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8. Der Türke

Als Frau Hauser den Abendtisch abräumte, hörte man draußen das Schellengeläut vorüberfahrender Schlitten.

»Da kommen die Städter!« meinte der Weber.

»Das ›Kasino‹!« fügte seine Frau hinzu.

Bei diesen Worten warf sie einen besorgten Blick auf Eduard, der die Eltern in einer stillen Stunde doch noch in seine Herzensnöte eingeweiht hatte, ohne jedoch zu verraten, daß auch er selber den Kasinoball besuchen wollte.

»Wird Engelchen wirklich hingehn?« fragte ihn die Mutter.

Eduard gab sich Mühe, möglichst unbefangen zu erscheinen.

»Sie geht!« nickte er kurz.

»Das mag ein andrer verstehn«, seufzte die Mutter. »Das Mädchen ist doch sonst nicht so unvernünftig.«

Sie bekam keine Antwort, denn im selben Augenblick ging draußen die Haustür. Dann klopfte es, und – Nachbar Hofmann, Angelikas Vater, trat über die Schwelle.

»Guten Abend!« grüßte er, aber seine Stimme klang kalt und unfreundlich.

Hauser schob ihm höflich einen Stuhl an den Tisch.

»Setz dich, Nachbar, und sei uns willkommen!«

Hofmann trat zögernd näher und setzte sich wie einer, der sofort wieder gehn will, nur auf die vordere Hälfte des Stuhls.

»Danke? Ich will nicht stören und werde auch nicht lange bleiben.«

»Stören? Wo denkst im hin?«

»Ich komme nämlich nur, um zu fragen ...« Er stockte, denn es war ihm jetzt beinahe selber unangenehm, seine Sache vorzubringen. Doch er gab sich einen Ruck und überwand die anständige Regung. »Ich wollte – nach dem Holz wollte ich fragen.«

»Ah, nach dem Arm voll Holz, den du uns am Sonnabend geborgt hast?«

Es waren genau zwanzig Stück.«

»Ich dachte, die hätte dir Eduard neulich mit den Kohlen wiedergebracht.«

»Nein, mein Engelchen brachte mir die Hälfte wieder zehn Scheite waren vergessen.«

»Dann mag sie dir ein Kind hinüberbringen.«

»Aber bald! Ich brauche mein Holz selber notwendig. Besser ist es überhaupt, ich nehme es gleich mit.«

»Das ist eine Kränkung, Nachbar!«

»Kränkung oder nicht, es muß so sein. Sieh, Hauser, daß ich dir's nur gleich sage: es liegt mir nicht viel daran, wenn eins von euch zu mir hinüberkommt.«

Der alte Hauser horchte auf.

»Wie?« fragte er. »Dir liegt nicht viel daran? Das begreife ich nicht. Wir sind doch allezeit gute Nachbarn gewesen.«

»Das ist richtig und wir brauchen nun auch nicht grad Feinde zu werden; aber es führt zu nichts Gutem, wenn es so fortgeht wie bisher.«

»Wieso? Was meinst du damit?« erkundigte sich Hauser dem es peinlich war, daß solche Dinge hier vor den Kindern erörtert wurden, die mit offenen Mäulchen in den Ecken umherstanden.

»Das fragst du noch? Dein Eduard hat heut wieder mit meiner Angelika gesprochen. Ich verbiete es ihm hiermit ein für allemal. Er liebäugelt mit ihr. Das mag ich nicht dulden, denn er ist kein Mann für meine Tochter.«

»Ach so, das ist es? Nun, darüber kann ich allerdings nicht mit dir rechten. Du bist Angelikas Vater und hast über ihren Umgang zu bestimmen.«

»Das denke ich auch. Es freut mich, daß du das einsiehst. Übrigens hat mir Seidelmann verboten, mit euch zu verkehren.«

»Seidelmann? Was geht den das an?«

»Das ist wohl seine Sache. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß Angelika demnächst zu Seidelmanns ziehn wird.«

»Ist das ein Scherz? Was soll sie denn dort?«

»Sie bekommt da eine schöne Stellung.«

»Als was?«

»Als – hm, wie sagte Seidelmann nur gleich, als er mich gestern im Dorf ansprach? – Es ist etwas Besondres. Stütze der Hausfrau oder so.«

»Das verstehe ich nicht. Aber ich habe das Gefühl, als stimmte da etwas nicht ganz. Nachbar, ich möchte dich warnen!«

»Ich brauche weder eine Warnung noch einen Rat. Ich weiß selber, was ich zu tun und zu lassen habe.«

Damit schnitt Hofmann jede Erwiderung kurz ab. Das Ehepaar Hauser, das solcher Grobheit gegenüber wehrlos war, stand starr und stumm und sah schweigend zu, wie sich der Nachbar zum Gehn wendete.

In diesem Augenblick gab die Liebe zu seinem Engelchen dem jungen Hauser den Mut, in die Auseinandersetzung einzugreifen. Vielleicht befähigte ihn auch nicht allein seine Liebe dazu. Vielleicht hatte Arndt der Mann, der das Buschgespenst fangen wollte, den männlichen Stolz in Eduard wachgerüttelt, indem er den Burschen aus drückender Not herausriß und ihm, der bisher von seinem Wert nicht sonderlich überzeugt sein konnte, den wichtigen Posten eines Helfers übertrug.

Wie dem auch sein mochte, Eduard trat vor und hielt Angelikas Vater mit rascher Gebärde zurück.

»Weiß Engelchen schon, daß sie zu Seidelmanns in Dienst gehn soll?«

»Nein. Ich hab's ihr noch nicht gesagt und ich möchte mir streng verbitten, daß du dich da irgendwie einmischt. Du hast gehört, was ich deinem Vater mitgeteilt habe. Meine Tochter geht dich nichts an. Warum fragst du überhaupt?«

»Weil ich mir denke, daß sie nicht einwilligen wird.«

»Du mußt das ja sehr genau wissen.«

»Ich meine, Engelchen wird sich nicht leichtsinnig einem bösen Gerede aussetzen.«

»Sprich nicht von Leichtsinn, Bursche!« brauste Hofmann auf. »Der Lohn, den Angelika bei Seidelmanns bekommt, ist mitzunehmen und was das böse Gerede betrifft, so hat sich meine Tochter am meisten dadurch geschadet, daß sie mit dir verkehrte.«

Er bückte sich am Ofen nieder, zählte zehn Scheite Holz ab, nahm sie unter den Arm und ging wortlos zur Tür hinaus.

Eduard starrte ihm nach, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. Die Mutter war dem Weinen nahe, und der Vater ließ die geballte Faust schwer auf die Tischplatte fallen.

»Nun ists aber genug«, grollte er. »Jetzt ist Schluß mit den Hofmanns. Merk dir das, Junge!«

Eduard wollte widersprechen. Da packte ihn die Mutter, die einen häuslichen Auftritt befürchtete, beim Arm und schob ihn sanft zur Tür.

»Geh ein wenig an die Luft, Eduard, und beruhige dich!« bat sie. »Mußt die Zähne zusammenbeißen und tapfer sein. Geh!«

Eduard gehorchte. Es trieb ihn ohnedies fort; er wollte doch trotz allem und allem das Engelchen an diesem unglücksseligen Abend beschützen.

Aber er fand noch nicht den Mut, das Türkengewand anzuziehn. Erst noch einmal Ausschau halten, wie es in der Schenke steht, dachte er und schritt nachdenklich die Dorfgasse hinab.

Als er zum Wirtshaus kam, sah er, daß es da schon lustig zuging. Der Saal war hell erleuchtet. Musik erschallte. Die Gaststube schien überfüllt zu sein.

Langsam kehrte Eduard um. Ihm graute mit einemmal vor dem lauten Treiben dieses Abends, so daß er am liebsten daheimgeblieben wäre in seiner Kammer. Indes der Gedanke an Engelchen peitschte ihn wieder auf. Er durfte sie nicht ohne Schutz lassen.

Während er so grübelte, kam ihm plötzlich eine weibliche Gestalt entgegen, tief in ein weites Tuch gehüllt; sie wollte schnell an ihm vorüber, aber er erkannte sie doch.

»Engelchen!« rief er.

Doch sie hörte nicht. Da eilte er ihr nach und ergriff sie am Arm.

»Angelika, auf ein Wort nur! Ich habe etwas über dich gehört, was ich nicht glauben kann. Willst du wirklich zu Seidelmanns ziehn?«

»Zu Seidelmanns?« fragte sie überrascht. »Was soll ich dort?«

»Stütze der Hausfrau werden!«

»Wer hat das gesagt?«

»Dein Vater. Er war vorhin bei uns.«

»Bei euch?« Das Staunen hielt Angelika fest. Sie schien in diesem Augenblick ihren Trotz fast vergessen zu haben. »Was wollte er bei euch?«

»Das restliche Holz zurückfordern, das wir vergessen hatten. Vor allem aber hat er mir verboten, jemals wieder mit dir zu sprechen.«

»Von alledem weiß ich kein Wort.«

»Nun, so erfährst du es jetzt. Wahrscheinlich berührt es dich mich gar nicht weiter. Du magst doch sowieso nichts mehr von mir wissen.«

»Hat das mein Vater auch gesagt?«

»Nein. Das brauchte auch niemand zu sagen; das merke ich schon selber. Du gehst ja zum Maskenball.«

»Natürlich!«

»Also habe ich doch recht: ich bin dir gleichgültig. Sonst könntest du mir nicht so weh tun.«

»Das ist kleinliche Eifersucht.«

»Nicht doch, Engelchen! Es ist Sorge um dich. Glaub mir, Engelchen, du paßt nicht auf dieses Fest!«

Verletzt warf sie den Kopf in den Nacken.

»Meinst du etwa, das ›Kasino‹ sei für mich zu fein?«

»Ach, du willst mich mißverstehn! Ich meine natürlich, du findest dort deine Kreise nicht!«

»Wenn sie es nicht sind, können sie es doch noch werden«, sagte sie gereizt. »Gute Nacht!«

Damit eilte sie fort. Das Band zwischen den beiden junges Menschen war wieder zerrissen.

Eduard Hauser schritt gesenkten Hauptes die Straße hinauf. In ihm war alles tot und leer. Die einzige Regung seiner flügelmatten Seele war in diesem Augenblick ein grimmiger Zorn gegen den kecken Menschen, der es gewagt hatte, das Engelchen auf den Maskenball zu locken.

In solcher Stimmung betrat er das väterliche Heim, hörte, daß die jüngeren Geschwister und die Beyer-Kinder schon in den Betten lagen, und fand die Eltern gerüstet, ebenfalls zur Ruhe zu gehn. So wurde es ihm nicht schwer, auch weiterhin unbehelligt zu bleiben und das Haus noch einmal zu verlassen. Er holte das Türkenkostüm aus dem Versteck, zog es im Holzschuppen an, band sich die Maske vor, nahm einen alten Wetterkragen um, der im Flur hing und meist von Vater Hauser benützt wurde, und begab sich zum zweitenmal ins Unterdorf, wo die Schenke stand.

Angelika hatte hier bereits die ersten Eindrücke dieses bedeutsamen Abends hinter sich. Sie war sehr selbstbewußt ins erste Stockwerk hinaufgestiegen und hatte sich dort von einer Garderobefrau das große Umschlagtuch abnehmen lassen. Vom Saal her hörte sie Musik und Stimmengewirr. Als sie sich umdrehte, sah sie plötzlich durch ihre Maske hindurch in einem hohen Wandspiegel ihr Bild.

Sie stutzte, musterte die eigene Gestalt in dem leichten Maskenkleid und spürte ein jähes Zittern in allen Gliedern.

Ein seltsames Gefühl beschlich sie, etwas wie Reue darüber, daß sie der Einladung eines Unbekannten so blind gefolgt, war. Ihr dämmerte die Erkenntnis, daß sie hierher nicht paßte.

Warum hatte man sie eigentlich aufgefordert? Die Kreise, die sich hier vergnügen wollten, schlossen sich doch sonst ängstlich ab gegen die ärmere Klasse der Weber und Tagelöhner. Warum rief man sie, die doch auch nur die Tochter eines armen Webers war, sie, der die Seidelmanns die Stelle einer Dienstbotin in ihrem Haus antragen ließen?

Diese Fragen wirbelten Angelika mit einemmal durch den Kopf, und sie fand nur eine Antwort darauf: weil du hübsch bist und den jungen Herren vom ›Kasino‹ ein gefälliges Spielzeug für ein paar müßige Stunden zu sein scheinst.

Als sie so weit war, brannte ihr die Röte der Scham im Gesicht. Am liebsten hätte sie von der Frau, die mit einem eigenartigen Lächeln hinter ihr stand, das Umschlagtuch zurückgefordert und wäre davongelaufen. Dazu aber brachte sie den Mut nicht auf, und so verharrte sie schweigend und unsicher zwischen Treppe und Saaleingang.

Da plötzlich tat sich die Tür zum Saal auf, ein Herr in der schneidigen Maske eines Reiteroffiziers trat heraus, hob überrascht den Kopf und eilte mit schnellen Schritten auf Angelika zu.

»Ah, da sind Sie ja, meine schöne Freundin! Endlich!«

Er erhaschte die Hand des Mädchens und küßte ihr ritterlich die Fingerspitzen. Sie ließ es verwirrt geschehn. Solche Huldigungen war sie nicht gewöhnt. Da legte der Offizier – es war Fritz Seidelmann, dessen Züge hinter einer seidenen Maske nicht zu erkennen waren – Angelikas Arm in den seinen und zog sie mit sich fort.

»Ich habe mit Sehnsucht auf dich gewartet, schöne Italienerin«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Hörst du, die Musik ruft zum Walzer! Dieser Tanz gehört natürlich mir.«

Angelika ging nicht freiwillig mit dem Unbekannten, aber sie wehrte sich auch nicht. Sie war wie eine Puppe, die nicht fühlt, was mit ihr geschieht. Als der Lichterglanz des Saales durch die Öffnungen der Maske ihre Augen blendete, blieb sie stehn. Ringsum gewahrte sie tanzende Paare, Herren und Damen in bunten, oft seltsamen Kostümen, alle mit Masken vor den Gesichtern. Die Geigen lockten. Ein Kichern, Schwatzen und Lachen fröhlicher Stimmen war in dem weiten Raum.

Da legte der fremde Mann den Arm um Angelika und glitt mit ihr im Tanz in die lustige Menge hinein. Dabei fand das Mädchen Zeit, ihre Gedanken ein wenig zu sammeln, und als die Musik schwieg, hatte sie die erste Frage für ihren Tänzer bereit.

»Sie wissen, wer ich bin?«

»Gewiß. Fräulein Angelika Hofmann.«

»Sie haben mich an meinem Kostüm erkannt? Also sind Sie es, der mich eingeladen hat?«

»Ist alles richtig«, nickte er, während er sie an der Längsseite des Saales hinführte.

»Darf ich nun auch Ihren Namen erfahren?« bat sie.

»O nein!« wehrte er ab. »Damit würden Sie sich und mir ja die Überraschung verderben, die für die Mitternachtsstunde vorbehalten bleibt. Um zwölf Uhr werden die Masken gelüftet.«

Sie schwieg. Die Nähe des fremden Mannes bedrückte sie wie die ganze ungewohnte Umgebung. Freilich gefiel ihr auch die glänzende Pracht dieses Festes, bei dem ein Aufwand gemacht wurde, der für Hohenthal ganz außerordentlich war. Der Reiteroffizier führte sie zu einem kleinen Tischchen, ein wenig abseits von der Tanzfläche. Hier stand Wein in einem Kühler bereit, zwei Gläser dabei. Angelika mußte mit ihrem Tänzer auf einen fröhlichen Abend und auf gute Kameradschaft anstoßen. Der Wein ging ihr sogleich wie ein Feuerstrom durchs Blut. Sie kannte solche Getränke bisher nur vom Hörensagen.

Nun begann der Unbekannte eine leichte Plauderei mit ihr. Ob sie gern gekommen sei, ob es ihr gefiele, ob die Eltern sie bereitwillig fortgelassen hätten. Angelika bejahte alles.

Dann kam eine schwierige Frage.

»Und was hat Ihr Herzallerliebster dazu gesagt?« erkundigte sich Fritz Seidelmann.

Angelika senkte den Kopf. Sie wußte, daß diese Anspielung ihrem Nachbarsohn Eduard Hauser galt. Irgendwie empörte sie das.

»Nun?« drängte ihr Tänzer. »Wie hat er es aufgenommen?«

Da richtete sich Angelika trotzig auf.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe keinen Herzallerliebsten.«

»Wirklich nicht?« lächelte der Offizier hinter seiner Maske. »Mich sollte es freuen, wenn Sie die Wahrheit sprächen. Dann wären Sie frei, dann könnte ich mich Ihnen als Ritter anbieten. Wie wäre es? Einverstanden, mein gnädiges Fräulein?«

Mein gnädiges Fräulein – Wie das klang? Das unerfahrene Mädchen war damit leicht zu blenden. Welch eine prächtige Maske er trug, und wie die Ringe an seinen Fingern funkelten!

»Ja!« sagte sie leise.

»So kommen Sie!«

Wieder führte er sie zum Tanz und hinterher zu einem Schanktisch, wo abermals Wein und andre Erfrischungen zu haben waren. Sie mußte süßen Wein versuchen und von Leckereien kosten, die sie in ihrem Leben noch nicht gesehn hatte.

Hier saßen und standen auch andre Paare umher, und die Unterhaltung wurde allgemein. Scherze flogen von Gruppe zu Gruppe, von Tisch zu Tisch. Angelika glich in dem festlichen Treiben einer Traumwandlerin. Sie sah nichts und hörte nichts, und doch saugte sie alles in ihre hungrige Seele ein: den verschwenderischen Lichterglanz, die Flitterpracht der Kostüme, die sorglose Heiterkeit ringsum, die Musik. Oh, wer doch auch so reich und vornehm sein und immer an solchen Vergnügungen teilnehmen könnte, dachte sie!

Verstohlen musterte sie ihren Tänzer, dem sie das alles hier verdankte. Wer war er nur? Aber sie vermochte es nicht zu erraten; doch bemerkte sie, daß er in diesem Kreis etwas zu gelten schien.

Wortlos saß sie an seiner Seite und ließ es sich gefallen, daß er ihre Hand in der seinen hielt.

Plötzlich aber ließ er sie los und wies auf einen Türken, der soeben am Eingang aufgetaucht war.

»Endlich!« sagte er und erhob sich schnell. »Ich glaubte schon, er käme nicht mehr!«

»Wer?« fragte Engelchen.

»Der dort an der Tür, ein Freund von mir. Entschuldigen Sie mich, bitte, einen Augenblick!«

Er schritt durch den Saal, auf den Türken zu und drückte ihm die Hand.

»Na, da bist du ja! Wie bist du denn hergekommen?«

Eduard Hauser fühlte sich in seiner Verkleidung und in der fremden Umgebung durchaus nicht wohl und wurde das Gefühl nicht los, daß dieser Abend unglücklich enden werde. Als er aber den Reiteroffizier auf sich zusteuern sah, riß er sich zusammen. Sein Hirn arbeitete fieberhaft. Aus der Anrede des Fremden schloß er, daß er einen guten Freund Strauchs vor sich hatte, der sogar wußte, welche Maske Strauch tragen wollte. Er beschloß, so gleichmütig wie möglich aufzutreten.

»Es paßte grad«, lachte er frisch, »daß ich mit einem nach Hohenthal fahrenden Geschirr fortkam. Sonst wäre ich allerdings in Verlegenheit geraten.«

Er war schon öfter bei Strauchs gewesen und wußte, daß der junge Strauch ein wenig mit der Zunge anstieß; das ahmte er nach, so gut es gehn wollte. Übrigens wurde ja seine Stimme durch den Seidenbehang der Larve verändert und fast unkenntlich.

»Du bist ein fabelhaft echter Türke!« meinte der Offizier. »Bin wirklich neugierig, ob dich wenigstens deine Marie erkennen wird. Aber sag, wo hast du deine Ringe? –«

»Abgezogen«, redete sich Eduard rasch heraus.

»Aha, du Schlaukopf! Man könnte dich sonst daran erkennen!«

Eduard Hauser ließ einen schnellen Blick über die beringten Hände des andern gleiten. Deutete dieser Siegelring am Mittelfinger der rechten Hand nicht auf Fritz Seidelmann?

»Du bist heut schwerfällig wie ein Klotz!« murrte der andre vorwurfsvoll. Doch dann dämpfte er die Stimme. »Du fragst ja gar nicht, ob ich's erreicht habe!«

Erreicht? überlegte Eduard flink. Was erreicht? Handelte es sich etwa um Engelchen? Jedenfalls durfte er nicht mit der Tür ins Haus fallen; er mußte vorsichtig sein.

»Hm!« brummte er. »Nach deiner Stimmung zu urteilen, ist alles in schönster Ordnung.«

»Ists auch. Wie gefällt sie dir?«

»So leidlich!«

»Leidlich? Bist du blind? Vergleiche sie doch mit den andern! Sie ist unbedingt die Schönste hier! In diesem Kleid erkennt man erst ihre Schönheit.«

Eduard hustete. Er brachte keine Silbe über die Lippen. Er hätte den dreisten Menschen niederschlagen mögen. Freilich, jetzt erst sah er ja selber, wie schön Angelika war – und grad heut sollte er sie verlieren ...

»Was hüstelst du so spöttisch?« fragte Seidelmann. »Du hast Fischblut in den Adern. Ich aber sage dir: sie macht mich ganz verrückt! Ich werde alles dransetzen, sie zu gewinnen. Übrigens wird sie bald ständig in unserm Haus sein, als Stütze der Hausfrau. Ich habe dem Vater diesen Vorschlag gemacht.«

Jetzt wußte Eduard, daß er in der Tat mit dem jungen Seidelmann sprach.

»Wird sie denn auch in euer Haus kommen wollen?« erkundigte er sich scheinbar ruhig und gelassen.

»Was heißt wollen!« wehrte Seidelmann mit bezeichnender Geste ab. »Ihr Vater ist einverstanden, also wird sie sich fügen müssen. Außerdem« – er machte die Gebärde des Geldzählens – »außerdem soll es ja nicht umsonst sein. Alles in allem, du kannst mir glauben, daß ich mit dem Mädchen fertig werde. Noch heute abend bekommt sie den ersten Kuß von mir.«

»Das wäre ...«, fuhr Eduard auf. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »...das wäre freilich ein glatter Sieg«, ergänzte er den Satz, der ursprünglich ganz anders lauten sollte.

Seidelmann lächelte geschmeichelt.

»Ja, ein glatter Sieg, lieber Freund. Du kannst uns ja unauffällig beobachten. Vielleicht gelingt es dir, Zeuge meines Erfolgs zu sein.«

Damit brach er das Gespräch ab, um wieder zu Angelika zurückzukehren. Eduard aber verlor sich im Getriebe um den Schanktisch.

Er befand sich in einer unbeschreiblichen Stimmung. Ihn quälte die Sorge um Engelchen, ihn folterte der mühsam zurückgedämmte Grimm gegen Fritz Seidelmann, der mit dem ahnungslosen Mädchen ein unwürdiges Spiel trieb, ihn beengte die fremde Umgebung, die ihn dazu nötigte, sich lustig und heiter zu geben, während es in seinem Innern ganz anders aussah.

Ab und zu trank er ein Glas Wein, vom Tanz aber hielt er sich fern. Mochten die andern von dem sonderbaren Türken denken, was sie wollten! Er fühlte sich einfach nicht imstande, mit einem fremden Mädchen zu plaudern und zu scherzen. Außerdem sah er, daß er es in der Tanzkunst mit den Paaren dieses Festes nicht aufnehmen konnte. So trieb er sich scheinbar planlos umher und beobachtete in der Hauptsache verstohlen das Engelchen und ihren Ritter.

Die Eindrücke, die er dabei empfing, waren ganz dazu angetan, seine Sorge und seinen Grimm zu vermehren und in ihm den Entschluß reifen zu lassen, dem geliebten Mädchen, wenn es sein mußte, mit einer raschen Tat beizuspringen. Was daraus werden würde, danach fragte er nicht.

Und gerade das war es, was Arndt, der reife, erfahrene Mann befürchtet hatte. Die Dinge kamen wirklich so, wie sie Arndt vorausgesehn hatte.

Eduard Hauser erhaschte den Augenblick, da Fritz Seidelmann seine Italienerin am Arm aus dem Saal führte. Mit einem Husch war der Türke noch vor ihnen zur Tür hinaus und machte sich im Garderobevorraum zu schaffen. Dieser Raum bildete zwischen den Kleiderständern und der Treppe einen Winkel, wo sich ein Mensch recht wohl verstecken konnte.

Dort verbarg sich Eduard in der Hoffnung, Angelika und Seidelmann würden auf dem freien Platz vor ihm eine Zeit verweilen. Hier waren sie ungestört, worauf Seidelmann natürlich Wert legte. Die Garderobefrau schlief auf ihrem Stuhl, die Hände gefaltet, den Kopf tief auf die Brust gesenkt.

Jetzt trat das Paar durch die Flügeltür. Angelika Hofmann wollte die Treppe hinabsteigen. Da hielt Seidelmann sie zurück.

»Nicht doch! Was wollen Sie da unten? Dort würde Ihre Maske nur die Augen der Neugierigen auf sich ziehn. Außerdem könnten Sie sich bei der scharfen Luft in Ihrem leichten Kleid eine Erkältung holen. Bleiben wir doch hier!«

Das Mädchen zögerte und holte tief Atem.

»Mir ist so wirr im Kopf«, klagte sie.

»Das kommt vom Tanzen und vom Weintrinken«, beruhigte er sie. »Mir geht es genau so. Nehmen Sie doch die Maske ab! Das wird Ihnen Erleichterung schaffen.«

Sie gehorchte.

»Es war entsetzlich heiß da drinnen«, seufzte sie.

Er sah ihr entzückt in die Augen, die nun nicht mehr verhüllt waren.

»Sie sind es nur nicht gewöhnt, zu tanzen und zu trinken«, wollte er sie belehren. »Ihr Vater ist kein Freund von Vergnügungen, und dann fehlt Ihnen wohl auch das Geld dazu. Verzeihen Sie, das sollte keine Taktlosigkeit sein. Ich meine es so: Wenn Sie erst ganz in unserm Haus sind, wenn Sie sich ...«

»In Ihrem Haus?« fiel ihm Angelika in die Rede.

Er erkannte seine Voreiligkeit, wollte sich verbessern, beschloß aber zuletzt, einfach offen zu sein.

»Ja, in unserm Haus«, sagte er. Dann nahm er kurzerhand die Maske ab. »Ich will Ihnen zeigen, mit wem Sie reden. Ich bin Fritz Seidelmann.«

Engelchen erblaßte für eine Sekunde. Doch schon im nächsten Augenblick kehrte das Blut um so heißer in ihre Wangen zurück.

»Herr Seidelmann!« rief sie überrascht.

»Pst, Kind! Nicht so laut! Man darf uns hier nicht hören. Niemand soll doch wissen, daß wir beide ...«

Er brach ab vor dem entsetzten Ausdruck in ihrem Gesicht.

»Bitte«, sagte sie leise, aber bestimmt, »lassen Sie mich gehn!«

»Wohin denn?« stammelte er. »Zurück in den heißen Saal?«

»Nein. Ich muß heim.«

Sie wollte sich von ihm freimachen. Er aber hielt sie fest. »Bleiben Sie wenigstens noch einen Augenblick«, bettelte er. »Bleiben Sie, bis Sie alles gehört haben, was ich Ihnen sagen muß! Seien Sie aufrichtig! Fürchten Sie sich vor mir?«

Sie blickte ihm fest ins Gesicht.

»Nein.«

»Nun, warum wollen Sie dann fliehn?«

»Weil ich nicht zu Ihnen gehöre.«

»Nicht zu mir gehören? Was heißt das? Ich liebe Sie, Angelika. Gehören Liebende nicht zueinander?«

»Das ist eine Redensart. Ich glaube Ihnen nicht.«

»Soll ich Ihnen Beweise bringen?«

Angelika war plötzlich sehr ernst geworden. Es kam wie eine Ernüchterung über sie. Sie sah das Gesicht des jungen Kaufmanns hart neben dem ihrigen und sah, wie seine Augen mit einem seltsamen Ausdruck auf sie gerichtet waren. Diese Augen brachten sie zu der Erkenntnis, daß die Warnung Eduards doch wohl guten Grund gehabt hatte. Sie schämte sich, und eine tiefe Glut übergoß ihr Gesicht und Nacken.

»Herr Seidelmann, lassen Sie mich!« bat sie tapfer. »Ich wiederhole, daß ich nicht zu Ihnen passe. Ich bin arm, und Sie sind reich.«

»Ach«, flammte er auf. »Was gilt mir aller Reichtum vor dir? Ich werde dir beweisen, wie lieb ich dich habe. Hat dir dein Vater noch nicht gesagt, worüber ich mit ihm gesprochen habe?«

Angelina zuckte zusammen. Sollte seine Liebe in der Tat so groß sein, daß er schon bei ihrem Vater um sie angehalten hatte? Stolz und Eitelkeit verdunkelten noch einmal ihre bessere Einsicht.

»Sie haben – bei meinem Vater – um meine Hand ...«, stotterte sie.

»Nein, nein!« unterbrach er sie verlegen. »Erst mußten wir beide doch einig sein, nicht wahr? Aber ich habe von etwas anderm mit ihm gesprochen!«

Sie blickte ihn stumm und erwartungsvoll an; sie dachte dabei an Eduard, dachte daran, wie anders seine werbende Liebe sich zeigte.

»Möchtest du nicht immer in meiner Nähe sein?« flüsterte Seidelmann ihr zu.

»Wie meinen Sie das?« fragte Angelika zurück.

»In irgendeiner gutbezahlten Stellung in unserm Haus!«

Langsam wich die Farbe aus ihrem Gesicht. Das also – das war seine Liebe?

»Nein!« sagte sie kalt.

»O doch! Dein Vater hat es mir schon zugesagt!« trumpfte er auf.

»Als Dienstmädchen?«

»Aber Angelika – sprich doch nicht so! Ich meine, als Hilfe meiner Mutter! Eine junge Dame in dieser Stellung kommt gleich nach der Hausfrau. Sie gehört zur Familie. Denk doch!« schmeichelte er. »Dann sehn wir uns alle Tage, und du bekommst zweihundert Mark Gehalt im Jahr!«

»Zweihundert Mark?« In dieser Frage lag schon alles, was sie zu erwidern hatte. Er aber hörte nicht darauf.

»Und von mir erhältst du heimlich noch ebensoviel!« versicherte er. »Eben, weil ich dich liebe! Weil ich dich zur Frau begehre! Aber dieser Wunsch kann jetzt leider noch nicht in Erfüllung gehn, da die Eltern vorläufig nichts davon wissen dürfen. Auch kennen wir beide uns noch zu wenig. Wir müssen uns erst noch mehr aneinander gewöhnen. Und daß das ohne Aufsehn geschehn kann, darum sollst du in unser Haus ziehn! Überleg einmal: dann können wir abends heimlich miteinander plaudern!«

Engelchens Augen flammten auf. Entrüstung, Scham und Abscheu trieben ihr das Blut ins Gesicht. Stand sie wirklich so tief, daß man ihr das zu bieten wagte?

»Das also war Ihre Absicht?« fragte sie. »Mich kaufen für vierhundert Mark jährlich?«

Sie schob Seidelmann mit einem Ruck beiseite. Wütend sah er sie an.

»Was? Du schlägst mein Angebot aus?« knirschte er.

Angelika mußte all ihren Mut zusammennehmen.

»Lassen Sie mich fort!« drängte sie.

Da hatte er sich plötzlich gefaßt.

»Noch eine kleine Minute!« widersprach er. »Die werden Sie mir schon gewähren müssen. Denn Sie werden mir doch zugeben, daß ich ein gewisses Anrecht an Sie habe, mein Fräulein.«

Mit beißendem Hohn betonte er jetzt das ›Sie‹ und das ›Fräulein‹.

»Ein Anrecht?« staunte Angelika, die solcher Art nicht gewachsen war.

»Ja, meine verehrte Dame, ein Anrecht! Ich habe Sie ins ›Kasino‹ eingeladen, in eine vornehme Gesellschaft, in die Sie sonst nie gekommen wären, und das Kleid, das Sie tragen, habe ich bezahlt.«

Angelika stand dieser Beleidigung zunächst ratlos gegenüber.

»Ich habe Sie – ja nicht – darum gebeten!« stammelte sie dann.

Er lachte roh auf.

»Aber Sie haben es angenommen, mein Schatz! Und Sie werden auch noch das andre annehmen, dessen bin ich sicher.«

Das geängstigte Mädchen wußte nicht mehr aus und ein. Sie drängte nach der Treppe, ohne an ihr Umschlagtuch zu denken. Und hätte sie daran gedacht, so hätte sie sich geschämt, jetzt die schlafende Garderobefrau zu wecken.

»Ich will fort!« bettelte sie unter Tränen.

Da pflanzte sich Fritz Seidelmann dreist vor ihr auf.

»So? Sie wollen fort? Nun, so muß ich Ihnen vorher noch etwas sagen. Meinetwegen gehen Sie! Aber ich mache Sie auf die Folgen aufmerksam. Sie wissen, daß ich als Verleger Ihren Vater in der Hand habe. Wenn Sie mein Entgegenkommen in dieser Weise mißachten, können Sie mit Ihren Leuten betteln gehn. Dann gibt es keine Arbeit mehr bei uns für Ihre Familie. Dann erleben Sie, was die Hausers bereits erleben mußten. Dann sitzen Sie auf der Straße.«

Die Hausers! Dieses Wort gab Angelika die volle Besinnung und all ihren Mut zurück.

»Jetzt zeigen Sie Ihr wahres Gesicht, Herr Seidelmann!« kam es mutig von ihren Lippen. »Jetzt offenbaren Sie Ihren wahren Charakter! Gewiß, die Hausers und wir, wir sind nur arme Weber. Aber wir haben doch unsre Ehre. Die lassen wir uns von keinem rauben, auch von Ihnen nicht. Sie spielten vorhin auf Eduard Hauser an. Gut, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Er ist mir in der Tat lieb und wert. Er ist tausendmal besser als Sie. Nie wäre er einer gemeinen Handlungsweise fähig. Er hat mich vor dem Maskenball gewarnt, aber ich habe nicht gehört. Nun trage ich die Folgen davon. Aber Sie können sicher sein, nun weiß ich auch Bescheid. Ein zweites Mal verlocken Sie mich nicht. Sie sind kein Ehrenmann, Sie sind ein Schurke ...«

Seidelmann stand bleich vor Zorn, die Fäuste geballt. Er sah, daß die schlafende Garderobefrau von Angelikas lautem, erregtem Sprechen erwacht war und alles mit anhörte. Das raubte ihm vollends die Besinnung. Er wollte auf Angelika zuspringen. Da legte sich plötzlich eine Hand derb auf seine Schulter.

»Laß das Mädchen in Ruhe, Seidelmann!« sagte eine männliche Stimme streng und gebietend.

Seidelmann fuhr herum.

»Strauch! Alle Teufel! Was fällt dir ein? Du bist wohl betrunken? Siehst du denn nicht, daß das dumme Frauenzimmer ...«

Der Türke stellte sich breitbeinig vor Seidelmann hin und hielt ihm die Faust vor die Nase.

»Noch ein solches Wort, das mir nicht gefällt und ich lehre dich, wie man mit einem anständigen Mädchen umgeht!«

»Aber Strauch!«

»Ach was, Strauch! – Die Komödie hat ein Ende!« Eduard riß sich die Maske vom Gesicht. »Schau her, ich bin ...«

»Eduard!« schluchzte Angelika. »Du? – Oh, dem Himmel sei Dank!«

Fritz Seidelmann starrte den Türken an, als sähe er ein Gespenst. Dann aber sprang er mit einem Wutschrei auf ihn zu.

Eduard hatte das erwartet. Er schob das Mädchen mit der Linken beiseite und stieß den Angreifer mit der Rechten zurück.

Der Webersohn war auf diesen Ausgang der Auseinandersetzung vorbereitet, denn er hatte in seinem Winkel neben der Treppe jedes Wort mit angehört, das zwischen Seidelmann und Angelika gewechselt wurde, und es hatte ihn mehr als einmal gewaltige Anstrengung gekostet, nicht plötzlich hervorzutreten und dem unverschämten Menschen, der das Mädchen so peinigte, ein paar derbe Worte zu sagen. Noch lieber hätte er ihn gleich am Kragen gepackt und die Treppe hinabgeworfen.

Aber der heimliche Lauscher beherrschte sich. Die Gewißheit, daß da noch mehr kommen würde, daß es noch mehr Beweise der Flegelhaftigkeit Seidelmanns zu sammeln galt, legte seiner Ungeduld Zügel an. Außerdem dachte er bei aller Aufregung und Empörung in seinem Innern doch auch an den Mann, in dessen Dienst und Lohn er stand, an Arndt. Was würde sein Gönner dazu sagen, wenn sich Eduard Hauser, sein Helfer und Verbündeter, leichtfertig zu einer Unbesonnenheit hinreißen ließ?

Nein, so hart es ihn auch ankam, er, Eduard, mußte sich beherrschen und warten.

Und so wartete er denn so lange, bis schließlich die Notlage des Mädchens ein Eingreifen erforderte, bis sich Engelchen in solcher Bedrängnis befand, daß Eduard ihr beispringen mußte. Dann aber machte er reinen Tisch. Er wies Seidelmann in seine Schranken zurück, klärte ihn aber auch über seinen Irrtum auf und gab sich als Eduard Hauser zu erkennen.

In ihm war ein grenzenloser Mut, geboren aus der Freude über Engelchens Geständnis. Freimütig hatte sie es bekannt: sie liebte den Nachbarsohn, obwohl er arm und wenig angesehn war, obwohl er ihr keine Geschenke versprechen, sie zu keinem glänzenden Fest führen konnte. Das Wissen um diese Liebe war für Eduard selige Gewißheit. Jetzt fürchtete er sich selbst vor dem Teufel nicht und wäre nötigenfalls bereit gewesen, um den Besitz Angelikas gegen eine Welt von Feinden zu kämpfen.

Was galt ihm da Fritz Seidelmann, der eitle, dreiste Bursche, der nur immer auf die Gewalt pochte, die sein Vater über die armen, abhängigen Weber von Hohenthal besaß! Die Hausers waren dieser Gewalt bereits entrückt, weil Eduard einen Helfer und Gönner hinter sich wußte, der ganz offenbar den Seidelmanns an Einfluß und Reichtum weit überlegen war, überlegen wohl auch an Klugheit und Umsicht.

Eduard drängte Seidelmann schroff beiseite und rief der erschrockenen Garderobefrau zu, sie solle ihm seinen Wetterkragen und Angelika das Umschlagtuch reichen. Die Frau gehorchte hastig. Seidelmann aber fuhr dazwischen.

»Halt, Bursche! So kommst du mir nicht fort. Du hast dich heimlich eingeschlichen in unsre Gesellschaft. In den Saal mit dir! Dort wirst du mir vor allen andern Rede und Antwort stehn.«

Er packte Eduard am Arm. Der aber riß sich los und stieß Seidelmann derb zurück.

»Rühr mich nicht an, sonst stehe ich für nichts!« drohte der junge Hauser. »Wir sprechen ein andermal über diese Dinge. Jedenfalls hast du mehr zu bekennen als ich. Eigentlich verdientest du Prügel für deine Unverschämtheiten einem anständigen Mädchen gegenüber. Laß uns in Ruhe, sonst besinne ich mich darauf, meine Rechnung mit dir auf der Stelle auszugleichen!«

Eduard Hauser war plötzlich ein ganz andrer geworden. Mit großen, staunenden Augen, aus denen die Bewunderung für ihren Retter und Helden leuchtete, sah ihn Angelika an. Der für gewöhnlich so stille, bescheidene Mensch wuchs in diesen Minuten über sich hinaus.

Seidelmann mochte merken, daß es nicht geraten war den Bogen zu überspannen und den Streit fortzusetzen.

»Er ist betrunken«, knirschte er, zu der Garderobefrau gewendet.

Eduard war mit dem Mädchen schon auf der Treppe und hörte diese Worte nicht mehr. Sie gingen überhaupt fast unter in einem lauten Stimmengewirr, das von der offnen Saaltür kam. Dort waren soeben mehrere Herren und Damen aufgetaucht und fragten erregt nach der Ursache des Lärms in der Garderobe.

Seidelmann sah sich von ihnen umringt Es war ihm reichlich ungelegen, ihnen so ohne weiteres Auskunft geben zu sollen.

»Nachher!« wehrte er ab. »Ich muß rasch einmal fort.«

Damit ließ auch er sich seinen Mantel geben, streifte ihn über und eilte hinter dem Paar die Treppe hinunter. Unten erlebte er dann einen peinlichen Zwischenfall.

Aus der Tür der Gaststube – so wenigstens schien es Seidelmann – schoß in diesem Augenblick ein Unbekannter hervor und lief dem Eiligen so ungeschickt in den Weg, daß Seidelmann mit ihm zusammenprallte, ausglitt und schwer auf die Fliesen des Vorraums im Erdgeschoß schlug.

»Verzeihung!« entschuldigte sich der Fremde höflich und hastete weiter, auf die Straße hinaus.

Fritz Seidelmann fluchte. Er hatte sich keinen Schaden getan, aber alle Knochen im Leib schmerzten ihn. Mühsam richtete er sich auf und schleppte sich hinkend ins Freie.

Die frische Nachtluft wehte ihm um den Kopf, und er begann, ruhig zu überlegen. Weder von dem Paar, noch von dem tölpelhaften Fremden, den er heimlich ins Pfefferland wünschte, war eine Spur zu entdecken. Wohin hatte sich Eduard Hauser mit dem Mädchen gewendet? Auf der Straße würden die beiden nicht bleiben. Ihr Ziel war sicherlich das Hofmannsche Haus.

Seidelmann ballte die Fäuste vor Wut. Dieser Eduard, dieser Betteljunge, geleitete die hübsche Angelika heim. Er würde die Küsse ernten, die einem Fritz Seidelmann versagt waren. Empörend!

Vielleicht tuschelten die beiden noch miteinander im Flur des Hofmannschen Hauses. Was war da zu tun?

Hm! Dieses Haus kannte Fritz Seidelmann genau, hatte er es doch oft genug Angelikas wegen umschlichen. So reifte in ihm ein Plan: er wollte den Weg hinter den Gärten nehmen, dann kam er noch vor dem Paar dort an und konnte sich einschleichen und verstehen.

Er kehrte in die Schenke zurück, ging durch den Hof in den Garten, sprang über den Zaun und rannte hinter den Dorfhäusern fort, bis er das kleine Gärtchen der Hofmanns erreichte. Nach kurzem Lauschen, ob auch alles ruhig sei, durchquerte er es und horchte an einem Fensterladen. Richtig, die Eltern, die ihr Goldkind in der Obhut des Herrn Seidelmann gut aufgehoben glaubten, waren schon schlafen gegangen. Einen Hund gab es nicht, er brauchte also keine Entdeckung zu fürchten.

Die Hintertür war nur mit einer hölzernen Klinke verschlossen, die ein Eingeweihter mit Hilfe einer Schnur auch von außen heben konnte. Das tat Fritz Seidelmann dann auch ohne Bedenken, schlich leise in den Flur, schloß die Tür wieder und kroch in den tiefen Winkel unter der Treppe. Hier konnte er das übrige abwarten und schließlich, wenn er Glück hatte, alles hören, was im Hausflur von dem heimkehrenden Pärchen gesprochen wurde.

So rechnete Fritz Seidelmann, und seine Rechnung stimmte. Er war noch nicht lange in seinem unbequemen Versteck da vernahm er schon Schritte, die sich der Haustür näherten.

*

Eduard war mit Engelchen stumm und ohne sonderliche Hast heimgegangen. Den beiden jungen Menschen, deren Leben sonst so still dahinfloß, waren nach den erschütternden Ereignissen der letzten Stunde die Herzen so übervoll, daß sie die Flut ihrer Gedanken und Empfindungen scheu zurückdrängten, keinen Anfang zu einem Gespräch fanden und beide lieber gar nichts sagten.

Am Haus wollte sich Eduard verabschieden.

»Da sind wir. Gute Nacht, Engelchen. Schlaf wohl!«

Aber das Mädchen hielt ihn zurück.

»Eduard!« schmeichelte sie. »Du willst schon fort? Soll das eine Strafe für mich sein?«

Der Bursche sah an ihr vorbei ins Leere und schwieg.

»Eduard!« begann Angelika von neuem. »Ich bin recht garstig zu dir gewesen. Doch du darfst nicht im Zorn von mir scheiden, das ertrüge ich nicht!«

»Ich bin nicht zornig, nicht einmal böse auf dich, Engelchen«, versicherte Eduard.

»Und willst doch schon gehn? Mir ist so bange. Ich habe dir noch soviel zu sagen.«

»Ein andermal, Engelchen! Sieh, du frierst, du wirst dich erkälten!«

In der Tat schauerte das Mädchen zusammen. Aber sie gab nicht nach.

»So komm auf ein paar Minuten mit ins Haus! Die Eltern schlafen schon.«

»Wo denkst du hin?« .

»Nur bis in den Flur!« bettelte sie und drückte seine Hand.

Sie zog den nur schwach Widerstrebenden hinter das Haus und öffnete die Tür, durch die vor wenigen Minuten Seidelmann geschlichen war.

»Da neben der Treppe steht die Waschbank. Vorsicht – stoß dich nicht! – Hier können wir uns einen Augenblick setzen!«

Stumm ließ Eduard alles geschehn. Die Nähe des geliebten Mädchens versetzte ihn in einen Glücksrausch. In diesem Zustand war er zu jedem Wagnis bereit; denn ein Wagnis war es, daß Eduard Hauser, dem Hofmann jeden Umgang mit seiner Tochter verboten hatte, bei Nacht heimlich das Haus dieses Mannes betrat. Im Fall einer Überraschung setzte er sich der Gefahr aus, schmählich hinausgeworfen zu werden.

Dicht beieinander hockten sie auf der Bank und ahnten nicht, daß sich zwei Schritte von ihnen der befand, der ihr Glück hatte vernichten wollen.

Ein leises Geplauder hob an. Angelika, die plötzlich ganz voll Dankbarkeit gegen ihren Beschützer war, wollte vor allem wissen, wie er auf den Ball gekommen sei. Er aber wehrte ab.

»Davon nachher, Engelchen! Vorher gibts etwas Wichtigeres. Weißt du, daß ich in den letzten Tagen recht unglücklich war?«

»Ich weiß es. Und ich war schuld! – Verzeih mir!«

Statt zu antworten, drückte er sie nur stumm an sich und küßte sie.

»Ich kann mich jetzt selber nicht begreifen, Eduard«, tuschelte Engelchen weiter. »Glaubst du das?«

»Ich verstehe es schon«, nickte Eduard ernsthaft. »Es stürmte zuviel auf dich ein. Dein Vater wollte es haben, daß du der Einladung des Unbekannten folgtest; das war das erste. Und das zweite war das schöne, flimmernde Kleid einer Italienerin – das hatte es dir angetan. Nicht wahr?«

»Ja«, gestand Angelika beschämt.

»Und das dritte, Engelchen, ist das Schlimmste!«

»Das dritte?«

»Ja. Fast möchte ich dir's gar nicht sagen. Du könntest mir sonst wieder gram werden.«

»So darfst du nicht denken, Eduard! Was ich heut erlebt habe, soll mir für alle Zukunft eine Lehre sein.«

»Das ist ein gutes Wort, Engelchen. Du machst mir das Herz leicht. Weißt du, dein Vater ist ein ordentlicher Mann, aber er hat etwas an sich von dem Pharisäer, der Gott dankt, daß er besser ist als andre Leute. Der Hochmutsteufel sitzt ihm im Nacken.«

»Und?«

»Du bist seine Tochter.«

Das war ein freimütiges Bekenntnis, wie es Eduard Hauser früher dem Engelchen gegenüber nicht gewagt hätte. Jetzt aber glaubte er an ihre Läuterung, und die Erwiderung Angelikas gab ihm recht.

»Ja«, nickte sie, »so ist mein Vater, und so bin ich. Oder nein, Eduard, so war ich. Jetzt bin ich mit einem Schlag anders geworden. Jetzt weiß ich, wie lieb ich dich habe. Ich habe eingesehn, was für ein böses, hochmütiges Ding ich gewesen bin!«

»Du, mein liebes, schönes Engelchen!« strahlte Eduard glückselig.

»Und was du für ein prächtiger Mensch bist, Eduard, das habe ich bisher noch gar nicht geahnt. Als du diesem Seidelmann so tapfer entgegentratest, war ich ehrlich stolz auf dich. Und, glaube mir, jetzt ist mir klar, daß ich keinen andern zum Mann haben mag als dich!«

Eine Zeitlang war es nun still in dem finstern Flur und auf der Waschbank.

»Was wird aber dein Vater dazu sagen?« begann Eduard nach einer Weile wieder.

»Hab keine Sorge! Seidelmann hat ihm zwar den Kopf verdreht, aber wenn ich ihm von den Gemeinheiten dieses Menschen erzähle, wird er sich anders besinnen.«

Fritz Seidelmann unter der Treppe hatte jedes Wort gehört. Er hätte mit beiden Fäusten dreinfahren mögen, doch die Vorsicht gebot ihm, sich zurückzuhalten. Und zur Vorsicht kam die Klugheit. Er hatte Angelikas erste Frage aufgefangen, worauf die Antwort noch immer ausstand, und grad auf diese Antwort kam es ihm an. Also mußte er warten. Seine Geduld wurde denn auch sogleich belohnt.

»Nun aber erzähle mir endlich«, begann soeben das Engelchen, »wie du in die geschlossene Gesellschaft gekommen bist! Darauf bin ich wirklich neugierig.«

»Das war freilich eine schwierige Sache«, bekannte Eduard mit einem tiefen Seufzer. »Als du darauf bestandest, zum Ball zu gehn, wurde es mir angst um dich. Ich ahnte, daß man dir eine Schlinge legen würde, und ich wollte um jeden Preis zu deinem Schutz in der Nähe sein. Voraussetzung dazu war, daß ich mir Zutritt zu dem Fest verschaffte.«

»Und wie hast du das fertiggebracht?«

»Es wäre bestimmt aufgefallen, wenn einer versucht hätte, sich ohne Eintrittsgenehmigung in den Ballsaal einzuschmuggeln«, fuhr Eduard in seiner Darlegung fort. »Deshalb mußte ich trachten, auf irgendeine Weise zu einem Abzeichen zu gelangen, wie es für dieses Fest vorgesehn war. Ich hatte Glück. Der Maskenverleiher, bei dem ich mir ein Kostüm aussuchen wollte, übergab mir solch ein Abzeichen, das Kaufmann Strauch versehentlich bei ihm liegengelassen hatte, mit der Bitte, es ihm zuzustellen. Jetzt hatte ich, was ich brauchte, doch bestand die Gefahr, daß Strauch seinen Verlust bemerkte und sich hierwegen an den Maskenverleiher wenden würde. Das mußte ich verhindern. Ich kam auf den Gedanken, Strauch zu veranlassen, dem Fest überhaupt fernzubleiben. Ach, Engelchen, leicht ist mir das alles nicht geworden, und ich habe auch nachträglich noch Kopfschmerzen wegen der Sache!«

Das klang so kläglich, daß Angelika stutzte.

»Was hast du denn getan?« forschte sie besorgt.

Eduard gab sich einen Ruck. Jetzt hieß es, alles bekennen.

»Ich habe einen Brief an den Kaufmann Strauch geschrieben und ihm verboten, an dem Maskenball teilzunehmen. Dazu fügte ich die Mahnung, er dürfte die andern Mitglieder des ›.Kasinos‹ von seinem Wegbleiben ja nichts wissen lassen.«

»Du hast es ihm verboten? Und er hat gehorcht? Das ist seltsam!«

»Nicht so sehr, wie du denkst. Mir hätte er natürlich nicht gehorcht; er hätte mich nur ausgelacht. Aber ich hatte einen Einfall. Ich habe meine Handschrift verstellt. Und weißt du, wie ich den Brief unterschrieben habe?«

»Nun?«

»Das Buschgespenst!«

»Mein Gott!« stammelte das Mädchen im ersten Schreck. Weiter wußte sie vorläufig nichts zu sagen. Sie hatte das dunkle Gefühl, ihr Held habe sich hier in ein sehr gewagtes Abenteuer eingelassen.

Eduard aber nahm seinen Bericht wieder auf.

»Ich habe getan, als stammte der Brief von dem Buschgespenst, und Strauch hat es offenbar geglaubt. Schon heute früh hörte ich, er habe sein Maskenkostüm, diesen Türkenanzug hier, wieder abbestellt. Das gab mir die Gewißheit, daß mein Plan geglückt war. Ich ließ mir also vom Maskenverleiher den freigewordnen ›Türken‹ geben und ging an Stelle Strauchs auf den Ball. So bin ich vorläufig unbehelligt geblieben, und sogar Fritz Seidelmann hat mich für Strauch gehalten und mit mir gesprochen, als wäre ich sein bester Freund. Das war an der Saaltür. Das hast du ja mit angesehn.«

Jetzt siegte in Angelika die Freude über das gelungene Unternehmen.

»O Eduard«, flüsterte sie, »das war eine kühne Tat! Ich bin stolz auf dich. Ich bewundere dich.«

Der bewunderte Held aber seufzte.

»Nicht doch! Ich selber bin gar nicht so stolz auf mich. Der Brief macht mir gewaltige Sorgen. Ich habe ihn geschrieben, um Strauch zu verblüffen, um mir Zugang zu dem Fest zu verschaffen und dich beschützen zu können. Andre aber werden in der gefälschten Unterschrift möglicherweise eine strafbare Handlung sehn ...«

»Das wäre?«

»Gewiß. Ich muß damit rechnen. Einer, der etwas von solchen Dingen versteht, hat mich darauf aufmerksam gemacht.«

»Ach«, versuchte das Mädchen zu beschwichtigen, »wer will es denn herausbringen, daß du der Briefschreiber gewesen bist?«

Eduard legte die Stirn in ernste Falten.

»Nun, dazu gehört nicht gerade viel. Ich bin an Stelle von Strauch mit seinem Abzeichen als Türke auf dem Ball gewesen, obwohl ich dort von Rechts wegen keinen Zutritt hatte. Also ...! Seidelmann wird nicht so dumm sein, sich das Nötige nicht zu errechnen. Und vor ihm muß ich mich in acht nehmen. Er wird mir den heutigen Abend nie vergessen!«

»O Gott, ja!« seufzte Angelika auf. »Und er hat viele Freunde. – Eduard«, sie schlang die Arme um seinen Hals, »mir ist angst um dich!«

»Ängstige dich nicht – ich stehe unter einem mächtigen Schutz!«

»Unter einem mächtigen Schutz?«

»Ja«, nickte Eduard, der im Gedanken an seinen Gönner allmählich die Sicherheit wiedergewann. »Seidelmann hat mich entlassen und um den Lohn betrogen. Er dachte, ich sollte in Not und Elend geraten; aber grad dieses Unglück ist mir zum Glück geworden. Der Förster hat uns über die erste Not hinweggeholfen, und dann hat auch noch ein andrer sich unsrer angenommen.«

»Noch ein andrer? Wer?«

»Ein geheimnisvoller Fremder. Ich sollte eigentlich kein Wort davon verraten; aber ihr kommt wohl sehr bald auch in die Lage, Hilfe zu suchen, weil die Seidelmanns nun auch euch die Arbeit kündigen werden, und da will ich dir gestehn, daß ich einen kenne, der sicher Rat schaffen wird«

»Wie du sprichst! Eduard, ich staune! Wer ist denn dein allmächtiger Helfer?«

»Das ist auch mir unbekannt.«

»Auch dir unbekannt? Das ist mir ein Rätsel. Du mußt doch seinen Namen kennen, mußt wissen, wo er sich aufhält und ...«

»Gewiß, aber das darf ich nicht sagen. Ich stehe im Dienst des Fremden, und zwar gegen hohen Lohn. Zu meinen Pflichten gehört vor allem Verschwiegenheit. Aber – sieh, Engelchen, wir lieben uns, und wir wollen ein Paar werden. Da darf ich's wohl wagen, dir wenigstens eine Andeutung zu machen, damit du keine Sorge um mich und auch um euch zu haben brauchst. Doch du darfst zu keinem Menschen davon plaudern, auch nicht zu den Eltern. Willst du mir das in die Hand versprechen?«

»Ich verspreche es.«

»Wenn das gelingt, was wir planen, so bin ich sicher, daß der Fremde auf die Dauer für mich sorgen wird.«

»Was wollt ihr denn tun?«

»Einen fangen«

»Wen?«

»Darüber muß ich allerdings schweigen.«

Das Mädchen streifte den Sprecher mit einem ängstlichen Blick.

»O du, nun habe ich keine ruhige Minute mehr! Mir ahnt, was du mir verschweigst.«

Betroffen merkte der Bursche, daß er schon zuviel geplaudert hatte, und so war er eifrig bemüht, den wohlbegründeten Argwohn Angelikas, die natürlich an das Buschgespenst dachte, zu zerstreuen.

»Die Sache ist gar nicht so gefährlich, wie du denkst.« Er machte absichtlich viel Worte und redete in einem fort, um keinen Widerspruch aufkommen zu lassen. »Einen Wink kann ich dir ja geben, nur Näheres darf ich nicht verraten. Es handelt sich um einen Mann, der drüben, jenseits der Grenze, aus dem Gefängnis ausgebrochen ist. Die Polizei glaubt, mit Sicherheit annehmen zu können, daß er sich in unsrer Gegend versteckt hält. Den wollen wir dingfest machen.«

»Das erzählst du mir jetzt nur so«, meinte Angelika mißtrauisch.

»Nicht doch! Es ist wirklich so.«

»Dann wäre dein Gönner also ein Polizist, vermutlich ein Geheimer?«

O weh, da hatte Eduard den Karren erst recht verfahren!

»Nein, nein«, widersprach er lebhaft. »Das ist alles ganz anders. Gib dich nur zufrieden, Engelchen! Ich kann nicht aus der Schule schwatzen. Jedenfalls brauchst du meinetwegen nichts zu fürchten, wenigstens um dieser Dinge willen nicht. Bedenklicher ist mir die Sache mit Fritz Seidelmann. Und dann habe ich vor allem Sorge, was dein Vater sagen wird.«

»Wegen heut abend?«

»Nun ja, Seidelmann wird ihn hart herannehmen.«

»Darauf werde ich ihn vorbereiten. Alles erzähle ich ihm, alles; dann wird er erkennen, daß Seidelmann ein Schurke ist, und wird ...«

»Und wird? Was denn, Engelchen?«

Sie schmiegte sich zutraulich an den Burschen.

»Weißt du, Eduard, ich glaube, daß der Vater dir zum Schluß dankbar ist für dein mutiges Eingreifen.«

»Ach, das wäre herrlich!«

»Ja, und dann erlaubt er dir wohl gar, uns wieder zu besuchen.«

»Und nimmt sein häßliches Verbot zurück«, ereiferte sich Eduard.

Angelika nickte versonnen.

»Und gibt womöglich seinen Segen dazu, daß ...«

Das Mädchen stockte. Der Bursche aber vollendete wonnetrunken den Satz.

»... daß du einmal meine Frau wirst, mein liebes, goldiges Engelchen.«

So flüsterten die beiden noch eine geraume Weile miteinander. Endlich besannen sie sich darauf, daß es Zeit sei, sich zu trennen. Ein Kuß noch, dann huschte Eduard zur Tür hinaus, die Angelika hinter ihm sorgsam zuklinkte. Arglos suchte sie nun ihre Kammer auf, nicht ahnend, daß sie dabei im Flur des Hauses ganz dicht an Fritz Seidelmann vorüberging, der noch immer im Treppenwinkel auf der Lauer lag.

Eduard stieg indessen über den Zaun, der das Hofmannsche Grundstück von dem kleinen Garten der Hausers trennte. Da löste sich vom Stamm eines Baumes schattenhaft eine Gestalt ab, und eine männliche Stimme rief Eduard an.

»Pst!«

Eduard stutzte. Er dachte schon, es wäre Fritz Seidelmann, der ihm hier auflauern wollte, und machte sich auf eine derbe Auseinandersetzung gefaßt. Da klärte ihn der andre über seinen Irrtum auf.

»Ich bin es, der Fremde.«.

Es war in der Tat Arndt, der hier auf seinen Gehilfen gewartet hatte. Er war von der Schenke her die Straße entlanggekommen. Darum hatte er Seidelmann nicht bemerkt, der sich im Haus der Hofmanns einschlich. Arndt hatte zwar damit gerechnet, Seidelmann würde sich hier irgendwo verstecken, um Eduard Hauser abzufassen. Aber er war doch nicht ganz auf die richtige Vermutung gekommen. So meinte er denn bereits, sich umsonst bemüht zu haben, und wollte nun wenigstens noch ein paar Worte mit dem jungen Hauser sprechen.

Der Bursche in seiner frohen Erregung machte Miene, sogleich loszuschwatzen. Arndt aber kam ihm zuvor.

»Sie waren bei Hofmanns?«

»Ja, ich habe Angelika heimbegleitet und ...«

»Schon gut! Haben Sie Seidelmann gesehn?«

»Seidelmann? Der ist doch in der Schenke.«

Arndt lachte kurz.

»Das glaube ich nun weniger. Ich fürchte vielmehr, daß er hier irgendwo umherschleicht. Doch das lassen Sie meine Sorge sein! Berichten Sie lieber! Wie ist es gegangen? Sie hatten Unannehmlichkeiten?«

Eduard, der sich als Sieger fühlte, weil er an diesem denkwürdigen Abend sein Engelchen gewonnen hatte, tat stolz einen tiefen Atemzug.

»O nein!« versicherte er. »Es gab zwar einen Zusammenstoß mit Seidelmann ...«

»Das habe ich gemerkt.«

»... aber sonst ging alles nach Wunsch. Seidelmann hielt mich für Strauch ...«

»Bis zuletzt?«

»Nein. Ich habe mich schließlich freiwillig zu erkennen gegeben.«

»So, so! Das müssen Sie mir genauer erzählen!«

Und Eduard Hauser erzählte. Arndt schwieg zu allem und ließ den jungen Menschen ruhig ausreden. Sein Gesicht legte sich dabei in bedenkliche Falten.

»Das wird ein Nachspiel haben«, sagte er dann, als Eduard mit seinem Bericht zu Ende war. »Ich muß Ihnen leider erklären, daß ich mit Ihnen nicht übermäßig zufrieden bin. Hoffentlich haben Sie nicht noch weitere Unvorsichtigkeiten begangen?«

Der Ton, in dem Arndt sprach, wirkte nach und nach dämpfend und ernüchternd auf den jungen Hauser. Er senkte den Kopf und schwieg. Da mahnte ihn Arndt noch einmal.

»Nun? Wie steht es?«

»Ich weiß nicht, wie Ihre Frage gemeint ist«, kam es kleinlaut zurück.

»So will ich ein wenig nachhelfen und deutlicher sein. Es ist eine alte Erfahrung, daß verliebte Leute blind und zu dummen Streichen, sagen wir, zu Unüberlegtheiten geneigt sind. Angelika Hofmann hat am Ausgang des Abenteuers doch sicher von Ihnen wissen wollen, wie Sie überhaupt auf den Maskenball gekommen sind. – Sie nicken. Also! Darauf haben Sie ihr vermutlich die Geschichte von dem Abzeichen und dem Brief an Strauch anvertraut?«

»Das habe ich allerdings getan.«

»Und weiter?«

»Weiter hat sie Sorge um mich geäußert, weil mir Fritz Seidelmann nun doch das Leben schwer machen würde, und wir haben auch die Lage der Hofmanns erörtert, denen Seidelmann nun bestimmt nicht mehr so freundlich gesinnt ist wie vorher.«

Arndt erwies sich als ein ausgezeichneter Menschenkenner. Das alles hatte er bereits vorausgesehn, und nun ahnte er noch mehr. Es war fast, als hätte er das Gespräch zwischen Angelika und Eduard im Flur des Hofmannschen Hauses mit angehört. Er nahm Eduard jetzt einfach das Wort aus dem Mund und ergänzte, ohne zu fragen, den Bericht.

»Und da haben Sie sich schließlich zum Trost für das besorgte Engelchen auf Ihren Freund und Gönner berufen, in dessen Dienst Sie stehn, um das Buschgespenst zu fangen. War es nicht so?«

»Nein, nein«, wehrte sich Eduard hastig. »Das mit dem Buschgespenst habe ich nicht zugegeben.«

»Sondern?«

»Ich habe gesagt, es handle sich um einen entsprungenen Verbrecher aus Böhmen.«

»Das haben Sie großartig gemacht!«

Eduard sah unsicher aus. Er konnte wegen der Dunkelheit nicht in den Zügen des Detektivs lesen, aber es war ihm nicht ganz geheuer zumut.

»Wirklich großartig!« fuhr Arndt indessen fort, und nun hörte es Eduard genau: das war Spott, offener Spott. »Ihr Engelchen wird nun fest davon überzeugt sein, daß Sie ihr die Wahrheit gesagt haben. Weiß sie denn auch, daß ich der Mann bin, der beim Förster wohnt?«

»Keine Silbe davon!«

»Daß ich Geheimpolizist bin?«

»Das vermutete sie, aber ich habe es geleugnet.«

»So, so! Nun, mein lieber Hauser, da haben Sie eine rechte Heldentat begangen. Gebe Gott, daß Angelika Hofmann jetzt vernünftiger ist als Sie und den Mund hält! Sonst könnte möglicherweise noch alles schief gehn.«

»Ich werde sie morgen in aller Frühe noch einmal streng ermahnen, verschwiegen zu sein.«

»Tun Sie das! Vielleicht nützt es etwas. Sagen Sie ihr, wenn sie plauderte, ginge es Ihnen an den Kragen! Das wird wahrscheinlich helfen.«

»Ach«, seufzte Eduard, »ich könnte doch gleich ...«

»Gar nichts können Sie, mein Lieber. Verfügen Sie sich jetzt heim! Ich hatte eigentlich eine wichtige Mitteilung für Sie, aber mir ist vorläufig die Lust vergangen, Ihnen Geheimnisse anzuvertrauen. Sie sind augenblicklich nicht in der Verfassung, überlegsam damit zu verfahren. Gute Nacht jetzt! Morgen sprechen wir uns wieder.«

Eduard stand da wie ein armer Sünder und starrte vor sich hin in den Schnee. Als er den Kopf endlich hob, war Arndt verschwunden. Der Hauser-Sohn bohrte den Blick ins Dunkel, da glaubte er die Gestalt seines Gönners drüben an Hofmanns Zaun noch einmal auftauchen zu sehn. Aber er rief Arndt nicht nach, lief auch nicht mehr zu ihm hin. Einstweilen war sein Mut gebrochen. Er ließ schlaff die Arme hängen.

Das war wieder eine Dummheit von ihm, oder es war auch keine. Jedenfalls hatte dieses Verhalten einen gewissen Einfluß auf die weitere Entwicklung der Dinge, denn der Mann, der da am Zaun entlanghuschte, war gar nicht Arndt, sondern Fritz Seidelmann, der heimschlich, den Kopf voll Neuigkeiten, die er soeben im Treppenwinkel erlauscht hatte.

Der junge Hauser sah die Gestalt des andern untertauchen im Dunkel der Nacht. Da fuhr ein Windstoß um die Hausecke, wirbelte den Schnee auf und machte den Burschen frösteln. Ein Unbehagen überfiel Eduard wie eine dumpfe Ahnung kommenden Unheils.


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