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6. Botschaft in geheimer Schrift

Mehrere Stunden später betrat ein Mann mit rotem Haar und rotem Vollbart die Gaststube im ›Goldenen Ochsen‹. Er trug die übliche Kleidung der Gebirgsbewohner, machte aber doch nicht den Eindruck, als ob er ein einfacher Arbeiter wäre. Er gab dem Wirt einen Wink, ihm zu folgen, und so traten sie miteinander hinter die offene Kellertür.

»Was wünschen Sie, Herr?« fragte der Wirt.

»Der Fremde!« klang es leise zurück.

»Zum Teufel, in wievielerlei Gestalten laufen Sie denn eigentlich in der Weltgeschichte umher?« staunte Binder. »Doch Sie kommen mir grad recht. Ich habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen.«

»Wirklich? So bald schon? Solche Bundesgenossen kann ich gebrauchen. Also, was gibts?«

»Vor einer Stunde ungefähr waren zwei Männer da, die ich hier noch nie gesehn habe. Da ich durch Sie nun einmal mißtrauisch gemacht war, ließ ich die beiden in der Gaststube allein, stellte mich aber draußen hinter die Tür und horchte. Sie sprachen gedämpft, und ich verstand nur, daß von einer großen Eiche die Rede war, bei der sie sich Auskunft holen wollten. Vor vielleicht dreißig Minuten sind die beiden aufgebrochen.«

»Vor dreißig Minuten? Dann habe ich keine Zeit zu verlieren. Zu Fuß ist der Weg zu weit. Kann man hier nicht irgendwo ein Pferd auftreiben?«

»Hm! Einen alten Klepper könnte ich Ihnen geben. Wollen Sie etwa reiten?«

»Gewiß.«

»O weh, das ist gewagt! Der Braune hat seit Jahr und Tag keinen Menschen auf dem Rücken gehabt.«

»Tut nichts, werde schon mit ihm fertig werden. Ich muß schnell heim und darf nichts unversucht lassen. Den Gaul bringe oder schicke ich morgen wieder.«

»Ist schon gut«, meinte der Wirt und eilte davon.

»Wenige Minuten später trieb Arndt den Klepper zur Stadt hinaus in den dämmernden Abend.

Als er Dorf Hohenthal fast erreicht hatte, bog er ab; er wollte sich so im Ort nicht blicken lassen, um kein Aufsehn zu erregen. Dann lenkte er wieder in die Straße zum Forsthaus ein. Hier erblickte er nach kurzer Zeit vor sich einen Mann, den er bald einholte. Er hielt das Pferd an.

»Ah! Sie sind es!« rief er. »Guten Abend!«

Eduard Hauser musterte erstaunt Reiter und Pferd.

»Guten Abend!« gab er den Gruß zurück. »Womit kann ich dienen?«

»Dienen? Ach so! Sie kennen mich nicht.« Arndt fuhr sich mit der rechten Hand vom linken zum rechten Ohr. »Ich bin ...«

»Ah! Jetzt habe ich Sie freilich nicht erkannt. Gut, daß ich Sie treffe. Ich bin auf dem Weg zu Ihnen.«

»Zu mir? So haben Sie etwas Wichtiges zu berichten?«

Der junge Hauser nickte eifrig.

»Ob ich recht habe oder nicht, kann ich ja nicht sagen, aber ich glaube fast, eine bedeutsame Entdeckung gemacht zu haben, die ...«

Arndt unterbrach ihn.

»Warten Sie! Ich merke schon, hier ist eine längere Besprechung nötig. Eigentlich habe ich ja nicht viel Zeit, weil ich schleunigst nach dem Forsthaus muß. Aber ich werde trotzdem absteigen und ...«

Jetzt war es Eduard, der dem andern ins Wort fiel.

»Nicht doch! Reiten Sie nur im Schritt weiter! Es kann sogar schon ein ganz kräftiger Schritt sein. Ich habe eine gesunde Lunge und laufe nebenher. So verlieren Sie keine Zeit und können doch anhören, was ich Ihnen zu sagen habe.«

»Einverstanden«, nickte Arndt. »Vorwärts also! Und nun erzählen Sie!«

Eduard hielt sich mit der rechten Hand leicht am Zaumzeug des Gauls fest und stapfte so wacker neben dem Reiter her dem Wald zu. Dabei erstattete er ausführlich Bericht.

»Sie müssen wissen, daß ich heute leichtsinnig gewesen bin und in der Schenke ein Bier getrunken habe.«

»Oho!« lächelte Arndt.

»Ja, das habe ich getan, aber ich hatte meine guten Gründe dazu. Ein Bekannter des Vaters bat mich, dem Wirt etwas auszurichten. So bin ich in die Schenke gekommen. Es war am zeitigen Nachmittag. Und nun passen Sie auf! Als ich in die Gaststube trete, sitzen da zwei Männer, die ich nicht kenne. Sie sind bestimmt nicht aus dem Ort. Ich sehe sie mir oberflächlich an und denke bei mir: gefallen könnten dir die beiden eigentlich nicht! Da merke ich, daß mich der eine scharf mustert und sich dabei das Auge wischt. Das wäre mir noch nicht aufgefallen, aber dann machte es der andre genau so. Und dann ging plötzlich die Tür auf, und es erschienen noch ein paar Einheimische; die wischten sich auch das Auge. Da wurde ich stutzig.«

Arndt hörte dieser Erzählung aufmerksam zu und nickte vor sich hin.

»Ich muß Sie loben, Eduard Hauser. Sie haben eine gute Beobachtungsgabe. Jetzt vor allem eine Frage: Mit welcher Hand griffen die Leute nach welchem Auge?«

»Alle mit der rechten nach dem rechten.«

»Also ein geheimes Erkennungszeichen. Und nun weiter! Wer waren die Einheimischen, die hinzukamen?«

»Leute, über die man nicht gerade gut spricht im Ort.«

»Unterhielten sie sich mit den zwei Fremden?«

»Sie fingen ein Gespräch an und saßen dann alle an einem Tisch. Aber es wurde nichts Verdächtiges geredet. Ich habe eine ganze Weile zugehört. Zu diesem Zweck habe ich mir eben das Bier gekauft; ich wollte unauffällig bleiben können. Aber dann mußte ich doch gehn. Sonst wäre der Wirt mißtrauisch geworden und die Einheimischen wohl auch. Man weiß doch, daß ich kein Geld habe, um mich in die Schenke zu setzen.«

»Und was haben Sie weiter getan?« forschte Arndt. »Haben Sie sich etwa auf die Lauer gelegt, um zu sehn, was die Männer dann begannen?«

»Das wollte ich tun. Aber es dauerte mir schließlich zu lange. Und so bin ich auf einen andern Gedanken gekommen. Mir fiel die alte Eiche ein, bei der Ihrer Ansicht nach die Pascher geheime Zusammenkünfte abhalten. Der Förster Wunderlich hat mir davon erzählt, als ich ihn auf Ihr Geheiß nach dem Erkennungszeichen fragte. Ich konnte den Gedanken nicht loswerden, es gäbe da heute vielleicht ein Treffen der Schmuggler. Deshalb bin ich schleunigst heimgelaufen und habe mir ein Bettlaken geholt. Es steckt hier unter meiner Jacke. Und nun wollte ich zu Ihnen ins Forsthaus, um Sie aufzufordern, mit mir den Männern nachzuspüren.«

»Das haben Sie alles ausgezeichnet gemacht«, erklärte Arndt. »Vor allem finde ich es großartig, daß Sie sogar an das Bettuch gedacht haben. Kommen Sie mit zum Forsthaus! Nachher beobachten wir draußen den Platz bei der Eiche. Oder – ich habe noch einen bessern Einfall. Ich reite allein heim und komme später nach. Sie aber gehn voraus zur Eiche. Trauen Sie es sich zu, sich dort unbemerkt anschleichen zu können?«

»An die Eiche, meinen Sie? Oh, das traue ich mir schon zu! Kein Mensch soll mich bemerken.«

»Nun, so wollen wir's versuchen. Gehn Sie also zur Eiche und beobachten Sie, was dort geschieht! Ich komme nach. Wenn ich mich recht entsinne, steht in unmittelbarer Nähe der Eiche eine große Tanne oder Fichte. Stimmt das?«

»Es ist eine Fichte.«

»Ihre untern Zweige sind sehr breit und dicht und hängen fast bis auf den Boden herab. Das gibt ein gutes Versteck für Sie. Aber seien Sie vorsichtig, daß Sie den Schnee nicht von den Zweigen schütteln!«

Arndt ritt davon. Als er am Forsthaus abstieg, trat der Förster aus der Tür, um sich den unerwarteten Reiter genauer zu betrachten.

Lachend fuhr Arndt mit der rechten Hand vom linken zum rechten Ohr.

»Ich bin's, Herr Vetter!«

»Alle Teufel! Sie? Wo haben Sie denn diese Mähre aufgetrieben?«

»Sie stammt aus dem ›Goldenen Ochsen‹. Kann sie hier Unterkunft finden?«

»Also ein Ochsen-Gaul! Ei, freilich! Ich werde ihn in den Stall bringen. Morgen früh mag ihn der Försterbursche in die Stadt zurückbringen, wenn Sie ihn nicht mehr brauchen. Gehn Sie einstweilen in die warme Stube!«

»Danke. Ich muß gleich wieder fort. Lassen Sie mir, bitte, etwas zu essen auf meine Stube stellen, damit ich es bei der Rückkehr dort vorfinde!«

Der alte Wunderlich nickte zustimmend. Dann brachte er seinen Mund dicht an das Ohr des Geheimen.

»Vorsicht, Herr Vetter! Ein Grenzer war hier, ein junger Kerl, der zuweilen zu mir kommt. Er hat einen kleinen Narren an mir gefressen und weiß, daß ich dicht halte. Er sprach davon, daß es heut einen guten Fang geben würde.«

»Nannte er den Ort?«

»Den wußte er selber noch nicht; aber aus den Vorbereitungen schließt er, daß es sich um einen ›Finkenfang‹ handelt.«

»Ich verstehe. Der Mann wollte nicht plaudern und doch deutlich sein. Er spielte auf den Ort an, der so genannt wird. Na, wir werden sehn.«

Arndt eilte in sein Stübchen, legte seine Verkleidung ab, steckte alles Nötige zu sich und schlich auf Umwegen nach der Eiche. In ihrer Nähe kam ihm eine Gestalt entgegen, und er fand grad noch Zeit, sich hinter einem Baum zu verstecken; die Gestalt huschte vorüber. Nun setzte Arndt seinen Weg mit doppelter Vorsicht fort und gelangte endlich an die breitästige Fichte.

Er bückte sich unter die schneebeladenen Zweige.

»Hier bin ich«, hörte er die gedämpfte Stimme Eduard Hausers. »Kommen Sie her! Ich rücke zur Seite.«

So vorsichtig schlüpfte Franz Arndt in das Versteck, daß sich die Zweige fast überhaupt nicht bewegten; kaum ein Stäubchen der Schneelast fiel herab. Dann lagen die beiden nebeneinander. Kein Mensch, selbst wenn er in nächster Nähe vorübergegangen wäre, hätte vermuten können, daß vier Augen und vier Ohren hier wachten.

»Unterwegs begegnete mir einer. War schon jemand hier?« fragte Arndt.

»Schon mehrere.«

»Haben Sie nicht den einen oder den andern erkannt?«

»Nicht einen. Die Männer waren alle dicht vermummt. Sie machten sich am Stamm der Eiche zu schaffen und brannten dabei Streichhölzer an.«

»Streichhölzer? Eine Unvorsichtigkeit, die man den Paschern eigentlich gar nicht zutrauen sollte! – Doch weiter! Was geschah dann?«

»Sie hielten etwas in der Hand, vermutlich ein Zettelchen, das sie lasen.«

»Es muß irgendeine Weisung enthalten haben. Wurde der Zettel mitgenommen?«

»Nein. Soviel ich beobachten konnte, haben sie ihn jeweils wieder an der alten Stelle versteckt.«

»Es muß also doch ein Loch im Stamm der Eiche sein! Ich habs nur nicht gefunden. Vielleicht ists mit einem Stück Rinde künstlich verschlossen. Wir werden nachher – doch halt! Still!«

Eine dunkle Gestalt kam durch den Schnee gestapft, trat an den Baum, langte mit der Hand hoch, zog sie wieder herab und brannte ein Streichholz an. Arndts scharfe Augen erkannten, daß der Mann jetzt einen Zettel in der Hand hielt, den er aufmerksam betrachtete. Dann erlosch das kleine Licht. Der Mann schien den Zettel wieder am alten Ort zu verbergen; schließlich ging er eilig davon.

»Haben Sie gut ausgepaßt?« fragte Arndt.

»Ja. Aber auch dieser Mann war nicht zu erkennen. Dafür weiß ich jetzt, in welcher Höhe sich das Versteck befindet. Soll ich hinaus und den Zettel holen?«

»Keine Übereilung! Warten wir noch!«

Es verging eine geraume Weile, dann glaubten sich die beiden Lauscher sicher. Sie erhoben sich und traten, in den Fußtapfen der andern schreitend, an die Eiche. Hauser griff am Stamm hoch.

»Hier ist ein kleines, dürres Aststümpfchen«, sagte er. »Ah, ich hab's! Man muß einfach dran ziehen. Es ist der Griff zu einem Kästchen, das hier in ein viereckiges Loch eingelassen ist. Sehn Sie, Herr Arndt?«

Er hielt etwas in der Hand.

Arndt wandte sich mit dem Rücken gegen das Dorf, breitete das Bettuch aus, das er mitgenommen hatte, legte es sich wie einen Mantel um und ließ so verstohlen seine kleine Blendlampe aufleuchten.

»Merkwürdiger Briefkasten!« sagte er. »Na, wir sind auf dem Kriegspfad, und da muß uns das Briefgeheimnis gleichgültig sein. Geben Sie, bitte, her! Aha, ein Befehl aus dem Hauptquartier: ›Punkt ein Uhr im Haingrund.‹ Hm! Es sind gerissene Burschen, die wir gegen uns haben, und wir müssen uns hüten, ihnen jemals in die Finger zu geraten. Da streuen sie falsche Gerüchte aus, lassen die Grenzer wissen, es gäbe heut beim Finkenfang etwas zu schnappen – und inzwischen machen sie ihren Raub in aller Gemütsruhe im Haingrund. Verdammte Kerle! – Fort also! Das Kästchen an seine Stelle! – Wir müssen zum Haingrund oder ...«

Eduard Hauser hatte das Kästchen mit dem Zettel schon wieder im Versteck untergebracht. Da zog ihn Arndt am Ärmel mit sich fort.

»Es kommt jemand. Ich hörte Äste knacken. Schnell wieder unter die Fichte, aber nur in den ausgetretenen Fußtapfen, damit unsre Spur von uns aus nicht unmittelbar dorthin läuft und uns verrät!«

Die beiden duckten sich mit ihren Bettüchern auf den Schnee und schlichen wieder unter die Fichte. In der Tat, nach kaum einer Minute nahte wieder ein Pascher, der beim Schein eines Streichhölzchens den Zettel las und sich dann entfernte. Bezeichnend für die genauen Anweisungen, nach denen die Schmuggler handelten, war es, daß keiner das abgebrannte Zündholz achtlos fortwarf. Auch bemühte sich jeder, so in den vorhandenen Spuren herumzutreten, daß keine klare Fährte blieb.

Als der Mann außer Sehweite war, kroch Arndt unter dem Baum hervor.

»Würden Sie es noch ein Stündchen hier aushalten können?« fragte er Eduard dabei.

»Warum nicht?«

»Gut, so werde ich jetzt dem Finkensang einen Besuch machen.«

»Werden Sie ihn auch finden?«

»Seien Sie ohne Sorge, Hauser! Verhalten Sie sich nur bis zu meiner Rückkehr ruhig! Ich würde hier gern noch warten, aber vom Finkensang bis zum Haingrund ists eine gute Stunde. Man muß die Grenzer also sofort benachrichtigen, wenn der Streich der Pascher vereitelt werden soll. Ich kehre vermutlich nach Ablauf einer Stunde zurück.«

*

Der Haingrund war ein bewaldetes Tal, das sich mitten durch den tiefen Forst im rechten Winkel zur Grenze hinzog. Ungefähr eine Stunde davon entfernt lag der Finkenfang, ein stiller, öder Platz im tiefen Wald, felsig und ohne Busch oder Baum. Als Arndt diesen Ort erreicht hatte, blieb er stehn und stieß einen Pfiff aus.

Nichts rührte sich.

Hinter einem nahen Felsstück kauerten zwei Grenzer als vorgeschobene Wachen.

»Ein schlauer Bursche!« flüsterte der eine dem andern zu »Er will prüfen, ob jemand hier ist.«

»Wir werden uns hüten, auf seinen Pfiff zu antworten. Dann wäre es mit dem Fang vorbei. Ihm können wir nichts tun, und die andern reißen aus.«

Arndt pfiff abermals. Wieder ohne jeden Erfolg.

»Sind Grenzer hier?« rief er jetzt laut.

»Ich möchte dem Frechdachs eins auf den Schnabel geben, daß er vergißt, ihn je wieder aufzureißen!« brummte der eine Grenzbeamte. »Meinen Kolben auf deinen verdammten Schädel!«

Aber der Kamerad zupfte ihn am Koppel.

»Rasch um die andre Ecke! – Er kommt hier vorüber!«

Sie huschten um einen Felsvorsprung, denn Arndt näherte sich ihnen bedenklich. Er blieb stehn und betrachtete den Boden.

Die beiden Grenzer hörten, daß er ein kurzes, leises Lachen ausstieß.

»Bitte, meine Herren Grenzer«, sagte er jetzt halblaut, »ich habe Ihre Besuchskarte im Schnee gesehn. Ersparen Sie mir die Mühe, Ihren vier Fußtapfen nachzulaufen! Auch habe ich wenig Zeit. Ich suche Sie, um Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen.«

Aber auch diese Worte blieben ohne Antwort.

»Nun«, fuhr Arndt mit erhobener Stimme fort, »so werde ich ein Stück gradaus gehn, damit Sie sehn, daß ich nicht etwa einen Verbündeten hinter mir habe.«

Er setzte ruhig seinen Weg fort. Das schien das Vertrauen der beiden Posten zu stärken. Plötzlich erhob sich grad vor Arndt ein Mann aus dem Schnee. Er hielt den blanken Degen in der Rechten und einen Revolver in der Linken.

»Halt!« gebot er mit unterdrückter Stimme. »Bleiben Sie stehn und sprechen Sie leise! Wer sind Sie?«

»Sie können Ihr Schießeisen ruhig wegnehmen. Diese Dinger haben manchmal die unangenehme Gewohnheit, von selber loszugehn, und es ...«

Zu diesem Augenblick tauchten wie auf ein Zeichen mehrere Gestalten hinter verstreuten Felsstücken auf. Und noch immer zielte die Mündung des Revolvers aus Arndt.

»Wollen Sie uns etwa foppen?« rief der Grenzer gereizt.

»Foppen?« fragte Arndt zurück. »Das wäre ein schlechter Scherz bei dieser Kälte, zu dieser Stunde und an diesem Ort. Nein, ich komme, um Sie davor zu bewahren, daß andre Sie foppen!«

»Andre? Wieso?«

»Sie erwarten die Pascher hier, aber die denken nicht daran zu kommen. Man hat Sie mit Vorbedacht irregeführt. Die Herrschaften, auf die Sie hier lauern, werden inzwischen durch den Haingrund ungestört über die Grenze gehn!«

»Treiben Sie Ihre Späßchen nicht zu weit, mein Herr!«

»Sie haben eine sonderbare Art freiwillige Helfer zu behandeln«, verwahrte sich Arndt. »Fürchten Sie sich etwa vor mir? Sie haben doch Ihre Leute, und ich bin allein. Also seien Sie friedlich und betrachten Sie sich diese Karte!«

Der Offizier nahm die Karte mit ausgestrecktem Arm und warf einen Blick darauf; aber es war zu dunkel, um sie zu entziffern.

»Günther, die Laterne!«

Einer der Grenzer ließ den Schein einer bisher verdeckten Blendlaterne auf die Schriftzüge fallen.

»Inhaber dieses ist von allen Behörden auf Verlangen weitestgehend zu unterstützen.«

Darunter stand, mitten durch den großen Stempel hindurch, der markige Namenszug des Polizeichefs der Kreisstadt.

»Donner und Doria!« murmelte der Grenzoffizier zwischen den Zähnen und stieß den Revolver in den Halfter. »Herr, warum sagen Sie das nicht gleich?«

»Weil Sie es vorzogen, zunächst verborgen zu bleiben und mir dann nur Mißtrauen zu zeigen.«

»Verzeihung, aber ich habe es hier mit ganz abgefeimten Leuten zu tun!«

»Weiß ich. Deshalb bin ich ja hier. Die Pascher versammeln sich Punkt ein Uhr im Haingrund.«

»Teufel auch! Und wir klappern hier seit einer Stunde mit den Zähnen und fangen Finken. Aber Sie werden zugeben, daß ich mich in einer keineswegs beneidenswerten Lage befinde. Entblöße ich diesen Platz, um meine Leute nach dem Haingrund zu führen, so –«

»– so jagen Sie den Paschern die Beute ab«, fiel Arndt ein.

»Oder«, meinte der Offizier, immer noch ein wenig mißtrauisch, »sie schlagen mir ein Schnippchen und kommen ausgerechnet hierher!«

Arndt hob die Schultern.

»Sie verstehn, daß ich Ihnen nur Winke und Ratschläge geben kann. Die Befugnis, in Ihre Befehlsgewalt einzugreifen, besitze ich nicht. Die Entscheidung steht bei Ihnen. – Gute Nacht!«

Schon eine halbe Stunde später kroch Arndt wieder unter die Fichte zu Eduard Hauser.

»Ist noch etwas vorgefallen?« fragte er mit leiser Stimme.

»Ein paar Schmuggler sind noch gekommen, um den Zettel zu lesen; aber seit etwa einer Viertelstunde ist alles still hier.«

»Ich schlage vor, wir warten trotzdem noch ein Weilchen. Frieren Sie sehr?«

»Es ist auszuhalten.«

So ließen sie wohl noch eine Viertelstunde verstreichen; dann erst wagten sie sich aus ihrem Versteck hervor und schritten hinüber nach der Eiche.

»Jetzt werden wir nach menschlichem Ermessen vor Überraschungen sicher sein«, meinte Arndt. »Sehn wir zuerst nochmals nach dem geheimen Briefbehältnis!«

Er zog das dürre Aststümpfchen heraus und hatte sogleich das Kästchen in der Hand.

»Licht?« gebot er. »Hier ist meine kleine Laterne, und da sind auch Zündhölzer. Brennen Sie an!«

Eduard gehorchte, und Arndt beleuchtete das Innere des Kästchens. Es enthielt noch immer den Zettel mit der Weisung zum Haingrund. Eduard wollte das winzige Ding schon in das Baumloch zurückschieben, da packte ihn Arndt beim Arm.

»Halt! Der Boden des Kästchens sieht fast aus, als wäre er mit Papier beklebt! – Richtig – und es steht etwas darauf!«

Er brachte das Licht näher heran und sah genauer hin.

»Es sind Ziffern«, sagte er endlich. »Warten Sie! Ich werde sie mir schnell abschreiben; allzulange dürfen wir nicht mehr verweilen.«

Er zog sein Taschenbuch hervor und vermerkte sich folgende Zahlen:

25. 6. 8. 16. 6. 13. 20. 7.
15. 25. 6. 24. 21.      
8. 23. 18. 25. 23. 18. 7.  

Dann blies er die Laterne aus, steckte das Buch ein und schob das Kästchen an seinen Ort zurück.

»Wissen Sie, was diese Ziffern zu bedeuten haben?« fragte Eduard.

»Vorläufig nicht. Aber ich denke es ist eine Art Geheimschrift. Doch jetzt fort! Kommen Sie!«

»Wohin?«

»Ins Dorf. Dahin ist es näher als zum Forsthaus. Ich muß die Geheimschrift entziffern und kann Sie dabei vielleicht brauchen.«

»Dann gehn Sie auf ein Weilchen mit zu uns, Herr Arndt! Meine Eltern werden schon schlafen; die Geschwister erst recht.«

»Gut! Gehn wir zu Ihnen!«

Sie begegneten keinem Menschen und erreichten die Wohnung Hausers unbemerkt. Arndt sah sich in dem ärmlichen Zimmer der Weberfamilie um und schüttelte den Kopf.

»So also wohnen, leben und arbeiten Sie!« sagte er leise, wie in tiefer Rührung. »Hoffen wir, daß Sie bald am Ende aller Not sind!«

Sie setzten sich an den Tisch, und Arndt zog sein Merkbuch hervor. Eduard schrieb auf Geheiß des Detektivs ebenfalls die Zahlen auf, um beim Entziffern zu helfen.

»Wie es scheint, sind es drei Worte«, meinte Arndt.

»Und jede Ziffer bedeutet einen Buchstaben?«

»Vielleicht. Aber für welchen Buchstaben steht die einzelne Ziffer? Das ist die Frage.«

»Wohl einfach dem Abc nach!«

»Das wäre allzu durchsichtig! Aber versuchen wir es einmal!«

Doch auf diese Weise ergaben die Ziffern der ersten Reihe kein vernünftiges Wort.

»Es geht nicht«, meinte Eduard enttäuscht.

»So schnell dürfen wir den Mut nicht sinken lassen«, lächelte Arndt. »Außerdem wird es wohl nicht grad eine sehr schwierige Geheimschrift sein, denn die Pascher sind keine gelehrten Leute. Der Schlüssel muß ihrer Bildung entsprechen, das heißt, auch das einfachste Mitglied der geheimen Gesellschaft muß die Schrift handhaben können, und das ist möglicherweise ein Mann, der nur gerade lesen und schreiben gelernt hat.«

»Allerdings.«

»Und das Naheliegendste für solche Leute, wenn es doch etwas Schwieriges und Geheimes sein soll, wäre das Abc rückwärts.«

»Ah, rückwärts!« rief Eduard eifrig. »Dann bedeutet also A 25 und Z 1?«

»So ist es.«

Eduard beugte sich eine Weile über die Buchstaben, dann fuhr er wieder hoch.

»Ich habs!«

Er hatte die Zahlen in eine Reihe geschrieben und die Buchstaben daruntergesetzt, so daß es folgendermaßen aussah:

25 6 8 16 6 13 20 7
A u s k u n f t

»Auskunft – richtig!« sagte Franz Arndt, der Eduard absichtlich gewähren ließ. Nun reihte er selber nach dem gleichen einfachen Schlüssel die entsprechenden Buchstaben unter die weiteren Zahlen.

So entstand folgendes Bild:

15 25 6 24 21    
L a u b e    
8 23 18 25 23 18 7
S c h a c h t

»Na, da sind wir schon einen Schritt weiter: Auskunft – Laube – Schacht!« schmunzelte Arndt. Doch dann zog er die Brauen hoch. »Aber, hm, Laube! Sollte es dort eine Laube geben, in der ...«

»O nein!« fiel Eduard ein. »Nicht eine, sondern einen Laube gibt es dort! Der Schachtwächter heißt so.«

»Prächtig! Schachtwächter Laube! – Was für ein Kerl ist das?«

»Unfreundlich und verschlagen«, lautete Eduards Auskunft. »Man weiß grad nichts Schlechtes von ihm, aber auch nichts Gutes.«

»Das sind meist die Schlimmsten. Wann hat er die Wache?«

»Nur des Nachts.«

»Und wo wohnt er? Oben im Werk?«

»Ja. Seine Wohnung liegt einem alten Schuppen gegenüber, nahe bei der großen Esse. Wollen Sie mit ihm sprechen?«

»Später. Für heute können wir mit dem Erfolg unsrer Bemühungen zufrieden sein. Weiterhin beachten Sie vor allem zweierlei: Zurückhaltung und Vorsicht! Gehn Sie nur dann zur Eiche, wenn Sie begründeten Verdacht hegen, und untersuchen Sie das Kästchen nicht ohne Not!«

»Ich werde mich ganz nach Ihren Weisungen richten. Wann brauchen Sie mich wieder?«

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Eigentlich hatte ich an morgen abend gedacht, aber da fällt mir ein, morgen ist ja der Maskenball.«

Eduard Hauser, der eben noch so lebendig und tatkräftig gewesen war, senkte plötzlich wie schuldbewußt den Kopf.

»Ja, morgen ist der Maskenball.«

»Und Sie wollen wirklich hingehn?«

»Ich muß doch.«

Um Arndts Lippen spielte ein feines Lächeln.

»Nun freilich, Sie müssen! Herzensangelegenheiten sind in einem gewissen Lebensalter die allerwichtigsten Dinge. Ich habe auch gar nichts dagegen«, fuhr er fort, da er sah, daß Eduard ihn so seltsam scheu von der Seite her anblickte, »aber ich kann mir nicht helfen, mir ist die Sache ein wenig unbehaglich. Sie wollen da in eine geschlossene Gesellschaft hinein. Ich habe mir die Geschichte nämlich durch den Kopf gehn lassen. Sie wollen dort Ihr Engelchen beschützen. Wie denken Sie sich eigentlich das alles?«

»Das Beschützen?« fragte Eduard treuherzig.

Arndt lachte.

»Danach habe ich nun weniger gefragt. Ich meinte das Eindringen in die geschlossene Gesellschaft. Sprechen Sie sich doch einmal aus! Haben Sie Vertrauen zu mir!«

Eduard hatte gewiß kein schlechtes Gewissen gehabt, als er damals in der Stadt die Anstecknadel an sich nahm und jenen Brief schrieb, der mit dem Wort ›Buschgespenst‹ unterzeichnet war, den Brief, der den Kaufmann Strauch vom Besuch des Maskenfestes fernhalten sollte? Er hatte blind draufzu gehandelt, wie es unüberlegte Jugend zu tun pflegt. Und wenn er sich dabei eines bedenklichen Kniffs bedient hatte, so war das nicht in seinem Wesen begründet, sondern in den Verhältnissen seiner Umgebung. Eduard Hauser war ein Kind des armen Weberdorfes Hohenthal, wo das Buschgespenst umging, wo die Leute sich vor diesem Popanz fürchteten und ihn als etwas notwendig Gegebenes, aber auch als etwas tatsächlich Vorhandenes hinnahmen, als ein Ding, mit dem man rechnen mußte.

Das war eine Art Scheinwelt. Und sonderbar vor den strengen, klaren Augen des Detektivs brach diese Scheinwelt im Innern Eduard Hausers plötzlich in sich zusammen. Der junge Mensch schämte sich instinktiv seiner Tat, fühlte, daß er, bewußt oder unbewußt, dem Gönner seinen Streich bisher verschwiegen hatte, und kämpfte nun mit sich selbst um den Mut zum Geständnis.

Aber nun war er so weit. Er beichtete. Er erzählte Arndt von dem Brief.

Und nun erlebte er, was er im stillen befürchtet hatte. Arndt machte fast ungläubige Augen. Seine Züge wurden streng und abweisend. Und streng und abweisend klang auch sein Wort.

»Das hätten Sie freilich nicht tun dürfen. Sie scheinen gar nicht zu wissen, daß Sie sich dadurch in vieler Hinsicht in große Gefahr begeben haben«.

»Mit dem Brief?«, fragte Eduard kleinlaut.

»Ja«, sagte Arndt hart und kurz, »vor allem mit dem Brief! Sie sind doch kein Kind. Sie mußten wissen, was Sie tun. Der Brief ist eine Fälschung und noch mehr.«

Der junge Mensch aus dem Gebirge begriff das kaum und zeigte damit dem Detektiv, der doch ein Sohn der gleichen Heimat war und in solchem Fall mitzufühlen verstand, mit dürftigen Worten die ganze Arglosigkeit seiner Seele auf. Und da Arndt auch hier der Verstehende war, strengte er kein langes Verhör an, sondern nahm Unabänderliches als unabänderlich.

»Gut«, sagte er, »was geschehn ist, ist geschehn. Dieser Brief ist nun einmal da, und wir müssen damit rechnen, auch mit den Folgen. Für den Maskenball dürfte das alles ganz günstig sein für Sie. Gehn Sie hin und wachen Sie über Ihrem Engelchen! Ich – ich werde mir wahrscheinlich erlauben, ein wenig die Oberaufsicht zu führen.«

So kam es, daß Eduard Hauser an diesem Abend recht kleinlaut und gedemütigt zurückblieb, während sich Franz Arndt einigermaßen verdrießlich auf den Weg nach dem Forsthaus machte.

Er fand dort in seiner Stube das bestellte Abendbrot pünktlich bereit. Der Hunger war vorhanden, aber es schmeckte ihm nicht. Nach dem Essen nahm er ein Buch vor und dachte wieder zurück an die Ereignisse des Tages. Vor ihm gaukelten der Haingrund und der Finkenfang. Das war wie ein Gespenstertanz. So fand er keine Andacht zum Lesen, und schließlich wurde er auch noch aufgeschreckt durch einen Schuß.

Bei dem einen Schuß blieb es übrigens nicht, es fielen noch mehrere. Arndt horchte durch das geschlossene Fenster. Das war Gewehrfeuer. Er wußte, worum es ging.

Und er war nicht der einzige, der das hörte; denn schon nach kurzer Zeit polterte der schwere Schritt des Försters über den Flur, und ein Finger pochte an die Tür.

»Schlafen Sie schon, Herr Vetter?«

»Nein. Bitte, treten Sie ein!«

Der Alte schob sich in die Stube.

»Haben Sie das Schießen gehört?«

»Gewiß. Es war im Haingrund.«

»Das wissen Sie?«

»Die Grenzer und die Pascher sind dort aneinandergeraten. Ich selber habe die Beamten darauf aufmerksam gemacht, daß das Buschgespenst heut durch den Haingrund über die Grenze gehn will.«

Zu dieser Nachricht machte der brave Wunderlich große Augen. Er musterte seinen Gast mit ehrfürchtigem Staunen; denn ihm dämmerte jetzt die Gewißheit, daß es der Tatkraft dieses Mannes gelingen würde, endlich mit der Landplage der Grenzorte, mit dem Buschgespenst, aufzuräumen.


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