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13. Kapitel.

Dieser fromme Wunsch war nicht ganz ohne Berechtigung. Der kleine Mann flog, sobald er die Stadt hinter sich hatte, wie der wilde Jäger längs des Chihuahua-Flusses dahin. Ein Glück war es, daß er während der Streifereien der letzten Tage die Gegend genau kennengelernt hatte.

Das Rendezvous, zwei Wegstunden von der Stadt gelegen, erreichte er in kaum einer halben Stunde. Hier hielt er an und ließ einige Male den lauten Ruf der Baumeule erschallen. Es ertönte keine Antwort.

»Sie sind noch nicht da. Vorwärts! Ihnen entgegen.«

Er ritt in ganz derselben Eile weiter, immer am Fluß hin. Gegen zwei Uhr begann es wenigstens so klar zu werden, daß er weiter als vorher blicken konnte, und eine Stunde später erreichte André die Stelle, wo der Fluß sich in den Rio Conchas ergießt. Dort hielt er an und sagte:

»Hier ist der verabredete Übergang. Ich muß nachsehen.«

Gleich darauf begann er, so gut es das Dunkel gestattete, die Umgebung zu untersuchen.

»Noch nicht dagewesen«, lautete das Ergebnis.

Dann stieg er wieder auf, ritt durch den Rio Conchas hindurch nach dem anderen Ufer und schlug eine Richtung ein, die zwischen diesem Ruß und dem Ort Chiricote nach Nordnordosten führt. Schon brach der Tag an.

Jetzt konnte er die Ebene, durch die er kam, genau beobachten. Er bemerkte nicht die geringste Spur der Gesuchten. So ritt er fort, bis in die späteren Stunden des Vormittags, still und einsam, und nur zuweilen flüsterte er:

»Drei Küsse! Ah, ich muß sie erhalten.«

Sein Pferd war dem Zusammenbrechen nahe. Es fand kaum noch Atem. Er merkte, daß es dem Tod nahe sei, daß es umstürzen werde, sobald er im Ritt einhalten werde, darum spornte er es immer wieder von neuem an.

Jetzt näherte er sich den Vorbergen, hinter denen der Rio Grande del Norte fließt. Da erblickte er eine lange, dunkle Linie, die aus einem Tal zwischen zwei Bergen sich hervorschlängelte. Er erhob sich in den Bügeln, um besser sehen zu können, und rief jauchzend:

»Sie sind es, sie sind es!«

Zu gleicher Zeit drückte er dem armen Pferd die Sporen tief, tief in die Weichen, es galoppierte nun nicht mehr, sondern es schoß vielmehr dahin.

Die Linie wurde deutlicher, kam immer näher. Jetzt waren die einzelnen Gestalten genau zu erkennen.

Voran ritten die Häuptlinge Büffelstirn, Bärenauge und Bärenherz als Eklaireure, eine Strecke weiter zurück folgte Juarez, der soeben mit Sternau in ein ernstes Gespräch vertieft war. Hinter ihnen die weißen Jäger und roten Indianer in einer langen, langen, schlangengleichen Gänsemarschlinie.

Man hatte den Reiter längst bemerkt.

»Wer mag es sein?« fragte Juarez. – »Uff!« rief Bärenherz. »Der kleine Mann!«

Sternau blickte schärfer hin und stimmte bei.

»Ja, wirklich, es ist der Kleine André, den Sie nach Chihuahua sandten, Señor.« – »Was will er hier? Warum kommt er uns entgegen?« fragte Juarez. – »Es muß etwas Wichtiges passiert sein.« – »Jedenfalls. Man wird es sogleich hören.«

Jetzt war der kleine Mann ganz nahe. Die Zunge hing seinem Pferd lang aus dem Maul; die Augen des Tieres waren mit Blut unterlaufen; es stöhnte wie eine Lokomotive und schnellte sich nur noch in einzelnen, konvulsivischen Sätzen vorwärts. Da, ganz nahe vor Juarez, tat es den letzten Satz.

»Um Gottes willen, herunter«, rief dieser.

Aber der Kleine André hatte den Sattel bereits verlassen und sprang mit unglaublicher Kühnheit seitwärts zur Erde, während sein Pferd sich überschlug und dann liegenblieb. Kaltblütig zog er darauf seine Pistole und jagte dem zu Tode gehetzten Tier eine Kugel durch das brechende Auge.

»Was fällt Euch ein, Señor André?« fragte der Präsident. »Das muß ja ein wahrer Höllenritt gewesen sein.« – »Allerdings, Señor«, antwortete der kleine Jäger. »Aber in einigen Minuten wird unsere ganze Truppe einen ähnlichen Ritt beginnen.« – »Wieso?« – »Señorita Emilia sendet mich. Vor neun Stunden ritt ich von ihr weg.« – »Unmöglich.« – »Seht mein Pferd an. Ich habe es zu Tode geritten.« – »So sagt den Grund.«

Die weißen Jäger hatten schnell einen Kreis gebildet, während die Indianer gleichmütig von weitem hielten.

»Kaiser Max hat ein Dekret erlassen, daß ein jeder Republikaner als Räuber zu behandeln und zu töten sei«, berichtete der kleine Jäger.

Die Augen des Präsidenten leuchteten auf.

»Ist dies wahr?« fragte er. – »Ja, Señor.« – »Das ist Wahnsinn. Er hat damit sein eigenes Todesurteil unterschrieben.« – »Aber zunächst dasjenige anderer Leute. Gestern kam nach Chihuahua der Befehl von Bazaine, alle gefangenen Republikaner zu töten.« – »Ah, sind Gefangene da?« fragte Juarez schnell. – »Ja, vierzig Familienväter.« – »Weiter! Weiter!« – »Diese vierzig Familienväter sollen nächste Nacht zwei Uhr erschossen werden.« – »Mein Gott! Was ist da zu tun? Sie müssen gerettet werden! Aber wie? Die Zeit ist ja viel zu kurz.« – »Darum darf eben keine Zeit verloren werden, Señor Juarez«, sagte Sternau schnell. »Wollen Sie mir die Fragen und das Weitere überlassen?« – »Ja, gern.«

Da wandte Sternau sich an den kleinen Jäger.

»Bitte kurze und bestimmte Antwort! Heute nacht zwei Uhr werden sie erschossen?« – »Ja.« – »Wo?« – »Vor der Stadt, am Fluß jedenfalls.« – »Wie lange seid Ihr geritten?« – »Neun Stunden.« – »So brauchen wir elf Stunden, wenn wir die Pferde nicht gerade totreiten wollen. Wie viele Truppen kommen zur Exekution?« – »Eine Kompanie und außerdem sämtliche Offiziere.« – »Ah, das ist gut. Es geschieht im geheimen?« – »Ja. Nur Señorita Emilia weiß es.« – »Sie ist's, die Euch gesandt hat?« – »Ja.« – »Wenn Ihr uns nun nicht zur rechten Zeit getroffen hättet?« – »Sie will warten bis Mitternacht, dann aber die Republikaner alarmieren.« – »Das würde ein großes Blutbad hervorbringen, denn diese guten Señores von Chihuahua scheinen keine großen Helden zu sein. Wie weit liegt unser Rendezvous von der Stadt?« – »Zwei Stunden.« – »Könnt Ihr den Ritt zurück aushalten?« – »Ja, Señor Sternau.« – »Gut! Hört, Señores, was ich Euch als das beste, was zu tun ist, vorschlage.«

Sie drängten sich alle um Sternau, und er begann:

»Zunächst muß Señorita Emilia schleunigst benachrichtigt werden, daß Hilfe kommt, damit sie keinen Stadtaufruhr erregt. Dann müssen die schnellsten unserer Reiter sich beeilen, noch vor zwei Uhr vor der Stadt anzulangen, um die Exekution zu verhindern. Und dann kommen die anderen nach, um sich mit diesen zu vereinigen. Die Botschaft an die Señorita wird Señor André übernehmen, und weil sie so wichtig ist und ihm leicht etwas zustoßen kann, werde ich selbst ihn begleiten. Kennt mein Bruder Bärenauge Chihuahua?« – »Mein Auge kennt das ganze Land«, antwortete der Häuptling. – »Nun, so mag mein Bruder unter Hilfe der anderen Häuptlinge die schnellsten Krieger bis vor Mitternacht an die Stadt bringen, wo ich sie am Wasser treffen werde. Die anderen, die nicht so schnelle Pferde haben, werden unter der Anführung von Señor Juarez nachkommen.« – »Nein!« rief Juarez. »Das kann ich nicht zugeben.« – »Warum?« fragte Sternau. – »Sie wollen, ich soll mich schonen; ich soll nicht mit kämpfen?« – »Allerdings. Ihr Leben ist zu kostbar, als daß es einer Kugel ausgesetzt werden darf.« – »Und dennoch reite ich mit dem ersten Trupp. Vielleicht wirkt mein bloßes Erscheinen mehr als alle Kugeln.« – »Das ist möglich, und darum mag es sein. Übrigens bleibt uns vor der Stadt noch immer Zeit, uns zu besprechen. Wer den letzten Trupp anführen soll, mag noch bestimmt werden. Ich habe keine Zeit dazu, ich muß fort. Hier, Señor André, nehmt mein Handpferd. Es ist noch frisch und wird den Ritt gut aushalten.«

André hatte seinem toten Pferd bereits Sattel und Zügel abgenommen und begann sogleich, dies dem angebotenen Pferd anzulegen.

Da drängte Juarez sein Pferd an dasjenige Sternaus heran.

»Señor«, sagte er halblaut, »könnten Sie mir eine Bitte erfüllen?« – »Reden Sie, Señor.« – »Ich möchte nicht so unerwartet über die Franzosen herfallen ...« – »Ah, Sie sind edler als jene!« – »Ich achte das Völkerrecht. Sie kommen eher als ich nach Chihuahua. Wollen Sie dies mit übernehmen?« – »Sie meinen, ich soll den Kommandanten als Ihr Abgesandter aufsuchen?« – »Natürlich.« – »Wird man mich als solchen respektieren?« – »Ich hoffe es.« – »Was soll ich sagen?« – »Ich schlage ihnen freien Abzug vor. Alles andere überlasse ich Ihnen.« – »Gut. Aber soll ich verraten, daß wir von der Exekution wissen, die stattfinden soll?« – »Nein, kein Wort.« – »Und wie nahe wir sind?« – »Noch viel weniger.« – »So begreife ich meine Instruktion vollständig und hoffe, daß Sie mit mir zufrieden sein werden.« – »Ich bin überzeugt davon. Aber, Señor Sternau, gesetzt den Fall, den Sie erwähnten, daß man Sie nicht respektiert. Was dann?« – »Bah, das wird sich finden.« – »Wenn man Sie festnimmt, gefangenhält?« – »Das macht mir keine Sorge. Sollte mir aber dennoch so etwas passieren, so kann ich mich auf meine Freunde verlassen. Adieu, Señores.«

Sternau gab seinem Roß die Sporen und sprengte davon, an der Seite Andrés.

Diese beiden Männer boten einen eigentümlichen Anblick dar, Sternau, der hohe, breite, riesenhafte Mann neben dem kleinen Jäger; aber es war sich ein jeder seines Wertes bewußt und achtete den anderen.

Da sie beide Deutsche waren, so redeten sie in der heimatlichen Sprache miteinander; doch wurde nur das Nötigste besprochen.

Als sie bereits einige Minuten geritten waren, drehte Sternau sich um und bemerkte den Trupp der Besserberittenen, der ihnen bereits folgte.

»Jetzt ist es vormittags zehn Uhr«, sagte er. »Elf Stunden reiten wir; also werden wir abends neun Uhr in Chihuahua sein. Das genügt. Wissen Sie den Platz genau, auf dem die Exekution vorgenommen werden soll?« – »Nein«, antwortete André. – »Aber man wird ihn erfahren können?« – »Die Señorita wird es wissen.« –»Ich gehe mit zu ihr. Ich hätte Sie manches in Beziehung auf die Heimat zu fragen, aber es ist nicht die Zeit dazu. Bei der ungeheuren Schnelligkeit unseres Rittes ist es geraten, zu schweigen. Reiten wir hintereinander.«

So ging es fort, genau denselben Weg zurück, den Andreas herwärts gekommen war. Der Vormittag verging, die Sonne erreichte den Zenit; sie senkte sich wieder, ohne daß die beiden Reiter ihren Pferden Ruhe gönnten. Es war gewiß, daß die beiden Tiere vollständig unbrauchbar wurden, aber darauf durfte man heute nicht sehen.

Schon wurde es Abend, doch erst, als die beiden den Rio Conchas erreichten, hielten sie an, um die Pferde verschnaufen zu lassen und sie nicht so heiß in die Flut zu treiben. Dann aber ging es im Galopp weiter.

Als sie sich in der Nähe der Stadt befanden, fragte Sternau:

»Gibt es hier ein sicheres Versteck für die Pferde?« – »Ja. Aber wollen wir zu Fuß die Stadt erreichen?« – »Ja. Es ist besser, wir kommen möglichst unbemerkt.« – »So ist dort rechts ein Wald, in dem wir die Tiere anbinden können.«

Dies wurde getan. Dann ergriffen die beiden Männer ihre Waffen und schritten der Stadt entgegen, die sie an derselben Straße erreichten, durch welche gestern André ein- und ausgeritten war.

Dieser bog schweigend in die Seitengasse ein, und Sternau folgte ihm.

»Hier links ist die Venta, wo ich abstieg, Señor«, flüsterte der kleine Mann. – »Und das Haus der Señorita?« – »Hier rechts, das hohe, breite Gebäude.« – »Man sieht kein Licht, doch lassen Sie uns eintreten.« – »Die Zimmer haben Läden, die des Abends verschlossen werden.«

Es war sehr dunkel auf der Gasse. Die beiden Männer waren bisher keinem Menschen aufgefallen. Sie fanden das Tor des Hauses zugeklinkt, aber nicht verschlossen, und traten ein. Im Flur war es vollständig finster, aber ihr Eintritt wurde doch bemerkt, denn eine Stimme fragte:

»Wer kommt?« – »Wer ist da?« erwiderte der kleine Jäger. – »Der Hausmeister.« – »Ich bin es, André.« – »Oh, Gott sei Dank, Señor. Wir haben mit Schmerzen auf Euch gewartet. Habt Ihr das Tor wieder zugemacht?« – »Ja.« – »So kann ich das Licht anbrennen. Ich habe, Euch erwartend, seit Anbruch des Abends hier gestanden und glaubte, Ihr würdet nicht kommen.« – »Ist die Señorita daheim?« – »Ja. Sie befindet sich in einer beinahe fieberhaften Aufregung.«

Jetzt flammte das Licht auf, und der Alte beleuchtete die beiden Männer.

»Ah, noch ein Señor!« sagte der Hausmeister. »Ich soll nur Euch bringen, Señor André.« –»Dieser Señor ist ein guter Freund. Er hat mit der Señorita zu sprechen.« – »So folgt mir nach oben!«


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