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15. Kapitel.

»Kennst du die Nacht, die auf die Erde sinkt
Bei hohlem Wind und scheuem Regenfall,
Die Nacht, in der kein Stern am Himmel blinkt,
Kein Aug' durchdringt des Nebels dichten Wall?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen,
Oh, lege dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen!

Kennst du die Nacht, die auf das Leben sinkt,
Wenn dich der Tod aufs letzte Lager streckt,
Und nah' der Ruf der Ewigkeit erklingt,
Daß dir der Puls in allen Adern schreckt?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen,
Oh, lege dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen!

Kennst du die Nacht, die auf den Geist dir sinkt,
Daß er vergebens laut um Hilfe schreit.
Die schlangengleich sich ums Gedächtnis schlingt
Und tausend Teufel ins Gehirn dir speit?
Oh, sei vor ihr ja stets in wachen Sorgen,
Denn diese Nacht allein hat keinen Morgen!«

Auch der Advokat hatte mit Alfonzo und der Schwester Clarissa der Beratung im Schloß beigewohnt. Er hatte da erfahren, warum der Verdacht Sternaus gerade auf ihn gefallen sei, und nahm sich desto fester vor, den Arzt unschädlich zu machen. Als er hörte, daß für den letzteren ein Pferd gesattelt werde, vermutete er sofort, daß der Ritt Sternaus mit dem Verschwinden des Leutnants im Zusammenhang stehe. Vielleicht wollte der Arzt die aufgefundene Spur weiter verfolgen; darum verließ der Advokat noch vor ihm das Schloß und eilte auf einem Umweg nach der Stelle, wo während der Nacht der Wagen gestanden hatte. Er brauchte nicht lange zu warten, so sah er seinen Gegner kommen.

Sternau hatte geahnt, daß er beobachtet werde und deshalb den Weg nach dem Dorf eingeschlagen, dann jedoch war er zur Seite abgebogen und kam nun zu der erwähnten Stelle, um die Spur von neuem aufzunehmen. Er brauchte, um das Wagengleis zu erkennen, gar nicht vom Pferd zu steigen und ritt der Fährte nach, ohne den verborgenen Lauscher zu bemerken. Dieser ließ ihn fortreiten und kehrte nach dem Schloß zurück.

»Es ist so, wie ich dachte«, murmelte er ergrimmt in sich hinein. »Er geht der Spur nach, wird sie aber auf der nächsten Straße, wo so viele Gleise zusammenfuhren, sicher bald verlieren. Dennoch aber darf ich nicht langsam sein, ich muß schnell handeln, um allen Eventualitäten zuvorzukommen.«

Als Cortejo das Schloß wieder betreten hatte, begegnete er einem Diener, der die Morgenschokolade nach dem Zimmer des Grafen Emanuel trug, und zugleich bemerkte er, daß Gräfin Rosa zu dem Kastellan ging, jedenfalls um mit Frau Elvira die wirtschaftlichen Vorkommnisse des laufenden Tages zu besprechen.

Ah, dachte er, jetzt ist der Graf allein; also jetzt oder nie!

Er eilte nach seiner Wohnung, um das Fläschchen, das Kapitän Landola ihm gegeben hatte, zu sich zu stecken. Sodann nahm er ein kleines Aktenheft zur Hand und begab sich damit zu seinem Gebieter.

Der Graf saß ganz allein an seinem Frühstückstisch, und da nur ein Gedeck aufgelegt war, so ließ sich vermuten, daß seine Tochter nicht so bald zurückerwartet werde. Er trug zwar einen Schirm über den Augen, um sie noch einige Zeit zu schonen, doch war sein Aussehen ein recht befriedigendes, und der freundliche Zug um seinen Mund gab die Gewißheit, daß er sich in einer recht guten Stimmung befinde.

»Guten Morgen, Cortejo, Ihr kommt mir wie gerufen«, begrüßte er den Advokaten bei seinem Eintritt. »Ich wollte nach dem Frühstück Euch zu mir rufen lassen.« – »Ich stehe Eurer Erlaucht zu jeder Zeit und mit allen Kräften zu Diensten«, antwortete der Sachwalter im Ton der tiefsten Ergebenheit. – »Ich weiß es, Cortejo. Ihr habt mir lange Jahre treu und ehrlich gedient, und ich hoffe, daß die Zeit kommt, wo ich Euch dankbar sein kann. Ich mag zuweilen einmal unleidlich gewesen sein, das muß auf Rechnung meiner Krankheit geschrieben werden, sonst aber bin ich Euch stets wohl gewogen gewesen. Und heute, da mir das kostbare Licht meiner Augen wiedergegeben ist, fühle ich, wie schön es ist, die Seinen alle glücklich zu sehen. Habt Ihr vielleicht eine Bitte?« – »Ja, Erlaucht.« – »So sprecht sie aus. Ich bin gern bereit, Euch eine Freude zu bereiten.« – »Don Emanuel, ich spreche niemals einen Wunsch aus, der mich selbst betrifft«, meinte der Notar mit stolzem Nachdruck. »Meine Bitte betrifft eine rein geschäftliche Angelegenheit. Darf ich den Entwurf zum neuen Kontrakt für den Pächter Antonio Firenza vorlesen?« – »Vorlesen? Hm, ich möchte doch einmal versuchen, ob ich ihn selbst lesen kann. Doktor Sternau ist nicht da, er ist nach Barcelona geritten und wird mich also nicht überraschen, wenn ich seinem Befehl einmal ungehorsam bin. Gebt den Kontrakt her!«

Cortejo überreichte das Aktenheft. Warum zitterte seine Hand dabei? Die Worte des Grafen waren schuld an der Schwäche, die sich seiner für einen kurzen Augenblick bemächtigte. Also der Arzt war nach Barcelona gegangen. Warum? Wußte er bereits, daß der Geraubte dorthin transportiert worden war? Dieser Sternau war ein höchst gefährlicher Mensch. Cortejo beschloß im stillen, ihm nachzureisen und ihn in Barcelona zu beobachten, vielleicht auch ganz zu beseitigen.

Der Graf hatte inzwischen das Papier zur Hand genommen und war mit demselben an den Schreibtisch getreten, wo er sich niederließ. Er gab dem Notar mit der Hand ein Zeichen, auch Platz zu nehmen, und begann dann die Lektüre des Kontrakts. Seiner schwachen Augen wegen war das Fenster noch immer von einem Vorhang verhüllt, so daß in dem Zimmer ein magisches Halbdunkel herrschte. Aus der Freude darüber, seine Augen nach so langer Blindheit wieder gebrauchen zu können, las er laut, wie um seine eigene Stimme zu hören.

Cortejo hatte sich zum Sitz einen Sessel gewählt, der ganz nahe am Frühstückstisch stand, so daß er mit der Hand die Tasse des Grafen erreichen konnte. Während die laute Stimme des Grafen jedes andere leise Geräusch unhörbar machte, zog er das Fläschchen hervor und öffnete es. Der Graf kehrte ihm den Rücken zu. Cortejo erhob sich ein wenig und streckte den Arm mit dem Fläschchen aus. Wurde er entdeckt, so war sehr leicht eine Ausrede gefunden. Er hielt das Fläschchen über die Tasse, hob es vorsichtig und zählte zwei Tropfen ab, die in die Schokolade fielen. In diesem Augenblick hatte Don Emanuel einen größeren Satz beendet und drehte sich herum, ganz unwillkürlich, als ob er sehen wolle, ob Cortejo ihm auch aufmerksam zuhöre. Er sah die Hand des Sachwalters über der Tasse schweben.

»Señor, was tut Ihr?« fragte er überrascht. – »Verzeihung, Erlaucht; es war nur eine Fliege, die ich verjagte!« antwortete der Giftmischer gefaßt. Er hatte das Fläschchen so in der hohlen Hand, daß der Graf es mit seinen ohnehin schwachen Augen nicht zu sehen vermochte. Darum drehte sich dieser befriedigt wieder um, las weiter und sagte, als er geendet hatte:

»Der Kontrakt ist ganz nach meinem Wunsch. Ich werde ihn unterschreiben. Besorgt ihn zu dem Pächter, damit auch dieser seine Unterschrift gibt.«

Dann trat er an den Tisch und griff zur Tasse. Cortejo hatte sich erhoben und folgte mit gespanntem Auge den Bewegungen des Grafen. In seinem Blick lag kein Erbarmen, keine milde Regung und keine Reue, sondern nur die kalte, gefühllose Gier des Raubtiers. Jetzt hob der Graf die Tasse zum Mund, setzte sie an, trank und leerte sie bis zum letzten Tropfen, um sie dann wieder abzusetzen. Ein Seufzer der Erleichterung, der Befriedigung klang leise durch das Zimmer, er kam aus dem Mund des Advokaten, der nun mit dem demütigen Ton eines Dieners den Grafen fragte, ob er noch etwas zu befehlen habe. Dieser antwortete:

»Ich habe allerdings eine kleine Arbeit für Euch, Señor Cortejo. Ich beabsichtige nämlich, den Doktor Sternau länger an mein Haus zu fesseln. Setzt doch einmal eine Bestallung auf, ähnlich wie sie dem Doktor Cielli vorgelegt wurde, aber bemerkt dabei ein jährliches Gehalt von dreitausend Duros. Ich werde sie dem Doktor Sternau vorlegen, um zu sehen, ob er sie akzeptiert.« – »Ich werde mich noch heute an die Arbeit machen, Erlaucht. Dürfte ich mir die Frage erlauben, ob zu diesem Gehalt außerdem noch vollständig freie Station auf Rodriganda kommt?« – »Das versteht sich! Haltet Ihr diese Stellung für zu glänzend? Señor Sternau hat sie verdient. Leider ist es noch sehr die Frage, ob er sie annehmen wird. Für jetzt sind wir fertig. Lebt wohl!«

Der Notar entfernte sich nach einer tiefen Verbeugung. In seinem Zimmer angekommen, warf er den wieder mit zurückgebrachten Kontrakt mit einem höhnischen Lachen auf den Tisch und sagte grollend: »Dreitausend Duros! Da könnte dieser Mensch leben wie ein Baron. Aber es soll ihm nicht so wohl werden. Die Bestallung wird nicht ausgearbeitet. Ich werde ihm jetzt sofort nach Barcelona folgen. Während meiner Abwesenheit wirkt die Medizin, und auf mich wird kein Verdacht fallen, da ich ja nicht hiergewesen bin.«

Kaum eine halbe Stunde später ritt er auf der Straße dahin, die vor ihm Sternau eingeschlagen hatte. Es begann mit diesem Ritt eine neue Episode im Kampf des Bösen gegen das Gute.

Und abermals eine halbe Stunde später kam der Kastellan aus seiner hochgelegenen Wohnung herab, um sich für heute die Befehle des Grafen zu erbitten. Er gehörte zu denjenigen, die sich nicht anmelden zu lassen brauchten, und trat daher wie gewöhnlich, ohne den Diener voran zu senden, in das Zimmer. Doch er wäre vor Schreck beinahe sofort aus demselben entflohen, denn der Graf kauerte wie ein Tier in der äußersten Ecke und stieß ein klägliches Wimmern aus.

»Oh, tut mir nichts – nichts – nichts!« bat er jammernd. »Ich weiß ja nicht, wer – wer – wer ich bin!«

Der Kastellan war kein Held, aber die Liebe zu seinem guten Herrn gab ihm Mut zu bleiben.

»Erlaucht! Don Emanuel!« rief er. »Ich komme, um zu fragen ...« – »Oh, fragt doch nicht!« bat der Graf, ihn unterbrechend. »Ich weiß – weiß – weiß es ja nicht mehr!« – »Mein Gott!« rief der Kastellan. »Was ist hier geschehen! Mein lieber, teurer Don Emanuel, steht doch auf! Erlaubt, daß ich Euch aufrichte!«

Damit näherte er sich dem Grafen; dieser drückte sich jedoch noch tiefer in die Ecke hinein, streckte seine Hände abwehrend aus und schrie:

»Bleibt fort von mir! Tut mir nichts – nichts, nichts! Ich weiß es ja nicht – nicht – nicht!« – »Aber Erlaucht, kennt Ihr mich denn nicht mehr? Ich bin ja Euer treuer Alimpo!« – »Alimpo? A-limpo?« fragte der Graf sinnend, richtete sich dann langsam empor, trat einen Schritt vor und fügte hinzu: »Alimpo, ja richtig! Ich bin der treue Alimpo. O ja, jetzt weiß – weiß – weiß ich es. Ich bin Alimpo!«

Seine starren Augen erhielten einen belebteren Ausdruck. Er schritt leise im Zimmer auf und ab, ohne den Kastellan weiter zu beachten, und murmelte bald mit freudigem, bald aber auch mit schmerzlichem Ausdruck:

»Ja, ja, ich bin der treue Alimpo, ja, ja, jetzt weiß ich es. Mein Name ist Alimpo!«

Jetzt geriet der Kastellan in solche Angst, daß er schleunigst fortlief, und zwar zu seiner Elvira. Es gab ja niemand, dem er das, was er gesehen hatte, besser anvertrauen konnte als ihr. Sie befand sich gerade beim Plätten eines Wäschestücks, als er bei ihr eintrat.

»Elvira!« rief er, vom schnellen Laufen ganz außer Atem. – »Was gibt es?« fragte sie. – »Oh, meine Elvira!«

Jetzt erhob sie die Augen von ihrer Arbeit und ließ bei dem Besorgnis erregenden Anblick ihres Mannes die glühendheiße Plättglocke mit einem lauten Krach zu Boden fallen.

»Heilige Madonna!« jammerte sie. »Was ist geschehen? Du siehst ja ganz verzweifelt aus, mein Alimpo!« – »Ja, ja, ganz verzweifelt!« ächzte er, nach Luft schnappend. »Über den Grafen. Er ist – o ach! Er ist – er ist verrückt geworden!«

Elvira trat einen Schritt zurück und öffnete den Mund, um etwas zu sagen; aber das Wort kam nicht heraus, und der Mund blieb offenstehen.

»Ja, ja, verrückt geworden, vollständig verrückt!« ergänzte der Kastellan.

Erst jetzt bei der Wiederholung des Schrecklichen, fand Elvira die Sprache wieder, aber es war kein Klagelaut, den sie ausstieß, sondern sie sagte in einem strengen, entrüsteten Ton:

»Mein teurer Alimpo, du selbst bist verrückt!« – »Ich?!« fragte er beinahe zornig. »Höre, liebe Elvira, solche Anzüglichkeiten muß ich mir verbitten! Der Graf ist in der Tat verrückt!« – »So! Und wer hat dir dies weisgemacht?« fragte sie mit examinatorischer Miene und Stimme.

»Niemand. Ich habe es selbst gesehen.« – »Unmöglich! Wer weiß, was du gesehen hast, mein teurer Alimpo!«

Ein solcher Zweifel war zu viel für ihn. Er faßte seine dicke Gattin am Arm, um sie aus dem Zimmer zu ziehen, und sagte:

»Komm mit, Elvira, du sollst sehen, daß ich recht habe.« – »Ja, gleich!« antwortete sie. »Laß mich nur erst den Plättstahl aufheben!«

Dann nahm sie die Plättglocke vom Boden auf, in den dieselbe bereits einen schwarzen Fleck gesengt hatte, brachte sie in Sicherheit und folgte ihrem Mann nach dem Zimmer des Grafen. Dort angekommen, fanden sie denselben noch immer mit leisen, heimlichen Schritten in dem Raum auf und ab gehend und dabei vor sich hinsagend:

»Ja, ja, tut mir nichts, denn jetzt weiß – weiß – weiß ich es, ich bin der treue Alimpo!«

Der Graf sah so verstört aus, daß gar kein Zweifel möglich war, daß plötzlicher Wahnsinn aus ihm redete.

Die Kastellanin hatte kaum den ersten Blick auf ihn geworfen, so schlug sie die Hände zusammen und schrie:

»Oh, heilige Madonna, es ist wahr; er ist wahnsinnig!«

Darauf sank sie, keiner Bewegung fähig, in einen Stuhl. Der Graf hatte ihre Stimme gehört; er wandte sich mit einem unheimlichen, gläsernen Blick um.

»Wahnsinnig?« fragte er. »Wer? Ich bin Alimpo – Alimpo – Alimpo – ja, der treue Alimpo!«

Dann setzte er sein Hin- und Hergehen wieder fort.

»Laufe, laufe, Alimpo!« stöhnte die Kastellanin. »Hole schnell die gnädige Condesa herbei!«

Alimpo folgte diesem Gebot und fand nach einigem Suchen Rosa in dem Zimmer der Engländerin. Auch sie sah es ihm sogleich an, daß etwas Böses geschehen sein müsse, und fragte ihn:

»Welche Eile, Alimpo! Was gibt es?« – »Oh, meine gnädige Condesa, erschreckt ja nicht!« bat er, beinahe zitternd. – »Mein Gott, das klingt ja höchst beunruhigend! Rede schnell, Alimpo; was ist geschehen?« – »Etwas Fürchterliches, etwas ganz Fürchterliches!«

Rosa war von ihrem Sitz aufgesprungen und faßte den Kastellan bei der Schulter. »Es ist – es ist jemand – verrückt geworden!« stammelte er. – »Verrückt? Meinst du wahnsinnig?« fragte sie im Ton des Unglaubens. – »Ja, wahnsinnig!« nickte er. – »Unmöglich! Der Wahnsinn kommt nicht wie ein Dieb in der Nacht« – »Und doch ist er wahnsinnig«, behauptete der Kastellan. »Meine Elvira sagt das auch.« – »Aber wer denn?« – »Oh, meine teure Condesa, verzeiht mir, daß ich es Euch sagen muß! Es wird Euch großen Schmerz bereiten. Ich spreche von Don Emanuel.« – »Mein Vater?« fragte Rosa, ganz starr vor Erstaunen. – »Ja.« Da lächelte sie und antwortete:

»Mein guter Alimpo, da liegt jedenfalls ein gewaltiger Irrtum vor.« – »Nein, nein«, beteuerte er. »Don Emanuel ist wirklich wahnsinnig. Meine Elvira hat ihn auch gesehen. Sie ist sogar noch jetzt bei ihm.« – »Wie zeigt sich denn sein Wahnsinn?« fragte Rosa, noch immer lächelnd. – »Er knurrte wie ein Hund in der hintersten Ecke, als ich zu ihm kam. Er hatte starre, angstvolle Augen; er wimmerte und bat mich, ihm ja nichts zu tun. Er hatte vergessen, wer er ist, jetzt aber hält er sich für mich, für den Kastellan Alimpo.«

Rosa blickte den Sprecher ungläubig an, plötzlich jedoch ergriff sie wortlos den Arm der Freundin und zog diese im eiligsten Lauf mit sich fort. Der Kastellan folgte. Als sie die Wohnung des Unglücklichen betraten, saß die Kastellanin noch immer händeringend auf dem Stuhl; der Graf aber schritt katzengleich im Zimmer auf und ab und wiederholte fortwährend dieselben Worte.

Rosa hatte bis zu diesem Augenblick an irgendeinen drolligen Irrtum geglaubt desto größer aber war der Schlag, der sie beim Anblick ihres Vaters traf. Es wurde ihr schwarz vor den Augen, sie griff mit den Händen in die Luft, um einen Halt zu suchen, und sank in die Arme Amy Lindsays. Die Ohnmacht wollte sich ihrer Sinne bemächtigen, aber sie raffte sich zusammen, machte sich von der Freundin los und stürzte auf den Grafen zu.

»Vater, um Gottes willen, was hast du, was ist mit dir?« rief sie.

Der Graf blieb stehen und blickte sie mit seinen stieren, ausdruckslosen Augen an.

»Was mit dir ist?« fragte er. »Ich weiß es nicht Du brauchst mir nichts zu tun, denn ich bin ja der treue Alimpo!«

Er sprach diese Worte langsam und monoton, ohne allen Ausdruck.

»Vater, Vater!« jammerte sie, die Arme um ihn schlingend. »Was ist geschehen? Du bist krank. Kennst mich nicht?« – »Kennen?« fragte er, leise mit dem Kopf schüttelnd. »Ich kenne niemand. Ich bin Alimpo.« – »Nein, du bist nicht Alimpo«, rief sie. »Du bist mein Vater, mein lieber, lieber Vater. Komm und besinne dich!«

Mit lautem, herzzerbrechendem Weinen warf sie sich an seine Brust; sie streichelte ihm die Wangen und das wirre Haar, sie küßte ihm den Mund und die erkaltete Hand, sie drängte sich mit ihrer ganzen Liebe und ihrem ganzen Schmerz an ihn. Er aber blieb teilnahmslos in ihren Armen, wehrte sie endlich von sich ab und sagte:

»Du brauchst mich nicht zu erdrücken, du brauchst mir nichts zu tun, denn ich weiß nun, wer ich bin. Ich bin Alimpo, ja, der treue Alimpo!«

Das war zu viel. Mit einem stöhnenden Schluchzen sank Rosa auf den Diwan; ihre Freundin eilte herbei und schlang laut weinend die Arme um sie, und auch der Kastellan nebst seiner Frau weinten trostlos, als ob sie beide Kinder seien. Der Graf aber stand vor ihnen, blickte sie mit gläsernen, geistlosen Augen an und sagte:

»Weint nicht! Ich habe euch ja nichts getan. Ich bin der treue Alimpo.« – »Oh, mein Gott, was sollen wir tun?« jammerte Rosa, vor Schmerz ganz fassungslos. – »Ist Señor Sternau denn nicht da?« fragte Amy unter Tränen.

Da sprang Condesa Rosa auf.

»Sternau!« rief sie. »Oh, wie konnte ich den vergessen! Ja, nur er allein kann helfen, er allein wird helfen. Aber er ist nach Barcelona. Alimpo, rasch einen Boten ihm nach! Er soll sofort umkehren.« – »Nach Barcelona?« fragte der Kastellan, bereits auf dem Sprung. »Wo ist er da zu finden?« – »Ach Gott, das weiß ich nicht! Schicke drei, vier, fünf Boten. Sie mögen jagen, sie mögen die Pferde totreiten, wenn sie ihn nur finden. Schnell, schnell! Hier ist jede Minute kostbar.«

Rosa dachte nicht an ihren Bruder, sie dachte an niemand, als nur an den Geliebten. Der Kastellan stürzte förmlich nach den Ställen, und nach kaum zwei Minuten jagten drei Boten auf den schnellsten Pferden aus Rodriganda fort.

Graf Alfonzo stand in dem Zimmer der Schwester Clarissa am Fenster. Als er die Reiter sah, wandte er sich an die fromme Dame mit der Bemerkung:

»Es muß etwas Ungewöhnliches geschehen sein, Mutter. Der Graf sendet soeben drei Expresse ab.« – »Ah! Wohin?« – »Das läßt sich nicht sagen. Sie eilten rechts nach der Straße von Mataro oder Barcelona hinüber.« – »Ich könnte mir keine Veranlassung denken. Willst du dich nicht einmal erkundigen, mein Sohn? In unserer Lage ist alles von Bedeutung, zumal ein so ungewöhnliches Ereignis wie die Absendung von drei Boten zugleich. Wer unter so sündhaften Menschen lebt, kann nicht vorsichtig genug sein.«

Alfonzo öffnete ein Fenster und winkte den Kastellan herauf, der in diesem Augenblick aus den Ställen heimkehrte.

»Wer hat die drei Reiter abgesandt?« fragte er, als Alimpo eingetreten war. – »Ich, gnädiger Herr«, antwortete Alimpo. – »Wohin?« – »Nach Barcelona.« – »In welchem Auftrag?« – »Die gnädige Condesa hat es befohlen.« – »Ah! Was sollen diese Leute denn in Barcelona? Drei zu gleicher Zeit!« – »Sie sollen Señor Sternau suchen.«

Der Kastellan hatte nicht die mindeste Sympathie für Alfonzo; darum ließ er sich seine kurzen Antworten von ihm förmlich abkaufen.

»Warum soll der Arzt gesucht werden?« fragte der junge Graf weiter. – »Seine Erlaucht, Don Emanuel, sind plötzlich erkrankt. Ich glaube, daß er wahnsinnig geworden ist.« – »Wahnsinnig? Donnerwetter!« Diesen Fluch stieß Alfonzo im Ton des Schrecks aus, ein aufmerksamer Beobachter aber hätte sehr leicht bemerken können, daß sein Auge wie unter einer unerwarteten Freude aufleuchtete. Dann sagte er zu dem Kastellan: »Es ist gut. Ich werde sofort erscheinen!«

Kaum hatte der sich entfernende Alimpo die Tür hinter sich geschlossen, so sprang die fromme Schwester auf, faßte den jungen Grafen bei der Hand und jauchzte:

»Gewonnen, Alfonzo, gewonnen! Der Herr erhört das Gebet der Seinigen. Weißt du, wer diesen Wahnsinn hervorgebracht hat?« – »Nun, wer?« – »Dein Vater.« – »Ah! Nicht möglich! Kann man Menschen wahnsinnig machen, die vor einer Stunde noch gesund waren?« – »Jawohl. Dein Vater hat mir die Einzelheiten nicht mitgeteilt, aber er sagte mir noch gestern abend, daß heute mit dem Grafen etwas passieren werde.« – »Alle Teufel, das ist klug! Es ist kein Mord, und doch bin ich der Erbe!«

Alfonzo begab sich nach dem Zimmer des Grafen. Er fand denselben, wie vorher, ruhelos auf und ab schreitend. Rosa hatte ihre Fassung wiedererlangt und gab sich Mühe, dem Vater ein vernünftiges Wort, einen Aufblitzen des Verstandes zu entlocken. Amy unterstützte sie dabei, und auch die Kastellanin war zugegen, um die Flut ihrer Tränen unversiegt zu erhalten.

»Was geht hier vor?« fragte Alfonzo, als er eingetreten war. – »Denke dir, mein Bruder, der Vater ist plötzlich so krank geworden, daß er irre redet«, versetzte Rosa, indem sie Alfonzo entgegenging. – »Das ist allerdings ein höchst unglückliches Ereignis«, sagte er in einem Ton, der sein kindliches Bedauern ausdrücken sollte, aber dennoch so kalt und gefühllos klang, daß die Gräfin ihre bereits nach ihm ausgestreckte Hand wieder zurückzog. »Und da sendet man reitende Boten nach diesem Sternau, während man den Sohn und Bruder ohne Nachricht läßt!« – »Sternau ist der Arzt«, entschuldigte sich Rosa, »und der Arzt ist in solchen Fällen wünschenswerter und notwendiger als jeder andere.« – »Ah, wirklich?« fragte er mit einem impertinenten Lächeln. »Ich denke im Gegenteil, daß nur der Sohn es ist, der die nötigen Schritte zu tun und zu veranlassen hat, er also muß zuerst und vor allen Dingen benachrichtigt werden. Ich denke, Doktor Sternau ist Chirurg?«

»Allerdings.« – »Auch Irrenarzt?« – »Ich habe ihn darüber noch nicht gefragt, glaube aber, daß man ihm die nötige Kenntnis und Erfahrung, den Vater zu behandeln, zutrauen darf.« – »Von glauben ist hier keine Rede. Sternau wird den Vater nicht behandeln, ich werde vielmehr nach Manresa zu Doktor Cielli senden.«

Da streckte Rosa die Hand abwehrend aus und sagte:

»Doktor Cielli wird den Vater nicht behandeln, das gebe ich nicht zu. Der Vater hatte kein Vertrauen zu ihm.« – »Desto größer ist das meinige. Ich bin der Erbe, ich habe hier zu befehlen.« – »Ah, du denkst angesichts dieses fürchterlichen Falles bereits an das Erbe. Gut. Warte einen Augenblick!«

Es schien auf einmal alles mädchenhaft Schüchterne von Rosa gewichen zu sein. Sie trat mit festen Schritten in das Nebengemach, wo sich der Waffenschrank des Grafen befand, entnahm demselben einen gezogenen Revolver, kehrte mit demselben zurück, verschloß die Tür und steckte den Schlüssel zu sich. Dann fuhr sie in drohendem Ton fort:

»Wer Erbe ist und hier zu befehlen hat, das wird sich finden. Zunächst werde ich den armen Vater bis zur Rückkehr Doktor Sternaus unter meine Obhut nehmen.« – »Und ich erkläre, daß dieser obskure Sternau nicht über diese Schwelle kommen soll«, antwortete Alfonzo. »Was soll dieser Revolver?« – »Ich werde jeden niederschießen, der es wagt, dieses Gemach ohne meine Erlaubnis zu betreten.« – »Ah! Ein Scherz!« – »Pah! Versuche ja nicht, zu sehen, ob es Ernst wird.« – »Soll etwa auch ich erschossen werden?« lachte er. – »Auch du!« drohte sie mit ernster Stimme. – »Sei keine Närrin. Gib die Waffe her!«

Er trat auf sie zu, sie aber erhob den Revolver und rief:

»Zurück, Mensch! Ich schieße dich sonst nieder. Bei Gott, ich scherze nicht! Señora Elvira, eilen Sie hinaus und rufen Sie die Dienerschaft herbei!«

Als sich die Kastellanin erhob, gebot ihr Alfonzo:

»Ihr bleibt! Wir brauchen keine Dienerschaft.«

Da aber antwortete die wackere Kastellanin mit großer Entschiedenheit:

»Ich habe meiner lieben Condesa zu gehorchen, nicht aber Euch!«

Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Der junge Graf wandte sich jetzt an die Engländerin, die ihre Freundin bisher schweigend, aber mit blitzenden Augen beobachtet hatte:

»Ist ein solches Verhalten nicht wahrhaft kindisch, Miß Amy?«

Die Angeredete errötete vor Zorn und antwortete:

»Don Rodriganda, ich finde nichts Kindisches, sondern vielmehr viel wahrhaft Kindliches in dem mutigen Verhalten meiner wackeren Freundin, auf die ich stolz bin. Sie verteidigt den kranken, beklagenswerten Vater gegen die Herzlosigkeit, die ihm gefährlich werden will. Übrigens habe ich Euch noch nie Erlaubnis gegeben, mich bei meinem Taufnamen zu rufen. Für Euch bin ich nicht Miß Amy, sondern Señorita Lindsay und werde es wohl auch für immer bleiben.« – »Ah!« zischte er grimmig. »Sie vergessen, daß Sie hier nur Gast sind.« – »Nicht der Ihrige, Señor, das tröstet und beruhigt mich.« – »Von jetzt an aber doch der meinige. Ein Wahnsinniger steht unter Kuratel!«

In diesem Augenblick trat Elvira ein und meldete, daß die Dienerschaft sich im Vorzimmer befinde. Da wandte Rosa sich an Alfonzo und sagte:

»Nun wirst du uns allein lassen, oder soll ich zeigen, wem man hier lieber gehorcht, dir oder mir?«

Alfonzo sah sich rettungslos in die Enge getrieben und daß er für den Augenblick sein Spiel aufgeben müsse, und antwortete daher mit Hohn:

»Der neue Graf de Rodriganda-Sevilla hat nicht notwendig, mit seinem Gesinde zu verhandeln, er wird sich auf anständige Weise Gehorsam verschaffen. Auf Wiedersehen.«

Darauf verließ er das Gemach.

»Bitte, liebe Elvira, ich wünsche, daß die Leute jetzt mir gehorchen, das Weitere müssen wir abwarten«, sagte nun die Gräfin mit Ruhe zu der Kastellanin. – »Ich werde es den Leuten sogleich mitteilen«, erklärte diese. »Gibt es sonst noch etwas?« – »Ja. Diese Zimmer bleiben verschlossen. Ich werde versuchen, den Vater zur Ruhe zu bringen. Schlaf und eine kalte Kompresse werden ihm wohltun.«

*

Während dies in Rodriganda geschah, ritt der Advokat auf der Straße nach Barcelona. Aber nicht lange, so bog er auf einen Fußweg ein. Dieser führte über Dörfer und Meierhöfe. Sternau war hier unbekannt, er hatte, wie der Wagen, dessen Spur er folgte, die Straße einhalten müssen. Schlug nun der Advokat diesen Weg ein, so kam er dem Arzt um eine geraume Zeit zuvor und konnte sorgen, daß es diesem nicht gelang, etwas zu erfahren.

Der Wagen war von dem Wirt des Gasthauses ›L'Hombre grand‹ geborgt worden. Zu diesem ritt der Advokat, als er in Barcelona angekommen war, und sagte ihm, daß er keine Auskunft geben solle, wenn er gefragt werde, an wen er den Wagen verliehen habe. Dann begab er sich nach dem Hafen, um Kapitän Landola aufzusuchen, den er an Bord anwesend fand.

»Ah, Señor Cortejo«, begrüßte ihn dieser. »Ich habe Euch nicht so bald erwartet, aber doch ist es mir lieb, daß Ihr kommt. Ich bin nämlich fertig und habe auch meine Papiere alle in Ordnung gebracht. Ich kann also absegeln.« – »Das ist gut, sehr gut.« – »Sehr gut? Ich hoffe nicht, daß etwas Unangenehmes passiert ist.« – »Nein. Ich habe Euch nur zu sagen, daß man Euren Wagen bemerkt hat und auch vermutet, wen Ihr aufgeladen habt. Es kommt in vielleicht einer Stunde einer nach Barcelona, der Eurer Fährte folgt.« – »Schön. Er mag in das Wasser springen und mir nachschwimmen. Habt Ihr Zeit zum endgültigen Abschluß?« – »Ja.« – »Nun, der ist in einer Viertelstunde beendet, und dann stechen wir sofort in See. Die Flut ist bereits eingetreten.« – »Und Euer Gefangener?« – »Befindet sich sehr wohl. Er liegt unten im Kielraum und hat bis jetzt weder sprechen noch essen oder trinken dürfen.« – »Ihr nehmt ihn also wirklich mit nach dem ostindischen Archipel?« – »Ich verkaufe ihn auf Borneo, dabei bleibt es. Kommt herab zur Kajüte, Señor!«

Eine halbe Stunde später befand sich Cortejo wieder an Land, und das Schiff »La Pendola« lichtete den Anker, um seine Reise anzutreten, eine Reise, auf der sich das Schicksal des armen Mariano entscheiden sollte.


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