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32. Kapitel.

Als Kurt und seine Mutter hinüberkamen, konnten sie leider nicht vorgelassen werden, sondern mußten unverrichteter Sache zurückkehren, da die Herrschaften, die sich alle in der Krankenstube befanden, nicht gestört sein wollten. Dies war das schönste Zimmer des Schlosses, geräumig und sehr bequem ausgestattet und hatte Platz für viele. Und das war in diesem Augenblick auch notwendig, denn es befanden sich da außer der Kranken und ihrem Arzt der Hauptmann, der Staatsanwalt, Frau und Fräulein Sternau und Alimpo mit seiner Gattin.

Auch der unter seinen Aktenstücken weniger empfänglich gewordene Anwalt hatte sich, als er eintrat, durch den Anblick der Gräfin außerordentlich erschüttert gefühlt. Diese lag betend vor dem Sofa und merkte nichts von dem Eintritt so vieler Menschen. Man ließ sie gewähren. Jetzt saß der Anwalt am Tisch und nahm das Protokoll auf. Er empfand für diesen Fall eine außerordentliche Teilnahme und ein zwingendes, seelisches Bedürfnis, hier aus allen Kräften Hilfe zu spenden.

Als er das Protokoll vorgelesen, unterzeichnet und dem Arzt übergeben hatte, zog dieser eine kleine Phiole hervor, deren Inhalt er genau gegen das Licht betrachtete.

»Dies ist das Gift?« fragte der Anwalt. – »Ja. Sie werden es sehen, wenn ich es verdünne.« – »Ich meine immer, daß Sie dieses unheimliche Mittel nur unter Beisein der hervorragendsten Irrenärzte in Anwendung bringen sollten.« – »Sie zweifeln an mir? Ich bin überzeugt, daß diese Männer alle sich gegen die Anwendung eines so heroischen Mittels aussprechen würden. Sie würden es vorziehen, die Kranke feig im Wahnsinn verkümmern zu lassen.« – »Nein, so war meine Bemerkung ja nicht gemeint! Ich wünschte nur, daß Sie vor diesen wissenschaftlichen Kapazitäten bewiesen, daß Sie ihnen allen überlegen sind. Wenn ich Sie so ruhig vor mir stehen sehe, so ist es mir, als könnte man Ihnen tausend Leben anvertrauen.« – »Oh, glauben Sie mir«, sagte Sternau mit leise vibrierender Stimme, »daß diese Ruhe mir nicht leicht wird. Ich sehe das köstlichste Gut, das ich besitze, in die Nacht des Wahnsinns verfallen, ich wende ein Mittel an, das allein nur helfen kann und mit dem ich selbst noch niemals operierte. Es steht hier nicht eine einfache Heilung, sondern es steht die Gewinnung eines großen Prozesses, die Bestrafung bestialischer Verbrecher, es steht mein ganzes, ganzes Heil und Glück auf dem Spiel. Meine Seele bebt und zittert, aber mein Körper muß ruhig und still sein, wie es dem Arzt geziemt. Ich vertraue nicht mir, sondern der Wissenschaft und der Hilfe Gottes!«

Da streckte der Anwalt, dem eine Träne im Auge stand, ihm die Hand entgegen.

»Herr Doktor«, sagte er, »ich wünsche Ihnen das Gelingen ebenso herzlich, als wenn ich mich an Ihrer eigenen Stelle befände.« – »Ich auch!« meinte der Oberförster. »Guckt mich alten Kerl nur nicht an, denn ich muß mich schämen. Da läuft mir das Wasser aus den Augen wie einem Schuljungen, der geprügelt worden ist. Wenn die Gräfin nicht geheilt wird, so renne ich nach Spanien und sprenge beim Teufel dieses ganze Rodriganda in die Luft!«

Der derbe Alte wischte sich die Tränen aus dem Bart, sie flossen aber immer wieder nach.

»Nun, laßt uns beginnen«, sagte Sternau.

Dies waren einfache Worte, aber sie brachten eine große Wirkung hervor. Frau Sternau und Helene eilten weinend auf die Kranke zu und schlossen sie in die Arme, der Oberförster schluchzte doppelt laut und zum Erbarmen, Alimpo aber faßte seine Elvira bei der Hand, indem sie beide um die Wette weinten, und sogar der Anwalt nahm sein Taschentuch zur Hand.

Nur Sternau blieb scheinbar ruhig. Er mußte eine fast übermenschliche Selbstbeherrschung besitzen, denn als er jetzt einen Porzellanlöffel mit Wasser füllte, zitterten seine Hände nicht im geringsten. Nachdem er aus der Phiole zwei Tropfen hinzugegossen hatte, zeigte er den Löffel herum. Das Wasser war vollständig farb- und geruchlos geblieben.

»Haltet sie!« bat er.

Seine Mutter und Schwester knieten zu beiden Seiten der Kranken nieder und richteten ihr den Kopf empor. Sternau näherte den Löffel dem Mund der Kranken, zog ihn aber plötzlich zurück und verhüllte mit der freien Hand sein Angesicht. Ein einziges, kurzes, aber fürchterliches Schluchzen erschütterte seinen mächtigen Körper, es war ein Laut so tief stöhnend, so gewaltig, daß die anderen augenblicklich in erneutes Weinen ausbrachen. Der gewaltsam zurückgehaltene und nun mit einem einzigen, desto kräftigeren Stoß hervorbrechende Schmerz dieses starken Mannes erschütterte die Herzen aller mehr als die vorhergehenden Tränen und Klagen.

»Herr Gott«, rief er, »es wird mir fast zu viel! Gib mir Kraft, Kraft, Kraft!«

Dieser Ruf war ein Gebet, wie es inbrünstiger nicht zum Himmel geschickt werden konnte, und Gott schien Erbarmen zu haben, denn der gewaltige Mann raffte sich zusammen und trat zum zweiten Mal näher. Kaum berührte der Löffel die Lippen der Kranken, so öffnete sie mechanisch den Mund, nahm die verhängnisvolle Flüssigkeit bis auf den letzten Tropfen und verschluckte sie. Sternau trat zurück, ein tiefer Seufzer hob seine Brust er legte den Löffel auf den Tisch und faltete die Hände.

»Vater im Himmel, entweder gib Gelingen oder laß mich sterben!« – »Mein Sohn, mein guter, lieber Sohn!« schluchzte seine Mutter, indem sie die Arme um ihn legte. »Der Allmächtige wird Erbarmen haben. Vertrauen wir auf seine Güte!« – »Wer da ruhig bleiben kann, der ist der größte Hundsfott, den die Erde trägt!« sagte der Oberförster. »Ich habe gar nicht geglaubt, daß ich eine so weichherzige Seele bin.« – »In welcher Weise wird die Medizin jetzt wirken?« fragte der Staatsanwalt.

»Es wird sich schon in kurzer Zeit zeigen, ob sie überhaupt wirkt«, antwortete Sternau. »In zehn Minuten muß sie einschlafen. Dieser Schlaf wird sehr lange, vielleicht achtundvierzig Stunden dauern, und während dieser Zeit hat das Wichtigste zu geschehen. Der Schlaf darf in keiner Weise unterbrochen werden. Erwacht sie vor der Zeit, so war die Gabe zu schwach, und ich habe nachzugeben. Tritt Aufregung, Unruhe oder gar Fieber ein, so war die Gabe zu stark, und die Kranke wird sterben, wenn ich nicht sofort Gegenvorkehrungen treffe. Es ist überhaupt nicht abzusehen, welche Umstände eintreten können, und ich darf keine Minute lang ihr Lager verlassen. Ich muß bitten, Herr Hauptmann, Tag und Nacht ein gesatteltes Pferd bereitzuhalten, damit ich in jedem Augenblick einen Boten zur Stadt habe, wenn ich eine unvorhergesehene Medizin brauche.« – »Sie brauchen nur zu befehlen, Cousin, so lasse ich alle Pferde satteln und totreiten«, antwortete der Oberförster. »Ein solches Opfer ist gering gegen das, was auf dem Spiel steht.«

Die Anwesenden warteten zehn bange Minuten lang. Die angstvolle Spannung war wirklich nervenzerstörend. Die Kranke kniete noch immer in ihrer betenden Stellung vor dem Sofa. Da senkte sie langsam das Haupt, ihre Lippen bewegten sich nicht mehr ohne Unterlaß, sondern in einzelnen, immer länger werdenden Pausen, endlich schlossen sich die Augen, und die vorher aufrecht kniende Gestalt sank haltlos in sich zusammen.

»Gott sei Dank!« betete es rund im Kreis. – »Halb gewonnen!« jubelte Sternau. »Mutter, legt ihr ein Negligé an und tragt sie nach dem Bett. Wir gehen, aber in fünf Minuten bin ich wieder da, um meine Wache anzutreten.«

Die Herren entfernten sich. Alimpo ging hinunter in den Hof, um nach dieser Aufregung einen Mundvoll frischer, stärkender Luft zu atmen. Da stand Ludwig. Rasch kam dieser auf ihn zu und fragte: »Wie steht es, Herr Alimpo, gut oder schlimm?« – »Rien comprends!« lautete die Antwort. – »Ich meine die Gräfin.« – »Rien comprends!«

Da faßte der Jäger den Spanier beim Arm und zog ihn hinüber nach dem Vorwerk, wo er den kleinen Kurt sogleich fand.

»Nicht wahr, du kannst mit diesem Alimpo reden, Kurt?« – »Ja.« – »Willst du einmal den Dolmetscher machen? Sage ihm, er soll uns erzählen, wie es dahier bei der Gräfin abgelaufen ist.«

Die drei setzten sich nunmehr auf die Bank im Hof, auch Frau Helmers und die Magd kamen dazu, und es dauerte nicht lange, so berichtete Alimpo weinend die ganze Begebenheit, und die anderen alle weinten ebenso herzlich mit, obgleich die Übersetzung des Knaben eine sehr mangelhafte war.

Von dieser Stunde an verging ein Tag und noch ein halber, während welcher auf Rheinswalden Grabesstille herrschte. Man trat unhörbar auf, und man sprach nur leise, ja, der Oberförster hatte sogar einem Burschen, der einen anderen unten im Hof laut gerufen hatte, eine Ohrfeige gegeben und nur auf sehr inniges Bitten nicht aus dem Dienst entlassen. Alle Stunden gingen Krankenbulletins von Mund zu Mund. Es war ein Hangen und Bangen wie vor dem Urteilsspruch eines Richters, wenn man noch nicht weiß, ob das Verdikt auf schuldig oder unschuldig lautet.

*

Am zweiten Tag kam der Steuermann an. Auf dem Vorwerk herrschte große Freude, sie wurde aber gedämpft durch die auf dem Haus lastende Schwere der Erwartung. Helmers hatte leise und fast heimlich seine Besuche gemacht aber Sternau noch nicht gesehen. Nach Tisch saß er mit Frau und Kind in seiner Stube und ließ sich die Ereignisse der letzten Tage schildern.

»Wie heißt denn die Gräfin?« fragte er. – »Rosa«, antwortete seine Frau. – »Und der Familienname?« – »Rodri – Rodri – ich kann mir das Wort nicht merken.« – »Roderwanda«, fiel hier Kurt ein. – »Roderwanda?« fragte der Vater nachdenklich. »Hm! Und eine Spanierin ist sie?« – »Ja.« – »Sollte es vielleicht Rodriganda heißen statt Roderwanda?« – »Ja, ja, so heißt es, so!« erwiderte Kurt – »Ja, jetzt besinne ich mich auch«, stimmte die Mutter bei. »Kennst du diesen Ort?« – »Nein, aber ich habe davon gehört. Hm! Wunderbar! Und dieser Doktor Sternau ist unschuldig gefangen gewesen?« – »Ja. Frau Sternau erzählte es mir. Er war in Barcelona.« – »Wahrhaftig, das wäre wunderbar!« meinte der Steuermann nachdenklich. »Weißt du nicht weshalb man ihn gefangengenommen hat? Doch etwa nicht eines Mannes wegen, der von Rodriganda verschwunden ist?« – »Nein. Aber – aber – mein Gott, was weißt denn du davon? Von Rodriganda ist wirklich einmal einer verschwunden. Ein Husarenleutnant. Frau Sternau erzählte es.« – »Hm! Hat man keine Ahnung, wohin er gekommen ist?« – »Nein. Aber warte, da fällt mir ein: Doktor Sternau glaubt, daß er auf ein Schiff geschleppt worden ist« – »Alle Wetter, jetzt beginnt es zu stimmen! Wie hieß das Schiff? War es nicht die ›Pendola‹? Besinne dich genau!« – »Ich weiß es gewiß, daß Frau Sternau keinen Namen genannt hat.« – »Auch nichts Weiteres hat sie gesagt?«

Die Frau des Steuermanns besann sich ein Weilchen, dann antwortete sie lebhaft:

»Halt, jetzt fällt es mir ein: Es soll ein Advokat die Hand dabei im Spiel gehabt haben. Ich habe den Namen nicht gemerkt, er war so fremd und schwer.« – »Hieß er nicht Gasparino Cortejo?« – »Wahrhaftig, so war der Name! Aber Mann, wie hast du das alles erfahren?« – »Das werde ich dir noch erzählen. Jetzt sage mir vor allen Dingen, ob man wirklich gar nicht mit Doktor Sternau sprechen kann.« – »Nein, gar nicht.« – »So muß ich warten, bis er sich wieder sehen läßt.« – »Es ist wohl etwas sehr Wichtiges?« – »Ungeheuer wichtig, wenn mich meine Ahnung nicht betrügt.« – »Und darf ich es nicht hören?« – »Jetzt noch nicht. Ich weiß nicht, ob der Doktor es haben will, daß ich davon schon jetzt spreche.«


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