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5. Die blaue Brille

Im ›Goldenen Ochsen‹, dem besten Wirtshaus der benachbarten Kreisstadt, kehrte um die Mittagszeit des nächsten Tages ein Gast ein, aus dem Herr Binder, der Wirt, nicht recht klug wurde. Man vermochte nicht zu unterscheiden, ob jener noch ein junger Mensch oder schon ein bejahrter Herr war. Er trug einen dunklen Mantel, dunklen Anzug und eine blaue Brille, die ihm das Aussehn eines Gelehrten gab.

Da sonst niemand in der Gaststube war, begann der Wirt ein Gespräch mit dem Unbekannten.

»Sie sind fremd hier?« fragte er so nebenbei. »Darf man erfahren, woher Sie kommen?«

»Von dorther!«

Die blaue Brille deutete mit dem Daumen über die Schulter; das hieß: von jenseits der Grenze.

Der Wirt kniff das rechte Auge ein und blinzelte den Gast ein Weilchen an.

»In Geschäften?«

»Möglich.«

»Bedeutend?«

Der Fremde zuckte die Schultern.

»Je nachdem es ausfällt!«

»Das heißt, es ist mit dem Geschäft noch ungewiß?«

»Ganz recht.«

»Das klingt ja fast so, als ob Sie schmuggeln wollten. Herr!« lachte der Wirt.

»Und Sie tun fast so, als ob das Schmuggeln ein todeswürdiges Verbrechen wäre«, trumpfte der Gast auf.

Wieder kniff der Wirt das rechte Auge ein. So sah er aus wie ein alter Pfiffikus, der mehr weiß, als er sagen will. Fast konnte man meinen, die Pascherei sei ihm kein fremdes Handwerk. In Wahrheit lagen die Dinge anders.

Gestern hatte ihm nämlich sein Bruder, der in der Hauptstadt bei der Kriminalpolizei angestellt war, in einem eingeschriebenen Brief mitgeteilt, ein ›Geheimer‹ werde kommen, um nach dem Buschgespenst zu forschen; er solle ihn unterstützen. Der behäbige Wirt hatte lange hin und her gegrübelt, wie er das anfangen könnte, aber es war ihm keine Erleuchtung gekommen. Der ›Geheime‹ hatte sich bis zur Stunde noch nicht gemeldet. Dafür schneite ihm nun dieser Mensch ins Haus, der offenbar mit den Paschern ein Geschäft machen wollte. Herr Binder war nicht auf den Kopf gefallen. Kaum hatte er die Absicht des Fremden mit der blauen Brille herausgefühlt, als er auch schon einen Plan fertig hatte, wie er ihn als Lockvogel gebrauchen könnte, um das Buschgespenst auf den Leim zu führen.

»Nun, haben Sie keine Sorge!« schmunzelte er. »In den zehn Geboten steht meines Wissens nichts vom Schmuggeln.«

»Sie scheinen ein heller Kopf zu sein, Herr Wirt!«

»Und Sie können mit mir offen reden, wie Ihnen ums Herz ist.«

»So?« fragte die blaue Brille zögernd.

Der Wirt faltete gemütlich die dicken Hände auf dem Tisch. Sein Ton wurde immer vertraulicher.

»Ich will Ihnen was sagen, Herr! Anfangs hielt ich Sie für einen Gelehrten oder dergleichen. Jetzt weiß ich, woran ich mit Ihnen bin. Wir Leute hier an der Grenze haben unsre eignen Anschauungen über – über gewisse Dinge. Sie können also beruhigt sein. Der, an den Sie sich wenden wollen, ist ein zuverlässiger Mann.«

Der Fremde schien aber doch nicht recht zu trauen. Er machte ein abweisendes Gesicht.

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte er kühl. »Besser, wir reden von etwas anderm.«

»Ganz nach Belieben«, brummte der Wirt, »und nichts für ungut! – Wie gefällt es Ihnen hier bei uns?«

»Nicht übel. Nur – die Gegend scheint unsicher und verrufen zu sein. Schon auf der Fahrt hierher hörte ich, von einer Art Landplage, die ...«

»Ach, Sie meinen das Buschgespenst?«

»Ja. Man kann ins Gespräch kommen, mit wem man will – immer reden die Leute vom Buschgespenst.«

»Sie haben wohl noch nie etwas mit ihm zu tun gehabt?«

»Ich? Wieso?«

»Nun, Sie sind doch Kaufmann?« lautete die Gegenfrage des pfiffigen Wirts. »Und Sie machen gewiß Geschäfte über die Grenze hinüber und herüber?«

»Die – die möchte ich erst machen«, kam es zögernd zurück.

»Na endlich ein offenes Wort! Wenn Sie nämlich gar so vorsichtig sind, mein Lieber, dann werden Sie nie erfahren, was Sie wissen wollen.«

»Was wäre denn das Ihrer Meinung nach?«

Der Wirt rückte vertraulich an den fremden Gast heran, sah ihm blinzelnd von der Seite her ins Gesicht und dämpfte behutsam seine Stimme.

»Sie wollen in Erfahrung bringen, wer hier das Buschgespenst spielt, und wo der Betreffende zu finden ist. Sie möchten mit ihm in Geschäftsverbindung treten. Nur wagen Sie es nicht recht, Farbe zu bekennen, weil Sie nicht wissen, wie weit Sie mir über den Weg trauen dürfen. Ist es so oder nicht?«

Die letzte Frage klang sehr siegesbewußt, und der Fremde streckte davor die Waffen.

»Ich will einmal alles auf eine Karte setzen«, gestand er, »und zugeben, daß Sie recht haben. Nun müssen aber auch Sie offen Farbe bekennen und mir vor allen Dingen einen Beweis dafür liefern, daß Sie wirklich Verbindungen zum Buschgespenst haben. Also, wie steht es?«

Der Wirt zog bedeutsam die Brauen hoch.

»Sie werden noch staunen, lieber Herr, über was für prächtige Beziehungen ich verfüge. Bei mir sind Sie gerade an den richtigen Mann gekommen. Sie haben da entweder eine gute Nase gehabt, oder man hat Ihnen einen Wink gegeben. Nein, nein, lassen Sie nur! Ich will gar nichts Näheres wissen. Die Hauptsache ist, daß Sie nun auch wirklich Vertrauen zu mir haben und mir über Ihre Angelegenheit reinen Wein einschenken. Ich habe da einige Fragen.«

»Heraus damit!« rief der Fremde beinahe übermütig. Ihm schien plötzlich der Mut mächtig gewachsen zu sein. »Was wollen Sie wissen?«

»Soll die Ware herüber oder hinüber?«

»Hinüber.«

»Gut. Ist es viel?«

»Was heißt viel? Jedenfalls ist die Sendung kostbar.«

»Dann wäre es allerdings nötig, daß Sie möglichst gleich mit dem zuständigen Mann selber sprechen.«

»Das will ich ja. Sie brauchen mir nur zu sagen ...«

»Halt! Nur nicht so hastig! Sie denken sich die Sache einfacher, als sie ist. Das Buschgespenst ...«

»Unsinn!« fiel der Fremde dem Wirt in die Rede. »Wir beide brauchen einander doch nichts mehr vorzumachen. An das Buschgespenst mögen die Kinder und die alten Weiber glauben. Wir sind uns doch klar darüber, daß hinter diesem Popanz ganz einfach ein verwegner Kerl steckt, der Anführer der Schmugglerbande.«

»Na ja«, dehnte der Wirt. »Das mag sein, aber damit kommen wir immer noch nicht weiter. Niemand weiß, wer dieser Mann ist.«

»Das wäre doch sonderbar.«

»Sonderbar oder nicht, es ist so. Das Gesicht des Anführers hat noch keiner gesehn.«

»Darauf lege ich auch gar keinen Wert. Nur sprechen will ich ihn. Führen Sie mich zu ihm!«

»Und Sie meinen, daß ich es mit Ihnen wirklich versuchen darf?«

»Sie alle werden mit mir die denkbar besten Geschäfte machen«, spreizte sich der Fremde, der jetzt merklich jede Vorsicht fallen ließ.

Ein undeutliches Knurren antwortete ihm. Die massige Gestalt des Wirts hockte tief nachdenklich auf dem Stuhl.

»Also?« drängte der Mann mit der blauen Brille.

»Sie sagen«, begann der Wirt zögernd, »die Sendung sei kostbar. Wie hoch ist der Wert?«

»Zunächst fünftausend Mark.«

»Hm! Der Mann, der Sie meldet, muß für Sie bürgen. Er muß Sie entweder selber kennen, also Ihren Namen wissen, oder Sie müssen, wenn Sie sich weiterhin in Dunkel hüllen wollen, Sicherheit leisten.«

»Wieviel wäre das?«

»Der zehnte Teil der ersten Sendung, also fünfhundert Mark.«

»Ich höre, Sie sind genau unterrichtet, Herr Wirt. Übernehmen Sie es, mich zu melden?«

»Wollen Sie mir Ihren Namen sagen?«

»Nein, ich ziehe vor, die fünfhundert Mark zu hinterlegen. Natürlich aber müssen Sie mir zunächst beweisen, daß Sie wirklich ein Eingeweihter sind.«

»Das ist recht und billig.«

»Dann bitte!«

»Oho, nicht so eilig!« dämpfte der Wirt den Eifer seines Gastes. »Auch ich muß mich sichern. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen: Kommen Sie heut nacht Punkt zwölf Uhr zur letzten Scheune an der Bergstraße. Nachdem Sie mir dort die bewußte Summe ausgehändigt haben, werde ich Sie zum Buschgespenst bringen.«

»Sagen wir, zu dem Anführer der Schmuggler! Er ist dann in der Nähe?«

»Ich werde ihn benachrichtigen.«

»Und wann erhalte ich das Geld zurück?«

»Sobald Ihre Sendung in unsern Händen ist.«

Die blaue Brille trank den Rest des Bieres aus und erhob sich.

»So sind wir einig?«

»Einig!« nickte der Wirt.

»Und – verschwiegen?«

»Ist Ehrensache.«

Der Fremde lächelte.

»Ist vor allem einfachstes Gebot der Klugheit auf beiden Seiten. Wir kennen einander jetzt, und Sie wissen: vor dem Richter ist der Hehler so gut wie der Stehler, in diesem Fall wie der Pascher.«

Die beiden tauschten einen Händedruck, dann zahlte der Mann mit der blauen Brille, stand auf und verließ gemächlich das Gastzimmer.

Auch der Wirt stand auf. Er schritt vergnügt in der Stube auf und ab.

»Das nenne ich eine glatte Sache«, kicherte er vor sich hin. »Das kam mir sehr gelegen.«

Er schnipste mit den Fingern. Jetzt war er gerüstet, jetzt mochte der ›Geheime‹ kommen.

Er hatte diesen Gedanken kaum ausgedacht, als sich die Tür abermals öffnete.

Wieder trat ein Fremder ein. Er trug einen grauen Anzug, und unter der grauen Wintermütze leuchtete blondes Haar hervor. Den Überzieher hatte er nur umgehängt.

Der Wirt grüßte höflich und tat die übliche Frage.

»Womit kann ich dienen?«

»Bitte, ein Glas Grog«, antwortete der Fremde mit tiefer Stimme; er hängte Überzieher und Mütze an einen Haken, strich sich den blonden Schnurrbart und ließ sich am nächsten Tisch nieder.

Binder ging hinaus und brachte nach kurzer Zeit den Grog. Der Gast kostete behaglich das heiße Getränk und nickte zufrieden.

»Ist heut vielleicht ein Mann mit schwarzem Anzug und blauer Brille bei Ihnen gewesen?« fragte er dann wie beiläufig.

»Allerdings, mein Herr.«

»Er hatte etwa meine Gestalt und beinahe das Aussehn eines Lehrers oder eines Gelehrten, nicht wahr? Was wollte er hier?«

Der Wirt stutzte und beschloß, vorsichtig zu sein.

»Er trank ein Glas Bier.«

»Sonst wollte er nichts?«

»Nein.«

»Mein Herr, Sie lügen!«

Binder erschrak. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete mißtrauisch den blonden Fremden, der sich nur mit seinem Grog zu beschäftigen schien und mit dem Löffel darin herumrührte.

»Wie – wie kommen Sie zu dieser Beschuldigung?« versuchte der Wirt aufzumucken.

»Weil dieser Mann Ihnen mitgeteilt hat, daß er ein Geschäft in Höhe von fünftausend Mark mit dem Buschgespenst machen möchte. Ist es nicht so?«

Jetzt konnte Binder seinen Schreck kaum noch verbergen.

»Wie? – Was?« stotterte er. »Ich – ich weiß kein Wort davon.«

»Nun, so werde ich mich bei dem Betreffenden selber erkundigen.«

Der Blonde war plötzlich recht ungemütlich geworden. Er warf das Geld für seine Zeche auf den Tisch, ließ aber den Grog stehn, griff nach Überrock und Mütze und entfernte sich, ohne dem Wirt noch einen Blick zu schenken.

Verdutzt stand Binder mitten in der Stube. Was sollte das alles bedeuten? War der zweite Gast ein Bekannter des ersten oder ...?

Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Fürs erste schien es ihm wichtiger, zu erfahren, wohin der Fremde ging. Darum eilte er zur Tür. Hier aber prallte er mit einem zusammen, der wie toll von draußen hereingestürmt kam; es war der Kaufmann mit der blauen Brille.

»Ah, Sie?« fragte der Wirt betreten. »Weshalb kommen Sie zurück?«

»Weil ich etwas vergessen habe. Ich wollte Ihnen nur sagen, es wird ein Herr nach mir fragen. Er ist blond, trägt grauen Anzug und schwarzen Überzieher.«

»Donner noch einmal, der war schon hier! Eben ist er fort, in dieser Minute!«

»Da muß ich ihm gleich nach. Guten Tag!«

»Halt, mein Herr, halt! Nicht so hastig! Wenn der andre nun inzwischen wiederkommt? Was soll ich ihm sagen?«

»Daß er sich den Teufel um mich zu kümmern hat!«

Mit diesen Worten schlug der Davoneilende die Tür hinter sich zu.

»Den Teufel um ihn kümmern«, brummte der Wirt. »Gute Freunde sind die beiden auf keinen Fall.«

Er trat vor das Haustor und blickte nach links, dann nach rechts; dort verschwand eben etwas um die Ecke, doch vermochte er nicht festzustellen, ob es der Gast mit der blauen Brille war.

»Der muß aber gelaufen sein, daß er schon um die Ecke ist!« murmelte Binder vor sich hin.

Ärgerlich kehrte er ins Gastzimmer zurück. Da stand noch der gute Grog, woran der Fremde kaum genippt hatte. Schade darum! Der Wirt beschloß, ihn nicht umkommen zu lassen.

Er betrachtete die gelbe Flüssigkeit im Glas mit Kennerblicken und führte sie zum Mund.

»Halt! Was fällt Ihnen ein?« klang es in diesem Augenblick hinter ihm.

Verdutzt wandte er sich um. Und fast wäre ihm das Glas aus der Hand gefallen, denn dort an der Tür stand – der Blonde.

»Ich denke, Sie sind fort?« rief der Wirt.

»Wie Sie sehn, bin ich wieder hier.«

»Ich war ja eben draußen; da hätte ich Sie doch kommen sehn müssen.«

»Wer weiß, wohin Sie geguckt haben. Aber, sagen Sie, war nicht der Schwarze mit der blauen Brille wieder da?«

»Ja, eben.«

»So? Und was sagte er?«

»Sie hätten sich den Teufel um ihn zu kümmern!«

»Was? Na, dem will ich Anstand beibringen. Wohin ist er denn?«

»Ich glaube, nach rechts.«

»Danke.«

Er stürzte hinaus. Der Wirt schüttelte hinter ihm drein den Kopf. Doch dann raffte er sich auf. Diesmal wollte er wissen, wohin der seltsame Mensch lief.

Aber als er das Tor erreichte, war, grad wie vorher, niemand auf der Straße zu entdecken.

»Verflixt – hat der Kerl Beine gemacht! Oder ich muß kurzsichtig geworden sein!« brummte der Wirt vor sich hin.

Er kehrte in die Stube zurück. Doch die Tür hatte sich kaum hinter ihm geschlossen, als die blaue Brille wieder eintrat.

»Nun, haben Sie inzwischen meinen Wunsch an den blonden Herrn weitergeben können?« fragte er lächelnd.

Der Wirt zitterte plötzlich am ganzen Körper.

»Herr«, sagte er mit unsichrer Stimme, »ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Lassen Sie sich einmal anfassen! Ich muß mich überzeugen, ob Sie ein Mensch aus Fleisch und Blut sind.« Er packte den Fremden beim Arm und atmete auf. »Ja, Gott sei Dank! Es hat seine Richtigkeit. Ich bin wenigstens nicht verrückt.«

Die blaue Brille machte sich lachend von ihm frei.

»Aber ich glaube, ganz richtig ists bei Ihnen da oben doch nicht mehr.«

»Bei einer solchen Komödie mag der Teufel seinen Verstand behalten!« murmelte der Wirt wie gebrochen. »Ich kann nicht mehr. – Da fragt immer einer nach dem andern, und diese Schafsköpfe mußten doch noch in der Tür mit den Schädeln zusammenstoßen!«

»Ich werde jetzt hierbleiben, bis der Schuft wiederkommt«, erklärte der Fremde, indem er vollends ins Zimmer trat und die Tür hinter sich schloß.

»Ja, tun Sie mir den Gefallen! Ich weiß sonst wirklich nicht mehr, ob ich noch der Wirt ›Zum Goldenen Ochsen‹ bin oder ...«

»... oder dieser Ochse selber!« lachte die blaue Brille. »Na, Spaß beiseite, Herr Wirt! Beruhigen Sie sich und geben Sie mir noch ein Bier!«

Als Binder diesem Wunsch nachgekommen war, ließ er sich mit einem Seufzer neben dem Gast auf einen Stuhl fallen, daß es krachte.

»Kennen Sie denn den Blonden?« fragte er unsicher.

»Hm! Eigentlich sollte ich's nicht verraten; aber da er Ihnen so übel mitgespielt hat, will ich's Ihnen sagen: er ist Polizist.«

Der Wirt machte große Augen. Ihm dämmerte eine böse Ahnung.

»Polizist?« wiederholte er. »Wohl gar ein Geheimer? – Wie heißt er denn?«

»Arndt, glaube ich.«

»Arndt?« schrie der Wirt auf und bekam wieder das Zittern.

Arndt! Das war doch der Mann, den ihm sein Bruder angemeldet hatte ...

»Ja«, fuhr inzwischen der Fremde in seinen Enthüllungen über den Blonden fort. »Er wird, wie man hört, bei dem alten Förster Wunderlich wohnen.«

»Sonderbar.«

»Sonderbar?« fragte die blaue Brille. »Weshalb?«

»Ich – ich meinte nur so.«

Unter der blauen Brille hervor zuckte ein mißtrauischer Blick.

»Kennen Sie diesen Arndt vielleicht?«

»Durchaus nicht«, widersprach der Wirt in schlechtgespielter Treuherzigkeit.

»Na, dann hüten Sie sich vor ihm!«

»Hüten? Ich? Wieso?«

»Weil Sie ein Eingeweihter sind. Er kommt, um das Buschgespenst und seine Helfershelfer ...«

Der Fremde beschrieb mit dem Zeigefinger einen Kreis um den Hals und wies dann zur Decke.

Dem guten Binder wurde es schwül und schwüler. Die Gedanken kamen und gingen in seinem Kopf und bildeten dabei ein wirres Durcheinander.

Wenn der Blonde der angekündigte Detektiv war, der das Buschgespenst samt den Paschern fangen wollte, dann war er natürlich auch dem Mann mit der blauen Brille schon auf der Spur. Dieser Mann aber war seinerseits schon wieder gewarnt. Er würde sich hüten, in irgendeine Falle zu gehn, auch in die, auf deren Herrichtung der Wirt des ›Goldenen Ochsen‹ ein paar kurze Minuten lang so stolz gewesen war. Dann hatte Binder mit all seiner Pfiffigkeit weiter nichts erreicht, als daß er sich in Gefahr gebracht hatte, von den Schmugglern als Spitzel durchschaut zu werden und ihre Rachsucht auf sich zu lenken.

Um seine Verlegenheit zu verbergen, wandte er sich der Uhr zu, die stehngeblieben war. »Ah, die Uhr!« sagte er ganz unvermittelt, stieg auf einen Stuhl und begann sie aufzuziehn. Dieser Beschäftigung gab er sich so andächtig hin, daß er nicht bemerkte, wie sich die blaue Brille indes hinter seinem Rücken mit Rock und Bart zu schaffen machte und auch die Mütze wendete. Dann fuhr sich der Fremde mit einem Läppchen einige Male übers Gesicht. Das alles geschah mit einer bewundernswerten Schnelligkeit, ohne daß der Mann dabei das Gespräch einschlafen ließ.

»Sie meinen also nicht, daß ihm das gelingt?« fragte er leichthin.

»Auf keinen Fall!« versicherte Binder.

»Es wäre auch jammerschade um unser Fünftausendmarkgeschäft.«

Der Wirt zog andächtig an der einen Gewichtskette.

»Ich werde ihn schon irreleiten.«

»Tun Sie das, mein Lieber! Es wird Ihnen wohl nicht schwer werden; Sie sind ein Pfiffikus, und er hat ein ziemlich dummes Gesicht.«

Nun ließ der Wirt auch das andre Gewicht in die Höhe schnurren und stieß behutsam und liebevoll den Pendel an. Dabei schwatzte er wacker drauf zu.

»Ja, er ist schwerlich der rechte Mann, hier etwas auszurichten. Wer das Buschgespenst fangen will, der muß früh aufstehn. Ich bin neugierig, ob er wiederkommen wird. Mir liegt nichts daran. Er ist ein Dummkopf, und außerdem habe ich Polizisten überhaupt nicht gern im Haus. Dieser Einfaltspinsel mag bleiben, wo der Pfeffer wächst. – So, da geht der alte Klapperkasten wieder, und nun wollen wir –«

Er war vom Stuhl herabgestiegen und hatte sich umgedreht. Sogleich zog er ein unbeschreibliches Gesicht. Er stand wie erstarrt mit offnem Mund, denn der Mann, der da vor ihm beim Bier saß, war nicht mehr der Schwarze mit der blauen Brille, sondern der ›Dummkopf‹, der ›Einfaltspinsel‹ – der Blonde.

»War er inzwischen wieder da?« fragte der neue Gast so freundlich, als ob er sich eben erst niedergesetzt hätte.

Seine Stimme klang ganz anders als die des Mannes mit der blauen Brille.

»We – we – wer denn?« stammelte der Wirt.

»Nun, der Schwarze«, lächelte der Blonde scheinbar ganz arglos.

»Der sa – saß doch grad jetzt noch hi – hi – hi ...«

»Haben Sie bald ausgehihit?« fragte der Gast geduldig. »Ich kann noch warten.«

»I – i – ich weiß nicht mehr, woran ich bin.«

»Das ist allerdings schlimm. Das ist ein böses Zeichen von Gedächtnisschwund und Altersschwäche. Zum Glück kann ich Ihnen auf die Sprünge helfen: Sie sind Herr Binder, der Wirt des ›Goldenen Ochsen‹, und haben einen Bruder in der Hauptstadt bei der Kriminalpolizei. Setzen Sie sich her! – So! – Und nun sagen Sie mir, ob Sie in letzter Zeit vielleicht einen Brief von Ihrem Bruder erhalten haben!«

Der Wirt vom ›Goldenen Ochsen‹ holte tief Atem. Er wußte nun, daß er den erwarteten Detektiv vor sich hatte, und streckte die Waffen.

»Ja, das stimmt.«

»Was stand denn in dem Brief?« ging das Verhör weiter.

»Da Sie doch schon alles wissen, kann ich's ja sagen: ein Geheimpolizist Arndt aus der Hauptstadt würde beim Förster Wunderlich absteigen und auch mich besuchen. Ich soll ihm allen Vorschub leisten.«

»Dieser Mann bin ich, mein lieber Herr Binder.«

»Das habe ich nun gemerkt. Überdies sprach der Schwarze mit der blauen Brille davon. Der ist ein ganz gefährlicher Bursche; der will doch paschen.«

»Er will nicht, er tut nur so, um das Buschgespenst ausfindig zu machen.«

Jetzt endlich kniff der ehrwürdige Wirt zum ›Goldenen Ochsen‹ wieder einmal das eine Auge ein, denn jetzt kam ihm eine Erleuchtung.

»Ah, nun geht mir ein Licht auf!« rief er. »Sie sind wohl gar Kollegen?«

»Noch mehr als das.«

»Und ich dachte, er wollte wirklich paschen und habe ihm, um ihn dumm zu machen, einen gewaltigen Bären aufgebunden!«

»Das schadet nichts. Nur brauchten Sie ihm nicht grad zu sagen, daß ich ein Dummkopf und ein Einfaltspinsel sei.«

Der Wirt wehrte mit beiden Händen ab.

»Es war nicht so gemeint, Herr! Sie dürfen mir das nicht übelnehmen. – Sagen Sie mir lieber, wo Ihr Kollege geblieben ist?«

»Hier in meinem Anzug steckt er. Passen Sie auf!«

Arndt schlug die Schöße des Überrocks ein, zog ihn an, tat einen Griff an den Gürtel, und sofort gingen zwei schwarze Hosenbeine nieder; dann vertauschte er den blonden Schopf mit einem schwarzen, setzte eine blaue Brille auf, wendete die Mütze, und – der Schwarze stand vor dem Wirt. Sogar die Gesichtszüge schienen andre geworden zu sein.

Binder verfolgte diese Verwandlung mit Staunen und Freude zugleich. Jetzt hatte er sein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden.

»Wer läßt sich so etwas träumen?« rief er begeistert. »Zwei Männer und doch einundderselbe! Auf diese Weise allerdings – ja, da kann man auch einen Pfiffikus täuschen! Aber wie erklärt sich nun das: ich bin Ihnen doch nachgelaufen und habe Sie nicht auf der Straße gesehn?«

»Ich bin gar nicht auf die Straße gekommen. Ich war immer nur in Ihrer Küche.«

»In der Küche? Dort stecken doch meine Frau, mein Sohn und meine Tochter!«

»Gewiß. Die drei haben mir geholfen.«

»Was? – Die haben es gewußt?«

»So ist es. Als ich hier ankam, waren Sie nicht zu Haus; daher stellte ich mich zunächst den Ihrigen vor. Die Verkleidung unternahm ich nur, um mich zu überzeugen, ob auch Ihre scharfen Augen und Ihr heller Kopf nicht hinter meine Schliche kämen.«

»Meine scharfen Augen und mein heller Kopf!« wiederholte der Wirt und kraulte sich hinter den Ohren.

»Na, lassen Sie's gut sein – setzen Sie sich wieder zu mir! Ich freue mich, daß wir allein sind. Wir können doch ungestört sprechen?«

»Ganz ohne Sorgen. Jetzt kommen keine Gäste.«

»Ihr Bruder hat mich zu Ihnen geschickt in der Überzeugung, daß Sie uns nützlich sein können.«

»Sie sollen nicht enttäuscht werden. Ich weiß zwar noch nicht genau, worum es sich handelt, wenn Sie aber wirklich das Buschgespenst fangen wollen, so bin ich dabei. Nur muß ich Ihnen doch sagen: das ist sehr schwer und sehr gefährlich.«

»Um so schöner der Erfolg, mein lieber Binder! Mit dem Buschgespenst muß und wird es in Kürze ein Ende haben.

»Und was soll ich dabei tun?«

»Einstweilen noch nichts Bestimmtes. Ich brauche nur allenthalben, bald hier, bald da, einen Menschen, auf den Verlaß ist. Dabei hatte ich an Sie gedacht.«

»Freut mich«, versicherte der Wirt, »freut mich sehr.«

»Und weiter möchte ich wissen, ob ich, wenn es sich nötig machen sollte, jederzeit bei Ihnen unterkommen kann.«

»Ei versteht sich! Ein Fremdenzimmer ist stets frei.«

»Recht so«, nickte Arndt. »Das wäre einstweilen das Wichtigste. – Und jetzt muß ich aufbrechen. In einiger Zeit bin ich wieder da. Es würde mir lieb sein, wenn dann das Zimmer bereit wäre. In Verkleidung werde ich mich stets unauffällig als ›der Fremde‹ zu erkennen geben.«

Mit festem Händedruck verabschiedete er sich – und jetzt endlich konnte ihn der Wirt über die Straße schreiten sehn.


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