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11. Nachts im Haingrund

Unterdessen befand sich Eduard Hauser auf dem Heimweg nach Hohenthal. Er ahnte nichts von der Wolke, die sich gefahrdrohend über ihm zusammenzog; im Gegenteil, er war voll Zuversicht, freute sich, daß ihm eine Gelegenheit geboten war, seinem Gönner einen wichtigen Dienst zu erweisen, und dachte zwischendurch sehnsüchtig an Angelika, deren Herz er nun endgültig gewonnen hatte. So verflogen ihm die anderthalb Stunden Weg wie wenige Minuten, und er blieb verwundert stehn, als er seinen Heimatort vor sich sah.

Nach kurzer Überlegung beschloß er, durchs Dorf zu gehn, in der leisen Hoffnung, Engelchen unterwegs zu begegnen. Wenn nicht, wollte er langsam am Zaun des Hofmannschen Grundstücks hinschlendern; vielleicht erblickte sie ihn durchs Fenster und kam auf einen Augenblick heraus.

Er hatte sich auch wirklich nicht verrechnet. Zwar spähte er auf der Dorfstraße vergeblich nach dem Mädchen aus, als er aber an der hintern Pforte des Hofmannschen Hauses stehnblieb, öffnete sich gleich darauf die Tür, und Angelika huschte heraus. In seiner Freude merkte der Bursche gar nicht, daß sie keineswegs froh und heiter dreinschaute.

»Richtig!« lachte er ihr entgegen. »So habe ich es mir gewünscht! Du hast mich kommen sehn?«

»Ja«, entgegnete sie einsilbig.

»Deine Eltern auch?«

»Nein, sonst hätte ich das Zimmer nicht verlassen dürfen.«

»So ist dein Vater immer noch gegen mich?«

»Oh, womöglich ärger als vorher«, seufzte sie. »Die Seidelmanns haben ihn ganz und gar beschwatzt. Komm mit hinter die Hecke dort, daß er uns nicht beisammen sieht, sonst gibt es einen bösen Auftritt!«

Sie zog Eduard hastig ein paar Schritte abseits, dann setzte sie ihren Bericht fort.

»Ja, es steht noch immer schlecht um unsre Sache. Als Vater erfuhr, was gestern geschehn ist, war es fast nicht zum Aushalten. Er schalt mich ein albernes Ding, und als ich ihm widersprach, drohte er mir sogar mit – mit Schlägen.«

»Das soll er bleiben lassen!« knurrte Eduard.

»Und fortjagen will er mich – zu – zu Seidelmanns!«

»Als Stütze der Hausfrau, nicht wahr? Das ist stark! Aber warte nur, daraus wird nichts!«

»Und wenn er mich nun zwingt?«

»Das kann er nicht. Ich würde ein sehr ernstes Wort mit ihm sprechen.«

»Er läßt dich ja gar nicht ins Haus.«

»So schicke ich einen andern, den er wohl anhören wird. Hab nur keine Sorge und laß mich handeln! Vorläufig allerdings habe ich keine Zeit. Ich muß noch einen Botengang nach Breitenau machen.«

»Nach Breitenau? Da kommst du ja, auf dem Rückweg wenigstens, in die Dunkelheit.«

»Schadet nichts. Die Sachs ist wichtig und wird gut bezahlt.«

Engelchen sah ihren Herzallerliebsten von der Seite an, ein wenig prüfend und ein wenig neugierig.

»Ach so, du gehst für den Fremden ...?«

Er aber war standhaft und ließ nichts aus sich herauslocken, wie er ihr ja auch bereits verschwiegen hatte, daß er erst bei Beginn der Dunkelheit aufbrechen, also den Wald nicht nur auf dem Rückweg im Finstern durchqueren wollte.

»Nein«, sagte er, »mit dem Fremden hat das gar nichts zu tun. Überhaupt ... ich habe ihm mitgeteilt, daß ich zu dir von ihm gesprochen habe. Da war er sehr böse. Tu mir also die Liebe und hüte mein Geheimnis! Ich könnte sonst schlimmen Verdruß haben.«

»Ich bin keine Plaudertasche«, fiel das Engelchen wieder einmal in den schnippischen Ton zurück, den sie früher bisweilen gegen Eduard angeschlagen hatte. Dann aber besann sie sich, und in ihren Augen leuchtete es herzlich auf. »Geh mit Gott, Liebster! Und nimm dich im dunklen Wald vor dem Buschgespenst in acht!«

Eduard nickte nur und drückte ihr die Hand.

»Ich warte auf dich«, fuhr sie fort, »wenn es auch spät wird. Ich muß dich heut abend noch einmal sprechen. Mir ist so bang, als sollte ein Unglück über uns kommen.«

»Nicht doch, Engelchen!« wehrte er ab. »Das Glück, das Glück kommt zu uns!«

»Hoffentlich! ... Also ich warte. Es wird sich schon ein Behelf finden lassen, daß ich gegen neun Uhr etwa noch einmal aus dem Haus kann. Dann komme ich zu euch an die Hintertür.«

»Das ist lieb. Ich freue mich auf heut abend. Und nun leb wohl!«

»Leb wohl!«

Ein verstohlener Kuß noch, dann trennten sie sich.

Eduard ging zunächst heim, um den Eltern mitzuteilen, daß er am späten Nachmittag einen Gang nach Breitenau tun müsse. Über alles andre schwieg er sich pflichtgemäß aus.

Der Vater schüttelte sorgenvoll den Kopf.

»Du bist jetzt von lauter Geheimnissen umgeben. Das will mir nicht gefallen.«

»Du kannst ohne Sorge sein«, beruhigte ihn der Sohn. »Was ich tue, ist ehrlich und recht.«

»Das will ich wohl glauben, Eduard. Aber du gehst bei Nacht durch den Wald und über die Grenze. Denk an das Buschgespenst! Wie leicht geschieht da etwas; und dann wissen wir uns keinen Rat, denn wir kennen deine Wege nicht.«

»Mir wird nichts geschehn, Vater, und solltet ihr zu Haus einmal Rat oder Hilfe brauchen, wenn ich nicht da bin, so geht zum Förster! Er ist ein kluger Mann und immer hilfsbereit. Das hat er uns gegenüber ja bewiesen. Ich glaube, er hat mich gern. An ihn könnt ihr euch jederzeit wenden. Er weiß übrigens auch Bescheid um meinen Gönner, über den ich dir bisher immer nur Andeutungen machen durfte.«

Eduard sagte das alles in wohlerwogener Absicht. Er hegte zwar keine ausgesprochene Besorgnis wegen des nächtlichen Abenteuers, das ihm bevorstand, aber er rechnete doch damit und mußte damit rechnen, daß sich vielleicht irgendein unliebsamer Zwischenfall ereignete. Was dann? Die Eltern hatten ja in der Tat keine Ahnung, was sie beginnen sollten, wenn der Sohn etwa im Lauf der Nacht nicht zurückkam.

Oder geschah ihm heute nichts, so konnte schon der nächste Tag ein Mißgeschick bringen. Eduard stand doch im Dienst des Fremden, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, das Buschgespenst zu fangen. Das würde bestimmt nicht ohne irgendwelche Kämpfe und Gefahren abgehn. Auch für solche Fälle war vorzusorgen.

Nun aber konnte Eduard dem Vater doch unmöglich sagen: Wenn es einmal nötig werden sollte, wenn ihr euch keinen Rat wißt und ich entweder von den Leuten des Buschgespenstes gefangen oder verwundet bin, von schlimmeren Möglichkeiten ganz zu schweigen, so geht ins Forsthaus! Dort wohnt der Vetter Arndt, mein Gönner und Auftraggeber. Er ist Geheimpolizist und verfügt über ausgezeichnete Beziehungen und auch über reiche Geldmittel. Er wird euch auf keinen Fall im Stich lassen. – So offen durfte er nicht sprechen. Das wäre gegen seine Pflicht gewesen.

Also war es am klügsten, den Vater an den Förster zu verweisen. Wunderlich würde dann nötigenfalls schon die Verbindung mit Arndt herstellen. Darum wollte Eduard vorsichtshalber den Förster auch noch kurz von seinem nächtlichen Botengang verständigen. Er wollte es tun, ohne dabei gegen das Gebot seines unbekannten Auftraggebers aus der Stadt zu verstoßen, das heißt, ohne im Forsthaus ein Wort mit Arndt zu wechseln. Wie sich das einrichten ließ, mußte der Augenblick ergeben.

So verstrichen die Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit. Eduard verbrachte sie in quälender Ungeduld. Die Spannung, die jedem vorher bekannten Abenteuer vorausgeht, lag wie ein Alp auf ihm. Endlich aber war es Zeit aufzubrechen.

Er verabschiedete sich von den Eltern und ging, schlug aber nicht gleich die Richtung zum Föhrensteig ein, sondern wendete sich zunächst zum Forsthaus.

Zum Glück – so dachte wenigstens Eduard – traf er hier nur den alten Wunderlich an.

»Der Herr Vetter ist ausgegangen«, meldete der Förster. »Vermutlich willst du zu ihm. Tut mir leid. Du mußt ein andermal wiederkommen, mein Junge.«

»Ist nicht nötig, Herr Förster«, erklärte Eduard, der froh war, daß sich alles so nach Wunsch fügte. »Ich habe nur für Sie eine Nachricht.«

»Für mich? Von wem?«

»So ist es nicht gemeint. Von mir aus möchte ich Ihnen etwas mitteilen.«

»Dann schieß los, mein Junge!«

»Ich muß jetzt noch hinüber nach Breitenau und ...«

»Unsinn! Wer läuft bei Nacht und Nebel durch den Bergwald über die Grenze! Kein vernünftiger Mensch!«

»Ist nicht zu ändern, Herr Förster, und ist auch nicht so schlimm. Ich kenne den Weg und fürchte mich nicht.«

»Hm. Jetzt begreife ich, was du bei mir willst. Ich soll dich begleiten. Offen gestanden paßt es mir aber verteufelt schlecht. Ich sitze über einer Holzberechnung, die bis morgen früh fertig sein muß. Das Rechnen und das Kritzeln auf dem Papier ist meine schwache Seite, und ich weiß nicht ...«

»Machen Sie sich keine Sorgen!« unterbrach Eduard den Alten. »Ich gehe allein. Meine Absicht war es nur, Sie von dem Gang zu verständigen.«

»Weshalb?«

»Ja, wenn ich das sagen könnte. Ich hatte so das Gefühl, es wäre gut, wenn jemand wüßte, wo ich zu suchen bin.«

»Höre, mein Junge, das klingt fast wie eine böse Ahnung! Auf solch innere Stimmen soll man achten. Geh nicht! Kehre um! Ich rate dir gut.«

»Das glaube ich, Herr Förster, aber ich muß dennoch gehn. Ich habe es versprochen, und die Botschaft, die ich hinübertragen soll, ist wichtig und eilig.«

»Darf man fragen, worum es sich handelt?«

»Verzeihung, Herr Förster, ich habe Schweigen gelobt.«

»Schon gut. Der Mann muß sein Wort halten und sein Maul dazu, wenn es nötig ist. Geh also in Gottes Namen!«

Sie schieden mit einem Händedruck. Der Förster wendete sich seufzend wieder seiner Holzberechnung zu. Eduard aber verfolgte eine kleine Strecke weit noch die Straße, dann bog er seitlich ab nach dem Föhrensteig.

Die Nacht war kalt und finster. Der Mond war fast ständig von Wolken verdeckt. Das gab ein mühseliges Wandern. Ein Glück, daß wenigstens der Schnee ein gewisse Helligkeit verbreitete. Er knirschte bisweilen unter den Tritten des jungen Mannes, der ruhig seinen Weg verfolgte.

Nach einiger Zeit vernahm er das Rauschen des Waldbachs, dessen Wasser unter der Eisdecke dahinschoß, und bald gelangte er an die schmale Brücke.

Sie bestand nur aus einer roh zugehauenen, jetzt eisbedeckten Bohle, und es war nicht ungefährlich, im Dunkeln darüber hinwegzugehn. Deshalb setzte Eduard nur langsam und vorsichtig einen Fuß vor den andern.

So hatte er eben die Mitte der Brücke erreicht, als ihn eine laute Stimme von jenseits des Steiges anrief.

»Halt! Wer da?«

Er erschrak, obgleich er auf eine ähnliche Begegnung gefaßt war. Es vergingen einige Augenblicke, bis er antwortete.

»Gut Freund!« rief er ins Dunkel.

Dann überlegte er, was er beginnen sollte. Er mochte sich nicht durch wilde Flucht verdächtig machen und wollte doch einer weiteren Berührung mit Menschen ausweichen.

Während er noch zögerte, hörte er das Klirren von Waffen. Er hatte also Grenzer vor sich. Langsam trat er Schritt um Schritt zurück.

»Halt!« tönte es ihm da auch im Rücken entgegen. »Wer da?«

»Gut Freund!« antwortete er auch jetzt.

»Stehnbleiben! – Nicht rühren!«

Männer kamen auf beiden Ufern zwischen den Bäumen hervor.

O weh, der Bote mit den geheimen Papieren war regelrecht eingekreist! Was tun? Sollte er sich ergreifen lassen?

Nein!

Er machte trotz der Glätte auf der Bohle einen Satz über die Brücke an Land. Dann flog er mit einem gewaltigen Sprung mitten unter die überraschten Grenzer hinein, die im Dunkeln ebenso wenig sahen wie er. Heftig prallte er auf zwei Männer, stieß mit den Fäusten zu und – war hindurch.

»Feuer!« befahl da eine scharfe Stimme.

Schüsse knallten.

Eduard war es, als würde er am Arm gepackt und zur Seite gerissen. Aber er raffte sich auf und stürmte weiter.

Es war ein unsinniges Beginnen, in dieser Finsternis durch den Wald zu rennen. Kaum hatte Eduard einige Sprünge getan, so krachte er mit dem Kopf an einen Baum und stürzte.

»Dort! – Da ist er! – Auf ihn! – Dort liegt er!« schrien die Verfolger durcheinander.

Laternen flammten auf, und Männer warfen sich auf den Gehetzten, bevor er wieder in die Höhe kam. Dann vergingen ihm die Sinne. Der Anprall an den Baum war zu heftig gewesen. Aber seine Natur war kräftig; nach kaum zwei Minuten schlug er die Augen wieder auf und erblickte im schwachen Schein der Leuchten etwa ein Dutzend Grenzer und Schutzleute. Er versuchte sich zu bewegen, aber da merkte er, daß er an den Händen gefesselt war; die Füße dagegen waren noch frei.

Vor ihm stand ein Beamter in der Uniform eines Polizeikommissars und musterte ihn scharf. Eduard erschrak heftig; denn der Mann mit dem strengen Blick und dem Schleppsäbel an der Linken hielt das versiegelte Päckchen in der Hand.

»Ah«, rief er soeben befriedigt, »er kommt schon wieder zu sich! Richtet ihn auf und lehnt ihn an einen Baum; aber gebt acht! Wenn er den geringsten Versuch macht zu entwischen, schießt ihr ihn in die Beine!«

Zwei Polizisten packten Eduard an und stellten ihn aus die Füße.

»Wer sind Sie?« fragte der Kommissar.

Jetzt half kein Leugnen mehr, das sah Eduard ein.

»Ich heiße Hauser«, bekannte er.

»Ausgezeichnet!« lachte der Beamte grimmig. »Haben wir den Fuchs also doch erwischt! – Was tun Sie hier?«

»Ich will nach Breitenau.«

»In welcher Absicht.«

»Ich habe eine Botschaft auszurichten.«

»Von wem und an wen?«

»Das darf ich nicht sagen.«

»So? Also Heimlichkeiten? Das ist höchst verdächtig! Wissen Sie denn nicht, daß wir Sie zum Sprechen zwingen können?«

»Gewiß, aber Sie werden es nicht tun. Sie können doch nicht einen harmlosen Menschen ...«

»Reden Sie kein dummes Zeug!« unterbrach ihn der Kommissar barsch. »Überhaupt brauchen wir Ihr Geständnis gar nicht. Das Päckchen hier wird sprechen. Ich werde es öffnen.«

»Das werden Sie nicht tun!« fuhr Eduard auf.

»Wer soll mich daran hindern? Sie etwa?«

»Ich bitte Sie ja nur, mein Geheimnis zu schonen. Der Umschlag enthält Privaturkunden, die keinem Unberufenen vor die Augen kommen dürfen!«

»Machen Sie sich nicht lächerlich! Polizei und Gericht sind keine Unberufenen!«

Der Kommissar ließ sich von einem Unterbeamten mit der Blendlaterne leuchten und öffnete das verhängnisvolle Päckchen.

»Hm. Nur Briefe und Schriftstücke! Kein Schmuggelgut! Deswegen brauchte er nicht auszureißen. Na, man wird später prüfen, was die Papiere enthalten.«

Zähneknirschend und zitternd vor Erregung hatte Eduard dulden müssen, daß sein Geheimnis oder vielmehr das seines Auftraggebers angetastet wurde.

»Sie sehn«, keuchte er, »ich habe die Wahrheit gesprochen. Nun geben Sie mich wieder frei!«

»Nicht so hitzig, mein Söhnchen!« wehrte der Kommissar ab. »Wir sind noch nicht fertig miteinander. – Haben Sie außer diesen Schreibereien nichts andres bei sich, kein zollpflichtiges Gut?«

»Nein.«

»Sonderbar. Weshalb haben Sie dann die Flucht ergriffen und sich zur Wehr gesetzt?«

Eduard fühlte, daß er darauf keine genügende Erklärung geben konnte, und wurde unsicher.

»Die Schriften sollte niemand lesen, auch kein Beamter«, brachte er endlich mühsam hervor. »Deshalb mußte ich versprechen, falls ich Grenzern begegnen sollte, lieber zu fliehn, als das Päckchen in ihre Hände fallen zu lassen.«

»Wem haben Sie das versprechen müssen?« forschte der Kommissar. »Wer hat Ihnen denn den Umschlag mit den Papieren anvertraut?«

»Ein Herr, den ich in der Kreisstadt im ›Goldenen Ochsen‹ kennenlernte«, gestand Eduard Hauser in seiner Bedrängnis.

»Wer war der Herr? Name? Stand?«

»Den Namen habe ich nicht erfahren. Der Herr war offenbar ein hoher Beamter der Geheimpolizei.«

Es war, als wollte der Kommissar dem Burschen mit seinem Blick bis in den tiefsten Winkel der Seele schauen. Da Eduard diesem Blick standhielt, erschien endlich ein helles, freundliches Licht in den forschenden Augen.

»So, so! Sie haben also eine ungewöhnliche Bekanntschaft gemacht, die zu einem geheimnisvollen Auftrag führte. Erzählen Sie mir die Sache genauer!«

Dieser Aufforderung mußte Eduard Folge leisten, ob er wollte oder nicht. Er tat es mit größter Vorsicht und beachtlichem Geschick, indem er sich hütete, auch nur ein Wort über seinen Gönner Arndt und dessen Absichten einfließen zu lassen. Daß er dadurch zuletzt sich selbst schädigte, weil allein Arndt seine Unschuld vor der Behörde hätte erweisen oder doch mit Nachdruck verteidigen können, das ahnte der junge Hauser freilich nicht.

So fiel denn sein Bericht ein wenig unklar und verworren aus. Doch der Kommissar nickte trotzdem dazu.

»Das klingt zwar alles recht ungewöhnlich«, meinte er zum Schluß, »aber ich will es gelten lassen. Einem unerfahrenen Menschen wie Ihnen kann man dergleichen schon vormachen. Ich werde die Papiere behalten und die Sache weiter verfolgen. Im übrigen aber, junger Freund, sind wir noch nicht fertig miteinander. Sie tun so harmlos, es spricht auch allerlei für Sie, und doch – sind Sie vermutlich ein ganz durchtriebener Halunke.«

»Herr Kommissar!« stammelte Eduard betroffen.

»Schon gut! Ich werde Ihnen sogleich beweisen, daß sie trotz allem ein Pascher sind: Denken Sie an die Spitzen!«

»An ... was?«

Der Beamte winkte hinter sich ins Gebüsch. Darauf trat Fritz Seidelmann hinzu. In seinem Gesicht zuckte grimmiger Haß. Eduard Hauser aber fuhr zusammen.

»Jetzt ahnt mir Schlimmes«, sagte er unsicher. »Sooft mir etwas Böses widerfuhr, immer hatten die Seidelmanns ihre Hand im Spiel. Vielleicht ist es heut wieder so.«

»Werden sehn«, erwiderte der Beamte. »Herr Seidelmann hat Sie uns als Schmuggler angezeigt. Sie müssen ja wissen, wieweit Sie schuldig sind. Halten Sie still, Hauser!«

Er betastete die Rocksäume des jungen Mannes.

»Hm!« meinte er dann. »Hier stimmt etwas nicht. Wollen doch einmal öffnen.«

Er zog sein Taschenmesser hervor und machte kurzerhand einen Schlitz in Eduards Rockfutter. Dann langte er mit der Hand in die Öffnung.

»Sie behaupten noch immer, nichts Verzollbares bei sich zu tragen?« fragte er, während seine Rechte noch zwischen Futter und Stoff umhertastete.

»Ich kann es beschwören.«

»So, so! Und was ist das hier?«

Dabei zog der Beamte einen langen Streifen Spitze aus dem Rock des Burschen.

Eduard erschrak.

»Was – ist – das –?« wiederholte er, gedankenlos stammelnd, die Worte des Kommissars.

»Das sind die Spitzen, von denen ich vorher sprach, mein Junge! Darauf liegt hoher Zoll, wenigstens drüben für die Einfuhr. Sieh mich nicht so verständnislos an, Bursche! Du denkst wohl, der Einfuhrzoll nach Böhmen kümmert uns hier nicht? Das ist ein Irrtum, alter Freund. Die Zollbehörden arbeiten Hand in Hand. Du entgehst der Strafe nicht. Da ist dein Schuldbeweis!«

Der Beamte hielt Eduard den bedeutsamen Fund dicht vor die Augen.

»Nun?« forschte er, da der junge Hauser schwieg. »Wie kommt das in Ihren Rock?«

»Ich weiß es nicht«, beteuerte Eduard. »Ich kann jeden Eid ablegen, daß ich von diesen Spitzen keine Ahnung hatte.«

»Sie sind demnach überhaupt kein Pascher?«

»Nein.«

»Sie sind auch nicht – das Buschgespenst?«

»Das – Buschgespenst? – Wieso?«

»Nun, Sie haben es doch selber behauptet.«

»Ich? Ist mir nicht eingefallen!«

»Hm! Wollen Sie sich einmal dieses Schreiben ansehn?«

Der Kommissar hob die Laterne und hielt Eduard den verhängnisvollen Brief an Strauch vors Gesicht.

Der junge Hauser verfärbte sich.

»Aha!« frohlockte der Beamte. »Da haben wir den Vogel gefangen. Heraus jetzt mit der Sprache! Wer hat diesen Brief geschrieben?«

»Ich«, gestand Hauser.

»Und Sie haben sich als Buschgespenst unterzeichnet!«

»Ja. Aber ich bin es nicht.«

»Und das soll ich Ihnen glauben? Machen Sie sich mit solch kindischen Ausreden doch nicht lächerlich!«.

»Ich – ich wollte – ach, das hat seine ganz besondere Bewandtnis – ich wollte den Kaufmann Strauch nur einschüchtern. Daher wählte ich diese Unterschrift.«

Der Kommissar lachte wie über einen guten Witz. Er war tatsächlich in bester Laune. Endlich, endlich hatte er den Burschen ertappt, der ihm so viel Kopfzerbrechen und so manche schlaflose Nacht verursacht hatte.

»Sie unterzeichnen sich als Buschgespenst; Sie wollen sich bei Nacht und Nebel heimlich über die Grenze schleichen; als man Sie anruft, fliehn Sie vor den Grenzbeamten; man findet Spitzen bei Ihnen, die drüben hoch zu verzollen sind – mein Lieber, das genügt! Da helfen keine Ausreden mehr. – Habt gut acht auf den Gefangnen, Leute! Ihr wißt, er ist das Buschgespenst, ein gefährlicher Bursche, dem es auf ein Menschenleben nicht ankommt. Fort mit ihm!«

Das alles rauschte gleichsam über Eduard hinweg wie die Flut eines wild dahinbrausenden Stromes, gegen die es keinen Widerstand gibt. Der Gefesselte stand wie betäubt. Er fand kaum einen klaren Gedanken.

Der Brief, der unselige Brief! zuckte es immer wieder auf in seinem Hirn. Der Brief war schuld. Er zeugte gegen den Schreiber.

Und dann das andre, die nächtliche Grenzüberschreitung und die Flucht vor den Beamten! Ach, warum hatte er grad diesen Auftrag übernehmen müssen!

Am verhängnisvollsten aber wurden ihm nun die Spitzen, die man in seinem Rock eingenäht gefunden hatte. Rätselhaft, woher sie stammten. Eduard zermartete sich mit Grübeleien über den Ursprung des angeblichen Paschergutes, und dabei dämmerte ihm eine ferne Ahnung von dem Schurkenstreich eines gehässigen Feindes.

Während er so stand, ohne sich zu regen, ohne ein Wort zu sprechen, verhandelte der Kommissar mit seinen Leuten und mit Fritz Seidelmann. Sie redeten leise untereinander, damit es der Gefangne nicht verstehn sollte. Der aber achtete gar nicht auf sie. Bis er sich endlich aufraffte und in wirren, unzusammenhängenden Sätzen seine Unschuld zu beteuern begann.

»Ich kann mich ja nicht wehren«, brach er schließlich fast in Tränen aus. »Ich muß alles über mich ergehn lassen. Aber ich bin kein Pascher, kein Verbrecher. Ich habe nichts mit dem Buschgespenst zu schaffen. Ich – ich kann nur sagen, daß es irgendwie an den Tag kommen muß ...«

»Schweigen Sie!« unterbrach ihn der Kommissar kurz und barsch. Er war jetzt von Seidelmann ganz gegen Hauser eingenommen worden. »Ihre Winkelzüge und Schliche helfen Ihnen nicht mehr. Zunächst haben wir Sie einmal. Gehn Sie lieber in sich, bereuen Sie! – Und nun vorwärts, Leute! Nach Hohenthal! Wir werden die Wohnung Hausers durchsuchen!«

»Herr, du mein Gott!« schrie Eduard auf.

»Sehn Sie, wie Sie erschrecken? Man wird neue Beweise Ihrer Schuld entdecken. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Nein. Ich erschrecke nur um meiner Eltern willen. Haben Sie Erbarmen mit den alten Leuten! Sie können den Tod davontragen, wenn sie mich als Gefangnen sehn!«

»Das ist Ihre eigne Schuld, Hauser. Auch das Elend Ihrer armen Eltern wird auf Ihr Gewissen kommen. Aber ich bin kein Unmensch. Ich werde Ihre Eltern vorbereiten, bevor wir bei ihnen eintreten. – Und nun ernstlich fort!«

Der Zug setzte sich in Bewegung. Einige der Beamten blieben zurück und führten dem Trupp die Pferde nach.

*

Der Marsch durch Wald und Feld dünkte Eduard eine Ewigkeit, und doch näherten sie sich dem Ziel viel zu schnell.

Seine Eltern, seine armen Eltern!

Der Kommissar ließ sich von Eduard das Häuschen zeigen, wo die Hausers wohnten. Dann eilte er voraus.

Als er in den engen Flur trat, hatte man drinnen in der Stube gerade das Abendessen beendet, und der alte Hauser betete.

Der Beamte zögerte und lauschte an der dünnwandigen Stubentür. Das Gebet des Webers kam tief aus einem gläubigen Herzen. Das fühlte der Lauscher, und es wurde ihm eigentümlich zumut. Sollte das Buschgespenst wirklich der Sohn einer Familie sein, in der offenbar echte Frömmigkeit herrschte?

Er schob diese Gedanken mit Gewalt beiseite, klopfte an und trat ein.

Mit einem freundlichen ›Guten Abend‹ näherte er sich dem Tisch, an dem die Bewohner des kleinen Hauses saßen. Das Ehepaar Hauser erhob sich höflich.

»Ich bin Kommissar der Kriminalpolizei und komme in dienstlicher Angelegenheit«, sagte der Beamte und sah dabei die Hausers scharf an, um den Eindruck seiner Worte zu beobachten.

»Worum handelt es sich?« fragte der Vater ruhig. »Sollen wir in irgendeiner Sache Zeugen sein?«

»Nein, es geht um Sie selber.«

»Um – uns?«

Der Kommissar verwandte noch immer keinen Blick von den Gesichtern der beiden.

»Sie paschen!«

Frau Hauser wurde vor Schreck weiß wie eine frisch getünchte Wand. Der Alte aber schüttelte lächelnd den Kopf.

»Erschrick nicht, Mutter! Wer weiß, welches törichte Gerede uns diese Unannehmlichkeit eingetragen hat. Wir haben ein reines Gewissen. Was kann uns da geschehn?«

»Oh, es ist durchaus kein leeres Gerede, Herr Hauser!« erklärte der Kommissar. »Ihr Sohn zählt zu den Schmugglern!«

»Mein Eduard? Für den stehe ich wie für mich selber.«

»Behaupten Sie nicht zuviel! Wo ist er jetzt?«

»Er ist nach Breitenau gegangen.«

»Was will er dort?«

»Er wird etwas zu besorgen haben.«

»Das heißt, er wird irgend etwas hinüberpaschen. Man hat ihn unterwegs erwischt.«

»Wieso erwischt? Doch nicht als Pascher?«

»Doch!«

Der alte Hauser lächelte noch immer.

»Ich weiß nicht, Herr, warum Sie mir das erzählen. Entweder handelt es sich um einen Irrtum, eine Verwechslung oder um einen schlechten Scherz.«

»Sie irren sich. Es ist Ernst, bitterer Ernst. Man hat sogar Schmuggelwaren bei Ihrem Sohn gefunden.«

»Glaubst du das, Mutter?« fragte Hauser ruhig.

Frau Hauser schüttelte nur den Kopf.

»Ich auch nicht. Unser Junge hat saubere Finger; er ist kein Verbrecher. – Übrigens« – das war mit einem seltsamen Seitenblick auf den Kommissar gesagt – »was hat man denn bei dem Jungen gefunden, Herr Kommissar?«

»Kostbare Spitzen. Im Rockfutter verborgen.«

Die Frau griff zitternd nach der Lehne eines Stuhls. Sie bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort hervor. Der alte Weber dagegen schüttelte den Kopf wie einer, der klipp und klar mit überlegen nüchternem Verstand eine unmögliche Sache überdenkt.

»Spitzen!« sagte er langsam, jedes Wort scheinbar schwer wägend. »Jetzt verstehe ich. Darauf liegt drüben hoher Einfuhrzoll. Aber die Angelegenheit stimmt nicht, kann nicht stimmen. Mit solch dummen Dingen hat unser Junge nichts zu schaffen.«

Der Kommissar ließ ihn gewähren. Er wartete ruhig ab, und so richtete sich denn der schwergeprüfte Hauser schließlich mit einem Ruck auf und sah dem Beamten fest ins Gesicht.

»Wie ist das nun, Herr Kommissar? Sie haben unsern Eduard verhaftet?«

»Ja, er steht draußen.«

»Der arme Junge!«

»Wir müssen hier Haussuchung halten«, fuhr der Kommissar jetzt etwas strenger fort. »Ich wollte Sie nur vorbereiten, damit wir Sie nicht zu sehr erschrecken!«

Mutter Hauser stieß einen Schrei aus und verbarg das Gesicht in der Schürze. Hauser jedoch blieb ruhig, aber er atmete tief.

»Erschrecken? – Ja, ja. – Ich danke Ihnen, daß Sie so viel Rücksicht auf uns nehmen, Herr! Bringen Sie den Eduard nur getrost herein! Glauben Sie mir, Herr, er ist so unschuldig wie Sie oder ich.«

»Das wollen Sie wirklich so genau wissen?«

»Ja, Herr. Und sollte ich mich dennoch irren, so werde ich ihn dazu bringen, ein offnes Geständnis abzulegen. Mir wird er gehorchen. Darauf können Sie sich verlassen.«

Während Eduard mit seiner Bedeckung, bei der sich noch immer Fritz Seidelmann befand, draußen vor dem Haus stand, fühlte er oben am Arm einen stechenden Schmerz, und zugleich bemerkte er, daß es ihm naß über die gefesselten Hände lief.

Ich muß verletzt sein, dachte er. Aber er kam nicht dazu, die Verwundung weiter zu beachten. Gaffer tauchten hier und da hinter den Zäunen auf, so daß dem Burschen jede Minute des Wartens unter Bedeckung zur Höllenqual wurde.

In diesem Augenblick befahl der Kommissar durch das Fenster, den Verhafteten hereinzubringen.

Zwei Grenzer führten Eduard in die Stube. Seidelmann folgte. Er hatte hier durchaus nichts mehr zu tun. Aber da keiner ihm wehrte, verschaffte er sich auch noch diesen Triumph. Die andern blieben im Flur.

»Herrgott«, schrie Frau Hanser auf, als sie ihren Sohn erblickte, »du blutest ja!«

Sie wollte zu ihm eilen. Ihr Mann aber hielt sie zurück.

»Laß das, Mutter! Es ist besser, sein Leib ist verletzt, als seine Seele. Eduard, komm her!«

Das war nach Art der schwerblütigen, kernhaften Gebirgsbewohner aufrecht und streng gesagt. Der Kommissar vermerkte auch das, ließ aber den Dingen vorerst ihren Lauf. Der Sohn trat mit seinen Wächtern an den Vater heran.

»Hast du wirklich gepascht?« fragte der alte Häuser.

»Nein!«

»Aber man hat Spitzen bei dir gefunden.« Er hob die rechte Hand wie zum Schwur. »Eduard, im Angesicht dessen, der alles weiß und alles vergibt, antworte: Woher hast du diese Spitzen?«

»Ich habe nichts von ihnen gewußt. Sie steckten im Rockfutter. Ich kann es mir selber nicht erklären, wie sie hineingekommen sind.«

Es war, als wollte ihn der Vater mit den Blicken durchbohren.

»Glaubst du ihm, Mutter?«

»Ja«, hauchte die Frau, »er ist mein Junge und ...«

»Gut«, unterbrach sie der Mann. »Ich glaube auch, daß er unschuldig ist. Herr Kommissar, die Sache muß noch eine andre Bewandtnis haben. Wenn man meinen Sohn so ohne weiteres verhaftet, geschieht hier vielleicht ein größeres Verbrechen, als es das Schmuggeln je gewesen sein kann. Gott wird es fügen, daß der Schuldige entdeckt wird.«

»Brennt ihn nur nicht weiß!« rief in diesem Augenblick Fritz Seidelmann von der Tür her. »Er hat sich ja in einem Brief selber als Buschgespenst unterschrieben.«

Der alte Hauser wurde erst jetzt auf Seidelmann aufmerksam.

»Ah, Sie sind auch dabei? Jedenfalls haben Sie auch die Anzeige erstattet?«

»Das geht Sie nichts an! Aber es stimmt. Ich will das gar nicht leugnen. Jeder muß im Kampf gegen das Buschgespenst seine Pflicht tun.«

»Nun, in bezug auf Pflichterfüllung sind Sie allerdings ein Vorbild«, spottete der alte Weber bitter. Dann wandte er sich wieder an Eduard. »Was ist das mit dem Brief, Eduard? Stimmt es?«

»Ja, Vater«, nickte der Sohn und erzählte kurz, wie er dazu gekommen war, den Brief an Strauch zu schreiben und sich in der Unterschrift als Buschgespenst auszugeben.

Der Vater stand mit gerunzelter Stirn und hörte diese Beichte schweigend an. Aus den Augen der Mutter leuchtete das helle Entsetzen. Eduards jüngere Geschwister und die Beyer-Kinder drängten sich unbeachtet in einer Stubenecke zusammen wie ein Trupp verängstigter Tiere.

Der Kommissar ließ seine Blicke prüfend zwischen Vater und Sohn hin und her gehn. Die Eindrücke, die er hier empfing, bewiesen ihm, daß die Hausers unbedingt als ehrbare Leute anzusehn waren. Der Vater hielt seine Kinder in strenger Zucht. Ein solches Familienleben aber ist kein Nährboden für verbrecherische Triebe. Das wußte der erfahrene Kriminalbeamte, und so zögerte er nicht, diesen Umstand bei seinen Schlußfolgerungen in Rechnung zu stellen.

Jetzt war Eduard mit seinem Bericht zu Ende. Der alte Hauser tadelte ihn ernst und rückhaltlos wegen seines Leichtsinns. Dann aber wandte er sich an den Kommissar.

»Sie sehn«, sagte er, »der Junge hat unbedachtsam gehandelt, und es geschieht ihm recht, daß er nun die Folgen zu spüren bekommt. Das wird ihn in Zukunft klug machen. Nur ist er darum noch lange kein Verbrecher. Das mit den Spitzen wird sich aufklären, und Sie werden hier im Haus kein Paschergut finden, auch sonst nichts, was gegen Eduard zeugen könnte. Suchen Sie! Wir können das Ergebnis in Ruhe abwarten.«

Darauf gab der Kommissar seinen Leuten den Befehl, mit der Haussuchung zu beginnen. Inzwischen durfte keine der im Zimmer versammelten Personen ihren Platz verlassen. So kam es, daß die Blicke der Hausers zum Fenster hinauswanderten in die nächtliche Dunkelheit.

Da sahen sie, daß drüben bei Hofmanns die Haustür geöffnet wurde. Heller Lichtschein drang daraus hervor. In diesem Schein wurde das Engelchen sichtbar, das anscheinend in großer Hast und Verwirrung auf die Straße eilte.

Gleich darauf gab es ein Geräusch im Flur, die Stubentür tat sich aus, und herein trat Angelika, heftig schluchzend und in furchtbarer Erregung.

Sie hatte soeben eine schlimme Auseinandersetzung mit ihrem Vater gehabt, der sie abermals zwingen wollte, die Stellung bei Seidelmanns anzunehmen. Die Tochter wehrte sich dagegen, und der Vater geriet in sinnlosen Zorn.

»Liegt dir vielleicht der Lump, der Eduard Hauser, im Sinn?« tobte er.

»Eduard ist arm, aber kein Lump. Fritz Seidelmann, der reiche Verlegersohn, ist einer«, verteidigte sich die Tochter. »Eduard meint es ehrlich mit mir, und du solltest dich schämen, ihn zu beschimpfen und mich an die Seidelmanns verschachern zu wollen.«

»Was sagst du, Mädel?« brüllte Hofmann. »Verschachern nennst du das? Ich will dich Gehorsam lehren! Gleich morgen früh schaffe ich dich zu Seidelmanns!«

»Lebendig gehe ich nicht in das Haus dieses Schurken!«

»Dann hast du bei mir kein Heim mehr!«

»Es wird sich auf der weiten Erde wohl noch ein Plätzchen für mich finden.«

»So wagst du mit mir zu reden? Ich werde dir zeigen, wohin du gehörst!«

Der Streit hatte schon längere Zeit gewährt. Frau Hofmann war nicht daheim, sie war zu einer Bekannten gerufen worden, die plötzlich schwer erkrankt war, und so sah sich das Mädchen dem aufgeregten Vater ganz allein und schutzlos gegenüber. Seine Wut kannte jetzt keine Grenzen mehr; er drang mit erhobenen Fäusten auf Angelika ein.

Da stieß sie einen Schrei aus, riß die Tür auf und floh hinaus in die Nacht. Wohin sollte sie sich in ihrer Bedrängnis wenden? Sie überlegte nicht lange und eilte zu den Hausers hinüber.

In ihrer Erregung merkte sie zunächst gar nicht, daß auch hier etwas Ungewöhnliches vorging. Sie öffnete die Stubentür, erblickte Eduard, warf sich an seine Brust und schlang die Arme um ihn.

»Hilf mir! Der Vater will ...«

Da erst sah sie, daß Eduard gefesselt war und daß Blut aus seinem Ärmel tropfte.

»Herrgott! Was ist mit dir?« schrie sie auf.

Eduard ließ den Kopf hängen. Ein Zittern lief durch seine Gestalt, so sehr packten ihn Scham, Verzweiflung und Ratlosigkeit.

»Ach, Engelchen, man hat mich im Wald abgefangen und verhaftet!«

»Verhaftet? Dich? Weshalb?«

»Ich soll gepascht haben.«

»Das ist ja heller Unsinn!«

»Und ich soll das Buschgespenst sein. Der dort hat mich angezeigt!«

Er deutete mit einer Bewegung des Kopfes nach der Ecke hin, wo Fritz Seidelmann stand, die Lippen hämisch aufeinandergepreßt in den Augen ein Funkeln, das von Haß, Rachsucht und Schadenfreude sprach.

Mit einem Ruck fuhr Angelika herum. Sie erkannte Seidelmann, dessen Anwesenheit ihr bisher völlig entgangen war. Ihre Züge erstarrten. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.

»Der dort«, wiederholte sie tonlos Eduards Worte. »Freilich, der dort! An allem ist er schuld. Seinetwegen will mich der Vater schlagen und aus dem Haus jagen.« Dann hob sie plötzlich die Arme und tat in wilder Erregung einen Schritt auf Seidelmann zu. »O dieses Scheusal in Menschengestalt! Diese Bestie! Gott im Himmel soll ihn strafen, den Schurken, den Schleicher, den Ehrabschneider, den Betrüger ...«

Der Kommissar wollte rasch dazwischentreten, weil er etwas Schlimmes kommen sah. Aber das Mädchen, das einfach nicht mehr wußte, was es tat, war schneller als er. Mit einem Griff hatte sie eines der Gewehre an sich gerissen, die neben ihr an der Wand lehnten. Die Schutzleute und Grenzbeamten hatten ihre Büchsen da abgestellt, um bei der Haussuchung nicht behindert zu sein.

Das Gewehr an sich reißen und damit auf Seidelmann eindringen war eins. Angelika dachte nicht etwa daran, zu schießen. Sie wollte nur zustoßen. Doch es kam anders.

Aus Versehn berührte ihre Hand den Abzug. Ein Schuß krachte. Dröhnend lief der Widerhall durch das kleine Haus. Seidelmann schrie auf, wankte und fiel hintenüber. Das Engelchen stand ein, zwei Sekunden lang starr und bewegungslos. Dann entsank die Waffe ihrer Hand. Mit einem Wehlaut brach das Mädchen zusammen.

Der Kommissar, der auf sie zugesprungen war, um sie an einer Verzweiflungstat zu hindern, konnte sie gerade noch in seinen Armen auffangen. Dann ließ er sie langsam zu Boden gleiten.

Dem Knall des Schusses war ein vielstimmiger Schrei gefolgt; auch die Leute, die bei der Haussuchung in den einzelnen Räumen verstreut waren, eilten herbei. Die im Zimmer Versammelten drängten durcheinander. Es gab eine unbeschreibliche Verwirrung. Eduard kniete neben Angelika. Seine gefesselten Hände tasteten nach ihrem Gesicht.

Mit lauter Stimme gebot der Kommissar Ruhe. Seine erste Frage war an einen der Grenzer gerichtet, der sich mit Seidelmann beschäftigte.

»Wie steht es? Ist er tot oder nur verletzt?«

Der Beamte bemühte sich, mit dem Taschentuch ein starkes Blutgerinnsel an Seidelmanns Kopf zu stillen.

»Kein Anlaß zur Besorgnis!« sagte er. »Er ist nur bewußtlos. Der Mann scheint mehr vor Schreck umgefallen zu sein. Hier an der linken Schläfe ist eine Wunde, von einem Schrotkorn gerissen.«

»Schrot? Aha, ich weiß Bescheid! Schrot ist auf der Pascherjagd oft wirksamer als eine Kugel. Aber wie konnte sich die Büchse so rasch entladen?«

»Das Gewehr gehört mir, Herr Kommissar. Ich habe am Föhrensteig geschossen, dann hastig wieder geladen und dabei wahrscheinlich nicht richtig gesichert.«

»Das setzt einen Verweis, mein Lieber. Ungesicherte Waffen – Sie wissen Bescheid! Und nun wollen wir mal nach der Wunde sehn!«

Seidelmann war in der Tat nur ohnmächtig. Die Blutung wurde gestillt; dann legte einer der Beamten auf Geheiß des Kommissars einen Notverband um Seidelmanns Stirn, worauf der Bewußtlose rasch wieder zu sich kam. Sein erster Griff war nach der verletzten Stelle.

»Herr Kommissar«, sagte er wütend, »Sie sind Zeuge, daß dieses Frauenzimmer da auf mich geschossen hat!«

»Stimmt, Herr Seidelmann.«

»Sie hat mich nur verwundet. Aber sie hätte mich auch töten können. Ich ersuche Sie, Ihre Pflicht zu tun und die Verbrecherin zu verhaften.«

Der Beamte wehrte gelassen ab.

»Ruhe, Ruhe, Herr Seidelmann! Ich kenne meine Dienstvorschriften genau und werde pflichtgemäß handeln.«

»Und ich werde ...«

»Sie werden jetzt heimgehn und sich um Ihre Wunde kümmern«, unterbrach ihn der Kommissar bestimmt.

»Oho! Sie wollen mich fortschicken?«

»Ich bitte Sie, meiner Weisung Folge zu leisten. Sie müssen auf Ihre Verletzung Rücksicht nehmen. Außerdem verschärft Ihre Anwesenheit hier nur unnötig die Lage und könnte leicht zu weitern Zwischenfällen führen.«

»Das ist stark!«

»Das ist vorbeugend gehandelt.«

»Aber man wird hier meine Aussagen brauchen.«

»Hier nicht. Das kommt später. Bitte, Herr Seidelmann, erschweren Sie mir die Ausübung meines Amtes nicht unnütz und fügen Sie sich! Sie dürfen überzeugt sein, daß ich meine Pflicht auch dann tue, wenn Sie nicht anwesend sind. Sobald ich Sie brauche, werde ich Sie an Amtsstelle rufen lassen.«

Mit mißvergnügtem Gesicht verschwand Fritz Seidelmann. Kurz darauf schlug Angelika die Augen auf und starrte verwundert um sich. Nur langsam dämmerte in ihr die Erinnerung an das Geschehene auf.

»Eduard«, flüsterte sie, »habe ich wirklich geschossen?«

»Allerdings, Engelchen. Der Schuß ging plötzlich los.«

Entsetzt wandte sie den Kopf zur Seite, um mit den Augen Seidelmann zu suchen. Da sie ihn nicht gewahrte, sprang sie mit einem Ruck auf.

»Man hat ihn fortgeschafft! Ich habe ihn erschossen!«

»Nein, nein«, beruhigte Eduard die Entsetzte. »Nur ein Streifschuß an der Stirn, weiter nichts! Seidelmann ist nach Haus gegangen. Der Herr Kommissar hat es so angeordnet, damit nicht noch mehr Unheil entsteht.«

»Gott sei Dank! Ich war so erbittert, ich wußte wirklich nicht, was ich tat. Und ich wollte ja auch gar nicht schießen, sondern ihn nur damit hinaustreiben.«

Das Mädchen ließ sich auf einen Stuhl fallen und begann heftig zu weinen. Mutter Hauser legte den Arm um sie.

»Sei still, mein Kind, und beruhige dich! Unser Herrgott wird alles zum Besten lenken.«

Der Kommissar hatte den Vorgang mit schweigender Aufmerksamkeit verfolgt.

»Wir wollen's hoffen, Frau Hauser«, sagte er jetzt. »Der junge Seidelmann scheint Ihnen feindlich gesinnt zu sein?«

»Herr, ich sage nicht gern einem meiner Mitmenschen Übles nach«, mischte sich der alte Hauser ein, »aber in diesem Fall wäre Schweigen eine Torheit. Beide Seidelmanns, Vater und Sohn, machen uns das Leben schwer, wo sie nur können.«

»Und warum diese Feindschaft?«

»Wegen dieser da!«

Er deutete dabei auf Engelchen und berichtete kurz alles, was in letzter Zeit zwischen Seidelmann, Angelika und Eduard vorgefallen war.

Der Beamte sann ein Weilchen vor sich hin. Dann hob er plötzlich den Kopf.

»Wohin hängen Sie abends beim Schlafengehen Ihren Rock?« fragte er Eduard scheinbar ganz unvermittelt.

»Ich pflege ihn hier in der Stube auszuziehn und auch hier zu lassen.«

»Ist nachts Ihr Haus gut verschlossen?«

»Herr Kommissar«, warf der alte Hauser ein, »wir sind arme Leute. Wer will uns etwas nehmen? Die Weberhäuser hier im Gebirge sind alle so eingerichtet, daß man zum mindesten durch die Hintertür jederzeit hereinkommen kann.«

»Auch des Nachts?«

»Ich sage ja: jederzeit.«

»So, so! Hm! Ich werde mir diese Hintertür einmal ansehn.«

Der Beamte ließ seinen Worten die Tat folgen. Als er dann wieder in die Wohnstube trat, hatten seine Leute soeben die Haussuchung beendet und meldeten, sie hätten nicht das Geringste gefunden, was auf Schmuggelei schließen lasse.

Der Kommissar schien das nicht anders erwartet zu haben und durch diese Meldung angenehm berührt zu sein. Er winkte seinen Leuten, die Stube zu verlassen, und wandte sich dann an Eduard.

»Ich will Ihnen gestehn, Hauser, daß sich meine Meinung über Sie in der letzten Viertelstunde gebessert hat; dennoch muß ich den gesetzlichen Vorschriften folgen.«

»Sie werden mich mit nach der Stadt nehmen?«

»Vorläufig. Bis es sich aufgeklärt hat, wie die Spitzen in Ihren Rock gekommen sind.«

»Mein Gott! Da werde ich wohl ewig in Haft bleiben.«

»Ich will das nicht hoffen, Hauser. Ich habe so eine Ahnung, als sollte bald Licht in diese Geschichte kommen. Was ich mir noch nicht zusammenreimen kann, das ist Ihr Fluchtversuch im Wald; dem haben Sie es zuzuschreiben, daß ich Ihnen Ihre Fesseln noch nicht abnehmen kann.«

»Aber darf man nicht wenigstens nach meiner Wunde sehn?«

»Ja. Dazu haben wir noch Zeit.«

Angelika wollte das sogleich übernehmen; doch der Kommissar wehrte ab.

»Überlassen Sie das der Mutter, Fräulein Hofmann!«

»Warum?«

»Meine Pflicht, Fräulein!«

Engelchen blickte ihn ungewiß und fragend an.

»Sie haben auf einen Menschen geschossen«, fügte der Beamte erläuternd hinzu.

»Ich wollte ja gar nicht!« beteuerte, das Mädchen nochmals. »Aber dieser – ach, ich wollte ihn doch nur hinausjagen! Die Flinte ist ja von selber ...«

»Na, so ganz von selber ist das Gewehr nun grad nicht losgegangen, Fräulein. Sie werden wohl an den Abzug geraten sein. Ich war ja Zeuge.«

»Man wird doch nicht denken, daß ich ihm wirklich ans Leben wollte? Ich habe ja noch nie solch eine Waffe in der Hand gehabt!«

»Aber das böse Gesetz verlangt, Fräulein, daß die nähern Umstände dieses Zwischenfalls geklärt werden, und dazu bedarf es vor allen Dingen Ihrer Gegenwart.«

»Ich werde gewiß kommen, sobald Sie mich bestellen.«

Dem Kommissar war es darum zu tun, das Mädchen möglichst schonend von der Notwendigkeit auch ihrer Verhaftung zu verständigen. Er zog die Brauen hoch und räusperte sich.

»Hm! Und wenn ich Sie nun gleich jetzt bestelle?« fragte er schließlich.

»Gleich jetzt? In der Nacht?«

»Ja.«

»O du lieber Himmel! Das wäre ja eine Verhaftung!«

»Wenn Sie es so nennen wollen, allerdings.«

»Aber warum denn? Ich laufe Ihnen doch nicht davon.«

»Das glaube ich Ihnen«, wurde der Kommissar allmählich deutlicher, »und es wäre auch unklug von Ihnen, wenn Sie es täten. Sie müssen bedenken, daß Fritz Seidelmann Anzeige gegen Sie erstatten wird ...«

»Anzeige?«

»Gewiß, vielleicht wegen Mordversuchs, zum mindesten aber wegen fahrlässiger Körperverletzung. Darum ist es besser, Sie vertrauen sich meinem Schutz an. Ich meine es wahrhaftig nur gut mit Ihnen.«

Dieser Trost verfehlte allerdings gänzlich seine Wirkung. Das Engelchen brach fast zusammen.

»O Gott, o Gott, verhaftet!« stöhnte sie.

Dann aber kam ihr plötzlich ein andrer Gedanke. Sie sah auf und trat zu Eduard hin, der vor ihrem Jammer völlig verstummt war.

»Du und ich«, sagte sie leise, als wäre es nur für ihn bestimmt. »Mir scheint, es soll so sein, daß wir miteinander gehn.«

Er schaute sie leuchtenden Auges dankbar an.

»Engelchen!« Das war wie ein unterdrückter Jubelruf.

Sie gab ihm den Blick zärtlich zurück.

»Miteinander ins Gefängnis«, fuhr sie fort, und es war seltsamerweise keine Bitterkeit im Ton ihrer Rede. »Beim Vater habe ich ja sowieso kein Zuhause mehr. Komm!«

Da aber legte sich der Kommissar ins Mittel, der dieses ungewöhnliche Liebesgeflüster aufmerksam verfolgt hatte.

»Nicht so schnell, Fräulein Hofmann! Sie werden doch erst noch einmal heimgehn müssen.«

»Weshalb? Ich mag ja gar nicht.«

»Gleichviel, es muß sein. Ich werde Sie begleiten und Ihren Eltern wenigstens kurz Bescheid sagen. Inzwischen packen Sie sich die nötigsten Kleider, etwas Wäsche und allerlei Kleinigkeiten zusammen, ohne die der Mensch auch in der Untersuchungshaft nicht sein kann.«

Er ließ Eduard unter der Aufsicht seiner Leute zurück, gab Weisung, einen Wagen für die beiden Häftlinge zu besorgen, und schritt dann mit dem Engelchen hinüber nach dem Haus der Hofmanns.

In der Nachbarschaft hatte es sich inzwischen herumgesprochen, daß man Hausers Eduard unter Bedeckung heimgebracht habe. Die Neugierigen waren rasch zusammengeströmt. Als dann Fritz Seidelmann erschien, hörten sie von ihm ausführlich, was sich zugetragen hatte. Die ungeheuerliche Kunde, Eduard Hauser sei als Pascher ertappt und als Buschgespenst entlarvt worden, verbreitete sich mit Windeseile unter den Gaffern. Auch daß Angelika Hofmann auf Seidelmann geschossen und ihn verwundet habe, wurde bereits erzählt und erörtert.

Soeben unterbreitete man Angelikas Vater die Schreckenskunde. Man hatte ihn aus seiner Wohnung geholt und fiel nun auf offner Straße mit der schlimmen Neuigkeit über ihn her. In diesem Augenblick tauchte der Kommissar mit Engelchen auf.

Er scheuchte die Menge mit einem barschen Wort auseinander und gab dem alten Hofmann einen Wink.

»Kommen Sie mit ins Haus! Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Drinnen im Wohnzimmer verständigte er den entsetzten Vater vom Stand der Dinge. Hofmann fuhr wütend auf. Es sei eine Ungerechtigkeit, seine Tochter in diese Geschichte zu verwickeln. Dem jungen Seidelmann sei ja gar nichts geschehn. Er verlange, daß Angelika auf der Stelle freigelassen werde. Den Burschen aber, den jungen Hauser, möge man seinetwegen hängen oder köpfen. Das sei ihm gleichgültig.

Weiter ließ ihn der Kommissar nicht schwatzen. Er machte ihm gründlich den Standpunkt klar.

»Mäßigen Sie sich, Herr Hofmann«, sagte er, »sonst bringen Sie sich noch in Ungelegenheiten! Die Verhaftung Ihrer Tochter besteht zu Recht. Das Fräulein wird mir in die Kreisstadt folgen. Geschehn wird ihr vermutlich nicht viel. Die Sache ist zum Glück noch gut abgelaufen. Ihnen aber rate ich, sich ruhig zu verhalten und zu überdenken, inwieweit Sie selber Schuld tragen an der leidigen Entwicklung der Dinge.«

Hofmann wurde durch den strengen Ton des Beamten gehörig eingeschüchtert. Er jammerte und klagte zwar noch weiterhin, aber er begehrte nicht mehr auf. Seiner Tochter gegenüber war er plötzlich auffällig unsicher. Als Angelika ihre wenigen Habseligkeiten eingepackt hatte, wozu sie kaum eine Viertelstunde brauchte, schien er sich von ihr verabschieden zu wollen. Sie aber gab ihm nur kurz die Hand. »Leb wohl, Vater! Grüß mir die Mutter! Sie soll mich einmal besuchen im Untersuchungsgefängnis!«

Hofmann wußte nicht, ob er wachte oder träumte. Die Tür schloß sich hinter dem Engelchen und dem Kommissar. Der Weber starrte den beiden nach, ohne ein Wort zu sagen. So verstrichen mehrere Minuten. Da klang von draußen das Rollen eines Wagens und Pferdegetrappel.

Eine wilde Angst überkam den Mann in der kleinen Stube. Er gab sich einen Ruck und eilte hinaus. Doch er fand die Straße leer. Der Wagen mit den Gefangnen war schon fort, die berittenen Beamten verschwanden gerade im Dunkel der Nacht, und die Neugierigen hatten sich verlaufen, heimgeschickt von einem kurzen Befehl des Kommissars.

Der einsame Mann schaute sich ratlos um. Dann schritt er rasch auf das Haus des Nachbarn zu. Im Flur blieb er stehn und lauschte. Von drinnen klang die Stimme des alten Hauser. Er las laut aus dem Gesangbuch vor.

»Was Gott tut, das ist wohlgetan,
es bleibt gerecht sein Wille ...«

Hofmann wartete, bis das Lied zu Ende war, dann klopfte er an und trat ein. Die Hausers sahen ihm erstaunt entgegen.

»Das Engelchen ist fort«, sagte Hofmann tonlos.

»Unser Junge auch«, klang die Erwiderung.

»Verhaftet!«

»Das wissen wir.«

»Mein Gott, wie soll ich das ertragen?« schrie Hofmann auf.

Der alte Hauser hob nur beschwichtigend oder abwehrend die Rechte.

»Geh zu deinem Gönner Seidelmann und laß dich von ihm trösten!«

»Das ... das sagst du mir, Nachbar? ... Weiter nichts?«

»Ich hätte höchstens noch hinzuzufügen, daß du dir überlegen kannst, wieviel Schuld du selber daran trägst, daß alles so gekommen ist. Im übrigen wiederhole ich deine eignen Worte: Wir passen nicht mehr zusammen. Geh!«

Hofmann stand eine Weile starr. Eine Entgegnung fand er nicht. Dann wandte er sich schweigend ab und wankte zur Tür hinaus.

»Aber, Vater«, fragte Frau Hauser verwundert, »du schickst ihn fort ohne Trost? Das ist doch sonst nicht deine Art.«

»Das ist sie auch jetzt noch nicht.«

»Warum tust du es dann?«

»Ihm zuliebe. Er soll in sich gehn. Wenn er an den nächsten Abenden mit seiner Frau einsam zu Haus sitzt, wird er mit seinem Hochmut abrechnen, und das wird ihm heilsam sein. Sobald er dann ein andrer Mensch geworden ist, sprechen wir uns wieder.«


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