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19. Kapitel.

Sternau hatte erst noch bei Rosa angeklopft. Es war ihm, als könne das, was er jetzt erfahren hatte, nicht wahr sein, und er wollte der Geliebten so gern ein Wort des Trostes sagen, wurde aber gebeten, später wiederzukommen, wenn der erste, niederschmetternde Eindruck der Trauerbotschaft aberwunden sei. So machte also auch er sich zu dem schweren Gang fertig, aber er schloß sich nicht dem Advokaten und dessen Begleitern an, sondern er zog es vor, den Weg unter der alleinigen Begleitung des braven Kastellans zurückzulegen.

Die Bateria lag ungefähr eine halbe Stunde weit in der Richtung nach Manresa von Rodriganda entfernt. Auf ihrem dunklen Grund floß ein dunkler Bach, dessen kaltes Wasser aber nur wenig Vegetation zu befeuchten hatte, da die Sonne niemals bis zum Boden der engen Schlucht dringen konnte. Es kam da selten ein Mensch hinab, die Schlucht war schwer zugänglich, aber Alimpo erklärte dem Arzt, daß er in früherer Zeit öfters unten gewesen sei und einen Zugang kenne, von dem der Zigeuner wohl nichts wissen werde.

Der Advokat hatte einen Boten nach Manresa zu Doktor Cielli geschickt und auch den Alkalden von Rodriganda mitgenommen, so daß also die Besichtigung der Leiche einen obrigkeitlichen Charakter bekam. Auch mit einer Tragbahre hatte man sich versehen, um den Verunglückten gleich aufheben und mitnehmen zu können.

Alimpo war kein großer Läufer, und so kam Sternau mit ihm später an der Bateria an, als der Advokat mit seinem Gefolge. Da aber der Zugang, den der Kastellan kannte, bequemer war als der beschwerliche Abstieg, auf dem der Gitano die anderen zur Tiefe führte, so erreichte Sternau zu gleicher Zeit mit der anderen Partei den Grund der Schlucht

Hier bot sich ihnen ein entsetzlicher Anblick. Hart am Ufer des Wassers lag die Leiche des Herabgestürzten. Sie war während des Sturzes auf den Felsenkanten und emporragenden Spitzen aufgeschlagen und dadurch so zerrissen worden, daß sie keine menschliche Form mehr besaß, sondern eine wirre, breiartige Masse bildete, deren Anblick schaudern machte. Der Kopf war so zerschmettert, daß man nicht die Gesichtszüge erkennen konnte.

Der gute Alimpo schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen und brach in Tränen aus.

»Oh, die liebe, gute Erlaucht! Welch ein Tod, welch ein fürchterlicher Tod! Diesen Anblick werde ich niemals, niemals vergessen können.«

Auch die anderen brachen in Tränen und laute Klagen aus. Der Advokat stand wortlos dabei, während Graf Alfonzo sich den Überresten seines Vaters näherte und versuchte, vor denselben niederzuknien. Er fuhr aber schaudernd zurück.

Sternau warf einen ernsten Blick auf ihn, trat zu dem formlosen Klumpen und bückte sich, um ihn in Augenschein zu nehmen und zu untersuchen.

»Halt«, sagte da der Advokat mit einer abwehrenden Handbewegung. »Ich verbitte mir jede Berührung des Toten, bevor Señor Cielli aus Manresa herbeigekommen ist!«

Sternau trat zurück und antwortete im Ton tiefster Verachtung:

»Ich will nicht untersuchen, ob Ihr das Recht habt, hier einen solchen Befehl auszusprechen, aber Doktor Cielli ist Gerichtsarzt, und so mag er der erste sein, der diese Leiche berührt.« – »Ich habe als Sachwalter des seligen Grafen nicht nur das Recht, sondern sogar die Verpflichtung, darauf zu sehen, daß hier alles nach Form des Gesetzes vorgenommen wird«, antwortete der Notar. »Ich habe erklärt, daß der Graf wahnsinnig ist, ich habe darauf gedrungen, ihn streng bewachen zu lassen, Ihr habt mir widerstanden und ihn entspringen lassen. Ihr seid allein schuld an seinem schrecklichen Tod und dürft nicht erwarten, daß man auch fernerhin ruhig zusieht, wie Ihr Unglück anrichtet an einem Ort, wo Ihr nicht hingehört.«

Sternau zuckte nur verächtlich die Schultern, einer wörtlichen Entgegnung hielt er den Notar nicht wert.

Es dauerte eine geraume Weile, bis der Manresaer Arzt kam. Während dieser Zeit hatten die Anwesenden Gelegenheit, über das Verhalten Sternaus sich zu verwundern. Er durchschritt nämlich die ganze Sohle des Tales und untersuchte jeden Fußbreit desselben. Er betrachtete jeden Stein, jede Felskante. Er stieg sogar unter Lebensgefahr an den steilen Felsen empor und untersuchte diejenige Stelle des Schluchtrandes, von der der Tote mutmaßlich herabgestürzt war.

Der Advokat beobachtete dieses mit höhnischen Blicken, es war ersichtlich, daß er sich darüber ärgerte, aber er konnte nichts dagegen tun.

Endlich kam Cielli. Er hatte, um rascher sein zu können, ein Pferd genommen, ließ dasselbe oben und stieg in den Abgrund hinab.

»Willkommen, Señor!« rief ihm Cortejo entgegen. »Ich habe mit Schmerzen auf Euch gewartet.« – »Konnte nicht schneller, Don Gasparino«, lautete die Antwort. – »Ihr habt bereits gehört, um was es sich handelt?« – »Ja, Euer Bote erzählte es. Der arme Graf! So ein Ende! Ah, wer ist denn das, der da oben herumklettert, als ob er Hals und Beine brechen wollte?«

Cielli deutete nach oben, wo Sternau noch zwischen den Felsen und Steinen suchte.

»Es ist Euer berühmter Herr Kollege«, antwortete der Advokat. »Er scheint an der Wand dort oben Eiderdunen auszunehmen oder indianische Vogelnester zu suchen.«

Jetzt bemerkte Sternau, daß Cielli angekommen war. Er stieg sofort hernieder, und zwar mit einer Schnelligkeit, daß den Zuschauern schwindlig wurde.

»Der Kerl klettert wie eine Katze«, meinte Cortejo. – »Schon mehr wie ein Affe, der er ja auch ist«, fügte Cielli bei. »Er will nichts versäumen.« – »Ich hoffe nicht, daß Ihr ihm eine Bemerkung erlaubt, Señor Doktor!« – »Fällt mir nicht ein«, antwortete Cielli. »Ich bin Gerichtsarzt und kenne meine Obliegenheiten. Übrigens hat dieser Mann sich kein Verdienst um mich erworben, so daß ich zu irgendeiner Freundlichkeit gegen ihn verpflichtet wäre. Wollen wir beginnen?« – »Ja.«

Diese Unterredung war mit halblauter Stimme geführt worden, so daß niemand etwas davon hören konnte, desto deutlicher aber sprachen die Blicke, mit denen Sternau, der jetzt herbeikam, empfangen wurde.

Der Alkalde erhielt einen Wink und trat mit dem Advokaten und Cielli zur Leiche.

»Ihr habt zunächst zu erklären, ob noch Leben in diesem Körper ist, Señor«, sagte Gasparino Cortejo zu dem Arzt.

Dieser warf einen Blick auf die zermalmten Überreste und meinte:

»Leben? Unmöglich! Der Zerschmetterte ist vollständig tot!« – Nehmt dies zu Protokoll, Alkalde!« gebot Cortejo. »Hierauf gilt es zu bestimmen, wodurch der Tod herbeigeführt worden ist« – »Durch einen Sturz in den Abgrund«, antwortete der Arzt. – »Nehmt es zu Protokoll, Alkalde! Die Hauptsache ist jedoch, den Verunglückten zu rekognoszieren. Er hat das Negligeé des Grafen Emanuel de Rodriganda an, er ist barfuß gewesen, wie dieser im Bett gelegen hat. Der Graf ist in einem Anfall von Wahnsinn entsprungen – es ist kein Zweifel, dieser Tote ist der Graf. Stimmt Ihr bei, Doktor?« – »Ja.«

Cortejo wandte sich jetzt an den Kastellan:

»Señor Alimpo, wißt Ihr, welches Gewand der Graf während der letzten Nacht getragen hat?« – »Ja; ich sah es, als meine Elvira es holte«, lautete die Antwort. – »Ist es dieses?«

Der Kastellan trat näher und bückte sich über den Toten.

»Ja«, sagte er, »es ist das Nachtgewand des Grafen.«

Da deutete Cortejo nach einer bestimmten Stelle und sagte:

»Dieser Gitano hat oben am Felsen einen Fetzen des Gewandes gefunden, wir haben das Stück zwar nicht mitgebracht, aber es hat augenscheinlich hier an diese Stelle gehört. Es trägt das Wappen des Grafen. Er ist es also. Die Anwesenden, die Don Emanuel alle gekannt haben, mögen herbeitreten und sagen, ob sie glauben, daß es der Graf oder ein anderer ist.«

Sie taten es schaudernd, und alle ohne Ausnahme erklärten, daß es Don Emanuel sei. Alimpo machte sogar eine nicht unwichtige Entdeckung:

»Señores«, rief er, »seht hier die Hand! An dem Finger befindet sich der Ring des gnädigen Herrn. Es ist sein Trauring; er hat niemals einen anderen getragen.«

Es war so, wie er sagte. Die Zigeuner hatten die Klugheit gehabt, dem Grafen den Ring abzuziehen und ihn der Leiche anzustecken.

»So ist kein Zweifel mehr vorhanden, daß es der Graf ist«, meinte Cortejo. »Alkalde, nehmt es zu Protokoll!«

Der Alkalde, der in Spanien so ziemlich die Stelle einnimmt, wie in Deutschland der Ortsrichter oder Bürgermeister, ließ sich von Cortejo das Protokoll diktieren, das nach einigen weiteren Bemerkungen und Hinzufügungen unterschrieben wurde.

»Nun ladet ihn auf die Bahre«, befahl der Notar. »Wir schaffen ihn nach dem Schloß.«

Die Träger nahten sich; da aber trat Sternau herzu, der den Vorgang bisher nur von weitem beobachtet hatte.

»Halt!« sagte er. »Ich protestiere gegen das Fortschaffen der Leiche. Sie gehört nicht auf das Schloß!« – »Ah!« machte Cortejo. »Glaubt Ihr, daß Ihr hier auch mitzusprechen habt?« – »Sicher!« – »Aus welchem Grund oder in welcher Eigenschaft?« – »Weil ich der Arzt des Grafen bin.« – »Jetzt nicht mehr!« – »Nun gut, so protestiere ich gegen das Fortschaffen der Leiche in meiner Eigenschaft als Mensch; das ist genug. In einem Fall, wie der gegenwärtige ist, haben die Vertreter des Gesetzes die Verpflichtung, einen jeden anzuhören, der eine wesentliche Bemerkung zur Sache zu machen hat.« – »Zugegeben, Señor! Aber Eure Bemerkung schien mir keine wesentliche, sondern eine sehr sonderbare oder geradezu lächerliche zu sein. Weshalb gehört diese Leiche nicht auf das Schloß?«

Aller Augen richteten sich auf Sternau. Der Notar hatte in einem stolzen, wegwerfenden Ton gesprochen, und Doktor Cielli gab sich die größte Mühe, ein höhnisches Lächeln hervorzubringen; auch der junge Graf schüttelte maliziös und beleidigend mit dem Kopf; aber die anderen waren alle dem deutschen Arzt gewogen und warteten mit Spannung auf seine Erklärung. Er sagte sehr ruhig:

»Dieser Verunglückte gehört nicht auf das Schloß, weil er nicht Graf Emanuel, sondern ein vollständig Fremder ist.«

Während den anderen ein Ausruf der Verwunderung entfuhr, ließen die Gegner Sternaus ein heiteres Gelächter hören.

»Ah! Wie köstlich!« rief der Notar. »Diese Leiche soll nicht die des Dons Emanuel sein! Ich glaube, dieser Señor Sternau leidet an derselben Krankheit, an der der gnädige Herr leider zugrunde gegangen ist. Nehmt die Leiche auf und fort damit!« – »Halt!« protestierte da Sternau. »Diese Leiche bleibt liegen, bis ich meine Gründe zu Protokoll gegeben habe. Dann könnt Ihr tun, was Euch beliebt.« – »Eure Gründe brauchen wir nicht. Vorwärts, Ihr Leute!« – »Verzeiht, Señor Cortejo«, gebot aber jetzt der Alkalde. »Ich stehe hier an Stelle des Gesetzes und weiß, daß Señor Sternau gehört werden muß! Eigentlich dürfte die Leiche nicht eher aufgehoben werden, als bis der Corregidor zugegen ist. So war es mit den Räubern, die Señor Sternau im Park und Señor de Lautreville bei Pons erschlug; sie mußten liegenbleiben. Hier glaubte ich, eine Ausnahme machen zu können, weil nicht ein Verbrechen, sondern nur ein Unglücksfall vorzuliegen schien, und weil diese Leiche mit größer Bestimmtheit als die des Grafen rekognosziert wurde. Das liegt jetzt anders, und nun hat kein anderer Mensch zu befehlen, als nur ich. Señor Sternau, sprecht!«

Dieser nickte befriedigt und begann:

»Ich frage Euch, Alkalde, wie lange Don Emanuel vermißt wird.« – »Seit gestern früh«, antwortete der Beamte. – »Wie lange kann er also höchstens tot sein?« – »Nicht viel über einen Tag.« – »Nun wohl, seht Euch diese Leiche an! Sie ist bereits so von der Verwesung ergriffen, daß sie wenigstens vier Tage lang der Fäulnis verfallen ist. Seht diese Eingeweide! Sie sind bereits schwarzblau und zersprungen. Man braucht gar nicht Arzt zu sein; man braucht nur die Augen zu öffnen, um zu sehen, daß dieser Tote nicht vor erst vierundzwanzig Stunden gestorben sein kann. Dazu kommt, daß es hier unten feucht und kalt ist; kein Sonnenstrahl dringt herab. Eine Leiche in diesem Zustand müßte wenigstens zwei Wochen hier gelegen haben. Ich wende mich an das Denkvermögen der braven Bewohner von Rodriganda, sie werden sich von keiner verbrecherischen Gaukelei täuschen lassen ...« – »Halt!« unterbrach hier der Notar den Sprecher. »Ich verlange, daß dieser Mann zum Schweigen gebracht wird!«

Der Alkalde antwortete:

»Señor Cortejo, ich werde Señor Sternau vollständig anhören und dann selbst wissen, was ich zu tun habe!« Und sich zu Sternau wendend, sagte er: »Fahrt fort, Señor!« – »Ich habe gesagt, daß ich mich an Euer Denkvermögen wende. Schlachtet eine Ziege, Alkalde, und legt sie hierher. In welcher Zeit wird sie wohl von der Fäulnis so angegriffen sein wie diese Leiche?« – »Ihr habt recht; in wenigstens zwei Wochen«, antwortete der Beamte. – »Hört!« lächelte Cielli. »Einen Menschen mit einer Ziege zu vergleichen!«

Sternau wandte sich mit größter Kaltblütigkeit an ihn.

»Ich gebrauchte dieses Beispiel, um mich diesen braven Leuten verständlich zu machen. Bei ihnen hat es hingereicht, wie ich an ihren Mienen sehe, bei Euch aber nicht, der Ihr ein Arzt sein wollt. Das ist traurig genug!« – »Ich hoffe nicht, daß Ihr es wagen wollt, meiner zu spotten!« brauste Cielli auf. – »Ich bin der Wichtigkeit des Augenblicks so überzeugt, daß ich nur im allerheiligsten Ernst spreche, Señor. Und ich möchte Euch ersuchen, ebenso wie ich, unsere Verhandlungen nicht leichtzunehmen! Den ersten Grund meiner Vermutung habe ich angegeben. Jetzt kommt der zweite: Man messe hier den rechten Fuß der Leiche. Er ist noch vollständig erhalten. Ich habe den Fuß des Grafen entblößt gesehen. Dieser gehört einem anderen Mann an. Er ist breiter und größer als derjenige des Grafen und hat eine dicke, zerrissene Sohle und eine so hornartige Ferse, wie es bei einem Edelmann, der nie barfuß geht und seine Füße pflegt, gar nicht vorkommen kann. Blickt her, Alkalde, und sagt, ob ich nicht recht habe!«

Die Leute aus Rodriganda traten herzu und gaben dem Deutschen recht. Seine drei Feinde konnten nichts bemerken. Nur indirekt entgegnete der Notar:

»Und das Gewand des Grafen?« – »Man wird es diesem Mann angelegt haben.« – »Und den Ring?« – »Hat man ihm angesteckt.« – »Ah, Ihr vermutet also ein Verbrechen?« – »Allerdings! Seht Euch die Leiche genau an! Sie ist zwar aus einer schrecklichen Höhe herabgestürzt und dabei wiederholt auf dem Felsen aufgeschlagen, trotzdem aber kann sie dadurch nicht so ganz und gar zu Brei zermalmt werden, wie man es hier sieht. Ich behaupte, man hat diesen Mann aus der Höhe herabgestürzt, ist ihm dann nachgestiegen und hat diejenigen Teile des Körpers, die noch unverletzt waren und also verraten konnten, daß es der Graf nicht ist, vollends zerstört.« – »Ah! Eine wirklich wahnwitzige Idee!« rief Alfonzo. – »Er ist nicht zu heilen!« bestätigte der Notar.

Der Zigeuner war erbleicht, aber noch hielten die anderen alle die Ansicht des Deutschen für eine unbegründete und irrige. Dieser fuhr fort:

»Ich werde den Beweis meiner Behauptung sofort antreten.«

Dann entfernte er sich eine Strecke weit, hob dort einen Stein auf, brachte denselben dem Alkalden und fragte:

»Was seht Ihr an diesem Stein?« – »Blut.« – »Nein. Es ist kein Blut. Zeigt ihn dem Señor Cielli. Er wird sagen, was es ist«

Der Alkalde hielt dem Doktor den Stein entgegen. Dieser konnte nicht anders, er betrachtete ihn und sagte:

»Es ist kein Blut. Es ist Gehirn. Der Tote wird mit dem oberen Teil des Kopfes darauf gefallen sein.« – »Nein«, antwortete der Deutsche. »Ich werde das Gegenteil beweisen. Folgt mir, Señores!«

Damit schritt er der Seite zu, die derjenigen, wo der Stein gelegen hatte, entgegengesetzt war, und deutete auf eine Vertiefung im Boden, in die der Stein genau paßte.

»Seht, Señores, hier hat der Stein ziemlich fest in der Erde gelegen; er ist dann mit Anwendung von einiger Gewalt hinweggenommen worden. Da drüben habe ich ihn gefunden, und dazwischen liegt die Leiche. Man hat ihn also aufgehoben, der Leiche mit ihm den Kopf zerschmettert, so daß noch jetzt das Gehirn an ihm zu sehen ist, und ihn dann fortgeworfen. Derjenige, der dies getan hat, ist sehr unvorsichtig gewesen.« – »Wahrhaftig, es ist so!« rief der Alkalde erstaunt. – »Unmöglich! Das ist alles nur Phantasie!« meinte Graf Alfonzo. – »Folgt mir nach oben, Señores; ich will Euch noch etwas zeigen!« rief Sternau.

Darauf stieg er voran, und die anderen alle folgten unwillkürlich hinter ihm drein. Oben am Rand der Bateria angekommen, wandte er sich rechts und blieb an der Kante des steilsten Felsenabsatzes stehen.

»Seht her, Señores!« sagte er. »Dies ist der Ort, von dem die Leiche hinuntergefallen ist. Hier hat sie gelegen. Das Gras ist hoch und fett; es hat sich noch nicht wieder aufgerichtet. Der Eindruck hat ganz die Gestalt eines liegenden Menschen. Und um diesen Eindruck rundherum haben wir die Tapfen verschiedener Füße. Es ist kein Zweifel; hier sind mehrere Männer gewesen; die Leiche hat hier gelegen und ist dann hinabgeworfen worden. Und dies ist heute in der Nacht geschehen, wie die Deutlichkeit der Spur beweist.« – »Welch ein Scharfsinn!« rief der Alkalde. – »Verdammter Kerl!« brummte der Notar vor sich hin.

Der Zigeuner aber war noch blässer geworden als vorher. Sternau, der alle Anwesenden scharf beobachtete, hatte es wohl bemerkt und fuhr, gegen den Alkalden gewandt, nun unerbittlich fort:

»Ich werde gleich sehen, ob auch Ihr ein wenig Scharfsinn besitzt, Señor. Könnt Ihr wohl erraten, durch wen man am sichersten erfahren kann, wer hier gewesen ist?«

Der Gefragte dachte eine Weile nach und antwortete:

»Nein.« – »So will ich es Euch sagen.« Damit trat er zum Zigeuner, legte ihm die Hand auf die Schulter und versetzte: »Durch diesen hier. Er hat die Leiche gefunden; er wird wohl auch Auskunft geben können. Komm mit, Bursche!«

Mit diesen Worten faßte Sternau ihn am Arm und zog ihn fort, dahin, wo die Spuren herkamen. Da gab es eine lehmige Stelle, in der die Fußeindrücke sehr deutlich zu erkennen waren.

»Seht Ihr, daß seine Sandalen noch lehmig sind?« fragte Sternau. – »Wahrhaftig!« meinte der Richter. – »Und daß sein Fuß ganz genau in diese Spur hier paßt?«

Er zwang Garbo, in die Spur zu treten.

»Auch das ist wahr!« konstatierte der Alkalde. – »Nun, Gitano, rede, wenn du dich verteidigen kannst!«

Garbo hatte sich gefaßt; er antwortete:

»Señor, das alles läßt sich sehr leicht erklären.« – »Nun?« – »Ich ging mit zwei Kameraden Kräuter sammeln. Wir kamen bis an den Schluchtrand. Dort ruhte ich aus, während sie links weitergingen. Der Eindruck im Gras ist von mir, Señor.« – »Ah, du bist ein kluger Kerl. Und den Zipfel des Hemdes hast du an einem Dorn hängend gefunden?« – »Ja«, antwortete Garbo mit erneuter Verlegenheit. – »Zeige uns diesen Dorn!« – »Kommt!«

Garbo schritt an der Schlucht zurück und suchte, aber vergebens.

»Ich finde ihn nicht«, sagte er. – »Das dachte ich mir!« meinte Sternau. »Wenn ein fallender Mensch mit seinem Hemd an einem Dorn hängenbleibt, wird das Hemd zerschlitzt oder es reißt ein unregelmäßiges und vielfach zerfetztes Stück ab; das Stück aber, daß du gefunden hast, hat eine so glatte und saubere Rißkante, daß ich sicher glaube, du hast es selbst abgerissen. Man braucht nicht sehr klug zu sein, um zu sehen, was mit der Hand oder was durch einen dornigen Strauch zerrissen wurde.« – »Das ist wahr!« bemerkte der Alkalde. – »Ich erkläre also«, fuhr Sternau fort, »daß wir es nicht mit der Leiche des Grafen de Rodriganda zu tun haben, daß vielmehr das Verbrechen einer betrügerischen Verwechslung vorliegt Ich bitte, alle meine Aussagen zu Protokoll zu nehmen, verlange, daß die Spuren, die ich Euch zeigte, unversehrt erhalten bleiben, und hoffe, daß die Leiche bleibt, wo sie liegt, bis der Corregidor kommt um diese Angelegenheit genauer zu untersuchen.« – »Das soll geschehen, Señor«, erwiderte der Alkalde. – »Ihr werdet die Schlucht mit der Leiche bewachen lassen?« – »Ja.« – »Und diesen Gitano, der mir sehr verdächtig vorkommt, gefangennehmen?« – »Wenn Ihr es wünscht, ja.«

Da trat Graf Alfonzo vor, um Einspruch zu erheben. Auf dem Weg nach der Schlucht hatte nämlich der Advokat ihm mitgeteilt, daß der Zigeuner in seinen Diensten stehe, und nun befürchtete er, daß dieser, wenn er gefangengenommen würde, das ganze Komplott verraten werde.

»Halt, ich dulde das nicht!« rief er. »Wollt Ihr Euch nach den Wünschen dieses Fremden richten, Alkalde? Wißt Ihr, wer nach dem Tod meines Vaters hier Amts- und Gerichtsherr ist?«

Sternau zuckte die Schultern und sagte:

»Nach dem Tod des Grafen? Beweist erst, daß Don Emanuel tot ist!« – »Pah, da unten liegt er!« rief Alfonzo. – »Es soll eben erst erwiesen werden, daß er es ist.« – »Ich rekognosziere ihn, Señor. Verstanden?« rief Alfonzo drohend.

Sternau zuckte abermals die Schultern und meinte stolz:

»Das ist jeder andere geschickter dazu, die Leiche des Grafen zu rekognoszieren. Wie lange kennt Ihr ihn? Einige Tage!«

Da trat Alfonzo hart an den Deutschen heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und fuhr ihn drohend an:

»Señor, was wagt Ihr? Soll ich Euch zermalmen? Wer soll den Grafen kennt wenn nicht ich, sein Sohn?«

Sternau schüttelte die Hand von sich ab und antwortete mit kalter, unerschütterlicher Ruhe:

»Ihr habt erst zu beweisen, daß Ihr der Sohn des Grafen seid. Der echte Graf Alfonzo ist mit dem Kapitän Landola in See gegangen. Man hat ihn gewaltsam entführt.«

Er sprach hier nur seine Vermutung aus, aber seine Worte machten einen gewaltigen Eindruck.

»Ah! Hört!« rief es im Kreis.

Der Advokat taumelte förmlich zurück; Alfonzo aber sprang auf Sternau zu, um ihn zu packen.

»Schurke!« rief er. »Verleumder, ich erwürge dich!«

Da richtete Sternau sich zu seiner vollen Höhe empor, faßte den Grafen bei den Hüften, trat mit ihm bis an die äußerste Kante des Abgrunds heran und hielt ihn über die gähnende Tiefe hinaus. Ein Schrei des Schreckens erscholl rundum.

»Du mich erwürgen, Knabe!« lachte er. »Soll ich dich hinunterschmettern zu dem Popanz Eurer Betrügereien? Nein, es ist keine Ehre, einen so unwürdigen Burschen zu besiegen und zu töten. Du magst im Schlamm deiner eigenen Armseligkeit ersticken. Fahre hin, Fliege!«

Damit trat er von dem Abgrund zurück und schleuderte Alfonzo über sich selbst hinweg, so daß dieser weit fortflog und zur Erde stürzte. Hierauf wandte er sich an den Alkalden:

»Ich hoffe, daß Ihr Eure Pflicht tut, Señor. Das Gegenteil könnte Euch gefährlich werden. Kommt, Señor Kastellano! Ich habe hier meine Pflicht getan, und Ihr könnt mich begleiten.«

Dann ging er mit Alimpo fort, ohne daß ihn jemand gehindert hätte.


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