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20. Das Schicksal straft und versöhnt

Das ganze Dorf befand sich in Aufruhr, und so war es kein Wunder, daß auch bei Seidelmanns noch Licht brannte. Arndt traf vor dem Haus auf den Polizisten, den er hierher geschickt hatte.

»Nun?«

»Es ist niemand ein- und ausgegangen.«

»Gut.«

Frau Seidelmann war daheim. Sie war begreiflicherweise sehr aufgeregt, seit die Sprengung das Haus bis in die Grundfesten erschüttert hatte, und erschrak sichtlich, als die drei Herren in Begleitung von drei Polizisten und einigen Arbeitern bei ihr eintraten.

»Kennen Sie diesen Ausweis?« fragte der Kommissar indem er seine Dienstmarke vorzeigte. »Ich bin Kriminalbeamter und komme in amtlicher Eigenschaft. Wo ist Ihr Mann?«

Die Frau, die einen gedrückten, verschüchterten Eindruck machte, schaute unsicher von einem der Männer zum andern.

»Ausgegangen«, sagte sie, beinah im Ton eines Kindes, das ein eingelerntes Sprüchlein herplappert.

»Und Ihr Sohn?«

»Auch er ist nicht zu Haus.«

»Wo steckt er denn?«

»Das weiß ich nicht.«

»Eine Frau pflegt doch sonst zu wissen, wo Mann und Sohn sind. Ist etwa Herr August Seidelmann auch nicht zu sprechen?«

»Leider nicht. Er hat die Wohnung erst vorhin verlassen. Wir hörten einen furchtbaren Donnerschlag, und das Haus zitterte. Da meinte mein Schwager, im Bergwerk müsse es schlagende Wetter gegeben haben. Darauf ging er fort, um nachzusehn, wie die Dinge beim Schacht ständen.«

»Hm. Führen Sie uns bitte in die Geschäftsräume Ihres Mannes!«

Die Frau nahm die Schlüssel von der Wand und schritt voran. Die Männer folgten ihr, nachdem der Kommissar einem seiner Polizisten leise den Befehl gegeben hatte, einen Teil der Mannschaften oben beim Bergwerk nach dem Rentner Seidelmann auf die Suche zu schicken und ihn so bald wie möglich zu verhaften. In dem vorderen Zimmer, wo die Weber abgefertigt wurden, hielt man sich nicht lange auf. Hier gab es nichts zu entdecken. Arndt hatte es auf das Privatkontor abgesehn, in das er damals vom Schuppendach aus hineingeschaut hatte.

Hier hing das bewußte Bild, wodurch jenes Mauerloch, das Geheimversteck Seidelmanns, verborgen wurde. Im übrigen standen in dem Raum ein Schreibtisch, ein Warentisch, zwei Pulte und ein Schrank. Ein kleineres Schränkchen war an der Wand angebracht.

»Was befindet sich darin?« wies Arndt aus dieses Wandschränkchen.

»Einige Flaschen und Gläser«, gab sie kurz Bescheid.

»Weiter nichts?«

»Nein, was soll man auch in solch einem kleinen Behältnis noch unterbringen?«

»Nun, ich will es Ihnen sagen: eine Klingel. – Wozu dient sie?«

Frau Seidelmann zuckte zusammen.

»Das weiß ich nicht«, sagte sie unsicher. »Sie muß schon dagewesen sein, bevor wir hier einzogen.«

»Sie haben das Haus doch selber gebaut, wie man mir im Dorf erzählt hat. Wie kann da diese Klingel bereits vorher dagewesen sein? – Öffnen Sie!«

»Ich besitze keinen Schlüssel zu diesem Schrank.«

»Merkwürdig. Und wir haben keine Zeit, einen Schlosser zu holen.«

Arndt ließ sich von Wunderlich den starken Hirschfänger reichen und sprengte damit die Tür des Schränkchens auf. An dessen hinterer Wand gewahrten sie eine Klingel und einen Klingelzug, ganz so wie in der Stube des Wächters Laube.

»Es stimmt«, nickte der Kommissar. »Dieser Klingelzug bewegt die Glocke des Wächters, und dessen Klingelzug setzt diese Glocke hier in Tätigkeit. Man braucht gar keine Probe anzustellen. Aber es muß sehr schwierig gewesen sein, die beiden Drähte unter der Erde zum Schachtwächter zu leiten. Wie hat man sie legen können, ohne daß es von Unberufenen bemerkt wurde?«

»Man hat sie nicht gelegt, sondern gezogen«, erklärte Arndt, an den die Frage des Kommissars gerichtet war.

»Wie meinen Sie das? Beides ist doch wohl dasselbe.«

»O nein! Die Leitung in die Erde zu legen, das wäre allerdings aufgefallen. Man hat sie gezogen, nämlich durch einen Raum, der schon vorhanden war.«

»Durch einen bereits vorhandenen Raum? – So nehmen Sie wohl an, daß auch von hier aus ein stillgelegter Seitenstollen zum Kohlenwerk und damit zum Wächter Laube läuft.«

»Ganz recht!« nickte Arndt. »Und ich glaube nicht, daß ich mich täusche.«

Er sah dabei den Kommissar bedeutungsvoll an und wandte sich hierauf wieder an die Frau.

»Gibt es hier einen unterirdischen Gang?«

»Nein.«

»Sie leugnen?«

Frau Seidelmann errötete, schwieg aber. Deshalb hielt es Arndt für notwendig, sie ernstlich zu verwarnen.

»Sie scheinen nicht zu wissen, in welcher Lage Sie sich befinden. Die Familie Seidelmann wird mit gutem Grund schwerer Verbrechen beschuldigt. Haben Sie teil an dem, was Ihr Mann, Ihr Schwager und Ihr Sohn verübten, so wird die Strafe auch Sie treffen. Bemessen Sie Ihre Antworten danach! Ich will jetzt erfahren, welcher Raum sich hinter diesem Zimmer befindet – ich meine hinter der Mauer, wo das Wandschränkchen hängt!«

»Die Kellertreppe«, sagte die Frau mit merkbar zitternder Stimme.

»Schön. Ich glaube, meine Berechnung stimmt. Zunächst aber, Herr Kommissar, wäre es von Vorteil, wenn wir die Spitzen hier hätten, die Sie bei Eduard Hauser gefunden haben.«

Der Beamte lächelte.

»Glauben Sie, ich hätte nicht daran gedacht? Ich habe die Spitzen hier, auch eine Probe von dem Zwirn.«

Der Kommissar öffnete Mantel und Rock und reichte Arndt die Beweisstücke.

»Sehr gut!« sagte Arndt. »Und nun, Frau Seidelmann, habe ich eine besonders wichtige Frage an Sie zu stellen. Gibt es hier vielleicht ein heimliches Versteck?«

»Weshalb?« klang es zaghaft zurück. »Ich kenne keins.«

»So werden wir uns abermals selber helfen müssen.«

Arndt stieg auf einen Stuhl, nahm das bewußte Bild herab und holte die Schachtel mit dem bedeutsamen Inhalt aus dem Mauerloch.

Die Frau, die bisher seltsam starr und teilnahmslos beiseite gestanden hatte, erschrak sichtlich.

»Sehn Sie«, sagte Arndt, »hier liegt ein Knäuel schwarzer Zwirn! Wie klug und doch auch wieder wie dumm!«

Arndt kletterte wieder vom Stuhl herab, und der Kommissar prüfte den Zwirn – es war der gleiche, den die eilige Naht an Hausers Rock auswies.

»Und nun zu den Spitzen!« drängte der Beamte in begreiflicher Ungeduld.

Schon hob er die Hand, um den Deckel der Schachtel wegzunehmen, da wurde diese Hand sacht beiseitegeschoben.

»Verzeihung, Herr Kommissar! Zuvor habe ich eine Frage an Sie!« meldete sich Arndt.

Einigermaßen verwundert sah der Beamte den Sprecher an.

»Bitte!«

»Ich möchte jetzt gern einige Minuten Ihrer Zeit für mich in eigner Sache in Anspruch nehmen. Doch das ist nicht für jedermanns Ohren. Darf ich Sie bitten, sich mit mir ins Nebenzimmer zu bemühn?«

Der Kommissar nickte und folgte Arndt ohne Zögern, nachdem er die Schutzleute angewiesen hatte, Frau Seidelmann keinen Augenblick aus den Augen zu lassen. Auch der Förster verfügte sich auf einen Wink des Detektivs mit hinaus.

»Ich bin wirklich gespannt, Herr Arndt«, lud der Beamte den Detektiv zum Reden ein.

Und Arndt begann. Seine Stimme zitterte dabei leicht vor innerer Erregung.

»Ich habe neulich, als ich bei Ihnen war, eine Einzelheit verschwiegen, eine Einzelheit, die freilich nicht für die Behörde, wohl aber für mich von der größten Wichtigkeit ist. Als ich vor einigen Tagen die Seidelmanns belauschte, bemerkte ich, daß sie dem Versteck nicht nur einen Pack Spitzen, sondern noch einen andern Gegenstand entnahmen: ein goldnes Armband.«

»So, so! Und was weiter? Ich sehe darin nichts Besondres.«

»Aber ich! Denn dieses Armband und die Geschichte, die damit zusammenhängt, sind die Veranlassung dazu, daß ich jetzt hier an dieser Stelle stehe.«

Ehrliches Erstaunen malte sich in den Zügen des Kommissars. Indessen fuhr der Detektiv in seinem Bericht fort.

»Das Armband ist verknüpft mit dem unglückseligsten Ereignis meiner Kindheit. Dieses Schmuckes wegen ist – ist meine Mutter schuldlos ins Gefängnis gekommen und dort in Jammer und Verzweiflung gestorben.«

Arndt schwieg, und der Kommissar war feinfühlend genug, dieses Schweigen nicht zu brechen.

»Als ich mich entschloß, Detektiv zu werden«, fuhr Arndt nach einer Weile fort, »bestimmte mich dazu vor allem das Streben, das Andenken meiner Mutter von schwerem Makel zu reinigen. Und Sie können jetzt vielleicht die Gefühle nachempfinden, die mich beherrschten, als ich dieses Armband, diesen Beweis für die Unschuld meiner Mutter, auf einmal in den Händen Seidelmanns erblickte.«

Der Kommissar schien scharf nachzudenken.

»Sie kannten den Schmuck von Ansehn?«

»Nein. Aber aus genauer Beschreibung. Das Armband ist einzig in seiner Art und nicht zu verkennen.«

»Wie lange ist die Geschichte her?«

»Einundzwanzig Jahre.«

»Das war zu Anfang meiner hiesigen Tätigkeit, und ich kann mich dunkel an einen solchen Fall erinnern. Nur der Name Arndt kommt mir fremd vor.«

»Mag sein. Ich habe den Namen Arndt auch erst später von meinen Adoptiveltern erhalten. Der Abstammung nach bin ich ein Hauser.«

Der Beamte machte eine Bewegung der Überraschung. Auch der Förster staunte.

»Hauser?« fragte der Kommissar. »Ja, jetzt weiß ich wieder Bescheid. Bitte, erzählen Sie mir die Angelegenheit noch einmal ausführlich!«

Arndt kam dem Verlangen des Kommissars bereitwillig nach, und als die Männer nach einer Viertelstunde das Zimmer wieder betraten, wo die Schachtel noch auf dem Tisch stand, glänzten die Augen des Kommissars in tiefer Bewegung.

Er trat schweigend an den Tisch, öffnete die Schachtel und entnahm ihr das Armband, doch so, daß es Frau Seidelmann nicht sehn konnte. Nachdem er es eine Weile betrachtet hatte, wobei er mehrmals wie bestätigend mit dem Kopf nickte, wandte er sich plötzlich der Frau zu.

»Wem gehört dieser Reif?«

Die Augen der Frau Seidelmann öffneten sich weit. Vor Erstaunen brachte sie keine Silbe heraus; und dieses Erstaunen schien echt, schien nicht geheuchelt zu sein.

»Nun, wem gehört dieser Reif?« wiederholte der Beamte seine Frage.

»Mir«, sagte die Frau jetzt langsam und gedehnt. »Mein Mann hat ihn mir vor vielen Jahren geschenkt. Aber nein, er kann es doch wieder nicht sein; denn er wurde mir schon am nächsten Tag gestohlen! – Und wie käme er auf einmal ...«

»Überzeugen Sie sich genau!«

Der Beamte gab ihr das Armband in die Hand, und sie prüfte es sorgfältig.

»Nun?«

»Es ist mein Eigentum«, erklärte sie bestimmt. »Es muß seit Jahr und Tag hier versteckt gewesen sein.«

»Ohne daß es entdeckt wurde? Auch von Ihnen nicht, etwa beim Großreinemachen?«

»Nein, auch dann nicht. Es war mir streng verboten, das Bild da an der Wand zu berühren, und ein Dienstbote durfte das Privatkontor überhaupt nicht betreten. Mein Mann ist sehr streng in solchen Dingen. Ich habe wirklich nicht gewußt, daß das Armband noch da ist.«

»Wissen Sie, wer es Ihnen damals gestohlen hat?« fuhr der Kommissar fort.

»Eine Angestellte unsres Hauses. Sie kam deswegen ins Gefängnis.«

»Und Sie ahnen den wahren Sachverhalt wirklich nicht?«

»Welchen Sachverhalt?« fragte sie verwundert.

Es war der Frau anzusehn, daß sie die volle Wahrheit sprach.

»Nun, so will ich Ihnen den Fall erklären. Dieses Schmuckstück ist überhaupt nie entwendet worden. Ihr Mann hat es heimlich auf die Seite gebracht, um Ihre Angestellte zu verdächtigen und unglücklich zu machen. Es war ein gemeiner Racheakt von ihm, weil die Betreffende seinen Nachstellungen auswich.«

Die Frau knickte unter diesen harten Worten zusammen und schlug die Augen nieder.

»Das – das kann nicht wahr sein!«

»Es ist wahr. Kennen Sie diesen Mann hier an meiner Seite? Er ist der Sohn jener armen Frau, die Ihr gewissenloser Mann in Schande und Tod getrieben hat. Ihm haben wir es zu verdanken, daß die Wahrheit in diesem und in andern Punkten endlich an den Tag gekommen ist. – Überhaupt scheinen derartige Verleumdungen in Ihrer Familie üblich zu sein. Erst kürzlich hat Ihr Sohn Fritz gegen einen unbescholtenen hiesigen Einwohner eine falsche Anklage erhoben, um ihn hinter Schloß und Riegel zu bringen. Dafür, daß dieser junge Mann unschuldig war, habe ich hier den Beweis. – Bitte, Herr Kollege, vergleichen, wir jetzt die Spitzen!«

Es zeigte sich, daß das Muster übereinstimmte und die beiden Stücke an den Schnittflächen genau zusammenpaßten.

»Sie feiern heut einen Triumph nach dem andern«, erklärte der Kommissar und drückte Arndt die Hand. »Es ist genau so, wie Sie sagten: Fritz Seidelmann hat dem armen Hauser die Spitzen in den Rock genäht und den ahnungslosen Burschen dann über die Grenze schicken lassen, um auf diese Weise seinen Nebenbuhler bei Fräulein Hofmann zu verderben.«

»Fritz? – Mein Fritz soll das getan haben?« jammerte die Frau. »Nein, nein, das kann nicht wahr sein! Er wird seine Unschuld beweisen!«

»Das dürfte ihm schwer werden«, knurrte der Förster, der bisher den Vorgängen im Haus Seidelmann mit verbissenem Schweigen gefolgt war. »Erstens ist er jetzt überführt, und zweitens hat ihn der Teufel wohl schon ...«

Eine abwehrende Handbewegung des Kommissars ließ den Alten verstummen. Er begriff, wie das gemeint war. Frau Seidelmann sollte nicht vorzeitig über das vermutliche Schicksal ihres Sohnes unterrichtet werden.

Es entstand ein drückendes Schweigen, bis der Kommissar wieder zu sprechen begann.

»Ich halte es für das richtigste, wir verhören hier an Ort und Stelle, auch angesichts der Frau, den Kaufmann Martin Seidelmann über die Spitzen, über das Armband und über ... nun über die Dinge, die sich noch weiter finden werden. Was meinen Sie, Herr Kollege? Am liebsten ließe ich Seidelmann hierherbringen.«

»Wenn es ohne Gefahr geschehn kann, bin ich auch dafür«, erwiderte Arndt.

»Ich schicke einen von den zwei Leuten, die mir noch zur Verfügung stehn, nach der Mühle und bestimme vier Mann zur Bedeckung. Auf diese Weise kann der Gefangne nicht ausbrechen.«

»Auch nicht unterwegs befreit werden?«

»Wer sollte das wagen? Die Pascher sind ja festgenommen.«

»Hm. Ob es alle sind, ist fraglich. Aber immerhin! Ich habe Ihnen keine Vorschriften zu machen, Herr Kommissar.«

»Gut. Ich lasse Seidelmann holen.«

Der Beamte gab einem Polizisten die entsprechenden Weisungen und steckte die Spitzen, den Zwirn und auch das Armband ein.

Inzwischen sah sich Arndt auf dem Schreibtisch um, blätterte in allerlei Papieren, die da umherlagen, und stutzte plötzlich. Ihm waren ein paar Musterzeichnungen nebst einem Zettel in die Hand geraten. Die Zeichnungen trugen den Vermerk ›Wilhelmi‹, und auf dem Zettel standen Anweisungen für Hausweber, die diese Muster verarbeiten sollten.

»Hier sehen Sie den Beweis dafür«, sagte Arndt, »daß Wilhelmi durchaus nach eigner Eingebung gearbeitet und brauchbare Entwürfe geliefert hat. Es ist Seidelmann nicht eingefallen, diese Muster als unverwendbar wegzuwerfen. Seine Beanstandungen beruhten auf Lug und Trug. Wilhelmi ist gerechtfertigt. Er wird sich freuen, das zu hören. – Und nun wollen wir uns weiter umsehn!«

Es ging jetzt hinunter in den Keller. Als Beleuchtung diente Arndts Blendlampe sowie die Laterne des Müllers, die der Kommissar von einem seiner Leute hatte mitnehmen lassen.

Arndt schritt als erster die Treppe hinab und leuchtete dabei aufmerksam die Mauer ab. Nach einigen Schritten blieb er stehn.

»Sehn Sie, hier kommen die zwei Drähte aus der Wand und gehn in den Keller hinunter! Wir brauchen ihnen nur zu folgen, so finden wir sicher den Stollen.«

Sie erreichten den Keller und wurden durch die Drähte zu der Tür geführt, durch die Seidelmann vermutlich seinen Weg zu nehmen pflegte, sooft ein Klingelzeichen Laubes das Buschgespenst zur Besprechung rief.

Arndt wandte sich an die Frau.

»Wohin führt diese Tür?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wirklich nicht?«

»Ich habe niemals den Schlüssel dazu gehabt, und mein Mann hat mir verboten, nach diesen Dingen zu fragen oder gar heimlich nachzuforschen.«

»Dann wird das Beil helfen müssen.«

Einer der Arbeiter sprengte die Tür auf. Ein finstrer Stollen gähnte den Männern entgegen.

»Nun, da haben wir ja, was wir suchen!« sagte Arndt. »Sind Sie wirklich niemals in diesem Gang gewesen, Frau Seidelmann?«

»Niemals.«

»So wissen Sie wohl auch nicht, was sich hier in dieser Kiste befindet?«

»Nein.«

»Gut. Sehn wir nach!«

Arndt öffnete den Deckel und zog den Inhalt hervor.

»Eine nette Bescherung!« meinte der Förster, der sich hinzugedrängt hatte. »Das ist ja eine ganze Diebes- und Schmugglerausrüstung! Wer hätte das bei den vornehmen Seidelmanns gesucht!«

Die Frau wendete sich ab. Sie wollte von alledem nichts sehn.

»Perücken und falsche Bärte«, fuhr Wunderlich fort. »Schwarze Masken, Bettücher – ah, Vetter Arndt, schauen wir doch einmal nach!«

Die Tücher waren alle mit M. T. gezeichnet, und als Arndt das letzte aus der Kiste zog und entfaltete, stieß Wunderlich einen lauten Triumphruf aus.

»Da, es stimmt! Hier ist die Ecke ausgerissen, die wir im Wald gefunden haben! Der eine Buchstabe auf unserm Zipfel, der andre hier – es ist gar kein Zweifel! M. T.! Das heißt Margarete Thonig. So lautet der Mädchenname der Frau Seidelmann. Der Beweis ist geführt: Einer der beiden Seidelmanns hat den Grenzoffizier erschossen!«

Da brach die Frau lautlos zusammen. Es entstand eine minutenlange Stille.

»Sie ist ohnmächtig«, sagte Arndt, der sich zu ihr niedergebeugt hatte. »Herr Kommissar, ich rate, wir lassen Ihren letzten Polizisten hier zurück, um den Eingang und die Ohnmächtige zu bewachen. Wir andern werden jetzt in den Stollen eindringen, das heißt, soweit es uns die Grubengase gestatten. Kommen Sie, meine Herren!«

Sie fanden den Weg noch recht gangbar. Die Luft war seltsamerweise nicht schlecht, und die beiden Laternen brannten ruhig und stetig und reichten zur Beleuchtung aus.

»Mir scheint, die Gase sind nach der andern Richtung, jenseits der Einbruchstelle, abgezogen«, meinte der Kommissar nach einer Weile.

»Ohne Frage«, antwortete Arndt.

»Aber wir sind noch nicht sicher.«

»O doch wohl! Ich denke, daß wir in kurzer Zeit – halt! Hören Sie nicht etwas?«

Sie blieben stehn. Es drang ihnen ein seltsamer Laut entgegen.

»Das klingt fast, als klagte da ein angeschossenes Wild«, meinte Wunderlich.

»Nein«, widersprach Arndt, »das ist das Stöhnen eines Menschen in ärgster Todesnot!«

»Herrgott! So liegen verunglückte Bergleute dort!«

»Kaum. So nahe am Kohlenwerk sind wir noch nicht. Mein Gott! Ich hatte ihn tot geglaubt! Aber das da – kann nur Fritz Seidelmann sein – das Buschgespenst! – Schnell weiter jetzt!«

Die Männer eilten vorwärts. Das Stöhnen wurde allmählich zum Geheul. Die Stimme war schon heiser und erfüllte den unterirdischen Raum mit einem unnennbaren Grausen.

»Hilfe, Hilfe!« erklang es. Der Mensch, der in dieser Weise schrie, mußte sich in höchster Not befinden oder die fürchterlichsten Qualen leiden. Dann ging das Schmerzgeheul in ein herzzerreißendes Wehklagen über.

Arndt, der den andern eine kurze Streck voraus war, mußte jetzt haltmachen. Er konnte nicht weiter, denn der Stollen war verschüttet. So kamen die andern Männer heran.

Arndt leuchtete den Boden ab und stieß einen Ruf des Entsetzens aus.

»Herr im Himmel! – Verschüttet!«

»Bis an die Brust!« fügte der Förster hinzu. »Und das Gesicht ist blau angeschwollen, fast unkenntlich!«

»Heran mit Hacke und Schaufel!« gebot der Detektiv.

Wortlos begann man zu arbeiten. Erde, Schutt und Steine flogen zur Seite. Der Verunglückte war verstummt; er hatte die Besinnung verloren.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis es gelang, den Körper freizulegen, und sogleich entstand den Rettern eine schwere Gefahr.

»Achtung!« warnte einer der Arbeiter. »Das Gestein bröckelt nach!– Zurück! Zurück!«

Man hob den Betäubten auf, und dann flohen die Männer so weit von der Unglücksstelle nach rückwärts, bis die Beschaffenheit des Stollens wieder Sicherheit zu gewähren schien.

Dort legten sie den Verschütteten nieder und leuchteten ihm ins Gesicht.

»Verschwollen und schwarzblau«, wiederholte der Förster.

»Ja, er sieht gräßlich aus«, stimmte Arndt zu. »Aber ich erkenne das Buschgespenst trotzdem, schon an der Kleidung; es ist Fritz Seidelmann. Er hat sich die Maske, die er als Buschgespenst trug, wohl bereits während der Flucht vom Gesicht gerissen. Die Brust bewegt sich; doch es geht zu Ende mit ihm. Beine und Unterleib sind ihm zerquetscht.«

»Und das hatte er Ihnen zugedacht!« murmelte der Förster. »Ja, ja, so geht es in der Welt. Der alte Gott lebt noch, und er ist ein gerechter Richter!«

Er wandte sich ab. Da legte ihm Arndt eine Hand auf die Schulter.

»Gehn Sie bitte voran, Vetter Wunderlich, und sagen Sie dem Polizisten, er soll sich mit der Frau in die Schreibstube zurückziehn! Wir müssen trachten, den Verletzten ins Haus zu schaffen, und ich möchte ihr die Qual ersparen, ihren Sohn in dieser Weise sterben zu sehn!«

»Hm! Da haben Sie vielleicht recht.«

»Nicht nur vielleicht. Übrigens gehören die letzten lichten Augenblicke dieses Verbrechers uns. Von seinem Vater wissen wir nicht, ob er weiterhin geständig sein wird. So müssen wir vorsichtshalber versuchen, vom Sohn etwas zu erfahren.«

Wunderlich ging. Die andern wollten warten, bis anzunehmen war, daß die Frau den Stollen verlassen hatte, und dann den Schwerverletzten ins Haus tragen. Aber es kam anders.

Fritz Seidelmann stieß plötzlich einen so entsetzlichen Schrei aus, daß alle erschrocken zusammenfuhren. Sie sahen zu ihm hin; er lag ruhig und bewegungslos, aber mit offenen Augen da. In seinem Blick spiegelte sich eine furchtbare Qual. Seine Zähne knirschten auseinander. Er hatte wohl nur diesen einen Schrei ausstoßen können; weiter reichten seine Kräfte nicht mehr.

»Er ist bei Besinnung«, sagte der Kommissar leise. »Wird er uns erkennen?«

Arndt kniete neben dem Verletzten nieder.

»Wissen Sie, wo Sie sich befinden?«

Fritz bewegte die schwarzblauen Lippen, brachte aber kein Wort hervor.

»Antworten Sie, indem Sie nicken oder den Kopf schütteln? Hören Sie, was ich spreche?«

Ein schwaches Nicken.

»Können Sie sich auf alles besinnen, was geschehn ist?«

Wieder ein Nicken.

»Sie haben nur noch wenige Augenblicke zu leben. Gehn Sie nicht als verstockter Sünder aus dieser Welt! Wir wissen alles, auch daß Sie und Ihr Vater das Buschgespenst gewesen sind. Beantworten Sie mir nur noch einige Fragen: Haben Sie Eduard Hauser die Spitzen in den Rock genäht, um ihn in Verdacht zu bringen?«

Der Sterbende nickte abermals.

Arndt wechselte einige rasche Worte mit dem Kommissar, dann wurde ein Arbeiter abgeschickt, der Frau Seidelmann kurz und schonend von dem Schicksal ihres Sohnes unterrichten sollte.

Hierauf wandte sich der Detektiv wieder an das entlarvte Buschgespenst.

»Wie steht es mit Ihrer Mutter? Wie weit war sie eingeweiht in Ihr und Ihres Vaters Treiben?«

Erneut versuchten die Lippen des Schwerverletzten, einige Worte zu formen. Der Kopf ging unruhig hin und her. Jeder fühlte, daß Fritz Seidelmann die größten Anstrengungen, machte, Antwort auf diese Frage geben zu können.

»Sie – nicht – schuldig!« brachte er plötzlich mühsam hervor.

Alle horchten überrascht auf. Keiner hatte erwartet, den Verschütteten noch ein Wort reden zu hören. Die Liebe zu seiner Mutter mußte, vielleicht als einzige edle Regung, tief in ihm verwurzelt sein.

»Verstehn Sie, was ich sage?« nahm der Kommissar angesichts dieser Wandlung der Sachlage sofort die regelrechte Vernehmung auf.

Fritz Seidelmann nickte.

»Sie sind das Buschgespenst gewesen?« lautete die nächste Erkundigung.

»Ja.«

»Sie und Ihr Vater?«

»Ja.«

»Und Ihr Onkel, der Rentner August Seidelmann, war in alles eingeweiht?«

Ein Kopfnicken.

»Ihr Vater hat in der Nähe des Forsthauses einen Grenzbeamten erschossen?«

»Ich – das – getan«, erklang es leise, aber bestimmt.

»Sie klagen sich selber an? Vermutlich wollen Sie nur Ihren Vater entlasten. Bedenken Sie, daß Sie am Rand des Grabes stehn, und bekennen Sie die Wahrheit! Ihr Vater war der Täter?«

Fritz Seidelmann schloß die Lider und antwortete nicht.

»Gut«, fuhr der Kommissar fort, »ich weiß, woran ich bin. – Unter den Sachen Ihres Vaters ist ein Armband gefunden worden, ein goldnes Armband in Form zweier ineinandergeringelter Schlangen. Erinnern Sie sich daran?«

Der Gefragte nickte wieder.

»Man hat vor Jahren eine Angestellte Ihres Hauses beschuldigt, diesen Schmuck gestohlen zu haben. Ist es richtig, daß das eine falsche Beschuldigung war, um die Frau, an der sich Ihr Vater rächen wollte, in Schaden zu bringen?«

»Ja.«

Arndt hörte dieses Geständnis mit unbeschreiblichen Gefühlen an. Er hätte weinen und im gleichen Augenblick vor Freude laut hinausschreien mögen: Mutter – –!

Der Beamte aber hielt in seinem Verhör inne. Er sah, daß der Kopf Fritz Seidelmanns jäh nach hinten sank. Die Lider hatten sich wieder geschlossen. Jetzt quollen dem Sterbenden einige rote Tropfen über die Lippen, denen bald ein dicker Blutschwall folgte.

Stumm blickten die Männer auf den verstümmelten Körper, durch den ein Zucken lief. Dann streckte sich der Leib; ein letztes sägendes Röcheln, und alles war aus. –

»Fritz Seidelmann ist tot«, sagte der Kommissar nach kurzem Stillschweigen. »Er war ein Verbrecher, aber sein Geständnis hat vieles wieder gutgemacht, was er im Leben verschuldete. Möge ihm Gott ein gnädiger Richter sein!«

»Amen«, fügte der Förster hinzu, der in Ehrfurcht vor dem Tod seinen Hut abgenommen hatte.

Auch die andern verharrten eine Weile in schweigender Andacht, bis nahende Schritte im Stollen sie aufhorchen ließen.

Arndt richtete seine Blendlaterne dem Kommenden entgegen. Es war einer der Polizisten, die in der Mühle zurückgeblieben waren.

»Was gibt es?« fragte der Kommissar.

In dienstlicher Haltung erstattete der Mann Bericht.

»Der Herr Kommissar hatte befohlen, den Kaufmann Martin Seidelmann gefesselt hierherzubringen. Wir haben nach dieser Weisung gehandelt, obwohl wir Bedenken hegten. Vor der Mühle hatte sich nämlich eine empörte Menge angesammelt, die Drohrufe gegen die Seidelmanns ausstieß. Es waren Leute aus dem Dorf, die vom Donner der Sprengung herbeigerufen waren, offenbar durchweg arme Weber. Als wir mit dem Gefangnen ins Freie traten, wich die Menge zurück, aber sie folgte uns und schloß uns schließlich ein. Vereinzelte Stimmen riefen, man müsse den Schurken auf der Stelle aufhängen. Wir mahnten zur Ruhe. Es nützte nichts. Da zogen wir blank. Das schien zu helfen. Im nächsten Augenblick aber fiel ein Schuß. Der Gefangne stöhnte auf und brach zusammen. Eine Revolverkugel war ihm in den Rücken gedrungen und vermutlich genau ins Herz gegangen. Er war sofort tot. Wir haben nichts versäumt und unverzüglich mehrere Verhaftungen vorgenommen, doch konnte bisher keiner aus der Menge im Besitz einer Schußwaffe ermittelt werden.«

Die Männer sahen einander an.

»Ihm ist recht geschehn«, erklärte Arndt hart.

»Einen so raschen Tod hat der Halunke nicht verdient«, knurrte der Förster.

Der Kommissar aber gab dem Polizisten einen Wink abzutreten.

»Es ist gut. Ich werde den Fall weiter untersuchen.«

Dann wendete er sich an seine Begleiter, »Kommen Sie, wir wollen den Toten in seine Wohnung tragen! Nun mag ihn die Mutter sehn, die er in seiner Sterbestunde noch gerechtfertigt und vor dem Zuchthaus bewahrt hat.« –


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