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7. Ein Wagnis

Auch Eduard Hauser vermochte in dieser Nacht nicht zu schlafen, freilich aus einem andern Grund als Vetter Arndt. Seine Gedanken weilten bei Angelika, und das raubte ihm die Ruhe.

Am andern Morgen, dem Fastnachtsdienstag, fand er die Eltern und Geschwister mit den neuen Hausbewohnern, den Kindern des Schreibers Beyer, schon beim Kaffee. Da nicht genügend Stühle vorhanden waren, hatten sich die Kleinen auf eine alte Kiste gehockt.

Soeben klopfte es an die Tür, und der alte Dorfbader trat ein.

»Guten Morgen!« grüßte das Männchen und rieb sich die frostroten Hände.

Er sog verwundert den Duft des Kaffees ein.

»Was ist denn das, Gevatter Hauser?« staunte er. »Ihr lebt ja heut in Saus und Braus! Das riecht ja bei euch wie Kindtaufe!«

»Ist auch beinahe so«, lachte Frau Hauser. »Wollt Ihr eine Tasse mittrinken?«

»Oho, das ist eine feine Einladung! Zwei für eine und drei für zwei! Ihr scheint mir plötzlich reich geworden zu sein!« schmunzelte der Bader neugierig und quetschte sich auf die Ecke der Kiste, die die Kinder für ihn frei machten. »Solch einen ausgezeichneten Kaffee habe ich noch nie auch nur von fern gerochen. Und gar Zucker dazu? Na, das nehme ich natürlich an. Aber ich nehme es nicht umsonst. Ich bringe dafür großartige Neuigkeiten.«

Neuigkeiten! Das Wort ließ die ganze Familie Hauser aufhorchen. Der Bader sah sich plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und lächelte geschmeichelt. Er dämpfte geheimnisvoll seine Stimme.

»Ich glaube, sie haben das Buschgespenst erwischt.«

»Das Buschgespenst? – Erwischt?«

Das war wie ein atemloses Aufhorchen in der armseligen Weberstube. Bis Vater Hauser endlich ein Wort fand.

»Das weiße Waldgespenst ...?«

Mit überlegener Geste wehrte der Bader ab.

»Waldgespenst! Reden wir nicht mehr von dem Kinderschreck! Ich meine den Anführer der Pascher. Nichts andres ist ja das Buschgespenst. Daß weiß ich nun aus zuverlässiger Quelle.«

»So, so«, machte der Weber. »Das habe ich freilich auch schon vermutet. Also – man hat diesen Anführer gefangen?«

Der Bader kroch ein wenig in sich zusammen.

»Den Anführer freilich noch nicht.«

»Aber seine Leute?«

»Die auch noch nicht.«

Eduard hätte am liebsten hell aufgelacht. Der alte Hauser war ärgerlich, seine Frau enttäuscht. Und die Kinder machten dumme Gesichter.

Da versuchte der Bader seine Ehre zu retten, setzte wieder eine wichtige Miene auf und begann von neuem:

»Aber man hat die Pascher gestellt, gestellt, liebe Leute! Das ist schon etwas. Nachts im Haingrund ist das geschehn. Und nun kommt die Hauptsache. Die Grenzer, die immer im Dorf herumhorchen, erhielten gestern irgendwie die Nachricht zugetragen, am Finkenfang sei etwas los. Na, was tun die Leute? Sie machen sich auf und legen sich dort in Schnee und Kälte hinter die Felsbrocken, um die Pascher zu empfangen. Aber sie warten und warten, und nichts ereignet sich. Da kommt plötzlich ein fremder Mann und sagt ihnen, sie würden hier nur zum Narren gehalten. Um ein Uhr würden die Pascher durch den Haingrund über die Grenze gehn.«

Staunendes Schweigen folgte diesem Bericht. Die Tatsache an sich war schon unerhört. Weiter war – zum mindesten für Frau Hauser – mit einemmal die Grenze zwischen Buschgespenst und Mensch verwischt. Hier sprachen ja Tatsachen davon, daß dieses Buschgespenst wirklich nichts weiter sei als ein Anführer der Schmuggler. Und nun zum dritten die Erwähnung des geheimnisvollen Fremden, der die Grenzbeamten auf einen groben Irrtum hingewiesen hatte, auf eine Täuschung, der sie beinahe zum Opfer gefallen wären.

Eduard war der erste, der die Sprache wiederfand.

»Ein Fremder?« fragte er.

Der Bader nickte.

»Freilich, ein gänzlich Unbekannter. Die Grenzer haben ihm erst nicht getraut, aber schließlich sind sie doch nach dem Haingrund aufgebrochen, und richtig, dort ist ihnen ein ganzer Pascherzug in die Hände gelaufen. Das heißt –« der Berichterstatter dämpfte jetzt ein wenig den Überschwang seiner Freude – »die Kerle haben nur ihre Lasten weggeworfen und sind davongelaufen. So konnte das Paschergut beschlagnahmt werden. Gefangen hat man keinen, und man weiß noch immer weiter nichts.«

Das war der Bericht des redseligen Baders über die Ereignisse der vergangenen Nacht. Er hatte mit einem frühern Kunden, einem Grenzer, gesprochen und von ihm alles erfahren.

Eduard Hauser hörte damit nicht allzuviel Neues. Er machte sich nach dem Mittagessen auf den Weg, seinen Domino für den Maskenball zu holen.

Unterwegs begegnete ihm ein alter Bauer mit dichtem Bart und eisgrauen Haaren, auf denen eine abgeschabte, zerrissene Pelzmütze saß. Der Mann qualmte mächtig aus einer dickköpfigen Pfeife.

»Guten Tag, Alter!« grüßte Eduard.

»Schönen Dank, Junger! Woher des Wegs, wenn man fragen darf?«

»Ich komme von Hohenthal und will zur Stadt.«

»Bist wohl ein vornehmer Kerl?«

»Beinahe«, lachte Eduard, den die seltsame Art des Alten belustigte.

»Das sieht man dir an. Wer Maskenbälle mitmacht, der muß Geld in der Tasche haben.«

Dabei blinzelte der Unbekannte Eduard listig zu, während er dem dicken Pfeifenkopf gewaltige Tabakswolken entlockte.

Der junge Häuser wußte nicht, wie ihm geschah. Er hatte den Alten noch niemals gesehn. Wie konnte dieser Fremde eine Ahnung davon haben, daß Eduard heut auf ein Maskenfest gehn wollte?

»Wie meinen Sie das?« fragte er endlich. »Wer sind Sie denn eigentlich?«

Da ließ der Unbekannte die Maske fallen. Das heißt, er sprach plötzlich mit unverstellter Stimme.

»Der Fremde? So, mein Junge, weißt du nun Bescheid? Nicht jeder ist, was er zu sein scheint. Merke dir das!«

Damit wandte er sich zum Weitergehn. Nur über die Schulter hinweg warf er Eduard noch einen Gruß zu.

»Ich Schafskopf!« staunte Eduard hinter ihm her. »Arndt war es, Franz Arndt! Darum also wußte er von dem Fest! Aber, das muß ich gestehn, ihn hätte sein eigner Bruder nicht erkannt!«

Als Eduard bei dem Maskenverleiher eintrat, hatte er ein wenig Herzklopfen. Er fürchtete, Strauch könnte seine Nadel, das Eintrittszeichen zum Kasinoball vermißt und darum nachgefragt haben.

Während er unsicher um sich schaute, machte der Geschäftsmann eine höfliche Verbeugung.

»Heut kann ich Ihnen etwas Besseres bieten als den Domino, vorausgesetzt, daß Sie einige Mark mehr anlegen wollen.«

»Und das wäre?« fragte Eduard mit einem heimlichen Seufzer der Erleichterung.

»Eine prächtige Charaktermaske. Dort! Ein Türke! Kaufmann Strauch hatte ihn für sich bestellt, mußte aber leider in letzter Minute durch einen Boten absagen lassen.«

Eduard horchte auf. Erstens paßte ihm das ausgezeichnet. Jetzt konnte er, falls doch jemand wußte, welches Kostüm Strauch ursprünglich gewählt hatte, getrost an dessen Stelle beim Maskenball erscheinen. Zweitens hatte er nun die Gewißheit, daß Strauch wirklich nicht kam, daß der Brief, der dumme Brief, den Arndt so verurteilte, seine Wirkung getan hatte. Und drittens war es hiermit klar, daß Strauch seine Nadel entweder noch nicht vermißt oder wenigstens nicht zurückverlangt hatte.

Eduard frohlockte; aber er schob diese Gedanken zunächst wieder beiseite.

»Und der Preis?« fragte er.

»Sechs Mark, abzüglich die Anzahlung.«

Heut brauchte Eduard ja nicht zu knausern. Er zählte die Summe auf den Tisch.

»Packen Sie das Kostüm ein! Hier ist das Geld.«

Dann ging er, froh, diesen Handel erledigt zu haben. Er war überhaupt in jeder Hinsicht froh. Sein Beginnen schien unter einem guten Stern zu stehn.

Als er Hohenthal wieder erreichte, vermied er die Hauptstraße; man sollte das Paket nicht sehn, das er trug. Er befürchtete, man könne erraten, was es enthielt. Daher schlug er den Weg hinter den Häusern ein.

Trotzdem gelang es ihm nicht, unbemerkt heimzukommen. Am Gartenpförtchen des Hofmannschen Grundstücks war Angelika damit beschäftigt den Schnee wegzufegen und Bahn zu machen.

Ihr Gesicht wurde beim Anblick Eduards glühend rot. Sie wandte sich ab, um den Anschein zu erwecken, als hätte sie ihn nicht gesehn.

Eduard wußte, daß sie ihn nur nicht sehn wollte. Das gab ihm einen Stich durchs Herz. Er fühlte sich tief verletzt, blieb aber dennoch bei ihr stehn und flüsterte ihren Namen.

Engelchen aber drehte ihm weiter den Rücken zu und handhabte den Besen so emsig, daß der Schnee hoch aufstiebte.

»Engelchen!« wiederholte er.

Sie tat, als hätte sie ihn auch jetzt nicht gehört.

»Angelika!«

Nun erst wandte sie sich ihm halb zu, arbeitete aber weiter, ohne aufzublicken.

»Fräulein Hofmann!«

Jetzt fuhr sie hoch.

»Was wünschen Sie, Herr Hauser?«

Da ging ihm das gute, treue Herz noch einmal auf. Er streckte ihr die Hand entgegen.

»Versöhnung will ich, Engelchen, Versöhnung! Schlag ein?«

Das Engelchen mußte schon ein sehr schlechtes Gewissen haben, daß sie diese Herzenstöne nicht hörte und die dargebotene Hand übersah. Aber freilich, Stolz und Hoffart sind böse Dinge und vermögen im Grund einer arglosen Menschenseele gar wohl Schlimmes anzurichten. Also tat Angelika, was ihr einzig übrigblieb, da sie doch das eitle Vergnügen nicht einbüßen wollte. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, was Sie wollen ...«

Da fiel ihr Eduard schon ins Wort.

»Aber Engelchen, meine Anrede war doch gar nicht so gemeint. Ich wollte doch nur – ich wollte dich nur aus deiner Starrheit ausreißen. Du hast mich ja gar nicht gesehn. Du hast mich ja gar nicht gehört. Und mir tat das Herz so weh. Engelchen, kannst du denn wirklich so schlecht mit mir sein?«

Sie verteidigte sich immer wieder mit leeren Worten.

»Ich bin nicht schlecht.« Und da Eduard hierauf zunächst nichts sagte, spann sie schuldbewußt ihre Gedanken selber fort. »Ich weiß schon, was du denkst. Du rechnest es mir als Schlechtigkeit an, daß ich zum Maskenball gehn will, daß ich mir einmal ein Vergnügen leiste, wie es hier nicht alltäglich ist. Wenn du mich wirklich liebhättest, wenn du nicht nur immer an dich selber dächtest, würdest du mir die harmlose Freude gönnen.«

Jetzt hatte Eduard seine Fassung wieder. Jetzt fand er auch das rechte Wort.

»Ich gönne dir alles, alles wirkliche Glück auf der Welt, Engelchen. Aber was du da suchst, das ist keine harmlose Freude. Das ist ein sehr fragwürdiges Vergnügen.«

»So?«

In diesem Augenblick besaß Eduard sogar den Mut, ernstlich böse zu werden. Er trumpfte auf.

»Frag doch nicht so! Du weißt ganz genau, was ich meine. Wenn du mit mir zu einem Vergnügen gingst, so wäre das –«

Da schnitt ihm ein helles, halb übermütiges, halb keckes Lachen das Wort ab.

»Ja, freilich, mit Ihnen, Herr Eduard Hauser! Dann wäre allerdings alles anders. – Eifersucht, Eifersucht!«

Sie raffte wieder den Besen auf und huscht nach der Haustür. Über die Schulter hinweg rief sie dem Verblüfften zu:

»Nach dem Fest sprechen wir uns wieder! Vielleicht ist Ihre Eifersucht dann verraucht!«

Und – husch – war sie im Haus verschwunden.

Eduard strich sich mit der Hand über die Augen wie einer, der einen häßlichen Eindruck verwischen will. Er atmete tief und schwer. Nein, es war alles vorbei; es war alles aus.

Er stieg über den Gartenzaun des elterlichen Grundstücks und versteckte den Maskenanzug dort, wo das Futter für die Ziege aufbewahrt wurde. Die Seinen durften auf keinen Fall ahnen, mit welchen Absichten er sich für den Abend trug.

*

Der Fastnachtstag pflegt überall ein Tag der Freude und Belustigung zu sein. Aber wer ihn mitfeiern will, braucht Geld, und so kamen denn die Weber, die am Sonnabend ihre Arbeit nicht fertig gehabt hatten, heut in Seidelmanns Kontor, um abzuliefern und den Lohn in Empfang zu nehmen. Manche hatten sogar des Nachts gearbeitet, um für Fastnacht ein paar Groschen mehr zu erhaschen.

So gab es bei Seidelmann & Sohn am Nachmittag tüchtig zu tun. Erst als es dunkel wurde, ging der letzte Weber fort.

Seidelmanns aßen dann zeitig zu Abend. Nach der Mahlzeit begab sich Fritz abermals in den hinteren Kontorraum, um noch einige Einträge in die Bücher zu machen. Nach kurzer Zeit folgte ihm der Onkel.

»Laß dich nicht stören!« sagte er, indem er sich in einen Sessel fallen ließ. »Es ist nichts Wichtiges was mich zu dir führt.«

»Ich bin schon fertig.«

Fritz legte die Feder weg und blickte August Seidelmann erwartungsvoll an.

»Es handelt sich nur um das heutige Vergnügen. Denkst du wirklich, daß das Mädel kommen wird?«

»Ganz gewiss.«

»Frauen sind bisweilen launenhaft wie Aprilwetter.«

»Mag sein, aber ein italienisches Kostüm lockt. Außerdem habe ich mich auch noch hinter den Vater gesteckt. Wenn sich die Tochter anders besinnen wollte, würde er dafür sorgen, daß sie Wort hält.«

August Seidelmann stieß ein Grunzen aus; sein Gesicht glich in diesem Augenblick dem eines Fauns. Er spitzte den Mund, als sähe er ein leckeres Gericht vor sich. Der Neffe verstand, diese Miene zu deuten, und lachte frech.

»Ja, ja, die kleine Hofmann ist ein reizendes Ding. Und den Sekt habe ich schon kalt stellen lassen. Haha!«

»Nach solchem allen trachten die Heiden«, sagte der Rentner, indem er aus alter Gewohnheit in seinen salbungsvollen Ton verfiel. »Sekt. Hm. Dieses Webermädel hat sicherlich noch niemals Sekt getrunken. Ich muß sagen, ich beneide dich um den heutigen Abend.«

»Kann ich mir vorstellen«, lachte Fritz.

Dem Onkel aber war mit dieser Bemerkung nicht gedient. Er zielte auf etwas andres ab. Und schließlich sagte er es auch gradheraus:

»Du könntest mir eigentlich einen Gefallen tun, Fritz.«

»Und das wäre?«

»Mich mitnehmen. Ich möchte das Fest mitmachen.«

»Nee, lieber Onkel!« wehrte Fritz ab. »Geschlossene Gesellschaft!«

»Ach was! Ob ein einziger mehr dabei ist, das macht doch nichts aus.«

»Wir können keine Ausnahme zulassen; sonst würde schließlich jeder noch irgend jemand mitbringen wollen.«

Hinter der Tür eines Wandschränkchens schlug dumpf eine Glocke an. Fritz blickte sich um und begann zu zählen.

»Eins – zwei – drei – vier ... Teufel, eine Erkundigung! Und ich habe jetzt keine Zeit.«

»Wegen des Festes?«

»Ja. In einer halben Stunde muß ich gehn.«

»Aber Auskunft muß doch gegeben werden.«

»Freilich! Also tu mir den Gefallen und übernimm du das!«

»Eigentlich ein bißchen viel verlangt!« knurrte der Rentner. »Mir schlägst im meine Bitte rundweg ab, und ich möchte ...«

»Wenn du nicht willst, muß ich Vater rufen«, unterbrach ihn Fritz kurzerhand. »Die Sache duldet keinen Aufschub.«

Er ging schon zur Tür. Da lenkte der Onkel ein.

»Gut! Ich werde die Angelegenheit übernehmen. Ich weiß ja Bescheid. Gib die Antwort!«

Fritz zog einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete damit jenes Wandschränkchen in der Ecke des Zimmers und langte zwischen Flaschen und Gläsern nach einem Griff, der zu irgendeinem Zweck in die Hinterwand des Schränkchens eingelassen war. Darauf verschloß er den Schrank wieder.

»Weiß der Kuckuck, wer da etwas will! – Die Laterne ist im Keller, alles übrige auch. Hier der Schlüssel!«

August Seidelmann verließ den Raum. Er tappte sich in den finstern Keller hinab und brannte dort eine Laterne an. Im Hintergrund öffnete er eine Tür, schritt hindurch und verschloß sie wieder hinter sich.

Jetzt befand er sich in einem stollenartigen Gang, der unter der Erde fortzugehen schien. Neben der Tür stand eine alte Kiste, deren Schloß der Schlüssel ebenfalls öffnete. Bei dieser Kiste machte sich der Onkel erst eine Weile zu schaffen, bevor er langsam dem finstern Gang folgte.

*

Als die Hausers mit den vier Kindern des Schreibers Beyer um den Abendtisch saßen, war es Eduard, als hätte jemand leise am Fensterladen geklopft.

Niemand hatte darauf geachtet, und Eduard benützte die nächste Gelegenheit, unauffällig hinauszugehn. Da sah er, daß er sich nicht getäuscht hatte. Arndt stand hinter dem Häuschen, an den Ziegenstall gelehnt, so daß er von keinem Unberufenen bemerkt werden konnte.

»Etwas Wichtiges?« fragte Eduard gespannt.

»Jetzt noch nicht«, entgegnete Arndt. »Aber ich habe etwas vor, was Wichtiges zur Folge haben könnte. Sie gehn also bestimmt zum Maskenball?«

»Ja«

»Es ist möglich, daß ich Sie heute noch sprechen möchte.«

»Wo und wann soll ich mich melden?«

»Ich komme in die Schenke und trinke dort ein Glas Bier.«

Eduard schien dieser Vorschlag nicht recht zu gefallen.

»Sie meinen, in die Gaststube?« fragte er zögernd. »Denken Sie, daß ich Sie dort in meinem Kostüm aufsuchen und mit Ihnen sprechen kann?«

Arndt lächelte. Der Eifer des jungen Mannes, der sich sichtlich bemühte, alles zu berücksichtigen, gefiel ihm. Im übrigen hatte er selber ja schon alles reiflich erwogen. Es war ihm weniger darum zu tun, seinen Gehilfen Eduard Hauser an diesem Abend nötigenfalls jederzeit bei der Hand zu haben; sondern er wollte vielmehr über seinen Schützling wachen, denn er ahnte, daß der Besuch des Maskenballs für Eduard wahrscheinlich nicht ganz glatt verlaufen würde. Es gab da zuviel Klippen und Gefahren.

»Aufsuchen sollen Sie mich nicht«, erklärte er also. »Ich werde mich so setzen, daß Sie mich sehn können, sobald Sie nur einen Blick durch die Tür werfen. Wird es nicht eher, so können Sie ja einmal nach mir Ausschau halten, wenn Sie fortgehn. Natürlich stehe ich immer zu Ihrer Verfügung und ...«

»Ach so!« fiel ihm Eduard in die Rede. Der junge Hauser verstand jetzt, wie es gemeint war. »Sie hegen Befürchtungen?«

»Ich liebe es, in allen Dingen vorsichtig zu sein. Das bringt mein Beruf so mit sich, und das empfehle ich auch Ihnen. Es steht viel auf dem Spiel. Sie haben das Mädchen gern. Ein andrer wird den Abend über mit ihr tanzen. Da könnten Liebe und Eifersucht Sie leicht zu einer Unüberlegtheit verleiten.«

»Ich verspreche Ihnen ...«

»Schon gut, schon gut!« wehrte Arndt ab. »Ich weiß, daß Sie die besten Vorsätze haben. Wollen abwarten, was daraus wird.«

Arndt drückte dem jungen Mann die Hand und ging. Sein Weg führte ihn durchs Dorf hinaus zum Bergwerk. Dort schritt er an den einzelnen Gebäuden vorüber bis zu einem erleuchteten Fenster gegenüber der großen Esse.

Daß sich Arndt hier so gut zurechtfand, war die Folge sorgsamer Erkundigungen, die er am Nachmittag ganz unauffällig eingezogen hatte. Er war sogar schon einmal hier gewesen und hatte sich das Gelände aus sicherer Entfernung betrachtet.

Dann aber hatte er zur Durchführung seines Plans wohlweislich den Abend abgewartet. Er brauchte dazu den Schutz der Dunkelheit, denn er rechnete damit, daß sein Abenteuer möglicherweise nicht glatt verlaufen würde. Es war Gefahr dabei. Arndt wagte sich gewissermaßen in die Höhle des Löwen.

Er klopfte an die kleinen, von innen dicht verhängten Scheiben. Eine Stimme rief: »Komme gleich!« Dann öffnete sich die Tür neben dem Fenster, und ein Frauenkopf kam zum Vorschein.

»Was gibts?« fragte die Frau.

»Wohnt hier der Wächter Laube?«

»Ja.«

»Kann ich einige Worte mit ihm sprechen?«

»Kommen Sie nur herein!«

»Ich möchte ihm lieber hier draußen sagen, was ich zu sagen habe.«

»Aber es ist kalt, und er sitzt beim Essen.«

»Macht nichts. Nötigenfalls warte ich eine Weile. Außerdem kann Ihr Mann das Essen doch auch ein paar Minuten stehnlassen.«

Das klang so bestimmt, daß die Frau keine Widerrede wagte. Sie verschwand, und bald danach erschien der Wächter Laube, von dem Eduard im Zusammenhang mit der geheimen Botschaft für die Pascher gesprochen hatte.

»Warum wollen Sie denn nicht in die Stube kommen?« fragte er mürrisch, indem er den Drücker der offnen Tür in der Hand behielt.

»Habe meine Gründe dazu«, erklärte Arndt bedeutsam. »Meine Angelegenheit ist von ganz besondrer Art. Schließen Sie nur die Tür!«

Der Wächter gehorchte zögernd, betrachtete dann den Fremden, so gut es die Dunkelheit gestattete, und bemerkte nun, daß der Unbekannte sich mit der rechten Hand das rechte Auge wischte.

»Ach so«, sagte er beruhigt und ahmte wie unabsichtlich die Gebärde des späten Besuches nach. »Was wünschen Sie denn?«

»Das müssen Sie sich nun eigentlich schon denken können.«

»Denken?« stellte sich Laube arglos. »Warum?«

»Darum!« sagte Arndt und wiederholte noch einmal das geheime Erkennungszeichen der Bande des Buschgespenstes. Dazu räusperte er sich auch noch vielsagend.

Aber Laube war ein vorsichtiger Mann. Er wiegte bedächtig den Kopf hin und her.

»Es könnte nichts schaden, wenn Sie sich etwas deutlicher ausdrücken wollten«, meinte er. »Wenn wir so weiter verhandeln, kommen wir nicht vom Fleck und frieren hier an bei Nacht und Kälte.«

»Dann rate ich Ihnen, sich hinterher einen warmen Grog zu verschaffen. Das hilft«, lächelte Arndt, zog sein Geldtäschchen hervor und reichte dem Wächter einen ganzen Talern

Laube besah sich die Münze flüchtig und ließ sie in seine Tasche gleiten.

»Danke«, brummte er. »Sie scheinen kein übler Kaufmann zu sein. Sie wissen, daß man etwas ins Geschäft hineinstecken muß, wenn ein Gewinn herausspringen soll.«

»Damit treffen Sie den Nagel auf den Kopf«, nickte Arndt. »Ich denke tatsächlich an ein Geschäft, und zwar an ein sehr einträgliches.«

»So, so. Aber die Zeiten sind schlecht.«

»Weiß ich. Erst gestern abend hat es hiesigen Unternehmern arg den Weizen verhagelt.«

»Gestern? Hier?«

»Freilich, im Haingrund.«

Nun spielte Laube noch einmal Komödie, um sich zu sichern.

»Herr«, fuhr er auf, »wovon sprechen Sie? Ich hoffe doch, Sie denken nicht gar, daß ich mit den Paschern etwas zu schaffen habe!«

Aber Arndt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er legte Laube lachend die Hand auf die Schulter.

»Natürlich denke ich das, lieber Freund. Sonst wäre ich doch nicht ausgerechnet zu Ihnen gekommen. Ich gehöre ja auch dazu – oder besser, ich möchte dazu gehören, ich möchte mich der Leute, die Sie da erwähnen, bedienen, um etwas über die Grenze zu bringen. Verstellen Sie sich doch nicht länger! Es ist ja schade um die Zeit. Sie sehn ja, daß ich in alles eingeweiht bin. Beantworten Sie mir einfach meine Frage: Kann ich den Anführer einmal sprechen?«

»Wen meinen Sie?«

»Ihn, den großen Unbekannten!«

»Kennen Sie ihn?«

»Nein, sonst hätte ich mir den Umweg über Sie ersparen können. Außerdem habe ich mir sagen lassen, daß ihn überhaupt keiner kennt.«

Dem Wächter war die Sache noch immer nicht ganz geheuer. Aber Arndt gab nicht nach, und so siegte zum Schluß seine Beharrlichkeit. Als noch ein zweiter Taler in Laubes Tasche geflossen war, führte er den Fremden zu einem Bretterschuppen und öffnete die Tür.

»Warten Sie da drin! Ich werde sehn, was sich tun läßt.«

Arndt tat zwei Schritte in den Schuppen hinein. Da merkte er, daß der Raum zur größern Hälfte mit Strohbündeln gefüllt war. Laube wollte sich entfernen und hinter Arndt die Tür schließen. Doch das gab der Detektiv nicht zu.

»Hält! Einsperren lasse ich mich nicht. Bedenken Sie gefälligst, daß ich ebenso vorsichtig sein muß wie Sie! Gehn Sie! Ich warte hier bei offner Tür.«

An dem verhallenden Klang der Schritte merkte Arndt, daß Laube wirklich nach seiner Wohnung hinüberschritt. Eine Weile horchte der Detektiv noch, dann machte er es sich auf einem hohen Strohhaufen bequem. Er stützte den Kopf in beide Hände und überdachte seine Lage. Sie war nicht ungefährlich. Aber das war diesem Mann nichts Neues. Das liebte er sogar. Und so wartete er gespannt der Dinge, die nun kommen sollten.

Endlich, nach einer halben Stunde, ließen sich leise Schritte hören. Dann sah Arndt eine Gestalt in den Schuppen treten; seine scharfen Augen hatten sich inzwischen derart an die Dunkelheit gewöhnt, daß er den Mann leidlich erkennen konnte. Er war mittelgroß, trug eine alte Joppe, deren Kragen sorgsam hochgeschlagen war, und auf dem Kopf einen schäbigen Filzhut, dessen Krempe rundum weit herabhing. Das Gesicht wurde von einer schwarzen Maske verdeckt, die Hände steckten in Handschuhen.

Dieser Mann ist sehr vorsichtig! stellte Arndt fest. Ich werde mit ihm kein leichtes Spiel haben. Dann wartete er auf eine Anrede.

»Ist jemand hier?« fragte der Vermummte mit tiefer, merklich verstellter Stimme.

Arndt ließ sich von seinem Strohhaufen herabgleiten und rutschte dem Unbekannten grad vor die Füße.

»Hier bin ich«, sagte er, wobei auch er sich hütete, den wahren Klang seiner Stimme preiszugeben. Er hatte ja mindestens ebensoviel Grund wie der andere, hinterher nicht an der Sprache wiedererkannt zu werden.

»Was willst du von mir?«

»Über ein Geschäft verhandeln«, erklärte Arndt.

»Das hat mir der Wächter schon gesagt, und ich bin aus seinem Gerede nicht klug geworden. Ich ahne nur, daß du uns mit den Schmugglern verwechselst, die unter dem Oberbefehl des Buschgespenstes stehn. Doch du bist im Irrtum. Wir sind auch eine geheime Gesellschaft, aber unser Zweck ist es, den Paschern das Handwerk zu legen und das Buschgespenst zu entlarven. Ich merke, daß du mit den Schmugglern gemeinsame Sache machen willst. Darum werde ich dich festnehmen und der Polizei übergeben. Hüte dich! Denk nicht an Widerstand! Ich habe eine Waffe bei mir, und draußen steht Laube mit dem schußfertigen Revolver. Du bist in unsrer Gewalt. Wir werden ...«

Soweit ließ Arndt den Vermummten schwatzen. Dann riß ihm die Geduld. Barsch fuhr er dazwischen.

»Spar dir die törichten Reden, Buschgespenst! Du und ich, wir tragen gleiche Kappen und tun gut daran, uns friedlich zu verständigen. Das gibt ein einträgliches Geschäft.«

»Ich bin nicht das Buschgespenst«, knurrte der andre.

»Das machst du mir nicht weis.«

»Ob du es glaubst oder nicht, es ist so.«

»Dann tut es mir leid, mich und dich umsonst bemüht zu haben. Sechstausend Mark wären bei der Sache für uns beide zu verdienen gewesen.«

Die letzte Bemerkung warf Arndt scheinbar nur so nebenbei hin, und doch enthielt gerade sie den Köder, womit er den Gegner fangen wollte. Er rechnete mit der Habgier des Pascherkönigs. Darum sprach er von dieser hohen Summe.

Und es zeigte sich sogleich, daß Arndt ein guter Menschenkenner war. Der Unbekannte lenkte ein.

»Sechstausend Mark? Ist das wahr?«

»Es ist sogar knapp gerechnet.«

»Soviel würde bei – bei deinem Geschäft an Zoll gespart werden?«

»Bestimmt.«

»Und wer oder was bürgt mir dafür, daß du es ehrlich meinst?«

»Mein eigner Vorteil. Ich brauche euch.«

»Das sagst du. Aber du kannst auch ein Spion der Grenzer sein.«

Arndt lachte dem Mann in der Joppe gerade ins Gesicht.

»Mir scheint, ich bin aufrichtiger als du. Ich habe dir sofort bekannt, was ich will. Du aber hast dich anfangs gründlich verstellt. Jetzt endlich gibst du stillschweigend zu, für meine Zwecke der rechte Mann zu sein. Also sperr dich nicht länger unnütz!«

»Ich muß Sicherheit haben«, beharrte der andre.

»Die hast du bereits. Bedenke, daß ich Laube mit dem geheimen Gruß entgegengetreten bin!«

»Davon kannst du durch Verrat erfahren haben.«

»Laß mich ausreden! Weiter wußte ich, daß ich mich überhaupt an Laube zu wenden hatte. Das ist auch ein Beweis dafür, daß ich eingeweiht bin.«

»Gewiß, aber woher hast du das erfahren?«

»Die alte Eiche oben im Wald hat es mir erzählt.«

»Du kennst ...«

»... das Versteck des Kästchens mit den geheimen Botschaften! Jawohl!«

»Hm«, brummte der Unterhändler der Pascher nachdenklich. Dann schlug er plötzlich einen ganz andern Ton an. Er wurde höflich. »Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Ich bin wirklich nicht der Anführer, kann also keine Entscheidung treffen. Aber ich werde Ihren Wunsch, mit uns in Verbindung zu treten, weiterleiten. Kommen Sie morgen wieder hierher!«

Arndt atmete auf. Er hatte fürs erste genug erreicht. Aber er redete noch eine gute Weile mit dem Vermummten hin und her, ließ sich von ihm nähere Anweisungen geben und lockte dabei ganz unmerklich einige Angaben heraus, die wichtige Hinweise für ihn enthielten. Er lüftete bereits so nach und nach das strenge Geheimnis, womit sich das Buschgespenst umgab. Sein Gegner war noch immer vorsichtig, aber Arndt war der Klügere von beiden, und so siegte seine Pfiffigkeit.

Zum Schluß benützte er eine Frage des Unbekannten nach Art und Menge der Warenposten, die angeblich über die Grenze zu schmuggeln seien, um scheinbar einen Zettel nachzuprüfen, den er sich für diesen Gang vorsorglich in die Brieftasche gesteckt hatte. Dabei zog er, um lesen zu können die kleine Blendlaterne hervor, die er ständig unter dem Rock trug, und ließ ihr Licht aufleuchten. Das hatte einen doppelten Zweck. Einmal konnte so das Auge des Paschers die vielen Banknoten gewahren, die Arndt absichtlich bei dem bewußten Zettel verwahrte. Das reizte wieder die Habgier, das lockte dazu, es mit diesem Auftraggeber zu versuchen. Arndt aber schaute weniger in seine Brieftasche als auf das Gesicht des andern, das von der Maske verhüllt wurde. In der Erregung rückte und schob der Schmuggler die Maske hin und her, um besser sehn zu können. Dadurch wurde ein Teil seines Gesichts frei.

Arndt blendete befriedigt die Lampe wieder ab. Seine List war geglückt, und während er sachlich die letzten Worte mit dem Mann in der Joppe wechselte, stellte er bei sich fest, daß er nun so ziemlich Bescheid wußte über das Buschgespenst.

Schließlich traten die beiden aus dem Schuppen hinaus in die Nacht.

»Auf morgen also!« klang es hinter der Maske hervor.

»Auf morgen oder übermorgen – ganz, wie es meine Geschäfte erlauben«, erwiderte Arndt.

Dann ging er und verließ, ohne sich umzublicken, das Gelände des Hüttenwerks. Seitlich gewahrte er im Dunkeln eine Gestalt, das war Laube, der Wächter. Arndt tat, als hätte er ihn nicht bemerkt.

Er schlug den Weg ein, der hinterm Dorf nach der Straße und weiter zur Stadt führte. Das geschah für den Fall, daß man ihm nachschlich. Erst als er seiner Sache ganz sicher war, eilte er im Bogen zurück, wobei er hinter einem dichtverschneiten Buschwerk erst wieder sein Äußeres gründlich veränderte. Er wollte ja in die Schenke gehn, um Eduard Hauser zu überwachen. Da war es immerhin möglich, daß Laube dort auftauchte, um sich den anempfohlenen Grog zu kaufen. Also war Vorsicht geboten. Laube durfte im Wirtshaus den Mann nicht wiedererkennen, der vor kurzem mit dem Stellvertreter des Buschgespenstes verhandelt hatte.


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