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21. Bessere Menschen, bessere Zeiten

Als am andern Morgen die Türen der Gefängniszellen geöffnet wurden und die Insassen ihre Morgensuppe erhielten, wunderte sich Eduard Hauser nicht wenig darüber, daß ihm der Aufseher vertraulich die Hand auf die Schulter legte.

»Ihre Suppe essen Sie heut bei mir.«

»Warum?«

»Das werden Sie schon hören. Kommen Sie!«

Als Eduard die Wohnung des Beamten betrat, entfuhr ihm ein Ruf freudiger Überraschung.

»Engelchen, du hier?«

»Eduard – du?«

Angelika hatte sich allein im Zimmer befunden, und da der Aufseher nicht mit hereingekommen war, blieben die beiden jungen Leute ungestört. Engelchen schlang die Arme um Eduards Hals und barg den Kopf an seiner Brust.

»Ach, was habe ich für Angst um dich ausgestanden!« klagte sie.

»Und ich um dich!«

»Nicht um dich selber?«

»Nein. Um mich brauchte ich keine Sorge zu haben, denn ich bin unschuldig. Du aber hast auf Seidelmann geschossen. Herrgott, was soll daraus werden?«

»Gar nichts wird daraus, wenigstens nichts Schlimmes«, erklang da plötzlich eine Stimme von der Tür her.

Die beiden fuhren auseinander. Da sahen sie den im Zimmer stehn, der sich so unvermutet in ihr Gespräch gemischt hatte. Es war der alte Förster Wunderlich. Er strahlte übers ganze Gesicht und streckte Eduard und Angelika die Hände entgegen.

»Meinen herzlichsten Glückwunsch!« rief er.

Sie staunten ihn an und verstanden ihn nicht.

»Glückwunsch?« fragte Eduard schließlich.

»Wozu denn?« erkundigte sich Engelchen.

Der Förster deutete mit breitem Schmunzeln hinter sich.

»Das wird Ihnen dieser Herr mitteilen! Er ist berufen dazu.«

Damit meinte er den Kommissar, der soeben ins Zimmer trat.

»Ich freue mich, daß ich Ihnen eine gute Nachricht bringen kann«, begann der Beamte. »Ihre Unschuld ist erwiesen. Es hat sich herausgestellt, daß Fritz Seidelmann, der Sie, Eduard Hauser, der Pascherei beschuldigte, sich damals heimlich in Ihre Stube geschlichen und die Spitzen in Ihren Rock genäht hat.«

»O dieser ...«

Angelika stand mit zornblitzenden Augen da.

»Rechten Sie nicht mehr mit ihm!« sagte der Kommissar ernst. »Er hat seine Strafe schon empfangen.«

»Seine Strafe?«

»Ja. Er, ist tot.«

»Tot? – Mein Gott!« brachten die beiden jungen Leute nur heraus.

»Ja, ja«, brummte der tiefe Baß des alten Wunderlich dazwischen, »unser Herrgott läßt nicht mit sich scherzen!«

»Ich denke«, sagte der Beamte, »der Herr Förster kann Ihnen das alles viel besser erklären und erzählen als ich. Darum will ich mich nicht aufhalten und Ihnen nur noch dienstlich mitteilen: Sie sind beide entlassen. Hier sind die amtlichen Papiere darüber!«

»Entlassen?« stammelte Engelchen. »Ja, aber wieso denn?«

»Weil der junge Herr Hauser unschuldig ist, wie gesagt, und weil der Gerichtsherr in bezug auf das kleine Fräulein und ihre Voreiligkeit Gnade walten ließ.«

Der Kommissar reichte den beiden die Hände und machte eine Kopfbewegung nach dem alten Wunderlich hin.

»Im übrigen, meine Herrschaften, hat sich der Herr Förster ausgebeten, Ihnen das alles auseinanderzusetzen. Und ich glaube, da liegt diese Aufgabe in den besten Händen. Sie sehn, er ist schon ungeduldig – und unten wartet der Schlitten.«

*

Im Friedhof, der sich außerhalb der Kreisstadt an einem Hügel hinzog, kniete unterdes ein hochgewachsener Mann vor einem verwehten Grabhügel im tiefen Schnee. In der Hand hielt er einen bescheidenen Strauß freundlicher Schneeglöckchen, die ersten Blumen dieses Jahres, die in der kleinen Bergstadt aufzutreiben gewesen waren.

Lange verharrte der Mann in seiner stummen Andacht. Dann erhob er sich, entfernte mit der Rechten den Schnee am Kopfende des Grabes und legte behutsam den Strauß auf die Erde, als fürchte er, die Schlummernde zu wecken.

»Mutter, bist du mit deinem Sohn zufrieden?« –

*

Gewaltige Veränderungen vollzogen sich nunmehr in Hohenthal, und sie waren zum größten Teil das Werk eines einzigen Mannes. Franz Arndt entsagte seinem Beruf als Detektiv, nachdem er seine Lebensaufgabe, die Ehre der toten Mutter zu retten und sein Heimatdorf von der Plage des Buschgespenstes zu befreien, gelöst sah. Doch sein Streben, Helfer und Freund bedrängter Menschen zu sein, das er Jahre hindurch auf der Verbrecherjagd betätigte, war noch immer rege in ihm und wirkte sich jetzt auf andre Art aus.

»Ihr wißt nun, daß wir Verwandte sind«, begann er eines Tages im Kreis der Familie Hauser, die in ihm ihren Schutzherrn verehrte. »Ich bin in Wahrheit euer Vetter, nicht der des alten Wunderlich. Kommt, wir wollen uns zusammensetzen und über die Zukunft beraten!«

Das ließen sich die Hausers nicht zweimal sagen. Sie reihten sich rings um den Tisch in der kleinen Weberhütte, und der Herr Vetter hatte das Wort.

»Wie steht es, Eduard, hast du dich mit dem Nachbar Hofmann ausgesprochen?«

»Gründlich ausgesprochen«, erwiderte Eduard, und seine strahlenden Augen verrieten schon, wie diese Aussprache verlaufen war. »Vater Hofmann ist wie umgewandelt. Er hat mir in die Hand gelobt, daß Engelchen meine Frau werden soll. Nur müssen wir noch warten, bis ich es so weit gebracht habe, daß ich eine Frau einigermaßen ernähren kann.«

»Gut«, nickte Arndt. »Ganz meine Meinung. Mit dem Heiraten habt ihr noch Zeit. Aber Verlobung könnt ihr immerhin feiern. Ich melde für diesen Anlaß bereits mein Geschenk an. Die Behörde hat den gesamten Besitz der Seidelmanns beschlagnahmt. Das Grundstück und das Geschäft sollten unter den Hammer kommen. Dem habe ich vorgebeugt und die Firma samt dem Grundstück für billiges Geld gekauft. Aber ich kann damit nichts anfangen; ich verstehe nichts von der Weberei. Wie wäre es, Eduard, möchtest du nicht die Firma in meinem Namen weiterführen? Wenn du dich einrichtest, übergebe ich dir am Hochzeitstag Haus und Geschäft als Eigentum. Dann bist du ein gemachter Mann.«

Diesem hochherzigen Vorschlag folgte zunächst ein betroffenes Schweigen. Zu groß war der Aufstieg, den das Leben der armen Handweber so plötzlich nahm, als daß sie nicht hätten erschrecken sollen. Dann jedoch brach ein Jubelsturm los, und das Ende war eine Verlobung voll Glück und Freude, gekrönt durch ein festes Abkommen zwischen Arndt und den Hausers.

Vater Hauser sollte den Sohn in Dingen der Weberei beraten; Eduard sollte sich in die Führung des Geschäfts einarbeiten, um am Hochzeitstag die Firma ganz übernehmen zu können. Er war außer sich vor Wonne und Seligkeit, und das Engelchen war es mit ihm.

Eine Bedingung noch stellte Arndt, die seiner Menschlichkeit alle Ehre machte. Er setzte eine lebenslängliche kleine Rente für die Witwe Seidelmanns fest. Die Frau, mochte sie nun mehr oder weniger Schuld tragen an den Untaten der Ihrigen, sollte nicht in Kummer und Elend untergehn.

»Das Gericht hat sie freisprechen müssen«, erklärte Arndt. »So wollen wir nicht richten. Und in Wahrheit ist sie gestraft genug.«

Sie hatte in der Tat alles verloren, den Mann, den Sohn, den ehrlichen Namen, das Vermögen, alles. Auch ihr Schwager, der Rentner August Seidelmann, war nicht mehr. Am Tag nach dem großen Zusammenbruch hatten ihn Grenzbeamte im Wald erhängt gefunden. Er war ein Opfer seiner eignen Umtriebe geworden, wie Seidelmann Vater und Sohn und wie Spengler-Michalowski, der im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Der strafenden Gerechtigkeit entkommen war nur der Wächter Laube. Vermutlich war es ihm geglückt, über die Grenze zu entwischen. Niemand hat je wieder etwas von ihm gehört. Seine Frau verschwand mit den Kindern auch aus der Gegend; wohin, wußte keiner zu sagen.

Gleichwohl beschäftigte der Fall des Buschgespenstes und seiner Genossen lange Zeit die Gerichte.

Gegen die beiden Brüder Wilhelmi, den Zeichner und den Müller, wurde, da sie ›tätige Reue‹ im Sinn des Gesetzes gezeigt hatten, überhaupt kein Verfahren eröffnet. Dem Müller fiel sogar die ausgelobte Belohnung zu. Da waren aber die ortsansässigen Pascher, darunter auch Schulze, der Hundejunge, die sich wegen Teilnahme an den dunklen Machenschaften des Buschgespenstes verantworten mußten. Sie kamen überraschenderweise sämtlich frei, weil sie nachweisen konnten, daß sie unter hartem Zwang gefehlt hatten. Wieder war es Arndt, der für sie sprach und für sie alle schließlich eine Begnadigung erwirkte.

Für all das dankte dem wackern Arndt ganz Hohenthal. Wenn er durch den Ort ging, zog jeder die Mütze oder den Hut vor dem Retter und Wohltäter der Gegend.

Als Wohltäter der armen Gebirgler erwies er sich dann auch weiterhin. Er war es, der Eduard Hauser, den neuen Inhaber der erloschenen Firma Seidelmann & Sohn, vornahm und über seine besondern Pflichten als Verleger der Hausweber belehrte.

»Vergiß nie«, sagte er zu ihm, »daß auch du einst einer von denen warst, die um kargen Lohn in Abhängigkeit schaffen mußten! Wenn du Aufträge erteilst, wenn du entlohnst, werte die Leistung! Sichere denen, die ihre Arbeitskraft hingeben für dein Unternehmen, ein menschenwürdiges Dasein, soweit es in deinen Kräften steht! Du sollst leben, aber du sollst auch die andern leben lassen. Dann wirst du eine herrliche Daseinsaufgabe erfüllen, nämlich dazu helfen, daß fortan ein zufriedenes Geschlecht auf dem Boden deiner alten Gebirgsheimat haust.«

Und Arndt predigte solche Weisheit nicht nur einem andern, sondern betätigte sie auch selber an seinem Platz. Nach dem Zusammenbruch erklärte der Baron von Wildstein, es sei ihm nichts daran gelegen, das halbverschüttete Bergwerk mit viel Unkosten wieder betriebsfähig zu machen. Er wollte den Gottes-Segen-Schacht eingehn lassen. Daraufhin machte ihm Arndt einen Besuch und bot ihm eine runde Kaufsumme für das Werk, wie es lag und stand.

Der Baron stutzte und wollte handeln. Doch Arndt ließ sich darauf nicht ein mit der Begründung, daß er eine Grube, die man dem Verfall preisgeben wolle, nur billig oder gar nicht erwerben könne. Da gab der Baron nach, und das Bergwerk ging in den Besitz Arndts über.

Der vielgewandte Mann, der selber schon über reichliche Mittel verfügte, wußte sich auch noch anderweit das nötige Betriebskapital zu verschaffen, und so gab es für die armen Leute in Hohenthal plötzlich Arbeit in Hülle und Fülle. Der Schacht wurde wieder freigelegt und entwässert, und nach Verlauf eines Jahres fuhren die Bergleute bereits von neuem unter Tag. Die Essen rauchten, der Abraum ließ wieder die Halden wachsen, und das schwarze Gold stieg in den Förderkörben ans Tageslicht.

Alles wie einst. Geändert war nur das eine: Die Arbeiter empfingen am Wochenende einen anständigen Lohn, so daß sie bei ihren bescheidnen Ansprüchen sorgenfrei leben konnten.

Ein einziges Jahr hatte genügt, diesen gewaltigen Umschwung zu bewirken. Jetzt bewahrheitete sich das Wort des alten Wunderlich: Es war eine Lust, in dem kleinen Gebirgsort zu leben. Überall schaffende Menschen mit frohen, zufriedenen Gesichtern, und überall Menschen, die mit Liebe und Achtung von Franz Arndt und Eduard Hauser sprachen.

Nur einer hatte an den bestehenden Zuständen noch etwas auszusetzen, und das war der Förster Wunderlich, der samt seinem Bärbchen nicht wenig stolz darauf war, dem glückbringenden Fremden seinerzeit zuerst Tür und Tor geöffnet zu haben.

»Herr Vetter«, sagte er eines Tages zu Arndt, denn er blieb bei dieser Anrede, »Sie sind ein Tausendsasa, das muß Ihnen der Neid lassen. Und Sie sind ein guter, ein prächtiger Kerl. Nur eines gefällt mir nicht an Ihnen.«

»Und das wäre?«

»Sie sollten sich ein Beispiel nehmen an Eduard Hauser. Der Bursche ist gewachsen mit seinen Pflichten und Aufgaben, erstaunlich gewachsen. Er denkt schon allen Ernstes daran, das Engelchen, das ihn verehrt und verhätschelt, als seine Frau ins alte Seidelmann-Haus zu führen. Sie aber tappen noch immer als trüber Junggeselle durch die Landschaft. Das will mir nicht behagen.«

Arndt lachte.

»Mir auch nicht, Wunderlich, und darum habe ich mich unter den Töchtern der Kreisstadt umgesehn. Über kurz oder lang werde ich Ihnen die Erwählte meines Herzens vorstellen. Findet sie dann Ihre Billigung, so soll in dem neuen Haus, das ich mir jetzt auf dem Bergwerksgelände bauen lasse, bald eine Frau einziehn.«

So sagte Arndt, und so geschah es. Auch er wurde ein glücklicher Mann unter vielen, die sein Streben und Wirken glücklich gemacht hatte.

In dunkler Vergangenheit begraben lagen die Zeiten, da die Bewohner von Hohenthal unter der Bedrückung unheimlicher Verbrecher lebten, und nur selten noch sprach einer hier und da von jenen Tagen, von ihrer Furcht und ihren Ängsten und von dem rätselhaften, endlich doch entlarvten Buschgespenst.


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