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6. Kapitel.

Gleich im ersten Augenblick war der Alte auf eine Gestalt getreten, die zusammengekauert an der Mauer zu sitzen schien. Bei dem zweiten Schritt stieß er an eine Person, die auf dem Boden lag. Erkennen konnte er nichts, denn es war vollständig dunkel.

Er wartete nun, bis die Schritte verhallt waren, dann sagte er:

»Señor Arbellez.«

Ein leises Stöhnen antwortete.

»Señor Pedro Arbellez.«

Das Stöhnen wiederholte sich, aber ein Wort hörte man nicht. »Señora Marie Hermoyes!« – »Das bin ich«, antwortete die an der Mauer sitzende Gestalt. »Wer seid Ihr?« – »Wer ich bin? Ah, kennt Ihr mich denn nicht an der Stimme?«

Der Vaquero nannte seinen Namen. Da fuhr Marie von ihrem kalten, feuchten Sitz so schnell auf, als es ihre Fesseln zuließen, und rief:

»Du bist es? Du? Ist das möglich! Wie kommst du herein zu uns?« – »Ich bin Gefangener«, antwortete er. – »Mein Gott! Bereits glaubte ich, Rettung durch dich erwarten zu können.« – »Wenn Gott kein Wunder tut, ist Rettung unmöglich.« – »Santa Madonna! Auch du verzweifelst?« – »Verzweifeln? Nein, denn Gott lebt noch, er allein kann uns retten.« – »Oh, möchte er es bald tun, sonst sind wir verloren. Wie hast du es in Fort Guadeloupe gefunden, und wie bist du in Cortejos Hand gefallen?« – »Das werde ich später erzählen. Laßt uns zunächst über die Gegenwart sprechen. Der hier liegt, ist Señor Arbellez?« – »Ja.« – »Steht es schlimm mit ihm?« – »Er ist am ganzen Körper blutrünstig und fällt aus einer Ohnmacht in die andere. Weißt du schon, was mit ihm geschehen ist?« – »Ja. Gott vergelte es diesem Satan am Tag des Gerichts. Ihr sollt verhungern!« – »Ja, und verdursten.« – »So habt Ihr gar nichts zu essen und zu trinken?« – »O doch! Irgendein Mitleidiger hat uns täglich Brot und Wasserflaschen durch das Luftloch herabgelassen. Auch andere Dinge scheinen dabei zu sein. Leider aber kann uns das alles nichts helfen, denn wir sind ja gefesselt. Ich kann die Hände nicht gebrauchen.« – »Ebenso wie ich. So habt Ihr noch nichts genossen?« – »Noch gar nichts.« – »Mein Gott! Und dieser enge Raum? Drei Personen können hier kaum stehen, geschweige denn liegen. Ah, da fällt mir ein, ich habe ja mein Messer bei mir.« – »Dein Messer? Hat man dich nicht entwaffnet?« – »Freilich, aber man hat vergessen, mir die Taschen auszusuchen. In der linken Tasche meiner Hose steckt mein Klappmesser, es ist scharf wie Gift, aber ich kann die Hand nicht in die Tasche bringen.« – »Vielleicht gelingt dies mir, wenn du zu mir trittst.« – »Laß es uns versuchen.«

Der Vaquero trat ganz nahe zu Marie Hermoyes heran, so daß es ihr gelang, eine ihrer gefesselten Hände in seine Tasche zu bringen und das Messer herauszunehmen.

»Aber was nun?« fragte sie. »Ich kann es nicht öffnen.« – »Halte den Griff nur fest, ich werde die Klinge mit den Zähnen packen«, erwiderte er.

Dies geschah, und nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es.

»So«, sagte endlich der Vaquero. »Jetzt nehme ich das Messer in meine rechte Hand, und du reibst deine Fesseln an der Schneide hin und her. Hast du einmal deine Hände frei, so schneidest du auch meine Riemen durch.«

Auch dies geschah; wenngleich eine lange, Zeit verging, ehe sie zum Ziel gelangten, standen sie endlich doch fessellos da.

»Gott sei Lob und Dank!« rief Marie. »Nun kann ich doch nach unserem guten Señor sehen oder wenigstens nach ihm greifen. Nimm dich in acht, daß du nichts von dem zertrittst, was uns der unbekannte Wohltäter herabgelassen hat.« – »Laß uns zunächst sehen, was es ist!« entgegnete der Vaquero.

Beide knieten nieder und fühlten mit den Händen um sich.

»Ein kleines Brot«, sagte Marie. – »Eine Wasserflasche«, meinte der Vaquero. – »Noch ein Brot. Ah, und hier finde ich ein Talglicht!« – »Ist's wahr, Señora?« – »Ja.« – »Nun, so hat man jedenfalls auch Zündhölzer herabgelassen. Leider werden sie wohl naß geworden sein. Ah, hier liegt ein kleines Lederpaket.«

Der Vaquero öffnete es, betastete den Inhalt und fuhr fort:

»Wirklich Zündhölzer, noch ganz trocken, und ein Zettel dabei! Laßt uns das Licht anbrennen, Señora Marie, damit wir uns umsehen können.«

Das Licht war bald in Brand gesteckt, und so fanden sie noch ein zweites Licht und noch eine dritte und vierte Wasserflasche.

»Gott sei Dank, verdursten können wir nun doch nicht«, rief Marie erfreut, »Jetzt muß ich vor allen Dingen sehen, ob etwas aus dem Zettel steht.«

Sie hielt nun denselben etwas näher an das Licht und las:

»Von einem, der sich an Euch versündigt hat. Heute muß ich fort, aber ich habe einen anderen gefunden, der Euch an meiner Stelle täglich Licht Brot und Wasser geben wird. Betet für mich und vergebt mir.«

»Wer mag das sein?« fragte Marie. – Jedenfalls der, der den Señor geschlagen hat« – »Ja, jedenfalls. Gott verzeihe es ihm! Er mußte gehorchen. Aber, heilige Maria, wir denken ja gar nicht an unseren Herrn.«

Jetzt beleuchtete sie Pedro Arbellez. Er bot einen traurigen Anblick dar.

Seine Augen waren geschlossen, und sein Gesicht glich dem eines Toten. Er bewegte sich nicht. Die beiden braven Leute brachen in das heftigste Weinen aus.

»O heiliger Himmel, mein lieber, lieber Señor!«

Während Marie diese Worte schluchzte, nahm sie den Kopf des in dieser Weise Gemarterten in den Arm, und der Vaquero ballte die Faust.

»Das hätte ich vorhin wissen sollen, als ich bei dieser Josefa war!« sagte er. – »Oh, du warst bei ihr? Wie kamst du zu ihr? Was sagte sie?« – »Später davon! Ich habe ihr einen Tritt versetzt, daß sie einige Rippen gebrochen hat. Hätte ich aber vorher gesehen, was ich hier sehe, so hätte es ihr ganz sicher das Leben gekostet.« – »Was ist da zu tun?« rief Marie. »Unser guter Herr wird sicherlich sterben.« – »Das Beste und Notwendigste, was wir brauchen, hat uns Gott bereits beschert!« – »Wasser, nicht wahr?« – »Ja. Und hätte ich Leinwand an mir, ein Hemd oder ...« – »Oh, ein Hemd habe ich, und auch einen übrigen Rock«, rief Marie. »Hier darf man keine Komplimente machen. Wir brauchen Verbandzeug.« – »Lösen wir das geronnene Blut erst auf.« – »Aber mit nassen Lappen, sonst verbrauchen wir zu viel Wasser.«

Marie zerriß nunmehr einen ihrer Röcke und entledigte sich auch des Hemdes. Dann wurden Lappen befeuchtet und dem Verwundeten aufgelegt. Es war eine langwierige Arbeit, und als endlich Arbellez verbunden war, war auch das zweite Licht fast ganz verbrannt.

Der Haziendero hatte während des Verbindens nur Zeichen des Schmerzes von sich gegeben, aber kein Wort gesprochen. Jetzt lag er ruhig atmend da. Die beiden Unglücksgefährten glaubten, daß er schlafe, und sprachen daher leise miteinander.

»Denkst du, daß er sterben wird?« fragte Marie. – »Das steht in Gottes Hand. Jammerschade wäre es.« – »Ja, der gute, liebe Señor!« schluchzte sie. – »Oh, nicht nur, weil er so lieb und gut ist, sondern auch aus einem ganz anderen Grund.« – »Aus welchem denn?«

Der Vaquero brannte vor Begierde, seine frohe Botschaft an den Mann zu bringen, aber er gab, wie diese Leute zu tun pflegen, seine Arznei in kleinsten Dosen.

»Es gibt Leute, die uns wohl befreien würden, wenn es uns gelänge, uns einige Zeit zu halten.« – »Wirklich? Glaubst du das? Wer sollte das sein?« – »Rate einmal!« – »Das könnten nur solche sein, denen Cortejo ein Feind ist. Etwa die Franzosen?« – »Nein.« – »Die Österreicher?« – »Nein.« – »Juarez?« – »Dieser eher. Wenn er wüßte, was hier vorgeht, käme er sicherlich. Aber es gibt noch ganz andere Leute hier. Da weiß ich zum Beispiel einen Señor Sternau ...«

Der Vaquero hielt mit Vorbedacht inne und wartete.

»Sternau?« fragte Marie rasch. »Wer ist das?« – »Ein Mann, den ich in Fort Guadeloupe getroffen habe. Er ist Arzt und zugleich ein außerordentlicher Jäger und Krieger.« – »Mein Gott, da muß ich an jenen großen, deutschen Arzt denken, der damals auf der Hazienda so vieles erlebt hatte. Er hieß auch Sternau. Also der, den du meinst, würde kommen, um uns zu retten?« – »Ganz sicher.« – »Warum? Kennt er uns denn?« – »Freilich, du sagtest ja soeben selbst, daß jener Arzt Sternau hiergewesen sei.« – »Gewiß. Aber das ist doch nicht derjenige, den du meinst. Der ist tot!« – »Weißt du das genau?« – »Ja, denn lebte er noch, so hätte man längst etwas von ihm gehört.« – »So! Hm! Ferner war da auf dem Fort ein gewisser Señor Mariano.« – »Mariano?« fragte die Alte schnell. – »Ja, ferner ein gewisser Señor Helmers mit seinem Bruder ...« – »Helmers? Geh, du schwärmst.« – »In meinen alten Tagen etwa? Es war ferner da ein gewisser Señor Büffelstirn, ein gewisser Señor Bärenherz, ferner ein ...«

Da ergriff Marie die Hand des Vaqueros und sagte:

»Höre, willst du zu allem auch noch Spott mit mir treiben?«

Er aber hielt ihre Hand fest und fuhr fort:

»Ferner war da eine gewisse Señorita Emma Arbellez ...«

Nun entriß Marie ihm mit Gewalt ihre Hände und zürnte:

»Schweig! Unser Unglück ist groß genug. Deine Phantasie ist gar nicht imstande, es durch trügerische Bilder zu mildern.«

Er aber fuhr unbeirrt fort:

»Ferner sah ich da einen gewissen Grafen Ferdinando de Rodriganda, von dem man gesagt hat, daß er gestorben sei; er aber lebt noch und kehrt nach Hause zurück, um seine alte, treue Marie Hermoyes zu belohnen.«

Das war der Alten denn doch zu viel.

»Ich bitte dich um Gottes Barmherzigkeit willen«, bat sie, »mir ehrlich zu gestehen, daß du dies alles nur sagst um mich hier zu trösten!« – »Fällt mir gar nicht ein!« – »Nicht trösten? Du willst dich also bloß lustig machen?« – »Fällt mir noch viel weniger ein!« – »Aber, mein Gott, wahr kann es doch nicht sein!« – »Warum nicht?«

Da faßte Marie dieses Mal beide Hände des Vaqueros, hielt sie fest und sagte:

»Höre, ich fordere dich auf, mir bei der heiligen Madonna zuzuschwören, daß du auf alle Fragen, die ich dir jetzt vorlegen werde, die Wahrheit antworten wirst.« – »Gut, ich schwöre es!« – »Nun, so sage mir, war Graf Ferdinando wirklich in Fort Guadeloupe?« – »Ja.« – »Es ist wirklich wahr, gewißlich wahr?« – »Bei Gott und allen Heiligen, es ist wahr!«

Da stieß die alte, treue Seele trotz ihrer gegenwärtigen, unglücklichen Lage einen Schrei aus, der fast einem Jauchzen glich.

»Er ist da! Er ist nicht tot!« rief sie. »Und wer war noch dort?« – »Señor Mariano ...« – »Der echte Graf Alfonzo de Rodriganda!« fügte sie hinzu. – »Señorita Emma ...« – »Die verloren geglaubte Tochter unseres guten Herrn! Oh, hätte er doch seine Besinnung, um es zu vernehmen. Weiter, weiter! Wer war noch da?« – »Die Señores Helmers ...« – »Der Bräutigam von Señorita Emma und sein Bruder!« – »Büffelstirn und Bärenherz ...« – »Die mich aus Mexiko nach der Hazienda retteten!« – »Und natürlich Sternau, der Fürst des Felsens.« – »Du hast sie gesehen?« – »Ja, alle zusammen.«

Die alte Marie schwieg; sie hätte gern gesprochen, ja, laut geschrien und gejubelt, aber sie brachte dies nicht fertig. Sie saß sprachlos da und weinte leise vor sich hin. Was sie gehört hatte, war zu groß für sie, stürmte zu mächtig auf sie ein. Sie fühlte sich förmlich erdrückt unter der Masse des Glücks, vor welcher der Gedanke an ihre gegenwärtige Lage zurücktreten mußte.

Und nun, während sie so weinte, begann der Vaquero seine so folgenschwere Unterredung mit Josefa zu erzählen. Er sprach in halblautem Ton, und Marie lauschte jedem seiner Worte.

Da erklang wie der Ton eines unsichtbaren Geistes eine leise Stimme neben ihnen:

»Sorgt Euch nicht. Ich sehe Euch frei. Die Guten siegen, sie haben dann noch eine schwere Prüfung, aber der Vater im Himmel führt sie zum Ziel.«

Der verwundete Haziendero hatte diese Worte gesprochen.

»Señor Pedro!« rief Marie

Er antwortete nicht.

»Señor Arbellez!«

Auch jetzt schwieg er.

Das Licht war niedergebrannt, darum konnten sie den Kranken nicht sehen.

»Hat er im Wachen gesprochen?« fragte sie leise. – »Dann wäre er ja sofort wieder eingeschlafen«, meinte der Vaquero. – »So hat er im Traum geredet.« – »Und der Traum hat ihm die Zukunft gezeigt.« – »Oder es ist noch anders«, sagte Marie zagend. »Hast du nicht schon einmal gehört, daß sich vor dem Auge mancher Sterbenden die Zukunft öffnet? Sie sagen dann Dinge vorher, die anderen verborgen sind.« – »So meinst du, daß unser Señor im Sterben liegt? Nein, das glaube ich nicht, der Tod ist anders. Wir haben ihn verbunden; das hat ihm wohlgetan. Er ist erwacht und hat meine Erzählung gehört, aber so, wie man etwas halb im Traum hört, so hat er auch gesprochen, und dann ist er sofort wieder eingeschlummert.«

Dieser Ansicht schloß sich schließlich auch Marie Hermoyes an.


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