriganda Erkundigungen einzuziehen.« – »Donnerwetter, das ist richtig! Diesen Wigwam müssen wir aufzufinden suchen! Und der zweite Weg?« – »Sie wissen, daß Don Ferdinandos Sarg leer ist?« – »Freilich weiß ich das. Ich habe den famosen Toten lebendig gesehen.« – »Cortejo und Landola werden ahnen, daß unser Angriff gegen dieses leere Grab gerichtet sein wird. Sie werden also auch zuerst dafür sorgen, daß der leere Sarg mit irgendeiner Leiche gefüllt wird.« – »Das ist diesen Kerlen allerdings zuzutrauen. Master Leutnant, Sie sind ein zwar junger, aber bereits sehr scharfsinniger Kerl!« – »Danke! Wir müssen ihnen zuvorkommen.« – »Jawohl! Vorwärts also, in dieses alte Dorf hinein.«

In der Hauptstadt angekommen, stiegen sie vor dem ersten besten Hotel ab. Und dann begab sich Kurt, nachdem er sich einigermaßen restauriert hatte, nach dem Palast Rodriganda, der ihm genau beschrieben worden war.

Auch er wurde von dem Posten aufgehalten, und auch er erklärte, daß er zu dem Administrator wolle, worauf er passieren durfte. Der Verwalter befand sich dieses Mal in seinem Expeditionsbüro. Kurt gab im Vorzimmer seine Karte ab und wurde von dem Herrn selbst eingeladen, einzutreten.

»Womit darf ich Ihnen dienen, Herr Oberleutnant?« fragte der jetzt sehr freundliche Beamte. – »Ich muß um Verzeihung bitten, daß mich nur der Zweck zu Ihnen führt, mir eine kleine Privaterkundigung zu erbitten.« – »Ich stehe gern zu Diensten.« – »Hatten Sie vielleicht heute den Besuch eines Mannes, der sich für den Agenten des Grafen Rodriganda ausgab?« – »Allerdings. Er war bereits am Vormittag da. Hat Ihre Erkundigung einen bestimmten Zweck, Monsieur?« – »Allerdings. Nur fürchte ich, Ihnen lästig zu werden.« – »Ich stehe einem jeden, der höflich kommt und mir nicht ganz unsympathisch ist, sehr gern zur Verfügung.« – »War dies mit dem Mann auch der Fall?« – »Ganz und gar nicht«, lächelte der Franzose. »Er hat nicht die mindeste Auskunft erhalten.« – »Er wollte sich über Ihre Administration informieren?« – »Oh, er wollte noch mehr. Er wollte diese Administration aus meinen Händen in die seinigen nehmen.« – »Das dachte ich. Er nannte sich Don Antonio Veridante?« – »So ist es.« – »Ist Ihnen die Adresse dieses Mannes bekannt?« – »Nein.« – »Es liegt mir sehr viel daran, sie zu erfahren. Dieser Mensch ist nämlich ein außerordentlich gefährliches und raffiniertes Subjekt, das ...« – »Ah, so kam er mir vor«, unterbrach ihn der Verwalter. – »Es ist möglich, daß er wiederkommt. In diesem Fall ersuche ich Sie dringend, ihn sofort festnehmen zu lassen und dem preußischen Geschäftsträger, Herrn von Magnus, Kunde zu geben. Er wird mich benachrichtigen, da ich für jetzt meine spätere Adresse noch nicht kenne.« – »Ihn arretieren? Würde ich diesen Schritt verantworten könnten?« – »Vollständig! Dieser Veridante ist nämlich Gasparino Cortejo, der Bruder jenes Pablo Cortejo, den Sie wohl kennen werden.« – »Ah, sehr, sehr gut! Er ist berüchtigt genug.« – »Und sein sogenannter Sekretär ist ein gewisser Henrico Landola, früher unter dem Namen Grandeprise, Kapitän des Piratenschiffes ›Lion‹ bekannt.« – »Ist dieser Sekretär auch hier?« – »Ja, er ist Cortejos Begleiter.«

Da fuhr der Franzose erschrocken zurück.

»Wie, Monsieur«, rief er, »solche Leute halten sich hier auf?« – »Ja. Sie sind beide geschminkt und verkleidet, und ihre Pässe sind gefälscht. Ich verfolge sie von Verakruz her.« – »Das ist mir genug. Sobald ich Cortejo wieder erblicke, lasse ich ihn festnehmen; darauf können Sie sich verlassen.«

Kurt klärte den Franzosen noch soweit auf, wie er es für nötig hielt, und begab sich dann zu Herrn von Magnus, um ihm die anvertrauten geheimen Skripturen zu übergeben. Er wurde mit Auszeichnung aufgenommen und brachte im Lauf der Unterhaltung den Privatzweck seines hiesigen Aufenthaltes zur Sprache.

Der Staatsmann hörte ihm aufmerksam zu und sagte:

»Ein ganzer Roman, wahrhaftig ein ganzer Roman! Meiner Hilfe sind Sie sicher, soweit es mir möglich ist. Also Sie wollen zunächst und vor allen Dingen Ihr Augenmerk auf das Begräbnis richten?« – »Es wird das geratenste sein.« – »Das meine ich auch. Nur muß ich Ihnen Vorsicht anempfehlen. Sie sehen wohl ein, daß zunächst eine geheime Besichtigung des Sarges vorgenommen werden möchte, natürlich aber im Beisein wichtiger Zeugen, deren Wort nicht anzufechten ist.« – »Ich bin ganz Ihrer Meinung, gnädiger Herr.« – »So bedarf es außer Ihnen und Ihren Begleitern nur noch eines Mannes, dessen Aussagen unanfechtbar sein müßten. Ich gestehe Ihnen offen, daß ich an Ihrer Stelle weder einen französischen, noch einen kaiserlichen Beamten wählen würde. Ich möchte da einen eingeborenen Mexikaner vorziehen. Wie wäre es mit dem Alkalden, der der Tochter Pablo Cortejos den Befehl überbrachte, die Stadt und das Land zu verlassen?«

Damit hatte der preußische Geschäftsträger gesagt, daß die Zeit kommen werde, wo weder ein Franzose noch ein Kaiserlicher mehr ein Wort zu sagen habe.

»Wird dieser Beamte meiner Bitte Folge leisten?« fragte Kurt. – »Gewiß. Er ist mein Bekannter. Ich werde Ihnen einige Zeilen für ihn mitgeben, wenn Sie es wünschen, Herr Oberleutnant.« – »Ich bitte ebenso herzlich wie dringend darum!«

Eine Viertelstunde später war Kurt mit diesen Zeilen unterwegs zum Alkalden, der den Brief entgegennahm, ohne den Überbringer groß zu beachten. Als er die Zeilen aber gelesen hatte, klärte sich seine ernste, fast finstere Miene zusehends auf. Er reichte Kurt die Hand und sagte:

»Herr von Magnus empfiehlt Sie mir in sehr freundlicher Weise. Er sagt mir, daß Sie in einer Angelegenheit zu mir kommen, in der es mir möglich sein dürfte, Ihnen einen Dienst zu erweisen. Darf ich Sie ersuchen, mir mitzuteilen, in welcher Weise ich mich Ihnen nützlich machen kann?« – »Es ist eine Angelegenheit zunächst privater Natur«, antwortete Kurt, »kann aber leicht eine Wendung annehmen, die sie vor das Forum des Kriminalrichters bringt.« – »Das ist ja das meinige. Es handelt sich also wohl um ein Verbrechen?« – »Um eine ganze Reihenfolge davon.« – »Welche erst zu entdecken sind? Ich vermute dies nämlich aus Ihrer Äußerung, daß die Angelegenheit eine Wendung annehmen kann, die sie vor den Strafrichter bringt.« – »In gewisser Beziehung haben Sie sehr richtig geraten, Señor. Welche Verbrechen geschehen sind, das ist so ziemlich festgestellt. Um dieselben zu verdecken, sollen aber neue verübt werden. Den Tätern bin ich auf der Spur, und ich hoffe, sie mit Ihrer freundlichen Beihilfe überraschen zu können.« – »Ich stelle mich Ihnen zur Verfügung«, meinte der Beamte unter einer sehr freundlichen Verbeugung. »Wenn auch leider gerade jetzt meine Amtsbefugnisse von den gegenwärtigen Verhältnissen sehr tangiert werden, so steht es doch vielleicht in meiner Macht, Ihnen behilflich zu sein. Sagen Sie mir nur, um was es sich handelt.« – »Es handelt sich um die Angelegenheit einer Familie, die Ihnen wohlbekannt sein dürfte. Oder sollten Sie von Graf Ferdinando Rodriganda nichts gehört haben?« – »Don Ferdinando? O nein. Ich habe mit ihm sehr oft zu konferieren gehabt.« – »So kannten Sie vielleicht auch seinen Verwalter oder Geschäftsführer?« – »Meinen Sie diesen Cortejo?« – »Ja.« – »Welcher die Lächerlichkeit begangen hat, eine politische Rolle spielen zu wollen?« – »Denselben.« – »Auch dieser ist mir bekannt. Er hat ja sehr dafür gesorgt, daß jedes Kind von ihm wissen muß. Stehen diese beiden Personen in einem Verhältnis zu der Ursache Ihres Besuches bei mir?« – »Gewiß. Es sind die Hauptpersonen, um die es sich handelt.« – »Sie meinen da doch wohl nur Cortejo, da Don Ferdinando nicht mehr lebt?«

Kurt schüttelte den Kopf und antwortete:

»Ich meine alle beide, denn Don Ferdinando lebt noch; er ist nicht tot, er ist nicht gestorben.«

Der Beamte blickte erstaunt und überrascht empor.

»Sie irren«, meinte er. »Oder sollten Sie von diesem Todesfall noch gar keine Kenntnis haben? Ich selbst bin ja bei dem Begräbnis des Grafen zugegen gewesen!« – »Das glaube ich gern, aber dennoch lebt der Graf. Sie haben nicht eine Leiche, sondern einen Scheintoten begraben helfen.« – »Das wäre ja ein ganz außerordentliches Vorkommnis. Aber, selbst wenn der Graf scheintot gewesen wäre, könnte er nicht mehr leben, er müßte in seinem Sarg längst gestorben sein. Und dann, wie hätte man erfahren können, daß er lebendig begraben wurde?« – »O Señor, er ist nicht in seinem Sarg gestorben, sondern man hat ihn aus demselben genommen, um ihm ein Schicksal zu bereiten, das noch schlimmer ist als der Tod. Er ist lange Jahre Gefangener oder vielmehr Sklave gewesen, hat aber doch endlich Gelegenheit gefunden, sich zu retten. Kaum aber ist er in sein Vaterland zurückgekehrt, so scheint ein neues Verbrechen an ihm begangen worden zu sein. Er ist abermals verschwunden.«

Es war ein eigentümlicher Blick, den der Alkalde auf den Sprecher warf. Er schien große Lust zu haben, an dessen Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln, und sagte unter einem sehr ungläubigen Schütteln des Kopfes:

»Was Sie da behaupten, Señor, das klingt ja fast wie ein Märchen. Darf ich um Aufklärung bitten?« – »Es ist ja mein Wunsch, Ihnen dieselbe zu geben, vorausgesetzt, daß Sie die nötige Zeit dazu zur Verfügung haben.« – »Ich habe sie. Nehmen Sie Platz und sprechen Sie!«

Der Beamte setzte sich in seine Hängematte und brannte sich als echter Mexikaner eine Zigarette an. Kurt mußte dasselbe tun, und nachdem er sich auf einen Stuhl niedergelassen hatte, begann er zu erzählen.

Der Alkalde hörte ihm zu, ohne ihn mit einem einzigen Worte zu unterbrechen. Selbst, als Kurt geendet hatte, machte er keine Bemerkung; er schnellte sich jedoch aus der Hängematte heraus und schritt in dem großen Amtszimmer hin und her. Dann blieb er vor dem Deutschen stehen und sagte:

»Junger Mann, ich weiß gar nicht, welcher Worte ich mich jetzt bedienen soll. Was Sie mir da erzählt haben, das klingt so unglaublich, daß man für Wahnsinn halten möchte, es für Wahrheit zu nehmen. Und dennoch klingt es ebensosehr glaubhaft. Sagen Sie mir doch gefälligst, ob Sie selbst überzeugt sind, daß sich alles so verhält, wie Sie es mir sagten.« – »Señor, ich habe die volle Überzeugung«, beteuerte Kurt. – »Gibt es nicht einen leisen, leisen Zweifel, gegen den Sie vielleicht doch zu kämpfen haben?« – »Ganz und gar nicht!« – »So lebt Don Ferdinando also wirklich noch?« – »Ja.« – »Sie wissen das aus dem Brief, den dieser Señor Sternau an seine Frau nach Deutschland geschrieben hat?« – »Aus diesem Brief, und sodann ist auch jener Jäger da, der den Grafen selbst gesehen hat.« – »Geierschnabel?« – »Ja. Und Kapitän Wagner mit seinen Matrosen.« – »Diese alle aber haben den Grafen früher nicht gekannt!« – »Sie wollen damit sagen, daß diese Personen infolgedessen nicht befähigt sind, den Grafen zu rekognoszieren?« – »Allerdings. Ihre Aussage würde noch nichts beweisen.« – »Aber Sternau, Mariano, Büffelstirn, Bärenherz und alle anderen, die mit ihm nach Mexiko kamen?« – »Sie können nichts sagen, da sie ja verschwunden sind.« – »So muß man versuchen, sie wiederzufinden!« – »Natürlich, natürlich. Meiner Hilfe dazu können Sie sicher sein, Señor. Es ist da aber notwendig, daß ich mit diesem Geierschnabel selbst spreche.« – »Ich werde ihn senden.« – »Nein, ich suche ihn selbst auf. Aber ...« der Alkalde warf einen forschenden Blick auf Kurt. »Sie kommen vom Geschäftsträger Preußens. Befinden Sie sich nur in einem privaten Auftrag hier?«

Kurt antwortete ausweichend:

»Selbst wenn dies der Fall wäre, würde es meiner Angelegenheit wohl nicht zum Schaden gereichen.« – »Nein, aber Sie bedürfen der amtlichen Hilfe. Es fragt sich, von welcher Seite Sie diese erwarten und beanspruchen!« – »Sie sehen das daraus, daß ich zu Ihnen gekommen bin.« – »Ah, Sie waren bisher bei keinem Franzosen?« – »Nein.« – »Auch bei keinem Österreicher?« – »Auch nicht. Ich habe nur Herrn von Magnus in das Vertrauen gezogen. Daß ich auch den Verwalter der gräflichen Güter aufsuchte, geschah ja nur, um zu erfahren, ob die Gesuchten bereits bei ihm gewesen seien.« – »So wollen wir es dabei lassen. Ich glaube nicht, daß die Unterstützung eines Kaiserlichen Ihnen auf die Dauer nützlich sein wird. Sie sind also überzeugt, daß die Personen, die Sie bis hierher verfolgten, wirklich Cortejo und Landola sind?« – »Ja.« – »Und daß diese beflissen sein werden, sich mit dem leeren Sarg zu beschäftigen?« – »Ich vermute das allerdings.« – »Es ist ihnen zuzutrauen, nach allem, was Sie mir erzählten. Aber wir selbst werden uns vorher mit demselben Gegenstand beschäftigen. Ich werde mich mit einigen meiner Beamten nach dem Erbbegräbnis begeben. Hoffentlich begleiten Sie mich?« – »Es ist dies ja die Bitte, die ich an Sie richten wollte.« – »Gut. Ich werde sofort nach dem Palast Rodriganda senden, um mir den Schlüssel zu dem Mausoleum zu erbitten.« – »Ah, Señor, wäre es nicht vielleicht besser, dies zu umgehen?« – »Warum?« – »Ich halte es nicht für geraten, zu viele Personen in das Geheimnis zu ziehen, am allerwenigsten aber diese Franzosen.« – »Hm, Sie mögen recht haben. Also Sie erwarten mit aller Bestimmtheit, den Sarg leer zu finden?« – »Ja.« – »Es ist natürlich nicht meine Absicht, Sie zu beleidigen, Señor, aber als Beamter bin ich verpflichtet, den Gegenstand möglichst allseitig zu betrachten. Wenn wir den Sarg leer finden, könnte dies auch einen anderen Grund, als den von Ihnen angegebenen haben.«

Kurt erriet sofort, was der Alkalde andeuten wollte.

»Ah«, sagte er. »Sie meinen, daß man die Leiche erst vor kurzer Zeit entfernt haben könne?« – »Ja, um Sie zu täuschen.« – »Wer könnte dies tun, und was würde es ihm nützen? Übrigens wird am Zustand des Sarges sicherlich zu erkennen sein, ob eine Leiche in ihm verfaulte oder nicht.« – »Gewiß. Glücklicherweise bin ich im Besitz von Nachschlüsseln. Sie wissen, daß man als Beamter solche zuweilen notwendig brauchen kann. Wollen wir aufbrechen?« – »Ich stehe zu Befehl!«

Der Alkalde entfernte sich auf wenige Augenblicke, um seine Befehle zu erteilen, und dann begaben sie sich nach Kurts Hotel.

In Mexiko, wo man gewöhnt ist, selbst die kleinste Strecke zu Pferde zurückzulegen, erregte es die Verwunderung der Passanten, den ihnen wohlbekannten Alkalden zu Fuß zu sehen.

Im Gasthof angekommen, nahm er den Jäger ins Verhör. Geierschnabel erzählte seine Erlebnisse in Fort Guadeloupe in seiner gewöhnlichen drastischen Weise. Jedes Wort, das er sagte, bestätigte, was der Beamte bereits von Kurt gehört hatte.

»Bei Gott«, sagte er, »es gewinnt wirklich den Anschein, als ob wir uns mit einem Märchen beschäftigten.« – »Donnerwetter!« rief Geierschnabel, indem er einen dicken Strahl Tabaksaftes an die Wand spuckte. – »Was? Warum fluchen Sie?« – »Na denken Sie etwa, daß ich eines Märchens wegen nach Deutschland reise und mich sechstausendmal arretieren lasse?« – »Das traue ich Ihnen allerdings nicht zu«, meinte der Beamte lächelnd. – »Man hat sogar meine Posaune für ein Auseinanderplatzungsattentätermordinstrument gehalten. Eine Lüge! Ein Märchen! Ich sage Ihnen, Señor, wenn der Mann, den ich in Fort Guadeloupe sah, nicht Graf Ferdinando ist, so ist auch meine Nase hier nicht die meinige, sondern die Ihrige!« – »Das ist allerdings ein sehr überzeugender Beweis. Jetzt aber wollen wir nach dem Kirchhof gehen.«

Sie machten diesen Weg, indem sie möglichst unbelebte Gassen benutzten, und trennten sich darauf, um einzeln durch das Tor zu treten, damit sie den etwa Anwesenden nicht auffallen möchten. Sie trafen auf dem Kirchhof bereits mehrere Alguazils – Polizisten –, die auf den Befehl des Alkalden hier auf sie gewartet hatten. Einer von ihnen hatte nach dem Erbbegräbnis gesucht und erhielt jetzt die Schlüssel des Alkalden. Er entfernte sich, um unbemerkt von den Kirchhofbesuchern die Tür zu öffnen, und bereits nach einigen Minuten meldete er, daß ihm dies gelungen sei.

Jetzt begaben sie sich einzeln nach dem Mausoleum, wo, als sie vollzählig beisammen waren, die Polizisten die Laternen hervorzogen, die sie mitgebracht hatten.

Sie stiegen hinab und fanden den Sarg. Er wurde geöffnet und zeigte sich – leer.

»Santa Madonna!« rief der Alkalde. »Es ist wahrhaftig so; er ist leer!«

Kurt untersuchte den Inhalt genau und erwiderte:

»Sehen Sie diese Kissen! Sie sind wie neu.« – Ja«, antwortete der Beamte. »Es ist wahr. In diesem Sarg kann keine Verwesung vor sich gegangen sein. Mein Gott! Sollten Sie sich wirklich nicht täuschen? Sollte Graf Ferdinando wirklich lebendig begraben worden sein?« – »Auf alle Fälle, Señor.« – »Nun, so werde ich auch alles tun, um die Täter zu entdecken. Ich werde den Kirchhof und besonders dieses Begräbnis von diesem Augenblick an polizeilich bewachen lassen.« – »Wird dies auch zu raten sein?« fragte Kurt. – »Warum nicht?« – »Weil diejenigen, die wir fangen wollen, höchst scharfsinnige und verschlagene Menschen sind. Wie leicht könnten sie diese Bewachung bemerken und sich schnell zurückziehen, so daß sie uns dann leicht entgehen.« – »Aber soll ich sie denn nicht eben ausfindig machen?« – »Gewiß. Doch dürfen wir nicht glauben, daß sie am hellen Tage kommen werden, um irgendeine Leiche in den Sarg zu legen.« – »Darin haben Sie unbedingt recht. Sie werden dies nur des Nachts besorgen können. Aber woher die Leiche nehmen!« – »Oh, selbst so etwas kann einen Landola und Cortejo nicht in Verlegenheit bringen.« – »Sie meinen, daß sie sich eine Leiche machen werden?« – »Machen? Wollen Sie damit sagen, daß sie eine Leiche fabrizieren werden – durch einen Mord vielleicht?« – Ja.« – »O nein. Dazu sind sie zu klug. Eine neue Leiche kann ihnen gar nichts nützen. Sie brauchen eine alte Leiche, eine männliche Person, die ungefähr so lange im Grab gelegen hat, wie Don Ferdinando tot sein soll.« – »Ah, Sie haben recht. Sie zeigen den Scharfsinn, der so nötig ist, falls Ihnen Ihr schwieriges Vorhaben gelingen soll.« – »Ich meine, daß es nicht erforderlich ist, uns jetzt um sie und um den Kirchhof zu kümmern. Aber sobald es Abend geworden sein wird, müssen wir wachsam sein.« – »Ich werde den Zugang zum Begräbnis besetzen lassen.« – »Und sie da festnehmen?« – »Ja.« – »Ich würde doch vorziehen, sie bis hier herunter gelangen zu lassen. Sie sind da besser zu ergreifen, weil von hier aus ein Entkommen viel schwieriger sein wird.« – »Auch hierin haben Sie recht. Sie meinen also, daß diese Menschen sich eine Leiche rauben werden?« – »Ich vermute das.« – »Sie werden also ein altes Grab öffnen?« – »Nein, sondern sie werden die Leiche aus einem Erbbegräbnis holen, weil da nicht zu befürchten ist, daß eine Spur ihrer Tat zurückbleibt.« – »Auch hierin vermuten Sie sehr richtig. Gehen wir also jetzt auseinander, um uns nach Einbruch des Abends hier wieder zu treffen.«

Sie entfernten sich einzeln, so, wie sie gekommen waren.

In Erwartung der Ereignisse des Abends verging Kurt der Nachmittag außerordentlich langsam. Geierschnabel hatte sich wieder in das Gras gelegt, um zu schlafen; aber sobald es düster genug war, kam er, um den Leutnant und den Matrosen abzuholen.

»Ich hoffe, daß uns die Kerle nicht lange warten lassen werden«, sagte Peters. – »Pah!« meinte Geierschnabel. »Sie werden sich doch gerade den Spaß machen, uns möglichst lange harren zu lassen.« – »Warum?« – »Denkst du, daß sie vor Mitternacht kommen?« – »Weshalb denn nicht?« – »Weil das die Geisterstunde ist, in der sich jeder dumme Mensch vom Kirchhof möglichst fernhält.« – »Hm. Zu diesen Dummen scheinen wir also nicht zu gehören.« – »Ja, du für dieses Mal allerdings nicht.«

Am Mausoleum stand ein Polizist; er hatte die Tür bereits geöffnet und wartete schon. Nach und nach fanden sich auch noch der Alkalde nebst mehreren anderen Polizisten ein.

»Nun gilt es, unsere Arrangements zu treffen«, sagte er. »Ich werde zunächst zwei Mann an die Tür postieren.« – »Das wird nichts helfen«, bemerkte Geierschnabel. – »Weshalb?« – »Weil diese Kerle sehr dumm wären, wenn sie sich gerade am Tor erwarten ließen. Sie werden wohl über die Mauer kommen. Das ist das wahrscheinlichere.« – »Das erschwert die Sache ganz außerordentlich«, meinte der Beamte mißmutig. – »Warum?« fragte der Präriejäger. – »Weil ich da mehr Polizisten kommen lassen muß.« – »Mehr Polizisten? Oh, Master Alkalde, ich kalkuliere, daß wir bereits genug solcher Leute hier haben.« – »Ich habe doch alle vier Mauern besetzen lassen.« – »Das ist nicht nötig. Sie bleiben hier unten bei den Särgen und besetzen nur den Kirchhof, aber nicht durch die Polizisten.« – »Durch wen sonst?« – »Durch mich.« – »Durch Sie?« fragte der Alkalde. »Durch Sie allein?« – »Ja.« – »Señor, das kann unmöglich genügen!« – »Donnerwetter, warum nicht?« fragte Geierschnabel, indem er mit großer Energie ausspuckte. – »Ein Mann ist zu wenig.« – »Da irren Sie sich ganz gewaltig. Viele Köche verderben den Brei. Ich bin ein Westmann, ein Prärieläufer. Wissen Sie das?« – »Ich weiß das allerdings.« – »Nun, so sage ich Ihnen, daß die zwei Ohren eines alten Jägers geeigneter sind, einen Kirchhof zu bewachen, als hundert Polizistenohren. Ihre Leute sind sicher nicht gewöhnt, den Käfer des Nachts im Gras laufen zu hören.« – »Sie meinen, daß Sie jedes Geräusch über den ganzen Kirchhof hin sofort erlauschen würden?« – »Ja.« – »Und daß Sie sofort merken werden, wenn die Erwarteten einsteigen?« – »Ganz sicher.« – »Selbst wenn Sie sich weit von dem Platz befinden, wo das geschieht?«

Geierschnabel fühlte sich verdrießlich über diese Erkundigung. Er spuckte abermals aus und antwortete:

»Ich sage Ihnen, daß Sie mir den Kirchhof viel eher und besser anvertrauen können als Ihren Leuten. Das ist genug. Wollen Sie mir nicht glauben, wollen Sie sämtliche Mauern mit Polizisten besetzen lassen, als ob wir einen Sturmangriff abzuschlagen hätten, so müssen Sie auch gewärtig sein, daß die Kerle uns eher bemerken, als wir sie. Und riechen sie den Braten, so können wir ihnen im Dunkeln nachsehen.«

Der Alkalde wußte, welche scharfen Sinne solch ein Jäger zu besitzen pflegt, darum antwortete er

»Sie mögen recht haben. Wir bleiben also alle hier unten in dem Begräbnis, und Sie mögen oben wachen.« – »Oh, einen Ihrer Leute können Sie oben an die Tür postieren, damit ich Ihnen durch ihn Nachricht geben kann, ohne erst herunter zu müssen.«

Geierschnabel entfernte sich, und einer der Polizisten folgte ihm. Die übrigen blieben unten bei den Särgen zurück. Es waren der Alkalde, Kurt, Peters und drei Polizeimänner, also sechs Personen, sicherlich genug, um die Erwarteten festzuhalten. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Geierschnabel hatte recht, denn Mitternacht kam, ohne daß sich etwas ereignete.

»Vielleicht kommen sie gar nicht«, meinte der Alkalde. – »Das ist möglich«, antwortete Kurt. »In diesem Fall müssen wir morgen wieder wachen.« – »Oder sind sie bereits da, und dieser Jäger hat es nicht gehört?« – »Sie würden uns doch in die Hände laufen.«

Da hörten sie nahende Schritte, die zur Treppe herabkamen. Der oben aufgestellte Polizist war es.

»Sind sie da?« fragte der Alkalde erfreut. – »Ja, Señor.« – »Wieviel?« – »Drei Mann. Der Jäger läßt Sie bitten, die Laternen zu schließen und einzustecken.« – »Gut. Was macht er?« – »Er ist wieder fort, um zu lauschen. Zwei sind nämlich zwischen den Gräbern verschwunden, der dritte aber befindet sich am Tor, um zu wachen.«

Infolge dieser Meldung bemächtigte sich der Anwesenden eine ihre Sinne anspannende Erwartung, die bald neue Nahrung erhielt, denn nach einer Weile kam Geierschnabel selbst herab. Da es unten finster war, so nannte er seinen Namen, um nicht für einen der erwarteten Verbrecher gehalten zu werden.

»Wo sind sie? Was tun sie?« tönte es ihm entgegen. – »Wir werden sie bekommen«, lachte er. »Sie holen den Grafen Ferdinando. Vorn am Tor aber steht einer, der Wache hält. Senden Sie zwei Polizisten hin, die sich an ihn heranschleichen und ihn festnehmen, sobald seine zwei Genossen hier herabgestiegen sind.«

Geierschnabel entfernte sich, um wieder zu lauschen, und nach seiner Angabe schlichen sich zwei Alguazils fort, um den Mann am Tor festzunehmen. Es dauerte eine geraume Weile, ehe Geierschnabel wiederkam.

»Sie kommen«, meldete er. – »Die zwei allein, oder auch der Wächter?« fragte Kurt. – »Der Wächter nicht.« – »Sie bringen die Leiche?« – »Ja, Master Leutnant.« – »So wird es Zeit, uns zu verstecken. Rasch hinter die Särge!«

Beim Eintritt Geierschnabels hatte der eine Polizist seine Blendlaterne für diese kurze Zeit herausgeholt und wieder geöffnet. Als die anderen sich beeilten, hinter die vorhandenen Särge zu kriechen, wollte er sie wieder einstecken, aber Geierschnabel verhinderte ihn daran.

»Halt!« sagte er. »So eilig ist es nicht. Erst gibt es noch etwas anderes zu tun.« – »Was?« fragte der Mann. – »Den Deckel herab.« – »Von dem Sarg?« – »Ja.« – »Warum?« – »Das wirst du sogleich sehen, mein Junge.«

Sie hoben den Deckel von dem Sarg, und nun sah der erstaunte Polizist, daß sich Geierschnabel mit aller Gemütsruhe in die weichen, weißseidenen Kissen legte.

»Donnerwetter«, sagte er. »Was soll das bedeuten?« – »Mach den Deckel wieder zu, mein Junge«, antwortete Geierschnabel, indem er sich behaglich zurechtrückte. – »Aber ich begreife nicht, was ...« – »So halte den Mund, wenn du es nicht begreifst! Sieh doch einmal meine Nase an, und denke dir, daß jemand, der einen leeren Sarg zu finden erwartet, diesen öffnet und darin einen Geist oder ein Gespenst mit so einer Nase findet! Mach zu!«

Der Mann zögerte, und auch Kurt wollte eben Einspruch erheben, als sich von oben ein leises Geräusch vernehmen ließ.

»Donnerwetter, mach zu, sonst überraschen sie uns!« meinte Geierschnabel, indem er die Hände lang an den Leib legte, so wie man die Toten zu betten pflegt.

Jetzt blieb keine Wahl. Der Polizist hob behutsam den Deckel darauf und versteckte sich dann ebenfalls.


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